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Die Operation Jadid - Bundeswehr

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TITEL<br />

OPERATION<br />

„JADID“<br />

Der Krieg der <strong>Bundeswehr</strong> in Afghanistan geht im vorigen Oktober in eine neue, heiße<br />

Phase. Im Tal des Baghlan-Flusses treten 600 Soldaten aus Bayern gegen 200 Aufständische<br />

an. Sie führen Gefechte und eine Offensive, wie sie die <strong>Bundeswehr</strong> in<br />

dieser Dimension noch nicht erlebt hat<br />

Aus Afghanistan von Marco Seliger<br />

Michael Schreiner<br />

26 loyal 03 |11


Sie leben in Gräben und Löchern, die sie mannshoch<br />

ausgehoben haben. Aufklärer überwachen<br />

von den Bergen aus das Tal des Baghlan-Flusses<br />

und die Stadt Pol-e-Khomri<br />

03 | 11 loyal 27


TITEL<br />

AFGHANISTAN<br />

REGION BAGHLAN<br />

ISAF-REGIONALKOMMANDOS<br />

RC North, Führungsnation<br />

Deutschland<br />

AFGHANISTAN PROVINZEN<br />

Provinz Baghlan<br />

LOC Uranus<br />

(Straße nach Mazar-i-Sharif)<br />

Baghlan-Fluss<br />

BAGHLAN<br />

OP North<br />

Gefechtsstand<br />

Task Force<br />

Mazar-i-Sharif<br />

DISTRIKT<br />

POL-E-KHOMRI<br />

COP Chasma-i-Sher<br />

Checkpoint<br />

COP Gaji<br />

COP Shahabuddin<br />

LOC Pluto<br />

Nord-Süd-<br />

Tangente<br />

COP Pauli<br />

COP Mangal<br />

COP Baghe Shamal<br />

COP<br />

Russian Hill<br />

Checkpoint<br />

DISTRIKT<br />

DAHANA-I-<br />

GOHRI<br />

COP Gawargan<br />

COP Jowna<br />

POL-E-KHOMRI<br />

Grafik: Ruwen Kopp<br />

Baghlan-Fluss<br />

COP: Combat Outpost (Außenposten)<br />

LOC: Line of Communication (für die Bewegungsfreiheit<br />

der ISAF-Truppen elementare Straße)<br />

OP: Observation Post (Beobachtungsposten,<br />

Außenposten)<br />

28 loyal 03 |11


Infanteristen wie die Gebirgs- oder Fallschirmjäger sind geschult,<br />

außerhalb geschützter Fahrzeuge zu kämpfen. Das macht sie<br />

verwundbarer, erhöht jedoch ihre Akzeptanz in der afghanischen<br />

Bevölkerung. Und um deren Sicherheit geht es in diesem Krieg<br />

Michael Schreiner<br />

DISTRIKT<br />

BAGHLAN<br />

D<br />

as Gefecht ist in diesem Krieg<br />

die Ausnahme. <strong>Die</strong> Todesangst<br />

begleitet die Soldaten<br />

ständig, doch fürchten sie weniger die Kugeln<br />

als vielmehr die Straßenbomben. <strong>Die</strong><br />

hinterhältigen Sprengsätze liegen geduldig<br />

in der Straßendecke oder am Wegesrand,<br />

getarnt in Müllhaufen, in Gräben, im<br />

Gras. Warten darauf, ausgelöst zu werden,<br />

die Erde zum Bersten zu bringen. Tonnenschwere<br />

Fahrzeuge wirbeln dann durch<br />

die Luft, Soldaten werden durch Gurte in<br />

Sitze gepresst, die Augen schreckensstarr<br />

aufgerissen. Der Explosionsdruck verbiegt<br />

Stahl, reißt Räder ab und den Motorblock<br />

Es sind eine unfassbare Gunst des<br />

Schicksals und eine ingenieurtechnische<br />

Meisterleistung, die den<br />

Soldaten mehrfach das Leben retten<br />

aus der Verankerung. Doch Splitterhagel<br />

und Feuerstrahl dringen nicht in den Innenraum<br />

ein, die Zelle bleibt meist unversehrt,<br />

es sind unfassbare Gunst des Schicksals<br />

und eine ingenieurtechnische Meisterleistung,<br />

die den Soldaten mehrfach in diesem<br />

Krieg das Leben retten.<br />

600 Gebirgsjäger führen seit Oktober die<br />

<strong>Operation</strong> „<strong>Jadid</strong>“, die längste Kampfoperation<br />

der <strong>Bundeswehr</strong>geschichte. Gemeinsam<br />

mit afghanischen Soldaten und Polizisten<br />

sowie mit US-amerikanischen Kameraden<br />

verjagen sie Aufständische und Terroristen<br />

aus einem Flusstal in der nordafghanischen<br />

Provinz Baghlan. Sie verlieren<br />

dabei keinen einzigen Mann, doch einige<br />

Male stehen sie knapp vor der Katastrophe.<br />

Das Geschoss faucht aus dem Nichts hervor<br />

und zischt nur zwei Meter über die<br />

Köpfe der Soldaten hinweg. Es schlägt in<br />

eine Mauer hinter ihnen ein, der Gefechtskopf<br />

explodiert in einem Feuerball. Feststoffe<br />

wandeln sich im Bruchteil einer Sekunde<br />

in Gas um, das sich mit Überschallgeschwindigkeit<br />

ausdehnt. Der Luftdruck<br />

donnert in den Ohren der Soldaten, deren<br />

Köpfe ungeschützt aus einer Panzerluke<br />

ragen. Ein markerschütterndes Krachen,<br />

tief und dumpf. Stakkatohämmern setzt<br />

ein, Salven aus einem schweren Maschinengewehr.<br />

<strong>Die</strong> Kugeln schlagen gegen die<br />

Hülle eines Panzers, es klingt wie ein helles<br />

Klopfen. Dann das Tack, Tack, Tack aus<br />

Kalaschnikows, ein zweiter Geschosshagel,<br />

unpräzise, weit entfernt. Und wieder das<br />

Fauchen der Panzerfaustgeschosse. „Kontakt<br />

rechts, Kontakt rechts!“, brüllt der<br />

03 | 11 loyal 29


TITEL<br />

Zwei Transporthubschrauber vom Typ CH-53 landen auf dem <strong>Bundeswehr</strong>außenposten „OP North“ in Baghlan. Dort befindet sich der Gefechtsstand<br />

der Task Force Mazar-i-Sharif, die fünf Monate lang im Tal des Baghlan-Flusses kämpfte<br />

