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Fall 7: Umsetzung einer Richtlinie

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Repetitorium Grundrechte WS 2011/2012<br />

Prof. Dr. Gersdorf<br />

<strong>Fall</strong> 7: <strong>Umsetzung</strong> <strong>einer</strong> <strong>Richtlinie</strong><br />

1. Zum Schutze des Privatlebens von Prominenten erlässt die Europäische Union in formell<br />

zulässiger Weise eine <strong>Richtlinie</strong>, die den Mitgliedstaaten auferlegt, die erforderlichen Regelungen<br />

zu treffen, damit die Medien über das Privatleben Prominenter nicht mehr<br />

berichten. Diese <strong>Richtlinie</strong> eröffnet den Mitgliedstaaten keinen Gestaltungsspielraum.<br />

Die Bundesrepublik Deutschland setzt diese <strong>Richtlinie</strong> fristgemäß in nationales Recht um.<br />

Die illustrierte Publikumszeitschrift Z, deren wichtigster Bestandteil die Berichterstattung<br />

über das Privatleben Prominenter darstellt, möchte das nationale <strong>Umsetzung</strong>sgesetz und<br />

diese <strong>Richtlinie</strong> nicht hinnehmen und rügt eine Grundrechtsverletzung.<br />

Z möchte von Ihnen wissen, ob sie in ihren Grundrechten verletzt ist.<br />

2. Abwandlung: Die <strong>Richtlinie</strong> verbietet nur die Berichterstattung über das Privatleben<br />

Prominenter außerhalb des politischen Lebens, belässt den Mitgliedstaaten im Übrigen<br />

aber einen Gestaltungsspielraum. In Wahrnehmung dieses Gestaltungsspielraums erlässt<br />

die Bundesrepublik Deutschland ein Gesetz, das die Berichterstattung über das Privatleben<br />

auch von Politikern untersagt.<br />

Z möchte wiederum wissen, ob sie in ihren Grundrechten verletzt ist.<br />

3. Welche Möglichkeiten des gerichtlichen Rechtsschutzes – mit Ausnahme des EGMR –<br />

hätte Z jeweils?


Repetitorium Grundrechte WS 2011/2012<br />

Prof. Dr. Gersdorf<br />

Lösungsvorschlag<br />

Frage 1: <strong>Richtlinie</strong>numsetzung ohne Gestaltungsspielraum<br />

A. Grundrechtsverletzung durch das <strong>Umsetzung</strong>sgesetz<br />

I. Verletzung von Grundrechten des GG<br />

<br />

Vorfrage: Ist das nationale <strong>Umsetzung</strong>sgesetz am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes<br />

zu prüfen?<br />

o Voraussetzung: Anwendbarkeit der Grundrechte des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab<br />

o BVerfG: Wenn die umzusetzende <strong>Richtlinie</strong> den Mitgliedstaaten keinen Gestaltungsspielraum<br />

belässt, werden die innerstaatlichen <strong>Umsetzung</strong>sgesetze nicht am<br />

Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes geprüft.<br />

o Vorliegend:<br />

- <strong>Richtlinie</strong> belässt keinen Gestaltungsspielraum für innerstaatliche <strong>Umsetzung</strong>.<br />

- Daher: keine Prüfung der Verletzung von grundgesetzlichen Grundrechten<br />

II. Verletzung von Grundrechten der GRC<br />

<br />

Vorfrage: Ist das nationale <strong>Umsetzung</strong>sgesetz am Maßstab der Grundrechte der GRC zu<br />

prüfen?<br />

o Voraussetzung dafür: Bindung der Bundesrepublik Deutschland an die Unionsgrundrechte<br />

o Gem. Art. 6 I EUV wird die GRC von der Union auf der Ebene des Primärrechts anerkannt.<br />

o Nach Art. 51 I 1 GRC gilt diese „für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der<br />

Durchführung des Rechts der Union …“.<br />

o „Durchführung“ ist dabei nicht nur im Zusammenhang mit dem administrativen<br />

