C ONTRA P UNCTUS - dresdner palais-gespräche
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132 Busch: Business-Plan für Telemedizinprojekte<br />
In diesem Zusammenhang wichtig ist auch die Frage der „Make or Buy“ Strategien<br />
für bestimmte Entwicklungs- und Produktionsstufen. Bei der Beschreibung der Produktionsprozesse<br />
sollte ein besonderes Augenmerk auf das Personal, seine Expertise,<br />
die mittelfristige Personalbeschaffung gelegt werden. In diesem Zusammenhang<br />
sei erwähnt, dass in der Regel bei den hier genannten Projekten gerade die<br />
personelle Zusammensetzung (das Team) zu Beginn den „Motor“ und den wesentlichen<br />
Wert der gesamten Unternehmung ausmacht.<br />
Gerade in innovativen Projekten der Telemedizin, die mehrheitlich von Technikern<br />
und Medizinern initiiert und entwickelt worden sind, wird gerne unterschätzt, dass<br />
Produktideen nur erfolgreich im Markt platziert werden können, wenn die Kunden<br />
darüber informiert und Vertriebsaktivitäten entsprechend geplant und umgesetzt<br />
werden. Dies ist unter Umständen mit erheblichem Aufwand verbunden. Eine entsprechende<br />
Berücksichtigung im Business-Plan ist – nicht zuletzt aus kaufmännischer<br />
Vorsicht – unumgänglich. Ähnliches gilt für die Kostenkomponenten Werbung<br />
und Promotion. Der Business-Plan mündet nach einer eher qualitativen Beschreibung<br />
des Geschäftskonzepts in einer formalen quantitativen Betrachtung mit folgenden<br />
Elementen:<br />
■ Gewinn- und Verlustrechnung, im ersten Jahr auf Monatsbasis, danach mit<br />
Jahreswerten,<br />
■ Bilanz, d. h. einer Stichtagsbetrachtung der Vermögens- und Schuldenlage,<br />
■ Cash-Flow-Rechnung als Grundlage zur Berechnung des Kapitalbedarfs und als<br />
Ausgangsbasis zur Bewertung des Unternehmens,<br />
■ Kapitalflussrechnung für die Festlegung der geplante Kapitalstruktur sowie Formen<br />
und Zeitraum der Bedienung (Pay Back) und verschiedener<br />
■ Rentabilitätskennzahlen, wie Nettowert (NPV), Interne Verzinsung (IRR), Break-<br />
Even-Point, EBITDA-Marge etc.<br />
3. Zusammenfassung<br />
Telemedizinprojekte bedürfen, wollen sie den Status von Pilot- und Forschungsprojekten<br />
verlassen, ausreichender Finanzierungsmittel, um auch zu einem kommerziellen<br />
Erfolg zu werden. Insofern unterscheidet sich die Telemedizin nicht von<br />
anderen Zukunftsbranchen. Auch wenn Business-Pläne die grundsätzliche Rentabilität<br />
von Telemedizinprojekten nicht bestimmen, so helfen sie doch, Transparenz<br />
und Struktur in Geschäftsideen zu bringen und leisten somit einen Beitrag dazu,<br />
Kapitalgeber von der Sinnfälligkeit dieser Vorhaben zu überzeugen.<br />
Schlüsselwörter: Business-Plan, telemedizinische Netzwerke,<br />
Gesundheitsökonomie<br />
C <strong>ONTRA</strong><br />
P <strong>UNCTUS</strong>
134 Matz: Urin – Glanz und Elend<br />
Health Academy 01/2003 135<br />
URIN –<br />
GLANZ UND ELEND EINER ENTSORGUNGSGRÖSSE<br />
■<br />
M. Matz<br />
Goetheallee 35, D-01309 Dresden<br />
„Die Albernheit ist eine (männliche*) Tugend,<br />
die Geist voraussetzt, um ihn aufgeben zu können<br />
