Ein Plan mit der Wucht eines Panzerkreuzers - Stadtkino Wien
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<strong>Stadtkino</strong>Zeitung Kluge: „Nachrichten aus <strong>der</strong> ideologischen Antike“<br />
03<br />
einen Schuss Leichtsinn, um da<strong>mit</strong> umzugehen.<br />
Man muss Till Eulenspiegel einmal über<br />
Marx (und auch Eisenstein) hinweg ziehen<br />
lassen, um eine Verwirrung zu erhalten, <strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />
sich Erkenntnisse hin und her tragen lassen.<br />
5. Textproben aus den Notaten<br />
12.X.[1927]<br />
Der Entschluss steht fest, das <br />
nach dem Szenarium von K. Marx zu verfilmen<br />
– dies ist <strong>der</strong> einzig mögliche formale Ausweg.<br />
(Mit Bleistift geschriebener Zettel, <strong>der</strong> in das<br />
Heft eingeklebt ist [Anm. des Hrsg.] [...]<br />
13.X.27<br />
[...]Hier stößt man schon auf völlig neue<br />
Filmperspektiven und auf das aufgehende<br />
Licht jener Möglichkeiten, die ihre Vollendung<br />
in meiner neuen Arbeit finden werden<br />
– im nach dem Libretto von<br />
Karl Marx. [In einem Filmtraktat.]<br />
4.XI. [1927], abends<br />
In Amerika sind sogar die Friedhöfe privat.<br />
Hun<strong>der</strong>tprozentige Konkurrenz. Bestechung<br />
<strong>der</strong> Ärzte etc. Die Sterbenden erhalten Prospekte:<br />
„Nur bei uns werden Sie ewige Ruhe<br />
im Schatten <strong>der</strong> Bäume und beim Plätschern<br />
<strong>der</strong> Bächlein finden“ (fürs K[apital])<br />
23.XI.27 [...]<br />
Das Prinzip <strong>der</strong> De-Anekdotisierung ist offensichtlich<br />
(zweifelfrei) für „Oktober“ grundlegend.<br />
Die Arbeitstheorie <strong>der</strong> „Obertöne“<br />
kann wahrscheinlich sogar in diesem einen<br />
Leitsatz zusammengezogen werden. Bei einer<br />
Darstellung <strong>der</strong> „Oktober-Prinzipien“ ist es in<br />
didaktischer Hinsicht nützlich und notwendig,<br />
zur Entwicklung des Prinzips auch diese Etappe<br />
abtastend darzulegen. Denn seinem Wesen<br />
nach bleibt „Oktober“ noch das Muster einer<br />
zweischichtigen (dvuplanovyj) Darstellungsart:<br />
Die De-Anekdotisierung jedoch ist ihrem Wesen<br />
nach ein Stückchen vom „morgigen Tag“,<br />
d. h. die Voraussetzung unserer nächsten Sache:<br />
des .<br />
2.I.28<br />
Fürs . Die Börse darf nicht durch<br />
eine „Böse“ wie<strong>der</strong>gegeben werden ([wie in]<br />
„Mabuse“ [o<strong>der</strong>] „St. Petersburg“), son<strong>der</strong>n<br />
durch Tausende von kleinen Details. Durch<br />
Genreismus. Vgl. hierzu Zola („L´argent“).<br />
Curé – <strong>der</strong> Generalmakler <strong>eines</strong> ganzen Rayons.<br />
Die Concierge als Anleihenhalterin. Druck<br />
solcher Concierges in Fragen <strong>der</strong> Schuldenanerkennung<br />
durch Sow[jet]rußland. [...]<br />
4.IV.28<br />
[...]Im Zusammenhang <strong>mit</strong> „Kapital ist eine<br />
Abteilung für „Reizerreger“ einzurichten,<br />
d. h. eine Abteilung für zielgerichtete Materialien.<br />
So wie etwa dieser Blejman-Ausschnitt<br />