Michael Schreiner (3)<br />

Kommandant des „Fuchs“ in das Funkgerät.<br />

„Erwidern Feuer!“ Nach einigen Sekunden<br />

knarzt die Stimme des Zugführers im Funkgerät:<br />

„Geben Sie Feindlage durch!“ Das Maschinengewehr<br />

setzt ein, der<br />

Gruppenführer brüllt: „Entfernung<br />

Feind zirka 400<br />

Meter.“ Ein zweites MG rast<br />

los. Der Zugführer befiehlt:<br />

„GraMaWa vor. Feuer auf 400,<br />

zwei Uhr“. Zwei „Dingo“ fahren<br />

in Position, die Schützen<br />

richten die Granatmaschinenwaffen<br />

aus. Dann feuern<br />

sie die Sprengsätze mit tödlicher<br />

Präzision. Zwanzig Minuten<br />

sind vergangen. Kein<br />

Fauchen mehr. Kein Zischen.<br />

Stopfen. „Keine Verletzten“, funkt der Zugführer<br />

an die Gefechtszentrale.<br />

Es war ein kurzer Feuerüberfall, die Patrouille<br />

wird fortgesetzt. Erst später, wenn die<br />

Männer zur Ruhe kommen, steigt das Gefühl<br />

der Freude, der Erleichterung in ihnen<br />

Christian Theißen<br />

Oberstleutnant Nikolaus<br />

Carstens, Kommandeur<br />

der Task Force Mazar<br />

<strong>Die</strong> Adrenalinstöße im Moment<br />

eines Feuerüberfalls sind heftig,<br />

ihre Intensität nimmt jedoch mit<br />

der Zahl der Gefechte ab<br />

hoch. „Nochmal davongekommen, das hätte<br />

auch schief gehen können!“ Der eine<br />

schweigt und kaut sein Essen, der andere<br />

redet unaufhörlich über das Gefecht und<br />

raucht eine Zigarette nach<br />

der anderen. <strong>Die</strong> Adrenalinstöße<br />

im Moment eines Feuerüberfalls<br />

sind heftig, ihre<br />

Intensität, sagen die Soldaten,<br />

nimmt jedoch mit der<br />

Zahl der Gefechte ab. Mit<br />

jedem neuen Angriff der<br />

Aufständischen wissen die<br />

Männer mehr über Geschosse,<br />

ihre Geräusche und Wirkung.<br />

Sie können vorausbestimmen,<br />

ob sie akut gefährdet<br />

sind, wo das Feuer einschlägt<br />

und wie sie sich davor schützen. Es<br />

ist ihr Handwerk. Kriegshandwerk.<br />

150 Kilometer südwestlich von Mazar-i-Sharif<br />

und 90 Kilometer südlich von Kundus<br />

laufen zwei Straßen an einem Punkt zusammen,<br />

an dem die Ausläufer des Hindukusch<br />

das Tal des<br />

Baghlan-Flusses<br />

bilden. Sie vereinigen<br />

sich zu einem<br />

Asphaltband, das<br />

sich nach Süden<br />

über den Salang-<br />

Pass Richtung Kabul<br />

erstreckt. Von oben gesehen, bilden die<br />

Straßen ein Dreieck, das Highway-Triangel.<br />

Hier verläuft Afghanistans Lebensader.<br />

Lastwagen quälen sich unter der Last zentralasiatischen<br />

Waren von Nord nach Süd<br />

auf die Märkte in Kabul, Kandahar oder<br />

Herat. In die entgegengesetzte Richtung<br />

fahren die Autos der Drogenschmuggler,<br />

beladen mit Opium aus dem Süden. Für die<br />

NATO hat das Highway-Triangel strategische<br />

Bedeutung. Über die Straßen wird der<br />

Nachschub für 150 000 Soldaten transportiert<br />

– und attackiert. Tankwagen brennen,<br />

Container explodieren und Fahrer sterben.<br />

<strong>Die</strong> Gebiete entlang des Triangels sind Talibanland,<br />

als Oberstleutnant Nikolaus<br />

Carstens im vorigen Oktober auf dem „Observation<br />

Post North“ (OP North) eintrifft.<br />

Von dort aus führt er seitdem 600 Gebirgsjäger<br />

aus Bischofswiesen, Grenadiere aus<br />

Regen, Pioniere aus Ingolstadt, Aufklärer<br />

aus Füssen. OP North liegt zwei Kilometer<br />

nördlich von Pol-e-Khomri, dem Zentrum<br />

des Baghlan-Tals, auf einer Anhöhe. Den<br />

Lehmhügel durchziehen Schotterpisten,<br />

auf Plateaus stehen Zelte, Container und<br />

Fahrzeuge. Bei Trockenheit liegt der Staub<br />

wie eine Glocke über dem Berg. Er kriecht<br />

in Schlafsäcke, legt sich auf Zahnbürsten.<br />

Nach Regen klebt der Schlamm wie Brei<br />

zentimeterdick an Stiefeln und Fahrzeugen.<br />

Unten an der Zufahrt wachen afghani-<br />

30 loyal 03 |11


sche Soldaten, oben auf dem Gipfel thront<br />

eine Panzerhaubitze. Ihr 155-Millimeter-<br />

Geschützrohr ragt nach Südwesten. Wenn<br />

sie feuert, krachen ihre Abschüsse, dass die<br />

Erde bebt. Das Echo rollt tosend den Berg<br />

hinab. Der dumpfe Hall der Einschläge<br />

viele Kilometer entfernt dringt kaum zurück.<br />

Eine Schutzmauer um das Lager gibt<br />

es nicht, nur ein paar Stellungen, umgeben<br />

von Hescos. Das sind Drahtkörbe, die mit<br />

Schotter gefüllt werden und gegen Handwaffen<br />

und Raketenbeschuss schützen. Auf<br />

OP North hat die Task Force Mazar-i-Sharif<br />

ihren Gefechtsstand errichtet, ein Außenposten<br />

am Rand des Feingebiets. Hier beginnt<br />

die <strong>Operation</strong> „<strong>Jadid</strong>“. „<strong>Jadid</strong>“ heißt<br />