und Ordnung, um sie stürzen zu können ...<br />
Kameraden hilft man. Kollegen mißtraut man.<br />
Mit Freunden ist man albern.“<br />
Dr. Curt Emmerich, alias Peter Bamm<br />
vergleichliche männliche Harnstrahl in seiner symbolhaft maskulin-bogenförmigen<br />
Kraftentfaltung und Schönheit zum Anlass der Geschlechtsumwandlung? Was hier<br />
machtpolitisch vor sich gegangen ist, wir wissen es nicht! Die nächste Überraschung<br />
folgt auf dem Fuße, nämlich beim Weiterlesen im lateinischen Wörterbuch.<br />
Hier stößt man nach besagter urina auf das Wort urinator, und dies ist nun keineswegs<br />
ein mit Urin direkt Umgehender oder ihn Verarbeitender, sondern urinator<br />
heißt einfach: der Taucher. Dem vielleicht jetzt beim Leser einsetzenden assoziativen<br />
Grübeln sind keine Grenzen gesetzt. Es empfiehlt sich allerdings, die<br />
Phantasie zu zügeln, denn auch dieser semantische Rebus bleibt ungelöst. Was<br />
bleibt, ist lediglich als Glücksfall der Weltgeschichte zu preisen, nämlich, dass der<br />
heutige Urologe nicht auch zugleich als urinator im zuständigen Medium tätig werden<br />
muss.<br />
1. Semantisch-mythologischer Zugang<br />
Bei der Annäherung an dieses intim-feuchte Schicksalsthema hat man bereits im<br />
Vorfeld, gleichsam präliminar, eine Reihe von genealogischen Merkwürdigkeiten<br />
zu passieren. Die erste Irritation entsteht anlässlich der Feststellung, dass urina,<br />
Genitiv urinae, im Lateinischen eindeutig als weibliches Substantiv ausgewiesen<br />
ist, in unserem Sprachgebrauch als der Urin oder der Harn jedoch ebenso unbezweifelbar<br />
zum Maskulinum übergewechselt hat. Was steckt dahinter? Ist das ein<br />
Ableger des geradezu hemmungslosen, getalkten und geouteten transsexuellen<br />
Konflikts? Man denkt als alter Lateiner an dieser Stelle aber unwillkürlich auch an<br />
die geläufige Konversion von sol, männlich, bezogen auf den Sonnengott Helios<br />
und luna, weiblich, bezogen auf die Mondgöttin gleichen Namens, die beide im<br />
Deutschen gleichfalls mutierten, und zwar in die Sonne, weiblich, und der Mond,<br />
männlich. Dass es für die urina aus genannten Gründen in grauer Vorzeit einmal<br />
eine Schutzgöttin, etwa in der Gestalt einer fontänetragenden oder einer im plätschernden<br />
Bach beiwohnenden Nymphe gegeben haben sollte, bleibt nach allen<br />
uns überlieferten mythologischen Indiskretionen unwahrscheinlich. Ließ andererseits<br />
vielleicht der Charakter des Urins – glitzernd, wandlungsfähig, flüchtig,<br />
„e’ mobile“ (wie schon der Herzog von Mantua in Verdi’s Oper „Rigoletto“ zu klagen<br />
wusste) – eine ursprüngliche Deutung als weibliche Wesenheit zu? Und wurde<br />
dann in einer späteren, vorzugsweise patriarchalischen Gesellschaftsform der un-<br />
▲<br />
Abb. 1<br />
Lerouge: „LE MÉDICINE AUX URINES“, Radierung nach Plonski, Mitte 18. Jahrhundert, im<br />
Besitz des Autors.<br />
2. Auf den Spuren einer (analgesteuerten?)<br />
Diffamierung<br />
Dieses Stichwort aufgreifend, besteht gegenwärtig also erleichternderweise kein<br />
Zweifel daran, dass die medizinische Fachbezeichnung Urologie von dem Wort<br />