Vollzug von Gemeinschaftsrecht zu verstehen (z.B. Anwendung von EG-<br />

Verordnungen), sondern erfasst nach dem Sinn und Zweck auch die Normsetzung<br />

(z.B. <strong>Umsetzung</strong> von <strong>Richtlinie</strong>n in innerstaatliches Recht).<br />

- Bei der <strong>Umsetzung</strong> von <strong>Richtlinie</strong>n ist umstr., ob die Mitgliedstaaten auch<br />

dann an die GRC gebunden sind, wenn sie <strong>Umsetzung</strong>sspielräume ausnutzen.<br />

Unstr. sind sie aber an die GRC gebunden, wenn sie <strong>Richtlinie</strong>n ohne<br />

Gestaltungsspielraum umsetzen.<br />

o Vorliegend: Da der nationale Gesetzgeber Unionsrecht ohne Gestaltungsspielraum<br />

umsetzt, ist er unstr. an die Grundrechte der GRC gebunden.<br />

<br />

Verletzung des Art. 11 GRC?<br />

o Eingriff in den Schutzbereich<br />

- Verhältnis zur EMRK:<br />

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Prof. Dr. Gersdorf<br />

• Gem. Art. 52 III 1 GRC haben die Rechte der GRC, die den durch die<br />

EMRK garantierten Rechte entsprechen, die gleiche Bedeutung<br />

und Tragweite wie die in der EMRK gewährleisteten Rechte.<br />

Dadurch soll ein Mindestschutz der EMRK-Grundrechte gewährleistet<br />

werden (Mindestschutzgarantie).<br />

• Das bedeutet, dass für den <strong>Fall</strong>, dass der Schutz des GRC-<br />

Grundrechts hinter dem Schutz des EMRK-Grundrechtes zurückbleibt,<br />

der weitere Schutz des EMRK-Grundrechtes gilt.<br />

• Es ist umstr., ob die Freiheit des Art. 11 GRC der Freiheit des<br />

Art. 10 EMRK entspricht, insbesondere, ob das in Art. 11 II GRC<br />

enthaltene Pluralitätsgebot auch von Art. 10 EMRK erfasst ist. Der<br />

Streit kann jedoch dahinstehen, da Art. 11 GRC dann allenfalls<br />

mehr, nicht aber weniger gewähren würde als Art. 10 EMRK. Der<br />

Mindestschutz des Art. 10 EMRK wird also in jedem <strong>Fall</strong> gewährleistet.<br />

• Da die Schutzbereiche den gleichen Mindestgehalt i.S.d. Art. 10<br />

EMRK aufweisen, bleibt es somit bei der Anwendung von Art. 11<br />

GRC. Ein Rückgriff auf Art. 10 EMRK ist demnach nicht erforderlich,<br />

da Art. 11 GRC den Mindestschutz des Art. 10 EMRK auf der<br />

Schutzbereichsebene gewährleistet.<br />

- Persönlicher Schutzbereich: „Person“ = jede natürliche und juristische<br />

Person, daher (+)<br />

- Sachlicher Schutzbereich:<br />

• Art. 11 I oder II GRC?<br />

- Während Art. 11 I 1 GRC das Recht auf freie Meinungsäußerung<br />

beinhaltet, erfasst Art. 11 II GRC die institutionelle<br />

Seite der Medienfreiheit, hier in Form der Pressefreiheit.<br />

- Demnach ist Art. 11 I 1 GRC einschlägig, wenn es um den<br />

Schutz der Inhalte geht, die publiziert werden. Art. 11 II<br />

GRC betrifft dagegen den organisatorischen und institutionellen<br />

Rahmen zur Herausgabe eines Presseerzeugnisses<br />

bis hin zur Arbeit des einzelnen Journalisten.<br />

- Vorliegend: Es geht um die Zulässigkeit der Zeitschrift der Z<br />

in ihrer jetzigen Erscheinungsform, also um die Zulässigkeit<br />

eines Presseerzeugnisses als solches. Daher geht die Pressefreiheit<br />

als das speziellere Grundrecht vor.<br />

• Vom Schutzbereich der Medienfreiheit sind alle mit der Eigenart<br />

der Medienarbeit zusammenhängenden Tätigkeiten von der Informationsbeschaffung<br />

