also freie Morpheme, die - Universität Konstanz
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1. Grundbegriffe<br />
1 Definition: Wort<br />
(1) Morphologie (Linguistik):<br />
Morphologie ist <strong>die</strong> Lehre des Aufbaus komplexer Wörter.<br />
Frage:<br />
Was ist ein Wort?<br />
Antwort:<br />
Es gibt keine einheitliche Definition für “Wort”. Je nach der linguistischen Ebene, von der man<br />
ausgeht, kann man “Wort” unterschiedlich definieren.<br />
1. Phonologisches Wort: Ein Wort ist eine isolierbare phonologische Einheit. Beispiel: In<br />
(3) sind alle Beispiele phonologische Wörter, (auch wenn wir sie intuitiv wohl nicht als<br />
Wörter bezeichnen würden).<br />
(2) a. hallo /"hal:o/<br />
b. ein Sumpf /Paın"zÚmpf/<br />
c. da hat er /da:"hat5/<br />
Liegt <strong>die</strong> phonologische Wortdefinition zugrunde, so sind <strong>die</strong> Beispiele in (3) alle verschiedene<br />
Wörter.<br />
(3) a. Haus<br />
b. Hauses<br />
c. Häuser<br />
2. Grafisches Wort: Ein Wort ist eine grafisch isolierbare Einheit. Beispiel: In (4) enthält<br />
jede Zeile 6 grafische Wörter<br />
(4) a. Ein Sumpf zieht am Gebirge hin<br />
b. da hat er <strong>die</strong> Wendeltreppe gekehrt<br />
Noch ein Beispiel: Liegt <strong>die</strong> grafische Wortdefinition zugrunde, so ist (5a) ein Wort, (5b)<br />
dagegen besteht aus 2 Wörtern.<br />
(5) a. einatmen<br />
b. Atme ein!<br />
1
Einführung in <strong>die</strong> Morphologie des Deutschen<br />
3. Semantisches Wort (=Lexem): Ein Wort ist eine selbständige Bedeutungseinheit (<strong>die</strong> z.B.<br />
im Lexikon angeführt ist). Z.B. können auch ganze Wortgruppen ein einzelnes Lexem bilden<br />
(Phraseologismen: den Löffel abgeben, eine Gardinenpredigt halten). Nach <strong>die</strong>ser Definition<br />
haben “Wörter” mit rein grammatischem Gehalt (Artikel, Auxiliare, Modalverben,<br />
Komplementierer; z.B. der, haben, sollen, dass, zu) strenggenommen keinen Wortstatus.<br />
Das ist aber nicht das Desideratum.<br />
4. Morphologisches Wort: Ein Wort ist ein aus mindestens 1 Basismorphem bestehende<br />
Struktureinheit (<strong>also</strong> <strong>freie</strong> <strong>Morpheme</strong>, <strong>die</strong> mit Präfixen oder Suffixen kombiniert sein<br />
können). Beispiel:<br />
(6) a. Ein Sumpf zieht am Gebirge hin (5 morphologische Wörter – zieht hin gilt nach<br />
<strong>die</strong>ser Definition als 1 Wort)<br />
b. da hat er <strong>die</strong> Wendeltreppe gekehrt (6 morphologische Wörter)<br />
In (6b) gelten sowohl nach der grafischen Definition als auch nach der morphologischen<br />
Definition <strong>die</strong> gleichen Einheiten als Wörter. In anderen Sprachen ist das aber durchaus<br />
nicht so:<br />
(7) a. Englisch: spiral stairs (2 grafische Wörter, 1 morphologisches Wort)<br />
b. Französisch: escalier en colimaçon (3 grafische Wörter, 1 morphologisches Wort)<br />
5. Syntaktisches Wort: Ein Wort ist eine minimale frei vorkommende Form, <strong>die</strong> in ein Syntagma<br />
eingesetzt werden kann und Kern (=Kopf) einer syntaktischen Konstituente (=Phrase)<br />