Urin abzuleiten ist, aber die nächste Überraschung steht schon bereit und verkündet<br />
diesmal Unheil: Alle auf eine Organspezialisierung in Sonderheit mit äußerer<br />
Körperöffnung bezogenen medizinischen Fachbereiche, wie z. B. Gastroenterologie,<br />
Otorhinolaryngologie, Bronchologie, Proktologie usw. werden taktvoll-schonenderweise<br />
nach dem Organ selbst benannt (die Nephrologie hat hier gerade<br />
noch die Kurve gekriegt). Einzig und allein die Urologie wird nach dem benannt,<br />
was aus dem zugeordneten Organsystem herauskommt. Und das ist nach allgemein<br />
zivilisierter Auffassung nichts Feines. Wir haben hier also auf bestürzende<br />
Weise den in der Medizingeschichte einmaligen Fall einer diffamierenden Terminologie<br />
vor uns. Warum das?<br />
Könnte man doch mit dem gleichen Recht beispielsweise den Proktologen, den der<br />
Volksmund geradezu liebevoll-ironisch, fast ehrerbietig als „Archäologen“ tituliert,<br />
ebenso, in Sonderheit im besser klingenden Französisch, als „Merdeologen“ o. ä.<br />
benennen. Als Urologe erspare ich mir hier trotz berufsbezogener Betroffenheit<br />
und narzisstischer Gekränktheit ob der genannten Diskriminierung weitere Überlegungen,<br />
z. B. die einer Anwendung der volkstümlichen Bezeichnung dessen, was<br />
aus der Nase flüssig oder korpuskulär kommt, auf eine Berufsbezeichnung für den<br />
HNO-Kollegen usw.<br />
Aber woher stammt eigentlich diese Diskriminierung des Urins und damit des Urologen?<br />
Handelt es sich um eine Intrige? Eine Verschwörung der übrigen Fachdisziplinen?<br />
Hier besteht offensichtlich extremer Klärungsbedarf.
136 Matz: Urin – Glanz und Elend Health Academy 01/2003 137<br />
3. Ein Plädoyer pro urinam<br />
Zwar liegt der Urin in der Hierarchie der Körperflüssigkeiten nach Blut, Lymphe<br />
und Liquor im unteren Drittel der Tabelle, im Sportjargon trägt er eigentlich schon<br />
die rote Laterne. Der Urin gilt landläufig als Abwasser und die mit ihm Befassten<br />
sind letztlich im Verständnis der Umwelt Kanalarbeiter. Aber welches, so muss man<br />
schockiert und empört zugleich fragen, welches unter den aus dem Körper austretenden<br />
so genannten Endprodukten kann sich dem Urin gleich rühmen, Ergebnis<br />
einer geradezu superentwickelten HighTech-Bearbeitung zu sein, die in absolut<br />
unübertreffbarer superkybernetischer Präzision unseren Körper neben optimaler<br />
Entgiftung in biologisch maximal super differenzierter Weise den Wasser- und<br />
Mineralhaushalt harmonisiert? Nach selektivem Filterungs-, Sezernierungs- und<br />
Resorptionsbemühen der Nieren und Passage eines unübertroffen koordinierten<br />
Transportsystems, dem sich der als Kloakenwart geschmähte Urologe mit besonderem<br />
Berufseifer widmet, wird im rhythmischen Timing eine gelbe Flüssigkeit aus<br />
einem Röhrensystem ausgestoßen, die zwar als Schlacke gilt und der Verwerfung<br />
anheim fällt, die aber, da sie zu über 90 % aus Wasser und aus mehr als 1000<br />
anderen Substanzen besteht, beispielsweise in Nachkriegs- oder Notzeiten, wenn<br />
es Eichelkaffee und Steckrübensuppe gibt, ein durchaus vollwertiges recyclefähiges<br />
