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Effekte von Habitatzerstörung - Fragmentierung - Isolation

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<strong>Effekte</strong> <strong>von</strong> <strong>Habitatzerstörung</strong> -<br />

<strong>Fragmentierung</strong> - <strong>Isolation</strong><br />

Regula Billeter<br />

Institut für Integrative Biologie, Pflanzenökologie<br />

regula.billeter@env.ethz.ch


Vorlesungsunterlagen:<br />

http://www.plantecology.ethz.ch/education/vvfs<br />

701-0310-00 Naturschutz und Stadtbioökologie<br />

R. Billeter, F. Leutert


Muster der Habitatszerstörung<br />

1. Gesamtfläche ist kleiner<br />

2. Das Verhältnis Rand zu Fläche ist grösser<br />

3. Jeder Punkt in der Fläche ist im Schnitt näher an einem Rand als vorher<br />

4. Jedes Habitatsfragment ist im Schnitt isolierter <strong>von</strong> den anderen als<br />

vorher<br />

Pullin 2002


Folgen der Habitatszerstörung - Fragmentation & <strong>Isolation</strong><br />

Gelbhalsmaus<br />

Abax ater<br />

Primack 2006


<strong>Fragmentierung</strong> & <strong>Isolation</strong>:<br />

<strong>Fragmentierung</strong>:<br />

• Zerstörung <strong>von</strong> Habitaten<br />

• Verkleinerung <strong>von</strong> Lebensräumen<br />

• räumliche Trennung <strong>von</strong> Populationen und<br />

Habitaten<br />

Isolierung (als Folge der <strong>Fragmentierung</strong>)<br />

• kein Austausch zwischen verschiedenen<br />

Populationen mehr möglich<br />

• Verlust <strong>von</strong> angrenzenden Habitaten mit<br />

Teillebensraumfunktionen<br />

• Verringerte Anzahl Organismen vor Ort und<br />

solcher, die ein Habitat besuchen<br />

Forum Biodiversität Schweiz (Hrsg): Biodiversität in der Schweiz


Fragmentation<br />

- <strong>Effekte</strong> auf Ebene der Gemeinschaften<br />

- Artenzahlen<br />

- <strong>Isolation</strong><br />

- Randeffekte<br />

- <strong>Effekte</strong> auf Ebene der Populationen<br />

- demographische <strong>Effekte</strong><br />

- genetische <strong>Effekte</strong><br />

- Umwelt-<strong>Effekte</strong><br />

- <strong>Isolation</strong>


Grundlage: Geografische Aspekte<br />

Geografische Breite<br />

Höhe über Meeresspiegel<br />

Begon et al 2002<br />

Vielfalt Flora (ortsgebundene Organismen)<br />

! abiotische Faktoren (Gesteinsuntergrund, Nährstoff- und<br />

Wasserverhältnisse, Klima, Landnutzung, Störung, Lebensraumvielfalt,<br />

usw.<br />

! biotische Faktoren: Samenpool, Genetische Vielfalt,<br />

Interaktionen, usw.<br />

Begon et al 2002<br />

Vielfalt Fauna (mobile Organismen)<br />

! Vielfalt Flora, Vorhandensein der benötigten<br />

Teillebensräume,<br />

Nahrungsangebot, Dichte an Räubern, usw.


<strong>Effekte</strong> auf Gemeinschaftsebene: Arten-Areal-Beziehung<br />

S (Artenzahl)<br />

Maximale Artenzahl<br />

noch nicht erreicht<br />

S = c * A 2<br />

A (Fläche)<br />

Maximale Artenzahl<br />

sehr schnell erreicht<br />

Lineares Modell<br />

logS = log c + z log A<br />

Arten-Areal-Beziehung für verschiedene Organismen:<br />

a) Pflanzen; b) Vögel auf Seen; c) Fledermäuse in Höhlen;<br />

d) Fische in Wüstenquellen<br />

Begon et al 2002


<strong>Effekte</strong> auf Gemeinschaftsebene: Inselbiogeografie (MacArthur & Wilson, 1967)<br />

Pflanzenarten ausgewählter schottischer<br />

Inseln (Johnson & Simberloff 1974)<br />

Vogelartenzahl auf Inseln im Pazifik in zunehmender<br />

Entfernung vom versorgenden Gebiet. Angabe in %<br />

der Artenzahl des versorgenden Gebietes (d.h. Festland=Pool).


Grundlage: Inselbiogeografie (MacArthur & Wilson, 1967)


Inselbiogeografie II (MacArthur & Wilson, 1967)<br />

! Anzahl der Arten auf einer Insel bleibt mehr oder weniger konstant;<br />

! Ergebnis eines kontinuierlichen Umsatzes <strong>von</strong> Arten (Aussterben und Einwanderung);<br />

! Mit zunehmender Grösse der Insel nimmt ihre Artenzahl zu ! Flächeneffekt.<br />

! Mit zunehmender Abgelegenheit einer Insel nimmt ihre Artenzahl ab ! <strong>Isolation</strong>seffekt.


Mosaikkonzept (Duelli 1992)<br />

Artenvielfalt<br />

Pro Gesamtfläche<br />

Pro Mosaikstein<br />

Habitatvielfalt<br />

Faktoren:<br />

- Komplexe, vielfältige Landschaft<br />

- Bewegungsmöglichkeiten durch die<br />

verschiedenen Mosaiksteine (Patches)<br />

- Habitatqualität<br />

- Trittstein- und Korridoreffekte


Fragmentation - Randeffekte<br />

- andere Bedingungen<br />

- anderes Klima, z.B. Licht<br />

- exponiert, z.B. Wind, Feuer<br />

- veränderte Interaktionen<br />

(Räuber, Konkurrenten)<br />

- passive Emmigration höher<br />

Primack 2006


Fragmentation - Randeffekte Bsp. Regenwald<br />

Primack 2006


Fragmentation - Randeffekte<br />

Pullin 2002


Fragmentation - Ränder<br />

Bruträume<br />

auf Ränder oder mehrere Habitate<br />

angewiesene Arten


Beispiel Neuntöter


Fragmentation - <strong>Effekte</strong> auf Populationsebene<br />

- Anzahl Individuen einer Art pro Patch limitiert (carrying capacity)<br />

- je kleiner der Patch, desto weniger Individuen<br />

- durch Fragmentation Population aufgeteilt in kleinere Einheiten<br />

- kleinere Populationen haben grössere Aussterbewahrscheinlichkeit<br />

Gründe:<br />

- Demographische Stochastizität: zufällige Variation in Geburts- und Sterberate<br />

- Genetische Stochastizität: zufälliger Verlust <strong>von</strong> genetischer Variation und Inzucht<br />

- Stochastizität der Umweltbedingungen: zufällige Variation in Klimabedingungen (Wetter)<br />

- Katastrophen: Vulkanausbruch, Feuer, Überflutung etc.