„neu“. Es soll ein Neuanfang für das gesamte<br />

Tal des Baghlan-Flusses werden, ohne Taliban,<br />

ohne Angst, ohne Terror, ohne Tod.<br />

Das erste Dorf, aus dem die Gebirgsjäger<br />

die Taliban vertreiben, heißt Kotub. Im September<br />

tobte in der Nähe eine fürchterliche<br />

Schlacht um einen Außenposten (Combat<br />

Outpost, COP). Er wurde von ehemaligen<br />

Mitläufern des Terrorfürsten Gulbuddin<br />

Hekmatyar gehalten, die auf Regierungsseite<br />

gewechselt waren. <strong>Die</strong> Taliban sprengten<br />

die einzige Brücke, die über einen Nebenarm<br />

des Baghlan führt und schnitten<br />

die „Verräter“ von ihren deutschen und USamerikanischen<br />

Verbündeten ab. Das Massaker,<br />

das sie anrichteten, ließ die Bevölkerung<br />

zweifeln, ob sie sich wirklich von den<br />

Taliban lossagen sollte. Deutsche Soldaten<br />

legten eine Militärbrücke über den Fluss<br />

und jagten die Mörder. An dem Flussübergang<br />

gibt es jetzt einen Außenposten der<br />

<strong>Bundeswehr</strong>. Er ist benannt nach dem hier<br />

gefallenen Oberfeldwebel Florian Pauli,<br />

den am 7. Oktober ein Selbstmordattentäter<br />

mit in den Tod riss. COP Pauli ist seit Dezember<br />

Heimat von Hauptfeldwebel Matthias<br />

Schuster* und 20 Gebirgsjägern.<br />

machen das, wenn sie einander vertrauen.<br />

Mullah Kahar geht voran und sagt, er wolle<br />

seinem „Freund“ etwas zeigen. In einem<br />

Seecontainer liegen Matten und bunt bestickte<br />

Kissen, auf denen Kahars Kämpfer<br />

hocken. Sie erheben sich, als er mit Schuster<br />

eintritt. Freudig begrüßen sie den<br />

Hauptfeldwebel und gießen heißen Tee in<br />

Gläser. Vor ihnen stehen Teller mit Fladenbrot<br />

und Schüsseln mit gezuckerter Sahne.<br />

Nach dem Essen holt Mullah Kahar eine Digitalkamera<br />

hervor. Er schaltet sie an,<br />

wählt den Abspielmodus, rückt näher an<br />

Schuster und sagt in seiner Muttersprache:<br />

„Schau Dir das an.“<br />

Aus Schusters Gesicht weicht die Farbe. <strong>Die</strong><br />

Bilder sind grässlich: ein zerfetztes Auto,<br />

zerrissene, blutüberströmte Leiber. Fünf<br />

Kinder, zwei Frauen und der Taxifahrer,<br />

entsetzlich entstellt, getötet durch eine<br />

Straßenbombe. „Das waren die Taliban“,<br />

sagt Mullah Kahar. „Der Teufel soll sie holen.“<br />

Er war mit seinen Männern als erstes<br />

vor Ort, sie konnten nichts mehr für sie tun.<br />

Sie bargen nur noch die Leichen. Dann<br />

hatte Mullah die Idee mit den Bildern. Er<br />

zeigte sie in Kotub herum. „Seht her“, sagte<br />

er den Leuten, „das waren die Taliban. Sie<br />

töten Frauen und Kinder, sie sind Barbaren.“<br />

<strong>Die</strong> Einwohner schworen blutigen Widerstand,<br />

sollten die Aufständischen noch<br />

einmal ihr Dorf betreten.<br />

Bevor er zu den Gebirgsjägern nach Bischofswiesen<br />

kam, ging Matthias Schuster bei<br />

Combat Outpost und Behelfsbrücke<br />

über einen Nebenarm des<br />

Baghlan-Flusses, beide benannt<br />

nach dem hier gefallenen Oberfeldwebel<br />

Florian Pauli. In diesem<br />

Außenposten hatte die <strong>Bundeswehr</strong><br />

bis vor Kurzem zwanzig Infanteristen<br />

gemeinsam mit Taliban-<br />

Überläufern stationiert<br />

Ein Kuss links, ein Kuss rechts, Mullah Kahar<br />

und Matthias Schuster begrüßen sich,<br />

wie es Freunde in Afghanistan tun. „Salam<br />

Aleikum, wie geht es dir?“, sagt der Hauptfeldwebel<br />

und blickt lächelnd in das Gesicht<br />

seines Gegenübers. Mullah Kahar,<br />

schwarzer Vollbart, tiefe dunkle Augen,<br />

trägt einen Pakol auf dem Kopf, ein Symbol<br />

des tadschikischen Widerstands gegen die<br />

Taliban. Um die Schultern hat er eine braune<br />

Decke gelegt, die Kalaschnikow baumelt<br />

von der rechten Schulter. Er nimmt Schusters<br />

rechte Hand, Männer in Afghanistan<br />

*Name zum Schutz des Soldaten geändert<br />

Hauptfeldwebel Matthias Schuster (ganz rechts) im Gespräch mit Mullah Kahar (ganz<br />

links), Chef der Bürgerwehr am „COP Pauli“. Kahars Leute kämpften früher für die Taliban.<br />

Schuster sagt, man müsse die Vergangenheit ruhen lassen<br />

Marco Seliger<br />

03 | 11 loyal 31


TITEL<br />

In der Ortschaft Jowna hatten sich 30 Aufständische in einer Schule verbarrikadiert und leisteten<br />

den angreifenden US-Spezialkräften heftigen Widerstand. Eine 250-Pfund-Bombe zerstörte<br />

das Gebäude und machte dem Taliban-Spuk ein Ende. Am Rand der Ortschaft hat die<br />