Substrat präsentiert. Das ist doch echt stark! Auf der intensiven Suche nach<br />
dem Ursprung eben der benannten Diffamierung stellt sich nunmehr erstmalig der<br />
Verdacht ein, dass die anatomische Nähe zum wirklich grottenschlechten und weitgehend<br />
gemiedenen Mastdarminhalt (lediglich interessant für Babys in der analen<br />
Phase und für Koprophagen) eine wesentliche Rolle gespielt haben könnte. Für den<br />
miesen animalischen Charakter letztgenannter, ans Tageslicht gedrückter Ampullenmasse<br />
spricht zunächst einmal, dass sie ständig opportunistisch ihr Geschlecht<br />
von männlich (der Stuhlgang, der Kot) zu weiblich (die Sch...) wechselt und umgekehrt,<br />
und dass die weibliche Variante inzwischen international als ausdrucksstärkste,<br />
am häufigsten gebrauchte Negativierungs- und Beschimpfungsverbalie mit<br />
hoher Effizienz zum Einsatz gebracht wird. Viel benutzt als vulgäre, personenanzügliche<br />
Verbalie im Singular bzw. Plural wird in diesem Zusammenhang übrigens<br />
auch die Körperöffnung, durch die besagter Unrat das Licht der Welt erblickt.<br />
Ganz und gar überlegen erweist sich der Harn in politischer Hinsicht: Fand sein<br />
attraktiv-dekoratives Goldgelb vor vielen Dezennien bereits Aufnahme in die nationale<br />
Trikolore von unlängst staatlich wiedervereinigten germanisch-teutonischen<br />
Volksstämmen, so diente das Braun des Mastdarmexprimates, wie bekannt, einem<br />
einstmals eingedeutschten Österreicher zur Einfärbung seiner 1000jährigen Bewegung,<br />
die vor über 50 Jahren ein übles Ende fand.<br />
Aber es liegen im genannten uroanalen Zivilvergleich noch weitere, entscheidende<br />
urinseitige Vorzüge an, von denen nur einige genannt seien:<br />
Abb. 2<br />
Rembrandt, Harmensz van Rijn:<br />
Ganymed in den Fängen des Adlers.<br />
Öl auf Eichenholz, 1635,<br />
Staatliche Kunstsammlungen Dresden,<br />
Gemäldegalerie Alte Meister.<br />
© SLUB/Deutsche Fotothek<br />
(Herbert Ludwig, 1958)<br />
Die jahrhundertealte Tradition der medizinischen Nutzung (Uroskopie, Uromantie),<br />
deren Wert bezüglich der Aussage von Befindlichkeit und Organfunktion<br />
sich bis heute erhalten und entscheidend gesteigert hat (Abb. 1). In diesem<br />
Sinne gibt es z. B. Sammelurin; Sammelkot ist jedoch international unbekannt.<br />
Der ehemals – vor der Kunstdüngerära – weitaus höhere Nutzungsgrad des<br />
Urins als wertgeschätzter Stickstofflieferant für die Landwirtschaft.<br />
Die geruchs- und konsistenzbezogene Flüchtigkeit des Urins in der freien<br />
Natur durch Einsickern in die Erde. Kot bleibt als morphologischer Schandfleck,<br />
sich nur allmählich zersetzend, Ungeziefer anziehend, langzeitig demonstrativ<br />
existent.<br />
Urin diente zur Behandlung offener Wunden, vor allem zu Kriegszeiten.<br />
Erwachsene nächtliche Enuretiker sind vom Militärdienst befreit, kindliche können<br />
Protest demonstrieren gegen mangelnde Zuwendung.<br />
Öffentliche Pissoirs sind Treffpunkte gleichgeschlechtlich Interessierter, haben<br />
also gesellschaftliche Bedeutung als Stätten menschlicher Begegnung, Kommunikation<br />
und Selbsthilfeorganisation.