sein kann. Beispiel: In (8) sind z.B. <strong>die</strong> Einheiten in den geschweiften Klammern<br />
syntaktische Wörter.<br />
(8) a. Ich esse eine {Pizza/ Möhre/ Ente/ Krake}.<br />
b. Ich esse eine {große/ heiße/ vegetarische/ vergammelte} Pizza.<br />
c. Ich {esse/ backe/ belege/ zerschneide} eine Pizza.<br />
Frage:<br />
Was ist <strong>die</strong> für morphologische Analysen nützlichste Definition von Wort?<br />
Antwort:<br />
Was ein Wort ist bzw. als Wort zählt, lässt sich am besten nach rein formalen und distributionellen<br />
Kriterien bestimmen. Phonologische Gesichtspunkte sind für uns nicht so nützlich,<br />
weil <strong>die</strong> Phänomene, <strong>die</strong> wir betrachten (Flexion, Derivation etc.) nicht auf der Einheit des<br />
phonologischen Worts stattfinden. Die grafische Definition nützt nichts, weil <strong>die</strong> Morphologietheorie<br />
für möglichst viele Sprachen gelten soll; Konventionen der Orthografie (Zusammen- oder<br />
Getrenntschreibung) sind daher als Grundlage für <strong>die</strong> Definition von Wort abwegig. Auch semantische<br />
Gesichtspunkte sind unnütz, weil es Elemente gibt, <strong>die</strong> wir morphologisch analysieren<br />
(<strong>die</strong> <strong>also</strong> Wörter sein soll), <strong>die</strong> aber keine selbständigen Bedeutungsträger sind (Determinierer,<br />
Verbpartikeln).<br />
2
Antje Lahne<br />
SoSe 2009, <strong>Universität</strong> <strong>Konstanz</strong><br />
2 Arten von <strong>Morpheme</strong>n<br />
(9) Morphem:<br />
Ein Morphem ist <strong>die</strong> kleinste bedeutungstragende sprachliche Einheit.<br />
<strong>Morpheme</strong> kann man nach verschiedenen Gesichtspunkten einteilen.<br />
1. Nach der Bedeutung/ Funktion<br />
2. Nach dem Grad der Selbständigkeit<br />
2.1 Einteilung nach der Bedeutung/ Funktion<br />
Wenn man <strong>Morpheme</strong> nach nach ihrer Bedeutung oder Funktion einteilt, dann gibt es folgende<br />
3 Arten:<br />
– Basismorpheme sind <strong>Morpheme</strong> mit lexikalischem Gehalt, <strong>die</strong> typischerweise zu einer lexikalischen<br />
Kategorie gehören. In Beispiel (10) ist denk das Basismorphem:<br />
(10) a. denk-en<br />
b. denk-bar<br />
c. un-denk-bar<br />
d. Denk-aufgabe<br />
e. Ge-dank-en<br />
– Wortbildungsmorpheme (WBM; =Derivationsmorphem) sind <strong>Morpheme</strong> mit (meist schwächerem<br />
oder abstraktem) lexikalischem Gehalt, mit denen sich neue Wörter ableiten lassen, z.B:<br />
-bar, un-. Bei der Ableitung kann sich <strong>die</strong> Wortart ändern. Beispiele:<br />
(11)<br />
WBM grammatische Inf. Lexikalische Inf. Beispiel<br />
-bar Adjektiv ‘Man kann X X-en’ ess- → essbar<br />
-isieren Verb Handlung Katalog → katalogisieren<br />
-tät Substantiv Abstraktum Moral → Moralität<br />
-schaft Substantiv Abstraktum Freund → Freundschaft<br />
– Flexionsmorpheme sind <strong>Morpheme</strong> mit funktionalem Gehalt, <strong>die</strong> grammatische Kategorien<br />
anzeigen (Kasus, Numerus, Tempus, Person, Genus, Modus, Komparation). Bei der Flexion<br />