<strong>Bundeswehr</strong> einen Außenposten errichtet, den sie zusammen mit afghanischen Polizisten<br />

besetzt hält. Gemeinsame Patrouillen unterbrechen den drögen Alltag, allgegenwärtig droht<br />

den Soldaten Gefahr durch versteckte Straßenbomben und Sprengsätze<br />

Michael Schreiner (4), Marco Seliger (2)<br />

An der Wand hängen Waffen und<br />

Munitionswesten, die Ausrüstung<br />

liegt jederzeit griffbereit. „Alles, was<br />

hier passiert, kommt überraschend.“<br />

einer Firma für Zentralheizungs- und Lüftungsbau<br />

in die Lehre. Er erlernte einen soliden<br />

Handwerksberuf, der ihm von dem<br />

Augenblick an unwichtig erschien, in dem<br />

zwei von Terroristen gesteuerte Flugzeuge<br />

in die New Yorker Zwillingstürme krachten.<br />

„Mir war klar, dass ich etwas gegen die<br />

Leute tun wollte, die Amerika angegriffen<br />

haben“, sagt Schuster. Nach seinem ersten<br />

Einsatz in Afghanistan entschied er sich,<br />

dauerhaft bei der <strong>Bundeswehr</strong> zu bleiben.<br />

Er befindet sich in seinem dritten Lebensjahrzehnt<br />

und verbringt jetzt einen Teil<br />

davon mit ehemaligen Taliban. Mullah Kahar<br />

und seine Leute sind Überläufer einer<br />

Miliz, die bis vor Kurzem für die Aufständischen<br />

gekämpft hat. „<strong>Die</strong> sind nicht zimperlich“,<br />

sagt Matthias Schuster. „Aber sie<br />

kämpfen jetzt mit uns. Und das zählt.“<br />

<strong>Die</strong> Gebirgsjäger leben und arbeiten gemeinsam<br />

mit 24 Ex-Taliban auf einem von<br />

Hascos umgebenen Flecken staubiger Erde.<br />

COP Pauli hat so gut wie nichts Behagliches.<br />

<strong>Die</strong> Männer waschen sich mit kaltem<br />

Wasser aus Kanistern, die an Panzern hängen.<br />

Ihre Toilette besteht aus einem<br />

Plastikstuhl mit einem Loch in der Sitzfläche,<br />

in dem eine Tüte hängt. „Kack und<br />

Pack“ ist das Klo des Frontsoldaten, sauber<br />

gearbeitet, rundum geschlossen mit einem<br />

tadellosen, bequemen Sitz. Anfangs genierten<br />

sich die Soldaten, in aller Öffentlichkeit<br />

ihr Geschäft zu erledigen. Doch im Lauf der<br />

Soldaten schütteln<br />

die Hände Einheimischer<br />

und erklären<br />

ihnen, dass sie<br />

zu ihrem Schutz<br />

vor den Aufständischen<br />

hier sind.<br />

„<strong>Die</strong> Bevölkerung<br />

vertraut uns, sie<br />

sieht, dass wir es<br />

ernst meinen“,<br />

sagen die Soldaten.<br />

Doch wie entwickeln<br />

sich die<br />

Dinge, wenn sie<br />

wieder weg sind?<br />

Zeit überwanden sie ihre Scham. Sie knoten<br />

den Beutel zu, werfen ihn wie eine normale<br />

Abfalltüte in ein Erdloch, schütten<br />

<strong>Die</strong>sel darüber und zünden ihn an. In ihren<br />

Fleece- und Wollpullovern, Skimützen<br />

gegen die Kälte auf dem Kopf, schauen sie<br />

aus wie Waldarbeiter. Nach Wochen im<br />

Feld stehen die Klamotten vor Dreck, mancher<br />

Soldat ist schmutzig bis in die Poren<br />

und unter die Nägel. Journalisten werden<br />

gebeten, sie in diesem Aufzug nicht zu fotografieren.<br />

Jemand in Berlin könnte<br />

gleich wieder den Zustand der Truppe infrage<br />

stellen. Sie schlafen dicht an dicht in<br />

einer Bretterbude, in die sie zweistöckige<br />

Betten aus Sperrholz gezimmert haben.<br />

Wenn sie in ihrer Koje liegen, können sie<br />

mit ausgestrecktem Arm zwei Kameraden<br />

auf einmal ertasten. An der Wand hängen<br />

Waffen und Munitionswesten, die Ausrüstung<br />

liegt so bereit, dass sie jederzeit greifbar<br />

ist. „Alles, was hier passiert, kommt<br />

überraschend“, sagt Matthias Schuster.<br />

Fußpatrouillen lenken vom drögen Alltag im<br />

COP ab. Infanteristen wie die Gebirgsjäger<br />

sind diejenigen Soldaten, die das führen,<br />

was als Krieg im klassischen Sinn angesehen<br />

wird. Sie nehmen die größten Entbehrungen<br />

auf sich, sie leben im Schmutz und<br />

in der ständigen Gefahr, getötet oder verwundet<br />

zu werden. Anders als die überwiegende<br />

Zahl der deutschen Soldaten in Af-<br />

32 loyal 03 |11


Morgenstunde im Feld, Erwachen in mit Regenplanen umwickelten Schlafsäcken, die auf Isomatten zwischen zwei Panzerfahrzeugen liegen.<br />

Der eine braucht eine Zigarette, der andere ein paar Löffel Süßspeise aus der Ein-Mann-Packung, um in die Gänge zu kommen. Alle tragen<br />

dicke Winterklamotten, die sie sich gegen die Kälte in der Nacht übergezogen haben<br />