Raumbedarf bei Tieren<br />

- grosser Nahrungsbedarf speziell bei grossen Tieren (Hirsch, Elefant etc.)<br />

- Nahrung dünn verteilt<br />

- unerlässliche ökologische Nischen<br />

- Biotopwechsel<br />

- ethologische Gründe (Verhalten)<br />

- populationsbiologisch - genetische Gründe<br />

Fazit:<br />

Beim Unterschreiten eines bestimmten Grenzwertes an Fläche, Nahrung, Nischen, Anzahl<br />

Individuen (Populationsgrösse) oder an anderen unerlässlichen Ressourcen stirbt die Art<br />

aus, auch wenn die anderen Faktoren optimal sind.


Raumbedarf bei Tieren<br />

Minimalraum einiger Vogel- und Säugetierarten (verändert aus Barth 1987)<br />

Art Minimalraum für 1.Paar in ha Ökosystemtypen<br />

Steinadler 10‘000 - 14‘000 alpine Biotope an der oberen Waldgrenze<br />

Uhu 6‘000 - 8‘000 grosse Laub- und Nadelwaldbiotope,<br />

vernetzt mit offenen Biotopen<br />

Habicht 3‘000 - 5‘000 Laub- und Nadelwaldbiotope<br />

Sperber 700 - 1‘000 offenen Biotopen, vernetzt mit Gehölzbeständen<br />

Mäusebussard 400 - 800 Laub- und Mischwald, vernetzt mit baumarmen<br />

Biotopen<br />

Waldkauz 200 - 400 lichte Laub-, Park- und Siedlungsbiotope<br />

Turmfalke 100 - 400 baumarme Biotope, vernetzt mit Gehölzgruppen<br />

Waldmaus 0.15<br />

Waldspitzmaus 4.0<br />

Minimalraum für eine Population:<br />

Fuchs<br />

300 - 600ha<br />

Reh<br />

100 - 400ha<br />

Luchs<br />

50‘000ha<br />

Bär<br />

100‘000ha<br />

Otter<br />

20 - 50km Uferlänge<br />

Feldgrille<br />

3ha<br />

Mittelspecht 20km 2


Populationsebene - demographische <strong>Effekte</strong><br />

Populationen fluktuieren in Grösse und Alterstruktur <strong>von</strong> Jahr zu Jahr durch zufällige<br />

Variation in Geburts- und Sterberate<br />

Grosse Population - kein Problem<br />

Kleine Population - Fluktuation können sehr gross sein und Überleben gefährden<br />

Ist eine Population mal klein, können andere Faktoren eine Erholung verhindern.<br />

" Abwärtsspirale<br />

Allee-Effekt (Warder C. Allee): bei kleiner Populationsgrösse ist die Kapazität jedes<br />

einzelnen Individuums zu überleben und Nachkommen zu produzieren vermindert.


Populationsebene - demographische <strong>Effekte</strong><br />

- Populationsdichte zu gering: Probleme bei der Partnersuche<br />

- Abwehr <strong>von</strong> Räubern in der Gruppe erschwert durch kleine Grösse<br />

- Reduzierte Effizienz der Nahrungssuche in der Gruppe<br />

- Zusammenbruch des sozialen Gefüges<br />

- zufälliges Ungleichgewicht in der Sex-ratio


Lebensraumgrösse, Populationsgrösse<br />

Beziehung zwischen<br />

Lebensraumgrösse und<br />

Aussterberate <strong>von</strong> (...)<br />

b) Vögeln auf Nordeuropöischen<br />

Inseln,<br />

c) Gefässpflanzen in Süd-Schweden.<br />

Überlebens-Chancen <strong>von</strong><br />

Populationen des Gemeinen<br />

Scheckenfalters: Bedeutung der<br />

Teilpopulationen<br />

Gesamtpopulation<br />

Versch. Teilpopulationen<br />

Populationsgrösse<br />

Begon et al 2002<br />

Jahr


Lebensraumgrösse, Populationsgrösse<br />

Reproduktion bei Individuen des Deutschen<br />

Enzian in Abhängigkeit <strong>von</strong> der<br />

Populationsgrösse:<br />

Florian Zaugg<br />

Populationsgrösse<br />

Begon et al 2002


Populationsebene - Umwelt-<strong>Effekte</strong><br />

- Populationen reagieren auf Änderungen im Klima<br />

- Zufällige Schwankungen <strong>von</strong> Jahr zu Jahr können grosse Auswirkungen<br />

haben<br />

" kleine Populationen stärker betroffen als grosse<br />

" z.B. 90% Mortalität durch ein solches Ereignis:<br />

reduziert eine grosse Population <strong>von</strong> 1000 Individuen auf 100<br />

reduziert eine kleine Population <strong>von</strong> 50 auf 5!!!<br />

- Naturkatastrophen meist lokal - grössere Pops. können eher entkommen<br />

# Klimawandel<br />

- Kombination aller stochastischen Ereignisse möglich und wahrscheinlich


<strong>Isolation</strong><br />

- Folge der Fragmentation / des Habitatsverlustes<br />

- wird erst ab einem gewissen Grad an Verlust wichtig<br />

- hängt auch mit der Ausbreitungsfähigkeit (‚vagility‘) einer Art<br />

zusammen<br />

Pullin 2002


<strong>Isolation</strong> - Metapopulationen<br />

Metapopulations-Modell: Levins (1969)<br />

- Komplex <strong>von</strong> eigenständigen Population<br />

- verbunden durch ‚limitierte‘ Migration<br />

- Population können lokal ausstreben<br />

- leere Patches können durch Kolonisation wieder besiedelt werden<br />

- alle Patches gleich goss und gleich isoliert<br />

Primack 2006


<strong>Isolation</strong> - Metapopulationen<br />

Hanski (1997)<br />

- geeignetes Habitat kommt in einzelnen Patches vor<br />

- auch die grösste Population sollte ein substantielles Aussterberisiko haben<br />