zielgerichtete Elemente für eine Pathetik des<br />
„Kapitels“ angibt (sagen wir für das letzte<br />
„Kapitel“ – für die dialektische Methode in<br />
<strong>der</strong> Klassenkampf-Praxis) [...]<br />
[...] die Sprache des Films hat die Eigenheit,<br />
für das „<strong>Ein</strong>spielen“ <strong>eines</strong> seiner Zeitdauer<br />
nach unbedeutenden Faktums eine erheblich<br />
größere Anzahl gestalterischer Mittel zu benötigen,<br />
als dies in allen an<strong>der</strong>en Kunstarten <strong>der</strong><br />
Fall ist. Das was man in <strong>der</strong> Literatur <strong>mit</strong> wenigen<br />
Wörtern erfassen kann, wird auf <strong>der</strong> Leinwand<br />
<strong>mit</strong> Hilfe einer ganzen Reihe von Szenen<br />
wie<strong>der</strong>gegeben, ja zuweilen sogar durch<br />
Episoden, die einen großen Raum innerhalb<br />
des Films einnehmen. [...]<br />
[...] denn wenn wir weitergehen, so kommen<br />
wir dahinter, dass das gesamte „Kapitel“ – ohne<br />
den Düften Ägyptens nachzujagen – im Studio<br />
„aufgebaut“ werden kann. [...]<br />
7.IV. [1928], 00.45 h<br />
In <strong>der</strong> Straßenbahn „A“ vom Strastnof [bulvar]<br />
nach Petroviskie vorota (möglicherweise<br />
auch von Nikitskie – ich erinnere mich<br />
nicht mehr genau...) legte mir Grisa heute<br />
die Mechanik <strong>der</strong> „Kapital“-Sache anhand<br />
banaler <strong>Ein</strong>fälle zur ringförmigen Kostruktionsweise<br />
<strong>der</strong> Sherezahada, Tutti Namehs<br />
(Papageienbuch), <strong>der</strong> Hauff-Märchen etc. als<br />
vorläufiges Arbeitsdrehbuch dar. Wir kamen<br />
von <strong>der</strong> Sub, wo wir zu Pascha und Kulitsch<br />
Schokolade tranken[...]<br />
Im Ablauf des gesamten Filmes kocht eine<br />
Frau für ihren heimkehrenden Mann Suppe.<br />
Es sind zwei sich überschneidende assoziative<br />
Themen möglich: die kochende Frau und <strong>der</strong><br />
heimkehrende Ehemann. [... ]Die Assoziation<br />
des dritten Teils (zum Beispiel kommt aus<br />
dem Pfeffer, <strong>mit</strong> dem sie würzt: Pfeffer, Cayenne.<br />
Teuflich scharf: Dreyfus. Französischer<br />
Chauvinismus. [...] Krieg. Im Hafen versenkte<br />
Schiffe [...]<br />
[...] die versinkenden englischen Schiffe konnte<br />
man gut <strong>mit</strong> dem Deckel des Kochtopfes<br />
zudecken [...]<br />
7.IV.[1928], 1.30 h<br />
<strong>Ein</strong> Kapitel ist für das materialistische Verständnis<br />
von „Seele“ nötig. [...]<br />
6. Was heißt radikale Erneuerung des<br />
Films?<br />
Eisensteins frühe Filme folgten dem klassischen<br />
Agitationsprinzip. Schrift und emotionale, auf<br />
Typik gerichtete Bil<strong>der</strong>, ergeben „emotionale<br />
Konvolute“. Die Montage davon dient weniger<br />
<strong>der</strong> Beobachtung, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> gedanklichen<br />
und dramaturgischen Steigerung.<br />
Diese Methode und zugleich sämtliche an<strong>der</strong>en<br />
Methoden, die <strong>der</strong> traditionellen Melodramen<br />