Mitte Januar fahren dunkle Limousinen am<br />

COP Pauli vor. Der Provinzgouverneur von<br />

Baghlan steigt aus, Kameras und Mikrofone<br />

richten sich auf ihn. „Wer mit der Regierung<br />

zusammenarbeitet, wird davon profitieren“,<br />

sagt er und blickt wohlwollend auf<br />

Mullah Kahar. „Ich heiße die verlorenen<br />

Söhne mit großer Freude willkommen.“<br />

Applaus im Außenposten, Beifall in Berlin<br />

und Washington. Es sind Männer wie Mullah<br />

Kahar, bekehrte Taliban, die dem Westen<br />

den Notausgang aus Afghanistan öffghanistan<br />

haben sie nicht die weitgehende<br />

Sicherheit und Sauberkeit eines vorgeschobenen<br />

Stützpunkts (FOB), wie sie etwa das<br />

Feldlager in Mazar-i-Sharif bietet. <strong>Die</strong> meisten<br />

Soldaten dort bringen den Einsatz hinter<br />

sich, ohne auch nur ein einziges Mal die<br />

Basis verlassen zu haben. <strong>Die</strong> Fronttruppen<br />

amüsieren sich über die markigen Kriegssprüche<br />

der „Etappenhengste“ („Ich bin im<br />

Krieg!“), hassen die Bürokratie der Feldlager<br />

und schimpfen über das eigene Leben<br />

in „Dreckslöchern“.<br />

<strong>Die</strong> meisten Männer aus Schusters Einheit<br />

stammen aus Bayern, er selbst wohnt fünf<br />

Kilometer von der Burg der zu Guttenbergs<br />

in Franken entfernt. Sie tragen Figuren des<br />

heiligen Christopherus an Ketten um den<br />

Hals und Rosenkränze in den Taschen.<br />

Mancher führt eine Kindersocke oder einen<br />

Slip der Freundin als Talisman mit sich, verstaut<br />

zwischen Schale und Innenteil des Gefechtshelms.<br />

Und mancher blickt auf das<br />

Foto der Liebsten, bevor er den Posten verlässt.<br />

Sollte er getötet werden, so wäre dies<br />

das Letzte gewesen, das er von zu Hause gesehen<br />

hat. „Angst“, sagen die Soldaten mit<br />

einem spöttischen Grinsen im Gesicht, „gehört<br />

dazu. Du darfst sie nur nicht zeigen.“<br />

Sie gehen in Reihen links und rechts des<br />

Wegs. Vorweg laufen die Leute von Mullah<br />

Kahar wie eine Horde Kinder durcheinan-<br />

der. Sie fühlen sich sicher, sie patrouillieren<br />

ihr Dorf. Mullah Kahar schüttelt die<br />

Hände von Leuten, die er lange nicht gesehen<br />

hat. „Er war vor den Taliban geflohen“,<br />

erklärt er und deutet auf einen Gesprächspartner.<br />

Beide verschwinden für eine Weile,<br />

als er zurückkehrt, wendet sich Kahar an<br />

Schuster. Er zeigt in Richtung der Straße,<br />

die sich hinter der Pauli-Brücke nach Süden<br />

schlängelt, und sagt, dort solle eine Bombe<br />

liegen. Schuster informiert den Gefechtsstand<br />

auf dem OP North. Als die Bombenentschärfer<br />

eintreffen, haben Mullah Kahars<br />

Leute den Sprengsatz schon gefunden.<br />

Er besteht aus einem mit Ammoniumnitrat<br />

gefüllten Metallrohr, das mit einer<br />

Zündschnur versehen und mit Stahlkugeln<br />

gespickt ist. Es fehlte nur der Auslöser.<br />

„Dreckskerle“, fluchen Schusters Männer.<br />

<strong>Die</strong> Bombe war für sie gedacht.<br />

Morgentoilette mit „Kack und<br />

Pack“ (oben) und Wasser aus<br />

Kanistern (unten), um die<br />

Zähne zu putzen<br />

03 | 11 loyal 33


TITEL<br />

Wenn die Schützenpanzer (hier mit Barracuda-Tarnsystem) auf dem Gefechtsfeld erscheinen, ziehen sich die Aufständischen meist sofort<br />

zurück. <strong>Die</strong> 20-Millimeter-Kanone wirkt noch auf zwei Kilometer genau, ihre Explosivgeschosse entfachen beim Auftreffen im Ziel<br />

einen tödlichen Splitterhagel. <strong>Die</strong> „Marder“ haben sich als wirksame Waffe erwiesen, weshalb sie von den Taliban zunehmend gezielt<br />

mit gerichteten IED oder Panzerfäusten neuerer Generation ins Visier genommen werden<br />