- Patches sollten nicht zu isoliert sein, sonst keine Re-Kolonisation<br />

- einzelne Populationen sollten nicht komplett synchrone Dynamik aufweisen<br />

Persistenz <strong>von</strong> diesen Metapopulationen hängt <strong>von</strong> Aussterben und Kolonisation ab<br />

$ Hängt <strong>von</strong> der Grösse und Verteilung der Patches ab<br />

Limitierungen:<br />

- Variabilität der Habitatsqualität nicht berücksichtigt<br />

- Durchlässigkeit der Flächen zwischen den Patches nicht berücksichtigt


Bsp. Metapopulationen<br />

Bighorn-Schaf Kalifornien<br />

wikipedia<br />

Primack 2006


<strong>Isolation</strong> - Metapopulationen<br />

‚Mainland-Island‘ Modell<br />

- ungleich grosse Patches<br />

- <strong>Isolation</strong> variiert<br />

- meist ein Patch viel grösser $ grosse Population<br />

- dominiert die Metapopulation<br />

- Aussterben unwahrscheinlich, produziert am meisten Migranten<br />

- Überleben <strong>von</strong> Population in kleinen Patches hängt <strong>von</strong> Migranten aus<br />

der grossen Population ab<br />

Primack 2006


Bsp. Mainland-Island<br />

Scheckenfalter<br />

Morgan Hill, Kalifornien<br />

wikipedia<br />

Pullin 2002


<strong>Isolation</strong> - Metapopulationen<br />

Implikationen für den Naturschutz:<br />

- Kolonisation <strong>von</strong> Patches nimmt ab wenn Patches entfernt werden<br />

- Aussterberate der übrigen Patches bleibt gleich<br />

$ Kollaps der Metapopulation wenn zu viele Patches entfernt werden<br />

auch wenn das Habitat selbst sich nicht ändert<br />

$ Kollaps kann eine Weile dauern, je nach Persistenz der Art<br />

$ ‚Living dead‘


<strong>Isolation</strong> - Metapopulationen<br />

‚Source-Sink‘ Modell<br />

- Populationen, die als Quelle funktionieren<br />

produzieren einen Überschuss an Nachkommen<br />

und damit viele Emigranten<br />

- Populationen, die als Senke agieren<br />

produzieren zuwenig Nachkommen<br />

brauchen die Immigranten aus den Quell-Populationen<br />

- Habitatqualität wird miteinbezogen<br />

- Source/Sink Funktion kann <strong>von</strong> Jahr zu Jahr variieren<br />

- Zerstörung einer Quell-Population kann die Persistenz der Art bedrohen


Bsp. Anwendung im Naturschutz<br />

SLOSS:<br />

Single large or several small nature<br />

reserves?<br />

v.a für Tiere, die auf ganz bestimmte<br />

Standortverhältnisse spezialisiert sind<br />

oder sehr grosse Tiere


SLOSS: sehr artbezogen!<br />

Inseltheorie: mit Vorsicht und<br />

artbezogen anzuwenden<br />

viele Arten, die mehrere Ökosysteme<br />

zum Leben brauchen:<br />

- Zugvögel<br />

- Amphibien<br />

- Tiere <strong>von</strong> Feldgehölzen<br />

- .....


Bekämpfung <strong>von</strong> Fragmentation & <strong>Isolation</strong>: Bsp. Grünbrücken<br />

Problem:<br />

Zerschneidung oder<br />

Beeinträchtigung <strong>von</strong><br />

Wildtierkorridoren im<br />

Schweizer Mittelland<br />

Ausschnitt aus der<br />

Wildtierkorridorkarte der<br />

Schweiz (Holzgang et al. 2001)


Bekämpfung <strong>von</strong> Fragmentation & <strong>Isolation</strong>: Bsp. Grünbrücken<br />

Lösung:


1<br />

Grünbrücken<br />

Wirksame Massnahme gegen Lebensraumzerschneidung durch Infrastrukturbauten?<br />

Hintergrund<br />

Das dicht angelegte Strassennetz der Schweiz wirkt für viele Tierarten als Bewegungsbarriere. Im<br />

intensiv besiedelten Mittelland sind sechs bis sieben Kilometer Strasse pro Quadratkilometer keine<br />

Seltenheit. Ehemals zusammenhängende Wildtierpopulationen werden dadurch getrennt, es<br />

entstehen für einzelne Tierarten Lebensrauminseln (Oggier et al. 2001). Ein lokales Aussterben <strong>von</strong><br />

Populationen kann die Folge sein (Righetti 1997; Fahrig 2002). Die einschränkende Wirkung dieser<br />

Infrastrukturbauten zeigt sich auch an den jährlich mindestens 20'000 Opfern <strong>von</strong> wildlebenden<br />

Säugetieren auf Schweizer Verkehrsachsen (BUWAL 2003). Das Problem der Habitatfragmentierung<br />

durch Verkehrsachsen hat nicht nur in der Schweiz, sondern in ganz Europa Beachtung<br />

gefunden (Iuell et al. 2003).<br />

Wildtierkorridore<br />

Die intensive anthropogene Nutzung der Landschaft<br />

führt dazu, dass sich viele Wildtiere entlang<br />

<strong>von</strong> Korridoren bewegen. Eine im Auftrag des<br />

BUWAL erstellte Karte der überregionalen Wildtierkorridore<br />

zeigt für die Schweiz 303 Korridore<br />

mit Konfliktpotenzial (Abb.1); 56 % da<strong>von</strong> waren<br />

in ihrer Funktionstüchtigkeit nennenswert bis stark<br />

beeinflusst (Holzgang et al. 2001).<br />

Wildtierkorridore sind Ausbreitungsund<br />

Bewegungsachsen <strong>von</strong> terrestrisch<br />

sich fortbewegenden Wildtieren in der<br />

Kulturlandschaft, welche durch natürliche<br />

oder anthropogene Strukturen oder durch<br />

intensiv genutzte Areale seitlich permanent<br />

begrenzt sind (Holzgang et al. 2005).<br />

In der Folge wurden für die Schweiz 51 überregionale<br />

Korridore <strong>von</strong> zentraler Bedeutung<br />

ausgeschieden, deren Wiederherstellung den Neubau<br />

<strong>von</strong> Wildtierpassagen erfordert (Holzgang et<br />

al. 2001). Die Wildtierkorridore sind mittlerweile<br />

in die Richtplanung der Kantone eingeflossen.<br />

Diese Richtpläne sind behördenverbindlich; dies<br />

bedeutet, dass in Zukunft bei Bauten auf die<br />

Korridore Rücksicht genommen werden müsste.<br />

Abb. 1: Ausschnitt aus der Wildtierkorridorkarte<br />

der Schweiz (Vollständige Karte siehe<br />

Holzgang et al. 2001).<br />

Grünbrücken (Wildtierpassagen, „Ökobrücken“)<br />

Als Wildtierpassagen können je nach lokaler Topographie nebst Brücken über Infrastrukturbauten<br />

auch Tunnels dienen, welche die Bauten unterqueren. In der Schweiz wurden seit 1990 mehrere<br />