ändert sich <strong>die</strong> Wortart nie, z.B. bau-en (Verb), bau-st (Verb), bau-t-est (Verb).<br />
(12)<br />
Lexikalische Kategorie<br />
Verb<br />
Substantiv<br />
Pronomen<br />
Adjektiv<br />
Adverb (einige)<br />
flektiert nach<br />
Person, Numerus, Tempus, Modus, Genus verbi<br />
Kasus, Numerus<br />
Kasus, Numerus, Person, Genus<br />
Kasus, Numerus, Genus, Komparation<br />
Komparation<br />
3
Einführung in <strong>die</strong> Morphologie des Deutschen<br />
2.2 Einteilung nach dem Grad der Selbständigkeit<br />
Wenn man <strong>Morpheme</strong> nach nach ihrem Grad der Selbständigkeit einteilt, dann gibt es folgende<br />
2 Arten:<br />
– Freie <strong>Morpheme</strong>: <strong>Morpheme</strong>, <strong>die</strong> als Wort allein stehen können. Beispiele: Katze, hoch,<br />
möglich, für, <strong>also</strong>, schon<br />
– Gebundene <strong>Morpheme</strong>: <strong>Morpheme</strong>, <strong>die</strong> mit mindestens einem weiteren <strong>freie</strong>n oder gebundenen<br />
Morphem verbunden sein müssen, um ein Wort zu bilden. Beispiel: -bar, un-, -er,<br />
ver-<br />
Frage:<br />
Sind alle Basismorpheme <strong>freie</strong> <strong>Morpheme</strong>?<br />
Antwort:<br />
Nein. Es gibt auch gebundene Basismorpheme. Das sind<br />
– Verbwurzeln. Beispiele: denk-, mach-, geh-<br />
– Unikale <strong>Morpheme</strong> (=Cranberry-<strong>Morpheme</strong>): Basismorpheme, <strong>die</strong> nur in Verbindung mit<br />
einem (oder sehr wenigen) speziellen Morphem auftreten können. Beispiele: Him- (Him-beere;<br />
*Him), -lier- (ver-lier-en, *lier(en)), Zwie- (Zwie-licht, Zwie-facher; *Zwie).<br />
– Konfixe: Basismorpheme aus Fremdsprachen, <strong>die</strong> im Deutschen verkürzt verwendet werden.<br />
Beispiele: Bio- (Bio-laden, Bio-bauer).<br />
3 Fugenelemente<br />
Bei Komposita, insbesondere Nominalkomposita, erscheinen an den Morphemgrenzen häufig<br />
“besondere Verbindungselemente”. Diese werden als Fugenelemente (auch Fugenlaute, Fugenzeichen,<br />
Fugenmorpheme, Kompositionsfugen, Interfixe, Epenthesen) bezeichnet. Fugenelemente<br />
sind:<br />
(13) -e- (Werb-e-plakat)<br />
-s- (Schöpfung-s-mythos)<br />
-es- (Freund-es-kreis)<br />
-n- (Fuge-n-element)<br />
-en- (Form-en-sprache)<br />
-er- (Kind-er-garten)<br />
-ens- (Schmerz-ens-geld)<br />
-o- (morph-o-syntaktisch)<br />
-(e)t- (mein-et-wegen)<br />
-i- (Bräut-i-gam)<br />
Eigenschaften von Fugenelementen:<br />
4
Antje Lahne<br />
SoSe 2009, <strong>Universität</strong> <strong>Konstanz</strong><br />
– Fugenelemente sind synkretisch mit Flexionsmorphemen (Kasus: -s, Numerus: -er). Aber:<br />
In einigen Fällen kann das Fugenelement keine Flexionsendung sein, weil das Morphem, an<br />
das sie angehängt scheinen, aufgrund seiner Flexionsklassenzugehörigkeit eine solche Endung<br />
nicht haben kann. Beispiel:<br />
(14) a. Liebe-s-brief → /-s-/ sieht aus wie ein Genitivmarker, aber Liebe hat keinen Marker<br />
-s in seinem Flexionsinventar.<br />
b. mein-et-wegen<br />
c. Maus-e-loch<br />
– In einigen Fällen sind Fugenelemente optional:<br />
(15) a. Schaf-s-käse<br />
b. Schaf-käse<br />