nen sollen. Afghanistans Präsident Hamid<br />

Karzai hat Kahars Leute nun in den Status<br />

einer lokalen Polizei, einer Bürgerwehr, erhoben.<br />

Sie verdienen 80 bis 125 Dollar pro<br />

Monat, tragen einen Pass, der sie als Polizist<br />

ausweist, und eine registrierte Kalaschnikow.<br />

Sie schützen ihr Dorf vor den Taliban,<br />

sorgen für Ordnung. Sie haben Befugnisse<br />

wie die offizielle Polizei, und wie er sie<br />

durchzusetzen beabsichtigt, demonstriert<br />

Mullah Kahar hin und wieder an den eigenen<br />

Leuten. Wer nicht spurt, den peitscht<br />

er höchstselbst aus. „Das entspricht zwar<br />

nicht unserem Verständnis von Menschenführung“,<br />

sagt Matthias Schuster. „aber da<br />

halten wir uns raus.“<br />

Mit jeder neuen <strong>Operation</strong>sphase dringen die<br />

Gebirgsjäger tiefer in das Tal. Sie nehmen<br />

Dorf um Dorf ein, bauen bis Ende Februar<br />

elf Außenposten und stationieren Polizei-<br />

Sie nehmen Dorf um Dorf ein,<br />

bauen bis Ende Februar elf Außenposten<br />

und stationieren Polizeieinheiten<br />

oder Bürgerwehren<br />

einheiten oder Bürgerwehren. An ihrer Seite<br />

kämpfen die „Black Sheeps“, eine Einheit<br />

der 10. US-Gebirgsdivision, afghanische Soldaten<br />

und Polizisten. Auch das Wetter spielt<br />

mit. Der Winter ist für nordafghanische Verhältnisse<br />

ungewöhnlich mild und trocken.<br />

Selbst in höher gelegenen Bergdörfern, die<br />

für konventionelle Truppen mit Fahrzeugen<br />

sonst monatelang unerreichbar sind, können<br />

sich die Taliban nicht sicher fühlen. <strong>Die</strong><br />

Soldaten gönnen ihnen keine Verschnaufpause<br />

und treiben sie aus dem Gebiet um<br />

Kotub in das benachbarte Dande Ghori. Als<br />

die Truppen dorthin vorrücken, schlägt<br />

ihnen hartnäckiger Widerstand entgegen.<br />

<strong>Die</strong> Aufständischen feuern Mörsergranaten<br />

und hängen Raketen mit elektrischen Zündsätzen<br />

in Straßenbäume, die sie aus der<br />

Ferne auslösen. Doch Dorfbewohner informieren<br />

rechtzeitig den afghanischen Geheimdienst,<br />

der die Deutschen vor der Gefahr<br />

warnt. „<strong>Die</strong><br />

Leute sind auf unserer<br />

Seite, sie vertrauen<br />

uns“, sagt<br />

ein Offizier im Bataillonsstab.<br />

„Sie<br />

sehen, dass wir es<br />

ernst meinen.“<br />

Wenn die Soldaten durch die Dörfer kommen,<br />

stehen die Kinder am Straßenrand<br />

und formen mit den Händen einen Kreis.<br />

„Sie lieben Fußball“, erklärt ein Stabsunteroffizier.<br />

„Sie sind verrückt nach Bällen. Leider<br />

haben wir heute keine dabei.“ Es läuft<br />

gut in Baghlan, die Fortschritte werden in<br />

Kabul erfreut zur Kenntnis genommen. US-<br />

General David Petraeus, Oberbefehlshaber<br />

der internationalen Truppen in Afghanistan,<br />

empfiehlt inzwischen seinen Kommandeuren,<br />

sich am Vorgehen der <strong>Bundeswehr</strong><br />

ein Beispiel zu nehmen. Vorbei die<br />

Zeiten, als in Kabul, Washington und London<br />

über die „deutschen Angsthasen“ geätzt<br />

wurde, die sich nicht aus ihren Feldlagern<br />

trauten. <strong>Die</strong> Angsthasen, sagt ein Soldat,<br />

säßen ohnehin weniger in den Camps<br />

als vielmehr in den Berliner Amtsstuben.<br />

<strong>Die</strong> Offensive kostet Kraft, laugt die Männer<br />

aus. Manche verleitet der Erfolg zu Disziplinlosigkeit.<br />

Was der Feind nicht erreicht,<br />

schafft der Übermut. Als kurz vor Weihnachten<br />

zwei Mannschaftssoldaten in<br />

einem Unterkunftszelt im OP North mit<br />

ihren Waffen herumfuchteln, löst sich ein<br />

Schuss und trifft den Hauptgefreiten Oliver<br />

Oertel tödlich in den Kopf. Parlamentarier<br />

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und Medien in Deutschland mutmaßen<br />

umgehend, in Baghlan gebe es Führungsund<br />

Ausbildungsmängel. Bataillonskommandeur<br />

Carstens wird vorgeworfen, er<br />

habe die Truppe nicht im Griff. Das trifft<br />

ihn, setzt ihm zu. Er verteidigt sich, ein ruhiger,<br />

besonnener Mann, der seine Worte<br />

wägt. „Wir haben hier wirklich Erfolg“, sagt<br />

er leise. „Meine Soldaten nehmen monatelange<br />

Entbehrungen auf sich und haben es<br />

nicht verdient, dass dieses tragische Unglück<br />

das einzige sein soll, was zu Hause von<br />

ihnen wahrgenommen wird.“<br />

<strong>Die</strong> Panzergrenadiere Jan, Jacob, Waldemar und Marco (von links) sagen,<br />

an das spartanische Leben an der Front hätten sie sich gewöhnt. <strong>Die</strong><br />