Dutzend Grünbrücken erstellt (Abb. 2). Trotz Kosten <strong>von</strong> ca. 3 - 5 Mio. CHF pro Bauwerk werden<br />

sie bisher als probates Mittel akzeptiert. Im Vergleich zu den Gesamtkosten für den Strassenbau<br />

und -unterhalt bewegen sich die genannten Beträge im Promillebereich (Pfister et al. 2002).<br />

Strassenbauern leuchtet es ein, dass auch Wildtiere „Verkehrswege brauchen“; zudem wird durch<br />

Grünbrücken das Bauvolumen und somit der Verdienst vergrössert ...


2<br />

Grünbrücken sind Bauwerke, welche die <strong>Fragmentierung</strong> der Landschaft reduzieren,<br />

indem sie Verbindungen zwischen Habitaten herstellen, welche durch Infrastrukturbauten<br />

getrennt werden (Iuell et al. 2003).<br />

Abb. 2: Grünbrücke Birchiwald über die A1<br />

bei Kernenried - Kirchberg BE (Quelle:<br />

Vogelwarte Sempach).<br />

Abb. 3: Die Nutzung der Grünbrücken wird<br />

mit Infrarot-Videoaufnahmen nachgewiesen<br />

(Quelle: Vogelwarte Sempach).<br />

Die gute Akzeptanz hat verschiedene Gründe: Zum einen wurde die Bevölkerung durch die<br />

Medien für das Thema Wildtiere und Verkehr sensibilisiert (z.B. Cerutti 1999). Zudem konnte man<br />

die Wirksamkeit <strong>von</strong> Wildtierpassagen nachweisen (Abb. 3). Bei 50 m breiten Grünbrücken können<br />

im Laufe einer Nacht 15 - 20 Säugetiere ab Mardergrösse über ein Bauwerk wechseln (Abb. 4)<br />

(Pfister et al. 1997; Pfister et al. 2002). Es zeigte sich aber auch, dass die Breite einer Grünbrücke<br />

für die Nutzung durch Wildtiere entscheidend ist (Abb. 5).<br />

Abb. 4: Mittlere Beobachtungshäufigkeit <strong>von</strong><br />

Individuen verschiedener Wildsäugerarten in<br />

Abhängigkeit der Grünbrückenbreite (gezählte<br />

Arten: Reh, Fuchs, Feldhase, Dachs, Marder,<br />

Wildschwein, Rothirsch) (Pfister et al. 2002).<br />

Abb. 5: Relative Häufigkeit der Nahrungsaufnahme<br />

bei Rehen, Füchsen und Feldhasen<br />

auf Wildtierpassagen zweier Breitenklassen<br />

(s+m: 3-50 m breit; b: 64-186 m breit)<br />

(Pfister et al. 2002).<br />

Für Kleinsäuger, Amphibien, Reptilien und Wirbellose ist es entscheidend, dass ein Bauwerk<br />

artgruppenspezifische Lebensraumelemente enthält, die direkt mit den entsprechenden Lebensräumen<br />

in der Umgebung verbunden sind (z.B. Hecken, feuchte Flächen). Wildtierpassagen als<br />

solche genügen also nicht, sie müssen auch entsprechende Strukturen aufweisen (Pfister et al.


3<br />

2002). Daraus lässt sich ableiten, dass Grünbrücken Pflege brauchen, damit ihre Funktionstüchtigkeit<br />

für spezifische Artengruppen längerfristig erhalten bleibt.<br />

Kritiker bemängeln, dass die Grünbrücken für bekannte Arten wie Fuchs, Reh und Hase wohl<br />

einen positiven Effekt hätten, dass die Wirkung bei seltenen und gefährdeten Arten jedoch<br />

ungenügend oder zumindest kaum nachgewiesen sei. Deshalb würden die Grünbrücken vor allem<br />

das schlechte Gewissen bzgl. der ökologischen Lebensraumzerstörung beruhigen und eine<br />

Alibiübung darstellen, die das Image des Strassenbaus aufbessern soll. Das viele Geld könnte<br />

wirksamer in andere Naturschutzprojekte investiert werden.<br />

Literatur<br />

BUWAL 2004. Fallwildstatistik. www.umwelt-schweiz.ch/buwal/de/fachgebiete/jagd/<br />

Cerutti, H. 1999. Schweizer Wanderkarte für Hirsch und Wildsau. Neue Zürcher Zeitung 268:69.<br />

Fahrig, L. 2002. Effect of habitat fragmentation on the extinction threshold: A synthesis. Ecological Applications<br />

12:346-353.<br />

Holzgang, O., Pfister, H.P., Heynen, D., Blant, M., Righetti, A., et al. 2001. Korridore für die Wildtiere in der Schweiz.<br />

Schriftenreihe Umwelt Nr. 326. Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (BUWAL), Bern.<br />

Holzgang, O., Righetti, A., Pfister, H.P. 2005. Schweizer Wildtierkorridore auf dem Papier, in den Köpfen und in der<br />

Landschaft. GAIA 14:148-151.<br />

Iuell, B. Bekker, G.J., Cuperus, R., Dufek, J., Fry, G., et al. 2003. Wildlife and Traffic: A European handbook for<br />

identifying conflicts and designing solutions. COST 341: Habitat fragmentation due to transportation<br />

infrastructure. KNNV Publishers. ISBN 90 5011 186 6<br />

Oggier, P., Righetti, A., Bonnard, L. 2001. Zerschneidung <strong>von</strong> Lebensräumen durch Verkehrsinfrastrukturen COST<br />