– In einigen wenigen Fällen sind Fugenelemente bedeutungsunterscheidend:<br />
(16) Gästehaus – Gasthaus<br />
– Das Auftreten von Fugenelemente ist nicht vorhersagbar.<br />
4 Definitionen: Flexion, Wortbildung<br />
(17) Flexion:<br />
Endliche Erweiterbarkeit eines Stammes durch Flexionsaffixe zur Anpassung an den syntaktischen<br />
Kontext.<br />
(18) Wortbildung:<br />
Potentiell unbegrenzte Erweiterbarkeit eines Stammes zur Vergrößerung des Wortschatzes.<br />
2 Arten: Derivation, Komposition.<br />
a. Derivation:<br />
Verbindung von einem Stamm mit Affixen.<br />
a. Komposition:<br />
Verbindung von zwei oder mehr Stämmen.<br />
5 Definitionen: Wurzel – Stamm – Affix<br />
(19) Wurzel:<br />
<strong>Morpheme</strong>, <strong>die</strong> lexikalische Bedeutung tragen und typischerweise zu einer lexikalischen<br />
Klasse gehören.<br />
(20) Stamm:<br />
Form, <strong>die</strong> als Basis für Derivation und Flexion <strong>die</strong>nt. Kann eine Wurzel oder komplexer<br />
Stamm sein.<br />
(21) Affix:<br />
Gebundenes Morphem, das zu keiner lexikalischen Kategorie gehört. Affixe können klassifiziert<br />
werden nach<br />
5
Einführung in <strong>die</strong> Morphologie des Deutschen<br />
– Form: Präfix, Suffix, Infix, Zirkumfix<br />
Präfix: Affix, das der Basis vorausgeht (ent-, zer-, be-)<br />
Suffix: Affix, das der Basis folgt (-st, -en, -er)<br />
Infix: Affix, das in <strong>die</strong> Basis hineingefügt wird (gibt’s wohl nicht im Deutschen, marginal<br />
im Englischen: edu-ma-cation, sophisti-ma-cated; reguläres Phänomen in vielen<br />
Sprachen)<br />
Zirkumfix: Zweigliedriges Affix, das beiderseits einer Basis affigiert wird und dessen<br />
zwei Glieder nicht einzeln auftreten können (Ge-birg-e)<br />
– Funktion: Derivationsaffix, Flexionsaffix<br />
6 Wichtige Unterscheidung: Wortform – Lexem<br />
Frage:<br />
Wie viele verschiedene Wörter hat Beispiel (22)?<br />
(22) Eine Fliege fliegt hinter einer Fliege, <strong>die</strong> hinter einer Fliege fliegt, <strong>also</strong> fliegen zwei Fliegen<br />
hinter einer Fliege.<br />
Antwort:<br />
eine, einer / Fliege, Fliegen / fliegt, fliegen sind verschiedene Wortformen eines lexikalischen<br />
Wortes (Lexem). Also: Der Satz hat 10 verschiedene Wortformen (eine, Fliege, fliegt, hinter,<br />
einer, <strong>die</strong>, <strong>also</strong>, fliegen, zwei, Fliegen), aber 7 Lexeme (ein-, Fliege-, flieg-, hinter, <strong>die</strong>, <strong>also</strong>,<br />
zwei).<br />
(23) Lexem:<br />
Ein Lexem ist eine natürliche Klasse von Wörtern, <strong>die</strong> sich wesentliche Merkmale wie<br />
Grundbedeutung und Wortart teilen, in bestimmten grammatischen Merkmalen jedoch<br />
voneinander unterscheiden.<br />
(24) Wortform:<br />
Eine Wortform ist ein einzelnes Wort, das Flexion trägt. Alle Wortformen eines Lexems<br />
zusammengenommen bilden ein Wortparadigma.<br />
Noch ein Beispiel:<br />
(25) Wortformen:<br />
<strong>die</strong>ser <strong>die</strong>ses <strong>die</strong>se <strong>die</strong>se <strong>die</strong>se <strong>die</strong>se<br />