138 Matz: Urin – Glanz und Elend Health Academy 01/2003 139<br />
Von besonderer Bedeutung für den militärischen und zivilen Geheim- und Abwehrdienst:<br />
Urin kann als Geheimtinte verwendet werden.<br />
Urin weist im Gegensatz zum Kot bei seiner Entleerung die höhere Ästhetik auf:<br />
Man denke beim Hund beispielsweise an das tänzerisch-elegante Heben des<br />
Hinterlaufs einerseits und andererseits an dasselbe hinterläufig breitbeinig hockende,<br />
zitternde Wesen, mit fast aus dem Kopf fallenden hervorquellenden<br />
Augäpfeln, ein Bild des tiefsten Jammers und der Qual, das mit äußerster Kraftanwendung,<br />
offenbar unter Schmerzen, seine zivilisatorische Koprostase zu<br />
überwinden sucht, unter zuverlässigem Beistand seines Herrchens, vor allem<br />
auf Bürgersteigen und öffentlichen Plätzen. Städte, wie z. B. Paris, drohen zeitweilig<br />
im Hundekot zu versinken, von einer Überschwemmung durch Urin hat<br />
man noch nie etwas gehört.<br />
Urin wird, vorzugsweise im Tierreich, von seinem Produzenten, vornehmlich<br />
Hunden und Katzen, als ordnungshaltende und stabilisierende Revierabgrenzung<br />
eingesetzt – ein unübertroffenes Politikum als beispielgebendes Modell<br />
der Befriedung, allerdings gegenwärtig in den Krisengebieten der Welt in<br />
dieser Form (noch?) nicht möglich.<br />
Abb. 3<br />
Wilhelm Busch: Pissender Mann.<br />
Ölskizze, nach 1870,<br />
Staatliche Kunstsammlungen Dresden,<br />
Gemäldegalerie Neue Meister<br />
© Staatliche Kunstsammlungen Dresden,<br />
Gemäldegalerie Neue Meister<br />
Aber auch Urin als spezifische Überraschungswaffe im Kampf gegen Recht und<br />
Ordnung findet Anwendung. Auf einen, von keinem geringeren als Johann<br />
Wolfgang von Goethe literarisch bearbeiteten, authentischen Fall soll später<br />
eingegangen werden.<br />
Trotz dieser dargestellten übermächtigen Dominanz der urinösen Vorzüge bleibt<br />
seine gesellschaftliche Nichtakzeptanz und somit weiterhin der Verdacht erhalten,<br />
dass sein erzwungenes Understatement dem schlechten Ruf und Geruch des<br />
Analexprimats anzulasten ist. Hierzu vermag denn auch ein Blick in die biologische<br />
Evolution überraschend enthüllende Aspekte zu vermitteln.<br />
4. Schuldanteile der evolutionären Schöpfung und die<br />
Folgen<br />
Dem Aggregatzustand des lebenhervorbringenden Wassers ursprünglich bei Einzellern<br />
gleich und damit von höchstem biologischen Niveau, kam es für die Entität<br />
Harn danach für viele Jahrmillionen zum Absturz durch eine äußerst bedenkliche<br />
körperliche Vereinigung mit dem niederen Kot in Gestalt der Kloake bei Fischen,<br />
Amphibien und Vögeln. Dass diese Zwangsgemeinschaft aufgrund äußerst extremer<br />
Ätzwirkung einen unheilvollen Charakter trägt und regelrechte Verwüstungen<br />
anrichtet, erkennt man noch heute an den unzähligen, vorzugsweise von Taubenkot<br />
entstellten und unwiederbringlich zerstörten Fassaden, Bauwerken oder freistehenden<br />
Büsten berühmter Zeitgenossen.<br />
Es war dies der evolutionär-soziale Tiefpunkt eines an den langzeithaftenden Kot<br />
gefesselten, mitgefangenen und mitgehangenen Harns und mit größter Wahrscheinlichkeit<br />
die eigentliche historische Ursache seiner später fortdauernd tradierten<br />
Degradierung. Ja, die war es wohl.<br />
Mutation und Selektion in Schöpferhand haben dieses fatale kreative Versehen<br />