bis zur Verbreitung der Nachricht umfasst.<br />

• „Medien“ ist als Oberbegriff zu verstehen und umfasst sowohl die<br />

klassischen Medien (Presse, Rundfunk, Film) als auch die „Neuen<br />

Medien“ (Internet) und die an die Allgemeinheit gerichtete Kommunikation.<br />

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o Schranken<br />

• Hier:<br />

- (P) Welche Schranke gilt?<br />

- Verbreitung von Nachrichten über das Privatleben Prominenter<br />

in Wort oder Bild nicht mehr zulässig<br />

- beschränkt Z in der Verbreitung ihrer Zeitschrift, die dem<br />

Bereich der Presse zuzuordnen ist<br />

- daher Eingriff in den Schutzbereich (+)<br />

• Gilt die Schranke des Art. 52 I GRC oder gem. Art. 52 III GRC die<br />

Schranke des Art. 10 II EMRK?<br />

• Die Mindestschutzgarantie des Art. 52 III GRC gilt auch auf der<br />

Schrankenebene.<br />

- Die Voraussetzung des Art. 52 III GRC, dass sich die Rechte<br />

der GRC und der EMRK entsprechen, ist erfüllt, da die Freiheit<br />

des Art. 11 GRC der Freiheit des Art. 10 EMRK entspricht<br />

(s.o.).<br />

- Aus der Mindestschutzgarantie folgt, dass dann die Schranken<br />

der EMRK gelten, wenn diese enger sind und somit der<br />

von der EMRK gewährte Schutz weiter reicht, als der durch<br />

die GRC gewährte Schutz.<br />

• Vorliegend: Die Schranke des Art. 10 II EMRK ist enger formuliert<br />

als die in Art. 52 I GRC vorgesehene allgemeine Schrankenregelung<br />

für alle Grundrechte der GRC, da ein qualifizierter Gesetzesvorbehalt<br />

aufgestellt wird. So ist eine Beschränkung des Art. 10 I EMRK<br />

nur zur Verfolgung der in Art. 10 II EMRK normierten Zwecke zulässig.<br />

Art. 52 I GRC stellt dagegen keine speziellen Anforderungen,<br />

sondern beinhaltet lediglich:<br />

den Gesetzesvorbehalt, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz<br />

und die Wesensgehaltsgarantie.<br />

• Konsequenz: Die Schrankenregelung des Art. 10 II EMRK verdrängt<br />

über Art. 52 III GRC die allgemeine Schrankenregelung des Art. 52 I<br />

GRC.<br />

• Zwischenergebnis: Es gilt die engere Schranke des Art. 10 II EMRK,<br />

da sie einen im Vergleich zu Art. 52 I GRC weitergehenden Schutzstandard<br />

gewährt.<br />

- Entspricht die Regelung des <strong>Umsetzung</strong>sgesetzes der Schranke des<br />

Art. 10 II EMRK?<br />

• Gesetzesvorbehalt (+)<br />

• Zulässiges Ziel: „zum Schutz des guten Rufs oder der Rechte anderer“<br />

(+) Achtung des Privatlebens der Prominenten (vgl. Art. 7<br />

GRC/Art. 8 I EMRK)<br />

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Repetitorium Grundrechte WS 2011/2012<br />