<strong>die</strong>sen <strong>die</strong>ses <strong>die</strong>se <strong>die</strong>se <strong>die</strong>se <strong>die</strong>se<br />
<strong>die</strong>sem <strong>die</strong>sem <strong>die</strong>ser <strong>die</strong>sen <strong>die</strong>sen <strong>die</strong>sen<br />
<strong>die</strong>ses <strong>die</strong>ses <strong>die</strong>ser <strong>die</strong>ser <strong>die</strong>ser <strong>die</strong>ser<br />
=⇒Lexem: <strong>die</strong>s-<br />
Bemerkung:<br />
Der Begriff Wortformen ist für Flexion definiert, nicht für Derivation. Beispiel: essen, aß,<br />
gegessen, isst, esse, essend sind Wortformen des Lexems ess-; Derivationen wie essbar, aufessen,<br />
(das) Essen, Essgewohnheit sind keine Wortformen von ess-.<br />
6
Antje Lahne<br />
SoSe 2009, <strong>Universität</strong> <strong>Konstanz</strong><br />
7 Allomorphie<br />
(26) Allomorphe:<br />
Allomorphe sind <strong>die</strong> verschiedenen phonemischen Realisierungen ein und desselben zugrundeliegenden<br />
Morphems.<br />
Beispiel: In (27) sind [haÚs], [haÚz], [hOYz] und [hOYs] Allomorphe des zugrundeliegenden Basismorphems<br />
Haus.<br />
(27) [haÚs] (wie in Haus)<br />
[haÚz] (wie in Hauses)<br />
[hOYz] (wie in Häuser)<br />
[hOYs] (wie in Häuschen)<br />
Arten von Allomorphen:<br />
– Allomorphe in <strong>freie</strong>r Variation: In einem bestimmten Kontext K x passen sowohl Allomorph<br />
A 1 <strong>also</strong> auch Allomorph A 2 . Beispiel: /-s/ und /-ta/ sind <strong>freie</strong> Allomorphe in Komma-s vs.<br />
Komma-ta.<br />
– Allomorphe in komplementärer Distribution: in einem Kontext K 1 kann nur Allomorphs<br />
A 1 auftreten, in K 2 nur A 2 usw. Das heißt: Diese Allomorphe sind kontextsensitiv. Diese<br />
Art von Allomorphen sind völlig vorhersagbar. Die Regelhaftigkeit kann phonetisch oder<br />
morphologisch motiviert sein.<br />
· Phonetisch bedingte Allomorphie: Wahl des Allomorphs ist von der phonetischen Umgebung<br />
abhängig. Beispiel: 2sg-Marker [-st], [-est], [-t] (spiel-st, rechn-est, heiß-t)<br />
· Morphologisch bedingte Allomorphie: Wahl des Allomorphs ist von dem Morphem abhängig,<br />
das <strong>die</strong> entscheidende Umgebung darstellt. Beispiel: In (28) sind /-er/, /-en/, /-e/, /-s/ und<br />
das Nullmorphem Allomorphe eines zugrundeliegenden Pluralmorphems.<br />
(28) -er (Kind-er)<br />
-en (Graf-en)<br />
-e (Beet-e)<br />
-s (Auto-s)<br />
-ø (Lehrer-ø)<br />
8 Mehr morphologische Operationen<br />
Bisher haben wir 2 Operationen zur Veränderung von Stämmen kennengelernt: Derivation und<br />
Flexion. Es gibt aber noch mehr: Nichtkonkatenative Morphologie, Suppletion, Reduplikation.<br />
8.1 Nichtkonkatenative Morphologie<br />
Nichtkonkatenative Morphologie (Ablaut, Umlaut):<br />
Substituierung eines nichtmorphemischen Segments für ein anderes, um einen grammatischen<br />
Kontrast zu markieren. Im Deutschen gibt es Ablaut und Umlaut.<br />
7
Einführung in <strong>die</strong> Morphologie des Deutschen<br />
(29) Ablaut:<br />
Reguläre Vokalalternation in Wurzeln, <strong>die</strong> z.B. Tempus, Aspekt und lexikalische Klasse<br />