341. Schriftenreihe Umwelt Nr. 332, Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft; Bundesamt für<br />

Raumentwicklung; Bundesamt für Verkehr; Bundesamt für Strassen; Bern.<br />

Pfister, H.P., Keller, V., Reck, H., Georgii, B. 1997. Bio-ökologische Wirksamkeit <strong>von</strong> Grünbrücken über<br />

Verkehrswege. Forschung Strassenbau und Strassenverkehrstechnik 756:1-78.<br />

Pfister, H.P., Keller, V., Heynen, D., Holzgang, O. 2002. Wildtierökologische Grundlagen im Strassenbau. Strasse und<br />

Verkehr 3:101-108.<br />

Righetti, A. 1997. Passagen für Wildtiere. Die wildtierbiologische Sanierung des Autobahnnetzes der Schweiz. Beiträge<br />

zum Naturschutz der Schweiz 18. Pro Natura, Basel.<br />

Zusammenstellung: M. Suter, ETH Zürich, April 06


4<br />

Metapopulationsstruktur und Schutz des Roten Scheckenfalters<br />

Melitaea didyma (Esper 1779) auf der Schwäbischen Alb<br />

Zusammenstellung <strong>von</strong> A. Gigon und M. Di Giulio, Geobotanisches Institut ETH<br />

1. Morphologie und Biologie<br />

Mittelgrosser Scheckenfalter. Flügeloberseite beim Männchen auffällig rot gefärbt, mit unzusammenhängender,<br />

schwarzer Fleckenzeichnung, beim Weibchen variabel. Die Unterseite ist bei den Männchen<br />

und den Weibchen beigefarben mit schwarzen Fleckenreihen und zwei gelbroten Binden.<br />

Die Raupe ist auf grauschwarzem Grund dicht hellgrau gesprenkelt. Die beiden seitlichen Dornreihen<br />

auf dem Rücken sind orange, die übrigen Scheindornen grau. Die Kopfkapsel ist hellbraun.<br />

Die Eier werden in einem Gelege an die Blattunterseite bodennaher Blätter gekittet. Die Raupen<br />

fressen an verschiedenen Pflanzen, vorwiegend an Spitzwegerich (Plantago lanceolata), je nach<br />

Region auch an Skabiosenflockenblume (Centaurea scabiosa), am Grossen Ehrenpreis (Veronica<br />

teucrium), an Schwarzer Königskerze (Verbascum nigrum), am Kahlen Klappertopf (Rhinanthus<br />

serotinus), am Gewöhnlichen Leinkraut (Linaria vulgaris) und am Aufrechten Ziest (Stachys recta).<br />

Die Raupe verpuppt sich meistens an dürren Stängeln in Bodennähe.<br />

2. Ökologie und Vorkommen in der Schweiz<br />

Der wärmeliebende Falter ist streng an trockene Magerwiesen und Trockenrasen gebunden und<br />

kommt dort bis in die subalpine Stufe vor. Er ist ein eifriger Besucher roter Nelkenarten und <strong>von</strong><br />

Korbblütler (Schafgarbe, Margerite, Flockenblume). Die Männchen saugen auch gerne am Boden.<br />

Die Falter kommen <strong>von</strong> Juni bis September vor<br />

(siehe Abb. 1)<br />

Der Rote Scheckenfalter ist wegen<br />

dem Rückgang seiner Lebensräume,<br />

Mager- und Trockenwiesen, stark<br />

gefährdet (Abb. 2).<br />

Abb. 1. Jahreszeitliche Entwicklung


5<br />

Abb. 2. Verbreitung des Scheckenfalters<br />

3. Untersuchungsgebiet Schwäbische Alb sowie Untersuchungsflächen<br />

Das Untersuchungsgebiet (Abb. 3) liegt im mittleren Bereich der Schwäbischen Alb, einem Gebiet<br />

ähnlich dem Plateau-Jura, 45 km südöstlich <strong>von</strong> Stuttgart, auf einer Höhe <strong>von</strong> 700-800 m.<br />

Ausnahmen sind die tief eingeschnittenen Täler wie jenes der Grossen Lauter (in 600-650 m, mit !<br />

Temp. 6.4 0 C).<br />

Traditionell wurde das Gebiet überwiegend<br />

mit Wanderschafherden<br />

beweidet. Pflanzengesellschaften sind<br />

Halbtrockenrasen (Gentiano-Koelerietum)<br />

und auf den süd-südwest-exponierten,<br />

steilen Hängen Wacholderheiden, oft<br />

verbuscht und stark <strong>von</strong> Felsbändern und<br />

Geröll durchsetzt.<br />

Abb 3. Vorkommen <strong>von</strong> M. didyma.<br />

Voller Kreis: 1992, 1993 und 1995,<br />

geviertelter Kreis: 1995 (in Vorjahren<br />

nicht untersucht),<br />

halber Kreis: 1993 und 1995,<br />

leerer Kreis: 1992 und 1993.


6<br />

4. Methoden<br />

Im Mai und Juni 1995 wurden im Untersuchungsgebiet alle potentiell geeigneten Flächen auf Larvalvorkommen<br />

<strong>von</strong> M. didyma geprüft mit Trassektschleifen mit 2 m Abstand. In 13 der 18 Vorkommen<br />

Fang-Wiederfang; Markierung mit Edding Silberlackstift; Punktkodierung nach Mühlenberg (1993).<br />

Jeweils zwischen 9 und 17 Begehungen zwischen 2.7. und 12.8. Die maximale Populationsgrösse, d.h.<br />

des Tages mit der grössten Population wurde mit Hilfe des “Jolly-indexes” berechnet (vgl. Mühlenberg<br />

1993). Aus der Literatur liegen Daten für die Jahre 1992 und 1993 vor.<br />

5. Metapopulationsstruktur <strong>von</strong> M. didyma im Untersuchungsgebiet<br />

Die Abb. 3 zeigt die <strong>von</strong> Jahr zu Jahr schwankenden Vorkommen <strong>von</strong> M. didyma in den Jahren 1992,<br />

1993 und 1995. In den populationsbiologischen Daten unterscheiden sich im Jahr 1995 die Bestände<br />

<strong>von</strong> M. didyma sehr stark (Tab. 1 und Abb. 4). Die Populationsgrössen (4 bis 1143 Individuen) waren<br />

hochsignifikant mit der Grösse der Larvalhabitate (stark mit Kalkgeröll und Felsbändern geprägte<br />

Magerrasen) korreliert aber nicht mit der Gesamtgrösse der jeweiligen Untersuchungsfläche. Markierte<br />