(also <strong>der</strong> Filmkunst, <strong>der</strong> Eisenstein<br />
selbst nicht folgt), will Eisenstein bei seinem<br />
KAPITAL-Projekt hinter sich lassen!<br />
Keine lineare Erzählung!<br />
„Der ,antike’ Film<br />
drehte eine Handlung<br />
aus mehreren<br />
Gesichtspunkten.<br />
Der neue Film montiert<br />
einen Gesichtspunkt<br />
aus mehreren<br />
Handlungen.“<br />
7. Was sind überhaupt Bil<strong>der</strong>?<br />
Sind z. B. Schriften Bil<strong>der</strong>? Wenn etwas<br />
mündlich erzählt wird, welche Bil<strong>der</strong> entstehen<br />
im Zuhörer? Der Film entsteht im Kopf<br />
des Zuschauers. Und zwar in einem vollbe-<br />
setzten, auf einan<strong>der</strong> reagierenden Kinosaal:<br />
einer Filmöffentlichkeit. ÖFFENTLICH-<br />
KEIT und AUTONOMIE DER BILDER<br />
(sie gehören den Menschen selber) sind das,<br />
wo<strong>mit</strong> <strong>der</strong> Filmemacher umgeht.<br />
Es ist deshalb falsch, wenn das Bild auf <strong>der</strong><br />
Leinwand dem Zuschauer die eigenen Bil<strong>der</strong><br />
wegnimmt. Assoziation, Fragmentierung,<br />
Lücken sind angesagt, die eine Wechselwirkung<br />
zwischen Zuschauer und Leinwand<br />
ermöglichen. Insofern enthalten gerade die<br />
Schriften, wie sie für die Stummfilme typisch<br />
sind, starke „Bild“anreize. Umgekehrt gibt es<br />
Bil<strong>der</strong>, die <strong>der</strong> Zuschauer wie Texte „verstehen“<br />
und quasi nachlesen kann.<br />
1929 haben wir die Bruchstelle zwischen<br />
Stummfilm und Tonfilm. Der Ton würde<br />
nach Eisensteins Vorstellung dann eine weitere<br />
Dimension hinzufügen, wenn er autonom,<br />
das heißt polyphon <strong>mit</strong> Schrift und<br />
Bild korrespondiert. Auch die Töne sind Bil<strong>der</strong>.<br />
Dies alles entspricht Eisensteins Theorie<br />
des „dritten Bildes“, <strong>der</strong> EPIPHANIE. Man<br />
sieht Kontraste, zum Beispiel zwei gegensätzliche<br />
Bil<strong>der</strong> und dabei entsteht im Kopf<br />
spontan ein drittes (unsichtbares) Bild.<br />
Was sind überhaupt Bil<strong>der</strong>? In dem berühmten<br />
Schematismus-Kapitel in <strong>der</strong><br />
„Kritik <strong>der</strong> reinen Vernunft“ wun<strong>der</strong>t sich<br />
Immanuel Kant, dass alle Menschen einen<br />
Begriff vom Hund haben (er nennt das den<br />
„transzendentalen Hund“) obwohl es doch<br />
für die verschiedenen Hun<strong>der</strong>assen (vom<br />
Pekinesen bis zum Bernhardiner) kein gemeinsames<br />
Bild gibt.<br />
<strong>Ein</strong> Ver<strong>mit</strong>tlungsversuch zwischen Begriff<br />
und Anschauung sind die idealtypischen Bil<strong>der</strong>.<br />
Sie funktionieren wie Sammelbecken,<br />
Hinweisschil<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Zäune. In ihnen ist<br />
jeweils eine Fülle von Bil<strong>der</strong>n sortiert, aber<br />
kein einzelnes ist bestimmt. So sind Bil<strong>der</strong><br />
wie „Arbeiter“, „Unternehmer“ o<strong>der</strong><br />
„Am Fuß des Berges“ (es ist kein Fuß und<br />
es zeigt auch nicht: „Wo genau am Berg“),<br />