markiert. Im Fall der indogermanischen Sprachen sehr alt: gab es schon im Indogermanischen.<br />
Beispiele im Deutschen:<br />
a. sing-en, sang, ge-sung-en (Ablaut markiert Unterschied in Tempus und Aspekt)<br />
sitz-en, setz-en (ablaut markiert Unterschied in Transitivität)<br />
bind-en, Band-ø (Ablaut markiert Unterschied in Wortart)<br />
(30) Umlaut:<br />
Assimilierung eines /a/, /u/, /o/ in der Wurzel an ein /i/ im Affix (Plural, einige Verbalsuffixe,<br />
Komparativaffix). Innovation der Nord- und Westgermanischen Sprachen.<br />
Beispiele im Deutschen:<br />
a. Huhn, Hühn-er (Umlaut markiert Unterschied im Numerus)<br />
groß, größ-er (Umlaut markiert Unterschied in der Komparationsstufe)<br />
Nichtkonkatenative Morphologie ist auch ein typisches Merkmal von semitischen Sprachen, z.B.<br />
Hebräisch: 1<br />
(31) Wurzel: /k-t-v/ ‘schreib-’.<br />
(32) Formen:<br />
katav (‘wrote’ – 3.m.sg past tense; (‘reporter’ – m.sg noun)<br />
kotev (‘writes’ – m.sg present tense/part./adj. form; âwriter’ – m.sg noun)<br />
yiktov (‘will write’ – 3.m.sg future tense)<br />
ktov! (‘write!’ – m.sg imperative)<br />
katava (‘news report’ – f.sg noun)<br />
ktovet (‘address’ – f.sg noun)<br />
kituvit (‘sub-title’ – f.sg noun)<br />
ketuva (‘marriage contract’ – f.sg noun)<br />
katuv (‘written’ – m.sg adjectival form)<br />
ktav (‘handwriting’ – m.sg noun)<br />
ktiv (‘spelling’ – m.sg noun)<br />
katvanit (‘typist’ – f.sg noun)<br />
katvanut (‘typing’ – f.sg noun)<br />
niktav (‘was written’ – 3.m.sg passive)<br />
kitev (‘inscribed’ – 3.m.sg past tense)<br />
Mikatev (‘inscribe’ – m.sg present tense/part./adj. form; ‘inscriber’ – m.sg noun)<br />
yikatev (‘will inscribe’/âwill be inscribed’ – 3.m.sg future tense)<br />
katev! (‘inscribe!’ – m.sg imperative)<br />
kutav (‘was inscribed’ – 3.m.sg passive)<br />
miktav (‘letter’ – m.sg present tense/participial/adjectival form)<br />
miktaviot (‘stationery’ – f.sg noun (children’s language))<br />
1. Beispiel aus: “Hebrew (Semitic)”. In: Booij, Geert, Christian Lehmann, Joachim Mugdan and Stavros Skopeteas<br />
(2004; Hrsg.), An International Handbook on Inflection and Word-Formation. Berlin: de Gruyter. 1343-1358.<br />
8
Antje Lahne<br />
SoSe 2009, <strong>Universität</strong> <strong>Konstanz</strong><br />
miktava (‘desk’ – f.sg noun)<br />
mekutav (‘written’, ‘inscribed’ – m.sg adjectival form)<br />
hiktiv (‘dictated’ – 3.m.sg past tense)<br />
maktiv (‘dictates’ – m.sg pres./part./adj. form; ‘dictator (of dictations)’ – m.sg noun)<br />
yaktiv (‘will dictate’ – 3.m.sg future tense)<br />
haktev (‘dictate!’ – m.sg imperative)<br />
haktava (‘dictation’ – m.sg noun)<br />
huktav (‘was dictated’ – 3.m.sg passive)<br />
muktav (‘dictated’ – m.sg adjectival form)<br />
hitkatev (‘corresponded’ – 3.m.sg past tense)<br />
mitkatev (‘corresponds’ – m.sg pres. tense/part./adj. form; ‘correspondent’ – m.sg noun)<br />
yitkatev (‘will correspond’ – 3.m.sg future tense)<br />
hitkatev! (‘correspond!’ – m.sg imperative)<br />
hitkatvut (‘correspondence’ – f.sg noun)<br />
nitkatev (‘was corresponded’ – 3.m.sg past tense)<br />