noch zu korrigieren versucht und entwickelten daher und offenbar nur deswegen<br />
flugs den Säugetiertyp, bei dem infolge eines speziell differenzierten Zeugungsund<br />
Gebärsystems wieder eine Separierung von Harnröhren- und Analtrakt möglich<br />
wurde. Dazu gesellte sich als zusätzliche Aufwertung (und Wiedergutmachung?)<br />
eine Vereinigung von harn- und samenführenden Systemen zur männlichen<br />
Harnsamenröhre, für den Urin und sein Image eine hochkarätige Gelegenheit zur<br />
Begegnung mit der spermienbezogenen, potenziellen Unsterblichkeit. Eine klare<br />
Versöhnungsgeste!<br />
Aber es war zu spät, die Mühlen des Schöpfers hatten diesmal zu langsam gemahlen.<br />
Trotz seiner wieder erreichten souveränen Eigenständigkeit lastete der fäkalische<br />
Fluch menetekelhaft weiterhin auf dem Harn, es verblieb hier eine anatomisch
140 Matz: Urin – Glanz und Elend Health Academy 01/2003 141<br />
leider weiterhin zu enge Nachbarschaft zum analen Orkus und zu allem Übel auch<br />
noch im Unterleib, dem das althergebrachte Odium des Unanständigen und Verruchten<br />
bis in unsere Tage trotz aller Liberalisierung anhaftet. Diese Zurückstellung<br />
reflektierten auch bildende Kunst, Literatur und Musik im Laufe der Jahrhunderte.<br />
Während von den Urbedürfnissen des Menschen, weil mit Lustgewinn verbunden,<br />
namentlich Essen, Trinken und Lieben reichhaltige Würdigung in allen künstlerischen<br />
Bereichen erfuhren, blieb die Harnentleerung, obwohl auch an ein erhabenes<br />
Gefühl der Befreiung und damit an Wohlgefühle gebunden, weitgehend vernachlässigt,<br />
begründet ursächlich wiederum durch ihre nachgewiesene schmachvolle<br />
Bindung an den analen Nachbarn, dessen negative Ästhetik von vornherein<br />
ein Tabu für jegliche künstlerische Bewältigung darstellt.<br />
In der Musik, sieht man einmal von Händels „Wassermusik“, zumindest in der symbolischen<br />
Fontänendarstellung ab, gestaltet sich die visuelle oder akustische Umsetzung<br />
sicher a priori problematisch. In der Malerei und Bildhauerei gibt es spärlich<br />
bekannte Versuche, ursprünglich vorzugsweise bei unschuldigen Knaben (Abb. 2),<br />
vereinzelt auch bei Männern (Abb. 3) und dies immer - auffälligerweise - von<br />
Künstlern aus Ländern in Meeresnähe.<br />
In der klassischen europäischen Literatur hat sich der jugendlich stürmende und<br />
dranghafte Goethe, wie bereits erwähnt, allerdings vorsichtigerweise allegorisch<br />
im Tierreich angesiedelt, nämlich in „Reineke Fuchs“, harnbezogen lyrisch geäußert<br />
[1]. Im 12. und letzten Gesang dieses noch heute genussvoll lesenswerten, in<br />
wundervolle Hexameter gefassten Epos hat der listige Bösewicht Reineke vor königlichem<br />
Tribunal in einer Art Gottesgericht gegen den von ihm geschädigten Isegrim<br />
anzutreten (Abb. 4). Er eröffnet den Zweikampf mit einem teuflischen Trick:<br />
„...Reineke, leichter als er, entsprang dem stürmischen Gegner<br />
und benetzte behende den rauhen Wedel mit seinem<br />
ätzenden Wasser und schleift ihn im Staube, mit Sand ihn zu füllen.<br />
Isegrim dachte, nun hab er ihn schon! Da schlug ihn der Lose<br />
über die Augen den Schwanz, und Hören und Sehen verging ihm.<br />
Nicht das erste Mal übte er die List, schon viele Geschöpfe<br />
hatten die schädliche Kraft des ätzenden Wassers erfahren ...“<br />
Der Kampf wogte dennoch hin und her, letztlich befreite Reineke sich aus allerdings<br />