„Wurzel des Lebens“, Ausdrücke von großer<br />
Reichweite, aber ohne konkretes Bild. Diese<br />
die Bil<strong>der</strong> sortierenden, typisierenden Ausdrucksformen<br />
gibt es auch im Filmbild.<br />
Radikal entgegengesetzt dazu sind konkrete<br />
Bil<strong>der</strong>, das heißt Momentaufnahmen.<br />
Bil<strong>der</strong>, die ganz in sich ruhen. Bil<strong>der</strong> ohne<br />
Sinnzwang. Oft sind dies „ungesehene Bil<strong>der</strong>“.<br />
Die Kamera ist ein Instrument, wie<br />
Walter Benjamin sagt, für das „optisch Unbewusste“.<br />
Das menschliche Auge, das ständig<br />
adaptiert und auf die <strong>Ein</strong>flüsterungen<br />
und Vorverständnisse des Hirns wartet, hat<br />
die meisten un<strong>mit</strong>telbaren <strong>Ein</strong>drücke nie ge-<br />
Alexan<strong>der</strong> Kluge<br />
Nachrichten aus <strong>der</strong><br />
ideologischen Antike<br />
Deutschland 2008<br />
Bil<strong>der</strong> ohne Sinnzwang.<br />
sehen. Sie werden sichtbar, wenn die Kamera<br />
sie aufdeckt. Das gehört zu den Erfindungen<br />
des Films.<br />
Solche „Monaden“, (sie enthalten das<br />
Ganze und sind doch blind) wollte Eisenstein<br />
seriell zusammenstellen. So wie es <strong>mit</strong> Tönen<br />
die serielle Musik getan hat. Voneinan<strong>der</strong> differente<br />
Bil<strong>der</strong> plus die Lücke, die durch das<br />
Nebeneinan<strong>der</strong>stehen von Unvereinbarem,<br />
Autonomem entstehen, ergeben einen neuen<br />
Zusammenhang. Und so arbeiten, nach<br />
Eisenstein und Vertov, die tatsächlichen Sinneskräfte<br />
<strong>der</strong> Menschen. <br />
<br />
Das Team von Alexan<strong>der</strong> Kluge:<br />
Ich danke Galina Antoschewskaja, Oksana<br />
Bulgakowa, Jan Czaikowski, Dietmar Dath,<br />
H.-M. Enzensberger, Agnes Ganseforth, Boris<br />
Groys, Durs Grünbein, Ute Hannig, Hannelore<br />
Hoger, Günter Hörmann, Rudolf Kersting,<br />
Heather McDonnell, Sophie Kluge, Charlotte<br />
Müller, Oskar Negt, Thomas Niehans, Gabriel<br />
Raath, Irmela Roelcke, Sophie Rois, Helge<br />
Schnei<strong>der</strong>, Werner Schröter, Peter Sloterdijk,<br />
Rainer Stollmann, Andreas Tobias, Tom<br />
Tykwer, Joseph Vogl für die Kooperation.<br />
Kamera und Lettering Michael Christ, Erich<br />
Harandt, Werner Lüring, Claudia Marcell,<br />
Heribert Kansy, Thomas Mauch, Thomas<br />
Willke, Walter Lennertz<br />
Postproduction, Schrift und Schnitt Kajetan<br />
Forstner, Andreas Kern<br />
Mitarbeit Roland Forstner, Michael Kurz, Toni<br />
Werner, Erich Harandt, Michel Gaißmayer,<br />
Claudia Toursarkissian, Beata Wiggen,<br />
Alexan<strong>der</strong> Weil<br />
Das Team von Tom Tykwer:<br />
Kamera Frank Griebe<br />
Kamerassistenz Christian Almesberger<br />
Spezialeffekte / Bildbearbeitung Viktor Müller<br />
Ton Frank Kruse<br />
Musik Tykwer / Klimek / Heil<br />
Produktionskoordination Svenja Rieck<br />
Eilige Frau Marie Steinmann<br />
Recherche Zita Gottschling / Svenja Rieck<br />
10. – 16. Oktober 2008, <strong>Stadtkino</strong><br />
Beginnzeiten auf Seite 4