Weibchen konnten maximal 23 Tage beobachtet werden.<br />

Abb 4. Wanderungen markierte<br />

Individuen <strong>von</strong> M. didyma<br />

zwischen den Untersuchungsflächen


7<br />

In der vorliegenden Arbeit “wird <strong>von</strong> Dispersal gesprochen, wenn Individuen <strong>von</strong> einer Untersuchungsfläche<br />

zur anderen gewechselt sind, auch wenn dort die Fortpflanzung nicht sicher<br />

nachgewiesen werden konnte”.<br />

Von der 23 Individuen bei denen Dispersal festgestellt wurde waren 6 Weibchen. Zwei <strong>von</strong> ihnen<br />

legten Distanzen <strong>von</strong> 4800 m zurück, die übrigen zwischen 800 und 4100 m. Bei den Männchen<br />

betrug die grösste Distanz 9000 m, die geringste 800 m. Die grösste Lokalpopulation im Jahre 1995<br />

(Untersuchungsfläche 13) weist mit 8 die grösste Anzahl Einwanderer aus; 1992 waren auf dieser<br />

Fläche nur vereinzelte Individuen <strong>von</strong> M. didyma beobachtet worden! Im Durchschnitt der<br />

gesamten Flugzeit zeigten mindestens 8% der markierten Tiere und extrapoliert also mindestens 8%<br />

der gesamten Population Dispersal. Dieser Wert liegt deutlich unter den <strong>von</strong> Hanski et al. (1994)<br />

gemachten Schätzungen, wo in einer Metapopulation des r-Strategen Melitaea cinxia (Wegerich-<br />

Scheckenfalter) 15% der Männchen und 30% der Weibchen gewandert sind. Gesamthaft zeigen die<br />

1995er Daten und die Beobachtungen der Jahre 1992 und 1993, dass bei M. didyma eine Metapopulationsstruktur<br />

vorliegt und zwar eine Mischform zwischen dem Levins-Typ (mit extinctioncolonisation<br />

equilibrium) und dem Core-satellite-Typ (mit mainland <strong>von</strong> welchem aus die islands<br />

besiedelt werden; auch source-sink Struktur). Motivation für das Wandern sind in dieser Fallstudie<br />

wohl dichteabhängige Verhaltensänderungen und evtl. Verscheuchen durch Schafbeweidung.<br />

6. Einfluss <strong>von</strong> Schafbeweidung auf M. didyma<br />

Bei “normaler” extensiver Schafbeweidung wichen die adulten M. didyma der Herde aus und<br />

hielten sich so lange wie möglich in den unbeweideten Bereichen auf; nachher überflogen sie die<br />

Herde und legten grössere Strecken zurück. Viermalige Beweidung an drei aufeinanderfolgenden<br />

Tagen sowie Pferchung der Schafherde während der Nacht auf einer Fläche führten zu einem<br />

Populations-zusammenbruch <strong>von</strong> M. didyma (Abb.5). Schafbeweidung kann auch zu starker<br />

Dezimierung der Raupen führen. Allerdings werden die besten Raupen- und Larval-Habitate <strong>von</strong><br />

Schafen wenig aufgesucht, da diese Orte meist steil und felsig sind.<br />

Abb. 5 Auswirkung der Schafbeweidung<br />

auf die Entwicklung der Populationsgrösse<br />

in Untersuchungsfläche 9 nach viermaliger<br />

Beweidung (Beginn 17.7) an drei Tagen<br />

sowie einmaliger Pferchung.<br />

7. Schutz des Roten Scheckenfalters, M. didyma<br />

Wesentlich ist die Erhaltung grosser Larvalhabitate, also <strong>von</strong> warmen, steilen, felsigen, und<br />

strukturreichen Standorten (i. allg auf Kalk), d.h. Bewaldung eindämmen. Im weiteren ist für die<br />

Adulten auch ein gutes Angebot an Nektarpflanzen wichtig (s. oben). Von günstigen Larval- und<br />

Adulten-Habitaten kann eine Besiedlung <strong>von</strong> geeigneten Biotopinseln erfolgen. Diese können bis zu<br />

4 km weit entfernt liegen; aber das Zwischengebiet muss überfliegbar sein! Intensive<br />

Schafbeweidung ist zu vermeiden.<br />

8. Benutzte Quellen für diese Zusammenstellung<br />

Brunzel S. & Reich M. 1996: Zur Metapopulationsstruktur des Roten Scheckenfalters (Melitaea didyma Esper 1779)<br />

auf der Schwäbischen Alb. Zeitschrift für Ökologie und Naturschutz 5. 243-253<br />

Hanski I., Kuusaari M. & Nieminen M. 1994: Metapopulation structure and migration in the butterfly Melitaea cinxia.<br />

Ecology 75: 747-762.<br />

Lepideptorologen-Arbeitsgruppe 1987: Tagfalter und ihre Lebensräume. Schweiz. Bund für Naturschutz, Basel. 516 S.<br />

Mühlenberg M. 1993: Freilandökologie. 3.Aufl. UTB 595. Quelle & Meyer. Heidelberg, Wiesbaden.<br />

www.cscf.ch (Verbreitung in der Schweiz)


8<br />

Hintergrund<br />

Erhaltung der Gefleckten Schnarrschrecke (Bryodema tuberculata)<br />

Ein Beispiel <strong>von</strong> Naturdynamik-Schutz im Zusammenspiel mit einer Metapopulation<br />

Die gefleckte Schnarrschrecke (Bryodema tuberculata, Abb. 1) tritt in Mitteleuropa entlang <strong>von</strong><br />

Bächen und Flüssen der Nordalpen auf. Sie besiedelt als ausgesprochen xerothermophile Art<br />

ausschliesslich vegetationsarme Kiesbänke. Diese sind ständigen Veränderungen unterworfen:<br />