Kameradschaft lasse die Entbehrungen ertragen und doch sehne sich<br />

jeder nur danach, heile nach Hause zu kommen<br />

Michael Schreiner, Marco Seliger (2), Christian Theissen<br />

Der Schock ist groß, doch die <strong>Operation</strong><br />

wird fortgesetzt. Jan, Patrick, Jacob, Marco<br />

und Waldemar sind Panzergrenadiere aus<br />

Regen. Auf der herabgelassenen Heckklappe<br />

ihres „Marder“ fauchen Spirituskocher,<br />

auf denen sie ihre in Aluminium eingeschweißten<br />

Fertigmahlzeiten kochen. Es<br />

gibt eine indische Reispfanne, Gulasch mit<br />

Kartoffeln und Hamburger in Tomatensoße,<br />

zum Nachtisch Grießspeise und Obstsalat.<br />

<strong>Die</strong> Soldaten sind Anfang zwanzig<br />

und können aus der 20-Millimeter-Kanone<br />

ihres kettenrasselnden Fahrzeugs Munition<br />

verschießen, die auf zwei Kilometer Entfernung<br />

Menschen explodieren lässt. Bevor<br />

sie zum Bund kamen, haben sie einen Berufsabschluss<br />

gemacht: Koch, Stahl- und<br />

Betonbauer, Mechaniker, Konstruktionstechniker,<br />

Straßenbauer. Junge, mutige<br />

Kerle. Wenn ihr Einsatz zu Ende ist, wenn<br />

Ein Bataillon kämpft erfolgreich in<br />

Afghanistan und niemand in der Heimat<br />

registriert es. So sehen es die<br />

Gebirgsjäger und fühlen sich vergessen.<br />

Das beklagen sie auf Plakaten,<br />

die in den Stabscontainern hängen<br />

sie aus dem Schmutz des Afghanistankriegs<br />

zurück in Bayern sind, dann wollen<br />

sie gern weitermachen. Weitere vier<br />

<strong>Die</strong>nstjahre beim Bund, noch einen Einsatz<br />

– ja, das könnten sie sich vorstellen. Es<br />

ist keiner unter ihnen, dem der Krieg in den<br />

vergangenen fünf Monaten den Soldatenberuf<br />

verleiden konnte. „<strong>Die</strong> Kameradschaft,<br />

das Wir-Gefühl – das findet man so<br />

nur in der Truppe“, sagt Marco. Sie schauen<br />

einander an, nicken, bestätigen sich<br />

ihre Bruderschaft. Sie kennen sich gut, hier<br />

im Krieg, sagen sie, seien sie eine Familie.<br />

Frontsoldaten, die ihre Erfahrungen zusammengeschweißt<br />

haben.<br />

Das Warten auf neue Befehle, auf die Fortsetzung<br />

der <strong>Operation</strong> oder nur auf eine Patrouille<br />

übertünchen sie mit dem Überlebensritualen<br />

des Frontsoldaten: Sie essen,<br />

trinken Kaffee und reißen Witze. Patrick<br />

deutet auf den Innenraum des Panzers.<br />

„Das ist unser Wohnzimmer“, sagt er und<br />

grinst. Im Fahrzeug stapeln sich Munition<br />

und Kartons mit „Meal Ready to Eat“, auf<br />

einer Sitzbank liegt ein Soldat in voller<br />

Montur mit Schutzweste und Stiefeln und<br />

schläft mit angezogenen Knien. Sie haben<br />

Humor, reißen derbe, gemeine Witze, mit<br />

denen sie ihrem langweiligen Alltag und<br />

ihrer Angst begegnen. Doch es gibt auch<br />

diese Nachdenklichkeit, die die jungen<br />

Männer immer wieder an der Front befällt.<br />

„Wer weiß denn schon daheim, was hier<br />

läuft“, fragt Marco. „<strong>Die</strong> wenigsten kennen<br />

den Krieg. Wer soll uns denn verstehen?“<br />

Das dürfte selbst dem Divisionskommandeur<br />

schwerfallen. Wie die meisten Offiziere<br />

der <strong>Bundeswehr</strong> hat er nie an der Front<br />

gekämpft. „Dennoch“, sagt Waldemar,<br />

„hätte ich mir den Krieg krasser vorgestellt,<br />

bedrohlicher, ultimativ“. Jan meint, die Taliban<br />

seien zu feige, um offen gegen sie zu<br />

kämpfen. „Das Einzige“, sagt er verächtlich,<br />

„was die Dreckskerle können, ist, uns<br />

Bomben unter den Arsch zu legen.“<br />

Sie sitzen und warten. Warten auf das, was<br />

geschehen wird. In ihren Panzern fühlen<br />

sie sich sicher. Doch wenn sie seine schützende<br />

Stahlhülle verlassen, sind sie verwundbar.<br />

Dann entscheidet der Zufall über<br />

sie. Niemand weiß, was kommt. Es könnte<br />

ein Fauchen sein. Aus dem Nirgendwo.<br />

NACHTRAG<br />

<strong>Die</strong> Schlusssätze dieser Reportage waren<br />

lange geschrieben, ich war bereits drei Wochen<br />

von meiner Reise nach Baghlan zurück,<br />

als sich der Ausspruch von Hauptfeldwebel<br />

Matthias Schaller auf tragische<br />

Weise bewahrheiten sollte. „Alles, was hier<br />

passiert, kommt überraschend“, hatte er<br />

gesagt. Wohl kaum ein Soldat hätte damit<br />

gerechnet, von einem Verbündeten aus der<br />

afghanischen Armee erschossen zu werden.<br />

Und doch geschah genau das am 18.<br />

Februar auf „OP North“. Neun Panzergrenadiere<br />

aus Regen arbeiteten an einem<br />

„Marder“, als der wohl terroristischen Kreisen<br />

zuzuordnende Mann das Feuer hinterrücks<br />

auf die ungeschützten und arglosen<br />

Deutschen eröffnete. Ein Hauptfeldwebel<br />

und zwei Hauptgefreite erlagen ihren Verletzungen,<br />

sechs weitere Männer wurden<br />

schwer verwundet. <strong>Die</strong> Soldaten standen<br />

kurz vor dem Ende ihres Einsatzes und<br />

wurden Opfer eines Ereignisses, das sie in<br />

Gespächen mit mir als Gefahr beschrieben<br />

hatten, die allerdings gering sei. Doch es ist<br />

kein Geheimnis, dass afghanische Armee<br />

und Polizei von Aufständischen unterwandert<br />

sind. <strong>Die</strong> <strong>Bundeswehr</strong> hat das nun leidvoll<br />