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• „in <strong>einer</strong> demokratischen Gesellschaft notwendig“ zur Erreichung<br />

des zulässigen Ziels?<br />

- = Eignung, Erforderlichkeit, Verhältnismäßigkeit im engeren<br />

Sinn<br />

- pauschales Verbot der Berichterstattung über das Privatleben<br />

Prominenter unverhältnismäßig, da außer Acht gelassen<br />

wird, dass ggf. ein öffentliches Interesse an der Berichterstattung<br />

bestehen kann, insbesondere im Hinblick<br />

auf das Privatleben von Politikern<br />

• Zwischenergebnis: Das <strong>Umsetzung</strong>sgesetz ist nicht von der Schranke<br />

des Art. 10 II EMRK gedeckt.<br />

- Zwischenergebnis: Der Eingriff in den Schutzbereich des Art. 11 GRC ist<br />

nicht gerechtfertigt.<br />

o Ergebnis: Das <strong>Umsetzung</strong>sgesetz verletzt Art. 11 GRC.<br />

B. Grundrechtsverletzung durch die <strong>Richtlinie</strong><br />

I. Verletzung von Grundrechten des GG<br />

<br />

Vorfrage nach dem Prüfungsmaßstab: Ist die <strong>Richtlinie</strong> am Maßstab der Grundrechte des<br />

Grundgesetzes zu prüfen?<br />

<br />

<br />

Nein, denn die Organe der Europäischen Union sind nicht an die nationalen Grundrechte<br />

gebunden.<br />

BVerfG: „Solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung<br />

des Gerichtshofs der Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber<br />

der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom<br />

Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten<br />

ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, wird das Bundesverfassungsgericht<br />

seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem<br />

Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte oder<br />

Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen<br />

wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte<br />

des Grundgesetzes überprüfen … .“<br />

II. Verletzung von Grundrechten der GRC<br />

<br />

Gem. Art. 51 I GRC sind die Organe der Union an die GRC gebunden. Die GRC ist also<br />

auch bei dem Erlass von <strong>Richtlinie</strong>n durch die Organe der EU zu beachten.<br />

<br />

<br />

Da die <strong>Richtlinie</strong> den nationalen Gesetzgebern keinen Gestaltungsspielraum belassen<br />

hat, entsprechen die inhaltlichen Regelungen der <strong>Richtlinie</strong> den materiellen Regelungen<br />

des <strong>Umsetzung</strong>sgesetzes.<br />

Da das <strong>Umsetzung</strong>sgesetz gegen Art. 11 GRC verstößt, verletzt daher auch die <strong>Richtlinie</strong><br />

Art. 11 GRC.<br />

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Repetitorium Grundrechte WS 2011/2012<br />

Prof. Dr. Gersdorf<br />

Frage 2: <strong>Richtlinie</strong>numsetzung mit Gestaltungsspielraum<br />

A. Grundrechtsverletzung durch das <strong>Umsetzung</strong>sgesetz<br />

I. Verletzung von Grundrechten des GG<br />

<br />

Vorfrage: Ist das nationale <strong>Umsetzung</strong>sgesetz am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes<br />

zu prüfen?<br />

o Voraussetzung: Anwendbarkeit der Grundrechte des Grundgesetzes als Prüfungsmaßstab<br />

o BVerfG:<br />

- verfassungsrechtliche Überprüfung des innerstaatlichen <strong>Umsetzung</strong>sgesetzes<br />

am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, wenn es auf <strong>einer</strong><br />

<strong>Richtlinie</strong> beruht, die den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielräume belässt<br />

- Das <strong>Umsetzung</strong>sgesetz ist dann im Rahmen des unionsrechtlich eröffneten<br />

Gestaltungsspielraumes an den Grundrechten des Grundgesetzes zu<br />

messen.<br />

o Vorliegend:<br />

- <strong>Richtlinie</strong> belässt Gestaltungsspielraum für innerstaatliche <strong>Umsetzung</strong>:<br />