Fortschreitende Sukzession verringert auf den einzelnen Kiesbänken den Lebensraum für B.<br />

tuberculata, was letztlich zu lokalem Aussterben führen kann. Andererseits entstehen infolge<br />

extremer Hochwasser immer wieder<br />

neue Kiesbänke oder bestehende Kiesbänke werden<br />

umgelagert. B. tuberculata kann als Metapopulation<br />

überleben, wenn sich die Aussterbe- und<br />

Neubesiedlungsprozesse ihrer Subpopulationen<br />

ausgleichen (Reich 1991a). Die natürliche<br />

Flussdynamik in den alpinen Flusslandschaften war<br />

in der Vergangenheit offensichtlich so beschaffen,<br />

dass B. tuberculata hunderte, wahrscheinlich sogar<br />

tausende <strong>von</strong> Jahren überleben konnte.<br />

Abb. 1: Bryodema tuberculata. Rötliche<br />

Hinterflügel. Seitenkiele fehlen. Mittelkiele<br />

nur vorn deutlich, Scheibe des Halsschildes<br />

sehr flach, hinten recht- oder stumpfwinklig.<br />

Oberfläche rau.<br />

Heute kommt B. tuberculata im Alpenraum nur<br />

noch in wenigen Refugien vor, denn fast überall ist<br />

mit den Wildflusslandschaften auch diese<br />

Heuschreckenart verschwunden. Verantwortlich<br />

dafür sind vor allem Eingriffe des Menschen in die<br />

Flussdynamik durch Längs- und Querbauten<br />

(Gewässerkorrekturen). In der Schweiz ist die Art<br />

ausgestorben, in Deutschland ist sie RL-Kategorie 1<br />

(vom Aussterben bedroht), in Europa gilt sie als<br />

selten.<br />

Abb. 2: Räumliche Verteilung<br />

der Sub-populationen der Heuschreckenart<br />

B. tuberculata auf<br />

Kiesbänken und Kiesbankbereichen<br />

in einem<br />

Vorkommen an der Oberen Isar<br />

(nach Reich 1991b).<br />

Um die letzten existierenden Populationen langfristig zu schützen, müssen deren<br />

Überlebenschancen unter den jetzigen Verhältnissen und auch nach möglichen zukünftigen<br />

Veränderungen der Flussdynamik beurteilt werden. Dazu ist ein Simulationsmodell entwickelt


9<br />

worden (Stelter et al. 1997), das die Prozesse, die für das Überleben <strong>von</strong> B. tuberculata–<br />

Populationen zentral sind, berücksichtigt und so als Entscheidungshilfe dienen kann.<br />

Modellbildung<br />

Die Modellbildung orientierte sich an einem konkreten Vorkommen <strong>von</strong> B. tuberculata in der<br />

Umlagerungsstrecke der Oberen Isar (Bayern, Deutschland; Abb. 2) (Reich 1991b). Ziel des<br />

Modelles war es, alle bekannten Prozesse, die die Überlebenschancen der Population beeinflussen<br />

zu berücksichtigen. Die wichtigen Parameter sind im Folgenden kurz erwähnt:<br />

Kiesbänke: In einem 1.5 km langen Teilabschnitt existieren etwa 30 geeignete Kiesbänke mit<br />

Subpopulationen <strong>von</strong> B. tuberculata; ein solcher Abschnitt ist <strong>von</strong> anderen Vorkommen an der<br />

Oberen Isar gut abgrenzbar. Das Modell geht deshalb <strong>von</strong> 30 Kiesbänken aus.<br />

K max : Die lokale Populationsgrösse auf den Kiesbänken ist maximal etwa 100 Individuen /<br />

Kiesbank. Da die Neubesiedlung nur durch Weibchen erfolgen kann (Eiablage), wird im Modell<br />

<strong>von</strong> einer maximalen Kapazität <strong>von</strong> 50 Weibchen ausgegangen.<br />

Sukzession, K min : Auf einer zunächst vegetationsfreien Kiesbank nehmen durch Verbuschung (v.a.<br />

Salix sp.) die Lebensräume für B. tuberculata ab. Die lineare Kapazitätsabnahme wird auf 1 bis 2<br />

Weibchen pro Jahr geschätzt. Das heisst, es dauert 25 bis 50 Jahre bis zur maximalen Verbuschung.<br />

Aber selbst dann gibt es auf den Kiesbänken immer noch kleine vegetationsfreie Flächen<br />

(Randbereiche). Aus diesem Grund wird im Modell eine Mindestkapazität K min <strong>von</strong> 5 Individuen<br />

gesetzt.<br />

Hochwasser: Hochwasser treten im Rahmen der Schneeschmelze regelmässig auf. Im Modell<br />

werden nur die Katastrophen-Hochwasser berücksichtigt, denn diese können durch Überspülen und<br />

Umlagern ganze Kiesbänke wieder in ein vegetationsfreies Initialstadium versetzen. Der Begriff<br />

„Katastrophen“-Hochwasser wird darum verwendet, weil diese Ereignisse die bestehenden<br />

Subpopulationen <strong>von</strong> B. tuberculata auslöschen. Aufgrund <strong>von</strong> Zeitreihen-Daten zu Hochwassern<br />

an der Oberen Isar wird die jährliche Wahrscheinlichkeit für das Auftreten eines Katastrophen-<br />

Hochwassers mit 0.02 angenommen, d.h. im Mittel tritt alle 50 Jahre ein solches Ereignis auf.<br />

Besiedlung: Aufgrund <strong>von</strong> Untersuchungen zur Ausbreitungsdynamik (Reich 1991b) wird die<br />

Wahrscheinlichkeit, dass ein Weibchen eine andere Kiesbank erfolgreich besiedelt, auf 0.1<br />

geschätzt.<br />

Lokales Aussterben: Subpopulationen können durch Räuber und schlechtes Wetter aussterben.<br />

Diese Aussterbewahrscheinlichkeit wurde mit 0.1 angenommen, d.h. über eine lange Zeit stirbt im<br />

Mittel jede zehnte Subpopulation aufgrund <strong>von</strong> solchen Umweltfaktoren aus. - Die<br />

Aussterbewahrscheinlichkeit infolge demographischen Rauschens hängt <strong>von</strong> der Populationsgrösse<br />

ab, sie wird im Modell deshalb reziprok zur Kapazität K gesetzt. Das bedeutet: Bei der<br />

Mindestkapazität K min stirbt eine Subpopulation mit der Wahrscheinlichkeit <strong>von</strong> 0.2, bei der<br />

maximalen Kapazität ist diese Wahrscheinlichkeit nur noch 0.02.<br />

Komplettes Modell: Anhand <strong>von</strong> 3 Kiesbänken ist in Abb. 3 dargestellt, wie Hochwasser,<br />

Sukzession, Besiedlung und lokales Aussterben zusammenwirken. Die zeitliche Abfolge der<br />

Modellprozesse lässt sich auch in einem Flussdiagramm darstellen (Abb. 4). Die Dauer eines<br />

Zyklus beträgt ein Jahr.