tödlicher Umklammerung und siegte durch „...zwischen die Schenkel des<br />
Gegners greifen und rucken und zerren an den empfindlichen Teilen ...“.<br />
Bei heutigen Ringkämpfen ist diese Technik noch nicht eingeführt.<br />
Grundsätzliche literarische Weisheiten äußern sich z. B. im bekannten Bonmot<br />
(Autor umstritten):<br />
„Zwei Dinge trüben sich beim Kranken,<br />
a) der Urin, b) die Gedanken.“<br />
Abb. 4<br />
Adrian von Schluch: Isegrimm,<br />
von Reineke geblendet.<br />
Kupferstich um 1840 nach<br />
Wilhelm von Kaulbach<br />
(Illustration zu „Reineke Fuchs“<br />
von J. W. v. Goethe)<br />
© SLUB/Deutsche Fotothek<br />
(Walter Möbius, 1935)<br />
Oder bei Wilhelm Busch:<br />
„... Mümmelmänner, grau und kalt,<br />
sind oft 70 Jahre alt,<br />
waschen selten sich mit Seife,<br />
rauchen aus ’ner kalten Pfeife,<br />
tragen meistens schäbige Hüte,<br />
Schnupfen aus der Tabakstüte.<br />
Oft auch ist die Frau gestorben,<br />
der Geschlechtstrieb ist verdorben ...“.<br />
Und am Schluss die so herrlich nachempfundene Zeile:<br />
„... und in größter Seelenruh’<br />
wässert er sich auf die Schuh’.“<br />
Natürlicherweise sublimiert, weil oft politische Anspielungen hierin verborgen sind,<br />
sprechen sich die Dinge in der derben oder deftigen Spruchweisheit des Volksmundes<br />
aus, zum Beispiel: „Wer wider den Wind brunzt, macht nasse Hosen.“<br />
Norman Mailer hat einmal zu dem Thema definiert: „Ein Ghostwriter ist ein Mann,<br />
der das uriniert, was andere getrunken haben.“. Aber das sind nur Stichproben<br />
aus einer früheren Zeit.
142 Matz: Urin – Glanz und Elend Health Academy 01/2003 143<br />
5. Per aspera ad astra: Hoffnungsvoller Aufwind des<br />
Urins in Kultur und Gesellschaft<br />
Ahnungsvoll den Vorgängen der gegenwärtig aktuellen, umfassenden Enttabuisierung<br />
in allen Lebensbereichen, gemäß der Forderung „Gefühle zeigen“ und den<br />
zur Kenntnis nehmenden mediengesteuerten Lebensgefühlen folgend, registriert der<br />
Chronist unserer Zeit auch den Silberstreif am Horizont einer urinösen Befreiung.<br />
Zwar ist das Ziel einer Einordnung des menschlichen Urinierens als normale und<br />
vor allem vorzeigbare Handlung im Alltag noch nicht erreicht, und zweifellos muss<br />
die Bestrafung von Freiluftpinklern in New York mit 24 Stunden Knast als ernster<br />
Rückfall in dieser Vorwärtsbewegung betrachtet werden.<br />
Aber auf den Brettern, die die Welt bedeuten und nach Friedrich Schiller auch als<br />
moralische Anstalt aufzufassen sind, haben geniale bzw. von sich und anderen für<br />
genial gehaltene, profilierungsbeflissene Regisseure und Dramaturgen, nachdem<br />
sie exhibitionistische und koitale Handlungen zur Norm qualifizierten, auch für den<br />
öffentlichen Miktionsakt einen Durchbruch geschaffen. Konnte man bei einer Inszenierung<br />
der „Verkauften Braut“ [2] vor einigen Jahren die beiden Partner Hans und<br />
Kezal mit dem bekannten Duett „Komm mein Söhnchen, auf ein Wort ...“ in einem<br />
Pissoir, urinlassend und zwischenzeitlich Bier trinkend, mit Interesse verfolgen, so<br />
hat inzwischen auch die Sprechbühne progressive Großtaten vollbracht. So traten<br />
in einer Hamburger Inszenierung der „Bakchen“ nach Euripides [3] auf offener<br />
Bühne pinkelnde Darstellerinnen auf, wobei allein das präzise Timing des zeitgerechten<br />