<strong>Richtlinie</strong> verbietet nur die Berichterstattung über das Privatleben Prominenter<br />

außerhalb des politischen Lebens, nicht aber die Berichterstattung<br />

über das Privatleben von Politikern.<br />

- Daher: Prüfung der Verletzung von grundgesetzlichen Grundrechten hinsichtlich<br />

des Verbotes der Berichterstattung über das Privatleben von Politikern<br />

<br />

Verletzung der Pressefreiheit des Art. 5 I 2, 1. Alt. GG?<br />

o Eingriff in den Schutzbereich:<br />

- persönlicher Schutzbereich: alle im Pressewesen tätigen Personen und<br />

Unternehmen; (+), da Z = Verleger<br />

- sachlicher Schutzbereich:<br />

• Abgrenzung zur Meinungsfreiheit:<br />

- Wenn es um den Schutz der Inhalte geht, die in der Presse<br />

publiziert werden, ist der Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit<br />

des Art. 5 I 1, 1. Alt. GG einschlägig.<br />

- „Der Schutzbereich der Pressefreiheit ist … berührt, wenn<br />

es um die im Pressewesen tätigen Personen in Ausübung<br />

ihrer Funktion, um ein Presseerzeugnis selbst, um seine institutionell-organisatorischen<br />

Voraussetzungen und Rahmenbedingungen<br />

sowie um die Institution <strong>einer</strong> freien<br />

Presse überhaupt geht.“<br />

- Vorliegend: Es geht um die Zulässigkeit der Zeitschrift der Z<br />

in ihrer jetzigen Erscheinungsform, also um die Zulässigkeit<br />

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eines Presseerzeugnisses als solches. Daher geht die Pressefreiheit<br />

als das speziellere Grundrecht vor.<br />

• Der Schutz der Pressefreiheit „reicht von der Beschaffung der Information<br />

bis zur Verbreitung der Nachrichten und Meinungen.“<br />

• Hier:<br />

o Verfassungsrechtliche Rechtfertigung:<br />

- Verbreitung von Nachrichten über das Privatleben von Politikern<br />

in Wort oder Bild nicht mehr zulässig<br />

- beschränkt Z in der Verbreitung ihrer Zeitschrift, die dem<br />

Bereich der Presse zuzuordnen ist<br />

- daher Eingriff in den Schutzbereich (+)<br />

- Schranke des Art. 5 II GG, hier Schranke der „allgemeinen Gesetze“ bzw.<br />

des „Rechts der persönlichen Ehre“<br />

- Aber: pauschales Verbot jedenfalls nicht verhältnismäßig im engeren Sinne,<br />

da z.B. außer Acht gelassen wird, dass ein Informationsinteresse an<br />

der Berichterstattung über das Privatleben von Politikern bestehen kann<br />

(vgl. oben)<br />

Ergebnis: Verletzung der Pressefreiheit des Art. 5 I 2, 1. Alt. GG (+)<br />

II. Verletzung von Grundrechten der GRC<br />

<br />

Vorfrage: Ist das nationale <strong>Umsetzung</strong>sgesetz am Maßstab der Grundrechte der GRC zu<br />

prüfen?<br />

o Voraussetzung dafür: Bindung der Bundesrepublik Deutschland an die Unionsgrundrechte<br />

o Gem. Art. 6 I EUV wird die GRC von der Union auf der Ebene des Primärrechts anerkannt.<br />

o Nach Art. 51 I GRC gilt diese „für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung<br />

des Rechts der Union …“.<br />

o „Durchführung“ ist dabei nicht nur im Zusammenhang mit dem administrativen<br />

Vollzug von Gemeinschaftsrecht zu verstehen (z.B. Anwendung von EG-<br />

Verordnungen), sondern erfasst nach dem Sinn und Zweck auch die Normsetzung<br />

(z.B. <strong>Umsetzung</strong> von <strong>Richtlinie</strong>n in innerstaatliches Recht).<br />

- Bei der <strong>Umsetzung</strong> von <strong>Richtlinie</strong>n ist umstr., ob die Mitgliedstaaten auch<br />

dann an die GRC gebunden sind, wenn sie <strong>Umsetzung</strong>sspielräume ausnutzen.<br />