10<br />

Abb. 3: Wichtige Prozesse in einem Simulationsmodell zur Beurteilung der Überlebenschancen einer<br />

Metapopulation <strong>von</strong> B. tuberculata. Dargestellt ist die Dynamik der Kapazität (K) dreier Kiesbänke.<br />

Prozesse: Katastrophen-Hochwasser (Fluten, durchgezogene Pfeile), Wiederbesiedlung (gepunktete Pfeile),<br />

<strong>von</strong> der Art besetzte Kiesbänke sind schraffiert.<br />

Abb. 4: Schematische Darstellung des<br />

Simulationsmodelles zur Populationsdynamik<br />

<strong>von</strong> B. tuberculata. Das Diagramm<br />

zeigt den Ablauf der Prozesse während eines<br />

Jahres: Hochwasser und ggf. Umlagerung<br />

<strong>von</strong> Kiesbänken im Frühjahr, danach Verlust<br />

an Lebensraum (“Kapazitätsabnahme”)<br />

infolge Sukzession, lokales Aussterben, und<br />

im Herbst Wiederbesiedlung durch<br />

wandernde Weibchen. Die Abfragen in den<br />

fett umrahmten Kästen werden für sämtliche<br />

Individuen der Meta-population<br />

durchgeführt; d.h. für jedes Individuum wird<br />

anhand einer vorzugebenden<br />

Wahrscheinlichkeit bestimmt, ob es eine<br />

andere Kiesbank besiedelt. Im Falle einer<br />

Umlagerung im Jahre t ist eine Kiesbank<br />

zunächst für 2 Jahre unbesiedelbar, da es<br />

noch keine Vegetation gibt. Danach wird<br />

angenommen, dass die Kapazität der<br />

Kiesbank für B. tuberculata maximal ist (50<br />

Weibchen). (nach Grimm et al. 1994; s. auch<br />

Stelter et al. 1997).


11<br />

Ergebnisse<br />

Einzelsimulationen zeigen, dass die modellierten Prozesse schlüssig ineinander greifen und eine<br />

realistische Dynamik der Metapopulation erzeugen (Abb. 5). Ohne Hochwasser nimmt die Anzahl<br />

der besetzten Kiesbänke infolge der Sukzession insgesamt ab. Wiederbesiedlungen können, solange<br />

keine Hochwasser auftreten, dem Verlust an Subpopulationen nur kurzfristig entgegenwirken. Im<br />

dargestellten Durchlauf des Modells (Abb. 5) ist die ganze Metapopulation nach 210 Jahren<br />

ausgestorben.<br />

Abb. 5: Typische Dynamik einer Modell-Metapopulation der Heuschreckenart Bryodema tuberculata.<br />

Dargestellt sind die Anzahl <strong>von</strong> B. tuberculata besetzten Kiesbänke (Kreise, maximal 30), sowie die<br />

Gesamtindividuenzahl der Metapopulationen (Dreiecke). Die Zeitpunkte der teilweisen Umlagerung ganzer<br />

Kiesbänke infolge Katastrophen-Hochwassern (Fluten) sind markiert. Die angenommene Wahrscheinlichkeit<br />

für Katastrophen-Hochwasser betrugt 0.02 pro Jahr, d.h. im Mittel tritt alle 50 Jahre ein solches Ereignis auf<br />

(nach Grimm et al. 1994).<br />

Die Hochwasserwahrscheinlichkeit spielt für das Überleben der Metapopulation eine entscheidende<br />

Rolle. Das Modell erlaubte es, diese Wahrscheinlichkeit zu variieren, während alle anderen<br />

Parameter konstant gehalten werden. Damit konnte eine Fluthäufigkeit berechnet werden, für<br />

welche die Überlebenswahrscheinlichkeit der Metapopulation maximal ist. Im gezeigten Modell<br />

wäre dieser Wert für Katastrophen-Hochwasser zwischen 0.15 – 0.2. Das heisst, dass im Mittel alle<br />

5 – 8 Jahre eine Flut die Kiesbänke umschichten sollte, damit eine Metapopulation <strong>von</strong> B.<br />

tuberculata langfristige Überlebenschancen hat. Wird diese Häufigkeit durch Flussverbauungen<br />

vermindert, wirkt sich das negativ auf das Überleben der Art aus.<br />

Dieses Beispiel zeigt, dass für gewisse Arten die Naturdynamik zentral ist. Auch zeigt das Modell,<br />

wie wichtig das Konzept der Metapopulation ist, um die Dynamik der einzelnen B. tuberculata-<br />

Populationen zu verstehen. Nur durch das richtige Zusammenspiel beider Faktoren, der Natur- und<br />

der Metapopulationsdynamik, kann diese Art längerfristig überleben.<br />

Literatur<br />

Grimm, V., Stelter, C., Reich, M. and Wissel, C. 1994. Ein Modell zur Metapopulationsdynamik<br />

<strong>von</strong> Bryodema tuberculata (Saltatoria, Acrididae). Zeitschrift fuer Oekologie und Naturschutz<br />

3:189-195.<br />

Stelter, C., Reich, M., Grimm, V. and Wissel, C. (1994) Ein Modell zur Dynamik einer<br />

Metapopulation <strong>von</strong> Bryodema tuberculata (Saltatoria, Acrididae): Kann diese Art überleben? 23.<br />

Jahrestagung der Gesellschaft für Ökologie, Innsbruck, Gesellschaft für Ökologie. 383-390.


12<br />

Stelter, C., Reich, M., Grimm, V. and Wissel, C. .1997. Modelling persistence in dynamic<br />

landscapes: Lessons from a metapopulation of the grasshopper Bryodema tuberculata. Journal of<br />

Animal Ecology 66:508-518.<br />

Reich, M. 1991a. Grasshoppers (Orthoptera, Saltatoria) on alpine and dealpine riverbanks and their<br />

use as indicators for natural floodplain dynamics. Regulated Rivers 6: 333-339.<br />

Reich, M. 1991b. Struktur und Dynamik einer Population <strong>von</strong> Bryodema tuberculata (Fabricius<br />

1775) (Saltatoria, Acrididae). Dissertation, Universität Ulm.<br />

Zusammenstellung: Matthias Suter, ETH Zürich, Mai 2006

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