siktev (‘rewrote/revised’ – 3.m.sg past tense)<br />
suktav (‘was rewritten/revised’ – 3.m.sg passive)<br />
siktuv (‘rewriting/revision’ – m.sg noun)<br />
Frage:<br />
Auf den ersten Blick sieht Infigierung auch aus wie nichtkonkatenative Morphologie: Ein Morphem<br />
wird in <strong>die</strong> Wurzel hinein affigiert. Was ist der Unterschied zwischen den beiden Operationen?<br />
Antwort:<br />
– Die Basis, in <strong>die</strong> infigiert wird, existiert auch ohne <strong>die</strong> Infigierung als separate Form (Bsp.:<br />
Lat. rupo ‘ich zerbreche’ = Verbwurzel rup- ‘zerbrechen’ plus Präsensinfix . Der<br />
Verbstamm rup- taucht als separate Form in anderen Tempora auf, z.B. Perfekt rup-i ‘brech-<br />
1sg.perf; ich habe zerbrochen’). Im Fall von nichtkonkatenativer Morphologie gibt es jedoch<br />
keine separate Formen ohne Ablaut, Binyan (z.B. dt. *sng-, engl. *ft, hebr. *ktv).<br />
– Infixe sind <strong>Morpheme</strong>. Die Segmente, <strong>die</strong> von internem Wandel betroffen sind, sind selbst<br />
kein eigenständigen <strong>Morpheme</strong> (d.h. es gibt z.B. im Deutschen kein Präteritummorphem *a<br />
in sang).<br />
8.2 Suppletion<br />
(33) Suppletion:<br />
Bildung eines Flexionsparadigmas unter Verwendung verschiedener Stämme.<br />
Beispiel: Kopula im Deutschen<br />
(34)<br />
sg pl<br />
1 bin sind<br />
2 bist seid<br />
3 ist sind<br />
9
Einführung in <strong>die</strong> Morphologie des Deutschen<br />
Bemerkung: Es gibt eine Analyse der deutschen Kopula, der zufolge das Paradigma kein Suppletionsparadigma<br />
ist, sondern radikal subanalsiert wird (Pike (1965):<br />
(35)<br />
3sg ı s t<br />
2sg b i s t<br />
1sg b i n<br />
3pl s i n d[t]<br />
1pl s ı n d[t]<br />
2pl s e i d[t]<br />
inf s e i n<br />
Mehr Suppletion im Deutschen: Komparativ<br />
(36)<br />
nicht-suppl. Form suppl. Form Vergleich: suppl. Form im Latein<br />
Positiv schnell gut bonus<br />
Komparativ schnell-er besser melior<br />
Superlativ am schnell-sten am besten optimus<br />
Komparativ-Superlativ-Generalisierung (=*ABA-Generalisierung; Bobaljik 2006):<br />
Wenn <strong>die</strong> Komparationsstufe eines Adjektivs auf einer Suppletivform aufbaut, dann ist der<br />
Superlativ auch suppletiv.<br />
(37) Muster:<br />
a. A-A-A (regulär): (i) schlecht – schlechter – am schlechtesten<br />
(ii) fine – finer – finest<br />
b. A-B-B (suppletive): (i) bad – worse – worst<br />
(ii) gut – besser - am besten<br />
c. A-B-C (doppelt suppletiv): (i) bonus – melior – optimus<br />
d. *A-B-A (nicht attestiert): (i) *gut – besser – am gutsten<br />
(ii) *bad – worse – baddest<br />
e. *A-A-C (nicht attestiert): (i) *bad – badder – worst<br />
Frage:<br />
Die bisher betrachteten Fälle von Suppletion sind Beispiele aus der Flexionsmorphologie. Gibt<br />
es Suppletion auch in der Wortbildung?<br />
Antwort:<br />
In der Wortbildung gibt es ein ähnliches Phänomen, das Blockierung genannt wird. Beobachtung:<br />
Manche Ableitungen resultieren in einem unakzeptablen Ergebnis, weil es eine lexikalisch<br />
spezifizierte Alternative gibt, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Ableitung blockiert. Beispiele:<br />