Harndranges und Harnflusses eine besondere, total künstlerische Leistung<br />
darstellte, und andererseits das Sensorium der Zuschauer natürlicherweise weniger<br />
optisch als vielmehr akustisch außerordentlichen Anregungen ausgesetzt war.<br />
Frohe Kunde dazu kam auch aus Berlin, wo eine Inszenierung des „König Lear“<br />
mit einer auf offener Bühne urinierenden Cordelia rauschende Triumphe im doppelten<br />
Sinne des Wortes feierte [4].<br />
Die Schickeria, bekannt als Wegbereiter, Avantgarde und Claqueur des wahrhaften<br />
und echten kulturellen Fortschritts, ist bereits in ein Jubelgeheul ob dieser urinogenen<br />
Wende ausgebrochen. Was sind da schon Piercing und Tatoo im Genitalbereich,<br />
wenn man sie ja doch nicht öffentlich vorführen kann!<br />
Und von den Innovationen auf dem Büchermarkt ist ebenfalls Zukunftsweisendes zu<br />
vermelden, auch wenn dabei der Anschluss an die Weltliteratur bisher nur knapp<br />
verpasst wurde. Einsame Spitze sind Trendsetter, wie<br />
Mein Urin gehört mir, 1996 [5],<br />
Die Eigenharnbehandlung – Erfahrungen und Beobachtungen, 1997 [6],<br />
Erfahrungen mit Urin. Briefe zum besonderen Saft, 1998 [7],<br />
Lebenssaft Urin - die heilende Kraft, 1998 [8],<br />
Urin – Wasser des Lebens, 2002 [9].<br />
Sie verkünden und umfassen universelle interne und externe medizinische Behandlungssysteme<br />
von Asthma bis Migräne, von denen Samuel Hahnemann [10] oder<br />
Sebastian Kneipp [11] seinerzeit nur hätten träumen können.<br />
Somit wird dem Verstocktesten klar, hier geschieht etwas Epochales, „es menschelt“<br />
nicht nur, „es harnt“ auch, als Teil einer revolutionären Selbstverwirklichung des<br />
Menschen. Hier wird nicht mit kämpferischem Pathos aufgerufen „Freiharner aller<br />
Länder, vereinigt euch“, es geht auch nicht um die Parole: „Miktionsfreiheit, Miktionsgleichheit,<br />
Miktionsbrüderlichkeit“, der Zeitgeist weiß es längst besser:<br />
Der Urin hat einen guten Lauf, er setzt sich nicht nur ab, sondern auch durch. Sein<br />
unaufhaltsamer gesellschaftlich-rehabilitiver Aufstieg bedeutet auch für den Urologen<br />
den Beginn einer gerechten Welt, die unerträgliche Leichtigkeit des Untersichseins<br />
durch Untersichlassen hat begonnen.<br />
6. Anmerkungen und Literatur<br />
[1] Goethe JW: Reineke Fuchs. Verlag der Nation, Berlin 1982.<br />
[2] Bedrich Smetana „Die Verkaufte Braut“, Inszenierung 1993 von Peter Konwitschny in<br />
der Semperoper zu Dresden.<br />
[3] Euripides „Bakchen“, Inszenierung 1992 von Ivo van Hove im Schauspielhaus in<br />
Hamburg.<br />
[4] William Shakespeare „König Lear“, Inszenierung 1992 von Frank Castorf in der<br />
Volksbühne Berlin.<br />
[5] Rippchen R (Hrsg.): Mein Urin gehört mir. W. Pieper Verlag, Löhrbach 1996.<br />
[6] Abele J: Die Eigenharnbehandlung – Erfahrungen und Beobachtungen. Haug Verlag,<br />
Stuttgart 1995.<br />
[7] Thomas C: Erfahrungen mit Urin. Briefe zum besonderen Saft. VGS Verlagsgesellschaft,<br />
Köln 1998.<br />
[8] Hötig H, Boekhoff A: Lebenssaft Urin. Die heilende Kraft. Goldmann-Verlag, 1998.<br />
[9] Armstrong JW: Urin - Wasser des Lebens. Allmann Verlag, 2002.<br />
[10]<br />
[11]<br />
Christian Friedrich Samuel Hahnemann (1755-1843), Arzt, Hygieniker, Pharmazeut<br />
und Psychiater. Begründer der Homöopathie.<br />
Sebastian Kneipp (1821-1897), katholischer Geistlicher und Naturheilkundler.<br />
* Parenthese vom Verfasser eingefügt.