- Nach überwiegender Auffassung ist diese Frage zu bejahen.<br />

• EuGH: Nationale Gesetze, die <strong>Richtlinie</strong>n umsetzen, sind auch dann<br />

an Unionsgrundrechten zu messen, wenn die <strong>Richtlinie</strong> den Mitgliedstaaten<br />

<strong>Umsetzung</strong>sspielräume einräumt. Im Rahmen dieser<br />

Gestaltungsspielräume sind die Unionsgrundrechte zu beachten.<br />

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Prof. Dr. Gersdorf<br />

- Vorliegend: Da der nationale Gesetzgeber Unionsrecht umsetzt, ist er im<br />

Rahmen der <strong>Umsetzung</strong> der <strong>Richtlinie</strong> an die Grundrechte der GRC gebunden.<br />

<br />

Verletzung des Art. 11 GRC?<br />

o Eingriff in den Schutzbereich:<br />

- Da der Mindestschutz des Art. 10 EMRK in Art. 11 GRC auf der Schutzbereichsebene<br />

gewahrt ist, bestimmt sich der Schutzbereich nach Art. 11<br />

GRC (s.o.).<br />

- Ein Eingriff in den Schutzbereich liegt auch hier vor (s.o.).<br />

o Schranken:<br />

- Es gilt die Schranke des Art. 10 II EMRK, da sie einen im Vergleich zu Art.<br />

52 I GRC weitergehenden Schutzstandard gewährt (s.o.).<br />

- Entspricht die Regelung des <strong>Umsetzung</strong>sgesetzes der Schranke des Art. 10<br />

II EMRK?<br />

• Gesetzesvorbehalt (+)<br />

• Zulässiges Ziel: „zum Schutz des guten Rufs oder der Rechte anderer“<br />

(+) Achtung des Privatlebens der Prominenten (vgl. Art. 7<br />

GRC/Art. 8 I EMRK)<br />

• „in <strong>einer</strong> demokratischen Gesellschaft notwendig“ zur Erreichung<br />

des zulässigen Ziels?<br />

- = Eignung, Erforderlichkeit, Verhältnismäßigkeit im engeren<br />

Sinn<br />

- pauschales Verbot der Berichterstattung über das Privatleben<br />

Prominenter: dürfte unverhältnismäßig sein, da außer<br />

Acht gelassen wird, dass ggf. ein öffentliches Interesse an<br />

der Berichterstattung bestehen kann<br />

- pauschales Verbot der Berichterstattung über das Privatleben<br />

von Politikern: auf jeden <strong>Fall</strong> unverhältnismäßig, da<br />

hier aufgrund des Status als Politiker ein erhöhtes öffentliches<br />

Interesse an der Berichterstattung bestehen kann<br />

• Zwischenergebnis: Das <strong>Umsetzung</strong>sgesetz ist nicht von der Schranke<br />

des Art. 10 II EMRK gedeckt.<br />

- Zwischenergebnis: Der Eingriff in den Schutzbereich des Art. 11 GRC ist<br />

nicht gerechtfertigt.<br />

o Ergebnis: Das <strong>Umsetzung</strong>sgesetz der <strong>Richtlinie</strong> verletzt Art. 11 GRC.<br />

B. Grundrechtsverletzung durch die <strong>Richtlinie</strong><br />

I. Verletzung von Grundrechten des GG<br />

<br />

Vorfrage nach dem Prüfungsmaßstab: Ist die <strong>Richtlinie</strong> am Maßstab der Grundrechte des<br />

Grundgesetzes zu prüfen?<br />

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Prof. Dr. Gersdorf<br />

<br />

<br />

Nein, denn die Organe der Europäischen Union sind nicht an die nationalen Grundrechte<br />

gebunden.<br />

Vgl. BVerfGE 73, 339 f. – Solange II (s.o.)<br />

II. Verletzung von Grundrechten der GRC<br />

<br />

Hier kann grundsätzlich auf die obigen Ausführungen unter Frage 1, B. II. verwiesen werden.<br />