erfahren müssen. Marco Seliger<br />

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TITEL<br />

„DER GEGNER BEFINDET<br />

SICH IN DER DEFENSIVE“<br />

Interview mit Generalmajor Hans-Werner Fritz, der neun Monate lang<br />

das Kommando über die ISAF-Truppen in Nordafghanistan geführt hat<br />

Herr General, Ihre Truppen haben die Aufständischen<br />

aus wichtigen Gebieten der Provinzen Kundus<br />

und Baghlan vertrieben. Ist die Trendwende<br />

in Nordafghanistan erreicht?<br />

Ich benutze gern das Bild des Bergsteigers. Wir stehen<br />

noch ein Stück vor dem Gipfel, müssen erst<br />

noch drüber, bevor es auf die bessere Seite geht.<br />

Wir setzen den Taliban massiv zu. Sie haben erkannt,<br />

dass es ums Ganze geht. Wir bleiben in den<br />

Dörfern und schützen die Bewohner vor den Aufständischen.<br />

Wenn die den Kampf suchen, endet<br />

er für sie meist tödlich. Deshalb reagieren sie wütend<br />

und brutaler, auch der eigenen Bevölkerung<br />

gegenüber. Wir müssen uns beeilen, um die Bevölkerung<br />

vor weiterem Terror zu bewahren.<br />

Sie suchen in diesem Jahr die Entscheidung?<br />

Absolut. Vor uns liegen harte Monate, die noch<br />

einmal verlustreich sein können. Wir werden weiterhin<br />

in Gebiete eindringen, in denen die Aufständischen<br />

bislang Ruhe vor uns oder den afghanischen<br />

Sicherheitskräften hatten. Der Moment<br />

ist günstig, das Wetter auch, der Gegner befindet<br />

sich in der Defensive. Das gilt es auszunutzen.<br />

Was planen Sie?<br />

<strong>Die</strong> Provinzen Kundus und Baghlan müssen nachhaltig<br />

sicher werden. Darum geht es zunächst in<br />

diesem Jahr.<br />

Woran liegt es, dass die Taliban nach ihrer erfolgreichen<br />

Rückkehr vor einigen Jahren nun wieder<br />

in die Defensive geraten sind?<br />

Erstens: Wir haben unsere Kräfte signifikant verstärkt.<br />

Mit US-amerikanischen Hubschraubern,<br />

deutschen Infanterietruppen und inzwischen wesentlich<br />

mehr und besser ausgebildeten afghanischen<br />

Kräften lässt sich erheblich mehr Druck auf<br />

die Aufständischen ausüben, als wir dies vor zwei<br />

Jahren konnten. Zweitens: <strong>Die</strong> Menschen haben<br />

genug vom Krieg. Sie wollen Frieden, Sicherheit,<br />

Entwicklung, eine Zukunft für ihre Kinder, all das,<br />

was ihnen die Taliban nicht bieten können. Drittens:<br />

<strong>Die</strong> Leute sehen, dass sich ihre Lage mit unserer<br />

Ankunft auch materiell verbessert. Wir bringen<br />

ihnen Strom, schottern Straßen, bauen Schulen.<br />

Das wirkt.<br />

Das macht einen Taliban noch lange nicht zum<br />

Regierungsanhänger. Wie wollen Sie verhindern,<br />

dass die Männer in den Dörfern im Frühjahr zur<br />

„Kampfsaison“ nicht wieder die Waffe ausgraben<br />

und gegen Soldaten und Polizisten richten?<br />

<strong>Die</strong> meisten Männer in den Dörfern sind keine Taliban.<br />

Sie verdingen sich bei ihnen, entweder um<br />

ihre Familie zu ernähren oder um der Unterdrückung<br />

durch die Aufständischen zu entgehen. Älteste<br />

beklagten in Gesprächen mit mir vielfach die<br />

hohe Arbeitslosigkeit in den Dörfern. <strong>Die</strong> Leute<br />

brauchen Beschäftigung und finanzielles Einkommen.<br />

Wenn es gelingt, die Wirtschaft anzukurbeln,<br />

verlieren die Aufständischen weiter an<br />

Boden. Deswegen haben sie kein Interesse an Aufbau<br />

und Entwicklung in diesem Land.<br />

Kundus und Baghlan waren vor einem Jahr noch<br />

Talibangebiet. <strong>Die</strong> Truppen konnten keinen Fuß<br />

hineinsetzen, ohne angegriffen zu werden. Wie<br />

sind Sie vorgegangen, um die Lage zu verändern?<br />

Alles, was wir machen, tun wir gemeinsam mit<br />

der afghanischen Armee und der Polizei. Wir<br />

leben, arbeiten und kämpfen zusammen. Außerdem<br />

informieren wir vor jeder <strong>Operation</strong> die Menschen<br />

in den Orten, was wir vorhaben. <strong>Die</strong> afghanischen<br />

Kräfte durchkämmen gemeinsam mit uns<br />

dann das Dorf nach Waffen und feindlichen<br />

Kämpfern, anschließend bleiben sie mit einigen<br />

unserer Soldaten dort und errichten einen Außenposten.<br />

<strong>Die</strong> Leute sehen, dass wir es ernst meinen<br />

und helfen uns dabei, Taliban zu finden. Das vertreibt<br />

die meisten Aufständischen.<br />

Und wohin?<br />

In die Berge, in andere Dörfer, in denen wir noch<br />

nicht sind. Und wir rücken wieder nach und stellen<br />

sie bei der nächsten Gelegenheit. Wir treiben<br />

sie vor uns her, denn anders als früher können sie<br />

in die Dörfer nicht mehr zurück.<br />

36 loyal 03 |11


<strong>Bundeswehr</strong>soldat auf dem<br />

Dach eines „Dingo“ an einer<br />

FLW (Fernbedienbare Leichte<br />

Waffenstation) mit Maschinengewehr,<br />

Kaliber<br />

7,62 mm, und Granatmaschinenwerfer<br />

40 mm<br />

„Von Disziplinmangel und Führungsschwäche in der<br />

Afghanistantruppe zu reden, verunglimpft 5000 Soldaten,<br />

die unter schwierigen Bedingungen einen großartigen<br />

Job machen.“<br />

Aber doch nur, wenn das Bemühen um die Sicherheit<br />

der Dörfer nachhaltig ist. Wie wollen Sie das<br />

die kommenden Jahre über gewährleisten?<br />

Dazu werden Außenposten gebaut, in denen afghanische<br />

Polizisten oder Soldaten stationiert werden.<br />

<strong>Die</strong> bleiben dort und werden weiter ausgebildet<br />

und ausgerüstet. Deshalb sind die Polizeitrainer so<br />

wichtig, die die USA, aber auch Deutschland und<br />

andere Staaten nach Nordafghanistan geschickt<br />

haben. Unsere Truppen kämpfen die Dörfer frei,<br />

aber nur afghanische Sicherheitskräfte können<br />

und sollen die Bevölkerung langfristig schützen.<br />

<strong>Die</strong> Regierung Karzai bietet Talibanüberläufern<br />

die Chance, in eine reguläre Polizeitruppe aufgenommen<br />

zu werden. Was halten Sie davon?<br />

Es gibt derzeit keine Alternative dazu. Viele Männer,<br />

die bislang für die Taliban kämpfen, wollen<br />

kapitulieren. <strong>Die</strong> Regierung Karzai gibt ihnen<br />

diese Chance. Natürlich muss man sich jeden<br />

Überläufer anschauen, ob er es ehrlich meint.<br />

Aber dafür sind die afghanischen Sicherheitskräfte<br />

gemeinsam mit den Amerikanern verantwortlich.<br />

Sie registrieren und überprüfen diese Leute.<br />

Lokale Polizeikräfte, manche sagen auch Bürgerwehren<br />

dazu, sind nicht in jedem Ort sinnvoll. Es<br />

kommt darauf an, was die Einwohner wollen.<br />

Und was wollen die Einwohner?<br />

Manche Orte vertrauen ihre Sicherheit einer Bürgerwehr<br />

an, andere der regulären Polizei. Das<br />

hängt davon ab, welche Erfahrungen die Menschen<br />

Michael Schreiner<br />

gemacht haben. Oft misstrauen<br />

sie der regulären Polizei, vor allem<br />

wenn die sich durch <strong>Die</strong>bstahl<br />

und Gewalt wie die Taliban gebärdet.<br />

Aber durch Training, bessere<br />

Ausrüstung und regelmäßige Bezahlung<br />

wird die Polizei langsam<br />

besser.<br />

<strong>Die</strong> jüngsten Erfolge der <strong>Bundeswehr</strong><br />

in Afghanistan werden in<br />

Deutschland kaum wahrgenommen.<br />

Nach den tödlichen Schüssen auf deutsche<br />

Soldaten auf dem Außenposten „OP North“ ist<br />

das „Partnering“ mit den afghanischen Sicherheitskräften<br />

aufgrund des damit verbundenen<br />

Risikos für unsere Soldaten in die Kritik geraten.<br />

Welche Alternativen sehen Sie zu dieser Zusammenarbeit?<br />

Der Tod unserer Kameraden auf dem „OP North“<br />

vor wenigen Tagen hat uns ausgesprochen betroffen<br />

gemacht. Bei aller Trauer: zum Partnering gibt<br />

es keine Alternative. Es hat sich bewährt, es war<br />

bisher erfolgreich, und das wird meiner Überzeugung<br />

nach auch zukünftig so bleiben. <strong>Die</strong> Schüsse<br />

kamen von einem Einzeltäter, dessen Motive wir<br />

nicht kennen. Damit gibt es absolut keinen Grund,<br />

den afghanischen Partnern generell zu misstrauen.<br />

Würden wir das tun, würden wir den Taliban<br />

in die Hände spielen. Sicherheit für Afghanistan<br />

als Voraussetzung für den Wiederaufbau geht nur<br />

gemeinsam. Risikofrei wird es niemals sein.<br />

Das Gespräch führte Marco Seliger.<br />

Hans-Werner Fritz<br />

Generalmajor, war vom 20. Juni<br />

2010 bis 23. Februar 2011 Kommandeur<br />

des Regionalkommandos Nord<br />

der ISAF in Mazar-i-Sharif. Sein Nachfolger<br />

ist Markus Kneip, Kommandeur<br />

der 1. Panzerdivision in Hannover.<br />

<strong>Bundeswehr</strong> / PIZ Mazar-i-Sharif<br />

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