(38) a. *Stehl-er; blockiert durch √ Dieb<br />
b. *Stu<strong>die</strong>r-er; blockiert durch √ Student<br />
c. *Pferd-in; blockiert durch √ Stute<br />
10
Antje Lahne<br />
SoSe 2009, <strong>Universität</strong> <strong>Konstanz</strong><br />
8.3 Reduplikation<br />
(39) Reduplikation:<br />
Morphologische Operation, durch <strong>die</strong> <strong>die</strong> Wurzel oder der Stamm eines Wortes teilweise<br />
oder komplett wiederholt wird. Volle Reduplikation: Reduplikation des gesamten Wortes.<br />
Partielle Reduplikation: Reduplikation eines Wortteils.<br />
Beispiele:<br />
(40) Plural im Agta<br />
takki ‘Bein’ tak-takki ‘Beine’<br />
bari ‘Körper’ bar-bari-k kid-in ‘mein ganzer Körper’<br />
na-wakay ‘verloren’ na-wak-wakay ‘vieles Verlorene’<br />
mag-saddu ‘tropfen’ mag-sad-saddu ‘überall tropfen’<br />
(41) Plural im Dakota<br />
Verb<br />
Plural<br />
haska ‘groß sein’ haska-ska<br />
čoka ‘leer sein’ čoka-ka<br />
uspe ‘lernen’ uspe-spe<br />
škokpa ‘ausgehöhlt sein’ škokpa-kpa<br />
ia ‘sprechen’ ia-a<br />
(42) Yoruba: Reduplikation mit feststehendem Segmentismus<br />
Verb<br />
Nominalisierung<br />
lo ‘gehen’ li-lo<br />
dún ‘gut, süß schmecken’ dí-dún<br />
gbóná ‘warm, heiß sein’ dí-gbóná<br />
dára ‘gut sein’ dí-dára<br />
(43) Warlpiri: volle Reduplikation<br />
Singular<br />
Plural<br />
kurdu ‘Kind’ kurdu-kurdu<br />
kamina ‘Mädchen’ kamina-kamina<br />
mardukuja ‘Frau’ mardukuja-mardukuja<br />
(44) Englisch: shm-Reduplikation ( Alderete et al. 1999)<br />
table shmable<br />
‘von wegen Tisch; Tisch – so’n Mist!’<br />
music shmusic<br />
breakfast shmeakfast<br />
apple shmapple<br />
incredible inshmedible; incredible shmedible<br />
9 Affigierung vs. Klitisierung<br />
Klitik(on):<br />
Wort, das aus syntaktischer Sicht ein <strong>freie</strong>s Morphem ist, aber phonetisch (und meist auch<br />
grafisch) ein gebundenes Morphem zu sein scheint (ist an einen Träger, einen Host gebunden).<br />
2 Typen: Proklitik, Enklitik<br />
11
Einführung in <strong>die</strong> Morphologie des Deutschen<br />
1. Proklitik: geht seinem Host voraus. Beispiele: frz. l’eau ‘das Wasser’, j’ai ‘ich habe’; engl.<br />
s’not ‘(es) ist nicht’; dt. ugspr. s’ist ‘es ist’, dial. d’Suppn ‘<strong>die</strong> Suppe’.<br />
2. Enklitik: folgt seinem Host. Beispiele: engl. I’m ‘ich bin’, you’re ‘du bist’, they’ll ‘sie<br />
werden’; dt. dial. Haschesem gesaat? ‘hast du es ihm gesagt?’.<br />
Beobachtung:<br />
Klitisierung sieht auf den ersten Blick wie Affigierung aus: Sowohl bei Klitisierung als auch bei<br />
Affigierung wird ein Element, dass nicht allein stehen, kann, an einen Träger angehängt.<br />
Unterschied zwischen Klitisierung und Affigierung:<br />
Bei Affigierung wird ein gebundenes Morphem (=Wortbindungs- oder Flexionsmorphem) mit<br />
einem Träger (=Stamm) verbunden, bei Klitisierung wird ein <strong>freie</strong>s Morphem, das einer lexikalischen<br />
Klasse angehört (=Verb, Substantiv, Pronomen, Präposition) mit einem Träger<br />
verbunden.<br />
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