<br />

Unterschied zum Grundfall:<br />

o Das Verbot bezieht sich nicht auf die Berichterstattung über das Privatleben von<br />

Politikern.<br />

o Politiker können als Volksvertreter unter demokratischen Gesichtspunkten in einem<br />

besonderen öffentlichen Berichterstattungsinteresse stehen, das sich auch<br />

auf das Privatleben erstrecken kann.<br />

o Indem die <strong>Richtlinie</strong> in der Abwandlung diese Berichterstattung nicht verbietet,<br />

entspricht sie eher dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als das Verbot der <strong>Richtlinie</strong><br />

im Grundfall. Ein pauschales Verbot der Berichterstattung über Prominente<br />

dürfte gleichwohl unverhältnismäßig sein.<br />

o Daher: Verletzung des Art. 11 GRC (+)<br />

Frage 3: Rechtsschutzmöglichkeiten<br />

A. Ausgangsfall (<strong>Richtlinie</strong> ohne Gestaltungsspielraum)<br />

I. Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG<br />

<br />

<strong>Umsetzung</strong>sgesetz als Prüfungsgegenstand:<br />

o BVerfG lehnt Verfassungsbeschwerden gegen <strong>Umsetzung</strong>sgesetze bei Unionsrecht<br />

ohne Gestaltungsspielraum wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts<br />

als unbegründet (nicht unzulässig) ab.<br />

o Zulässigkeit:<br />

- Problematisch ist:<br />

• Beschwerdebefugnis und dort die Möglichkeit <strong>einer</strong> Grundrechtsverletzung.<br />

- Grds.: Möglichkeit, dass eine Grundrechtsverletzung nicht<br />

von vornherein und offensichtlich von allen in Betracht<br />

kommenden Sichtweisen ausgeschlossen ist<br />

- Hier: Möglichkeit, dass der im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens<br />

nach Art. 267 AEUV mit dem <strong>Umsetzung</strong>sgesetz<br />

befasste EuGH <strong>einer</strong>seits eine Verletzung der Unionsgrundrechte<br />

rügt und andererseits gleichzeitig die<br />

<strong>Richtlinie</strong> – die auf Grund des fehlenden Gestaltungsspielraums<br />

ebenfalls gegen die Unionsgrundrechte verstößt –<br />

für ungültig erklärt. Dadurch würde die Grundlage für das<br />

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Repetitorium Grundrechte WS 2011/2012<br />

Prof. Dr. Gersdorf<br />

<strong>Umsetzung</strong>sgesetz hinfällig sein, der Anwendungsvorrang<br />

des Unionsrechts würde nicht fortwirken und das BVerfG<br />

könnte das <strong>Umsetzung</strong>sgesetz am Maßstab der grundgesetzlichen<br />

Grundrechte prüfen, was im vorliegenden <strong>Fall</strong><br />

nicht offensichtlich ausgeschlossen ist.<br />

• Grundsatz der Subsidiarität (§ 90 II 2 BVerfGG)<br />

- Ergebnis: Verfassungsbeschwerde zulässig (+)<br />

<br />

<strong>Richtlinie</strong> als Prüfungsgegenstand:<br />

o Grds. keine Kompetenz zur Überprüfung wegen Anwendungsvorrangs des Unionsrechts<br />

o Vgl. BVerfG – Solange II (s.o.): solange keine Prüfung, wie unionsgrundrechtliches<br />

Schutzniveau nicht generell unter grundgesetzlichem Schutzniveau<br />

o Daher: nicht zulässig<br />

II. Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV<br />

<br />

<strong>Umsetzung</strong>sgesetz:<br />

o Verfahren nach Art. 267 I lit. a AEUV = Auslegungsvorlage:<br />

- EuGH entscheidet „über die Auslegung der Verträge“<br />

- Die GRC erhält über Art. 6 I EUV den gleichen Rang wie die Verträge.<br />

- Das vorlegende Gericht fragt nach, wie es die Grundrechte zu verstehen<br />

hat, ob das <strong>Umsetzung</strong>sgesetz die Grundrechte verletzen könnte.<br />

<br />

<strong>Richtlinie</strong>:<br />

o Verfahren nach Art. 267 I lit. b AEUV = Auslegungs- und/oder Gültigkeitsvorlage:<br />

- EuGH entscheidet „über die Gültigkeit und Auslegung der Handlungen der<br />

Organe … der Union“<br />

- Das vorlegende Gericht rügt eine Grundrechtsverletzung durch die <strong>Richtlinie</strong>.<br />

III. Nichtigkeitsklage (gegen <strong>Richtlinie</strong>) nach Art. 263 AEUV<br />

<br />

Zulässigkeit:<br />

o Klagebefugnis: „jede natürliche oder juristische Person“, Art. 263 IV AEUV Z =<br />

juristische Person (+)<br />

o Klagegegenstand: Akte mit Rechtswirkung der Unionsorgane, Art. 263 I AEUV:<br />

<strong>Richtlinie</strong> (+)<br />

o Klagebefugnis: Art. 263 IV AEUV<br />

- An sie gerichtete oder sie unmittelbar und individuell betreffende Handlungen<br />

(-)<br />

- Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und<br />

keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen (-) Auch der Sonder-<br />

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Repetitorium Grundrechte WS 2011/2012<br />

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fall <strong>einer</strong> als <strong>Richtlinie</strong> ergangenen Entscheidung („verschleierte“ Entscheidung)<br />

liegt nicht vor.<br />

- Daher: keine Klagebefugnis<br />

<br />

Ergebnis: Nichtigkeitsklage unzulässig<br />

B. Abwandlung (<strong>Richtlinie</strong> mit Gestaltungsspielraum)<br />

I. Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG<br />

<br />

<strong>Umsetzung</strong>sgesetz:<br />

o Gewohnte Prüfung der Beschwerdebefugnis Gesetzgeber könnte Gestaltungsspielräume<br />

nicht so genutzt haben, wie es grundrechtlich geboten wäre.<br />

<br />

<strong>Richtlinie</strong>:<br />

o Grds. nicht zulässig, s.o.<br />

II. Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV<br />

<br />

<strong>Umsetzung</strong>sgesetz:<br />

o Verfahren nach Art. 267 I lit. a AEUV = Auslegungsvorlage:<br />

- EuGH entscheidet „über die Auslegung der Verträge“<br />

- Die GRC erhält über Art. 6 I EUV den gleichen Rang wie die Verträge.<br />

- Das vorlegende Gericht fragt nach, wie es die Grundrechte zu verstehen<br />

hat, ob das <strong>Umsetzung</strong>sgesetz die Grundrechte verletzen könnte.<br />

<br />

<strong>Richtlinie</strong>:<br />

o Verfahren nach Art. 267 I lit. b AEUV = Auslegungs- und/oder Gültigkeitsvorlage:<br />

- EuGH entscheidet „über die Gültigkeit und Auslegung der Handlungen der<br />

Organe … der Union“<br />

- Das vorlegende Gericht rügt eine Grundrechtsverletzung durch die <strong>Richtlinie</strong>.<br />

III. Nichtigkeitsklage (gegen <strong>Richtlinie</strong>) nach Art. 263 AEUV<br />

<br />

Nichtigkeitsklage wegen mangelnder Klagebefugnis nach Art. 263 IV AEUV bereits unzulässig<br />

(s.o.)<br />

Aktueller Hinweis, nachdem gestern noch einige Fragen aufgetaucht sind:<br />

<br />

<br />

JuS 2012, 1: Das Rangverhältnis von Verfassungs- und Unionsrecht nach der neuesten<br />

Rechtsprechung des BVerfG, Aufsatz von Prof. Dr. Monika Polzin<br />

Springer Link: Handbuch Europarecht (in mehreren Bänden); Zugang über das Uni-Netz<br />

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