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Notenlesen im Anfangsunterricht? – Ein Beitrag zur ...

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<strong>Notenlesen</strong> <strong>im</strong> <strong>Anfangsunterricht</strong>? <strong>–</strong> <strong>Ein</strong> <strong>Beitrag</strong> <strong>zur</strong> Instrumentalmethodik<br />

Teil 1: Kritische Bemerkungen <strong>zur</strong> heutigen Unterrichtspraxis<br />

Das Erlernen eines Instrumentes erfolgt in der Regel zugleich mit dem Erlernen der Notation<br />

von Musik <strong>–</strong> der Fertigkeit des Lesens von Noten. Um ein Stück ausdrucksvoll vom Blatt<br />

spielen zu können, müssen mindestens folgende Fertigkeiten beherrscht werden:<br />

• Instrumentenspezifische Bewegungsabläufe<br />

• Lesen von Notenhöhe und Rhythmus<br />

• Erkennen von Phrasierung und Harmonie<br />

<strong>Ein</strong>ige Überlegungen zum Unterschied zwischen Sprache und Musik:<br />

Die deutsche Sprache benutzt folgende Zeichen: abcdefhijklmnopqrstuvwxyzäöüß. Das sind<br />

29 Zeichen. (Zahlen sowie Großschreibung wollen wir hier mal vernachlässigen).<br />

Die abendländische Musik kennt eigentlich nur zwölf verschiedene Töne. Aber es gibt<br />

mehrere Oktavbereiche. Hinzu kommt die enharmonische Verwechslung. D.h., ein und<br />

derselbe Ton kann unterschiedlich geschrieben werden (Beispiel: fis-ges). Bleiben wir <strong>zur</strong><br />

Vereinfachung in einem Oktavbereich für gebräuchliche Schreibweisen:<br />

C(his) <strong>–</strong> cis(des oder hisis) <strong>–</strong> d(cisis oder eses) <strong>–</strong> dis(es) <strong>–</strong> e(fes oder disis) <strong>–</strong> f(eis oder geses)<br />

fis(ges oder eisis) - g(fisis oder ases) <strong>–</strong> gis(as) <strong>–</strong> a(gisis oder heses) <strong>–</strong> ais(b) <strong>–</strong> h(aisis oder ces)<br />

Das sind schon 32 mögliche Zeichen. Hinzu kommt eine Besonderheit der Musik: Der Ton ist<br />

nicht nur in der Höhe definiert, sondern auch in der Zeit. Zur Vereinfachung nehmen wir nur<br />

die gebräuchlichsten rhythmischen Notenwerte für den <strong>Anfangsunterricht</strong>:<br />

Ganze- punktierte Halbe <strong>–</strong> Halbe <strong>–</strong> punktierte Viertel <strong>–</strong> Viertel <strong>–</strong> punktierte Achtel <strong>–</strong> Achtel <strong>–</strong><br />

Sechzehntel<br />

Das sind acht Zeichen. Da jede der Noten jeden rhythmischen Wert haben kann, ergeben sich<br />

8x32 Zeichen, also 256 zu erlernende Zeichen. Das sind ca. 9x mehr Zeichen als in der<br />

Schreibschrift.<br />

Das reicht für verschiedene Instrumente aber bei weitem nicht aus. Geige, Flöte u. a.<br />

Melodieinstrumente haben es hier ja noch ganz leicht, sie spielen einfach nur eine Melodie.<br />

Ganz anders z. B. der Pianist oder Gitarrist, welcher <strong>im</strong> relativ frühen <strong>Anfangsunterricht</strong><br />

mehrere Melodien gleichzeitig spielt:<br />

Beispiel für Gitarre:<br />

<strong>Notenlesen</strong> <strong>im</strong> <strong>Anfangsunterricht</strong> <strong>–</strong> Teil 1 D. Hasselmeyer 1 von 5


Der Gitarrist muss <strong>im</strong> obigen Beispiel Tonhöhen und Rhythmen in zwei Ebenen gleichzeitig<br />

lesen können!<br />

Das Beispiel ist sicher extrem vereinfacht. Groß- und Kleinbuchstaben sowie Zahlen und<br />

Sonderzeichen erhöhen natürlich die Anzahl der Zeichen in der Schreibschrift. In der<br />

Notenschrift wurde aber noch mehr vereinfacht. Instrumente spielen häufig über mehrere<br />

Oktavbereiche, außerdem verwenden sie manchmal wie z. B. be<strong>im</strong> Klavier verschiedene<br />

Schlüssel. Vom Metrum, Rhythmik und Stilistik verschiedener Epochen ganz zu schweigen.<br />

Oder auch Sonderzeichen <strong>zur</strong> Interpretationshilfe, es gibt sie wie Sand am Meer. Ich bin daher<br />

zutiefst davon überzeugt, dass die Notation und das Lesen von Musik wesentlich komplexer<br />

ist, als das Schreiben und Lesen in unserer Alltagssprache<br />

Wenn ein Kind in die Schule kommt, kann es in der Regel ausgezeichnet sprechen. Wie hat es<br />

das gelernt? Durch Zuhören und nachmachen. Welche Eltern würden auf den verrückten<br />

Gedanken kommen, ihrem Kind zeitgleich das Sprechen, Lesen und Schreiben beizubringen?<br />

Der Instrumentallehrer tut es. Seine Schüler erlernen mit den heute üblichen Methoden die<br />

musikalische Sprache zugleich durch Lesen, Spielen und Schreiben in einem Gang!<br />

Aus der Seele spricht mir hier Jürg Kindle, Schweizer Komponist und Gitarrist in seinem<br />

Grundsatzreferat in Cambridge England anlässlich des internationalen Kongresses der EGTA<br />

(European Guitar Teacher Association)<br />

„Kaum eine andere Tätigkeit fordert wohl von unseren drei Zentren, dem Denk- Fühl <strong>–</strong>und Bewegungsapparat<br />

eine perfektere Zusammenarbeit als der Vorgang des Umsetzens eines abstrakten Notenbildes in eine<br />

musikalische Empfindung. Was passiert nun mit dem Musizierenden während dieses komplizierten Vorganges?<br />

Am Anfang steht das Auge, ganz nach aussen gerichtet fixiert es das Notenbild und meldet diesen Sinneseindruck<br />

an die Hauptzentrale, das Grosshirn. Die linke Gehirnhälfte wandelt die abstrakten Signale blitzschnell in einen<br />

motorischen Code um und gibt via Nerven<strong>im</strong>pulse den Bewegungsbefehl an die be<strong>im</strong> Prozess des Musizierens<br />

beteiligten Muskeln weiter. An dieser Stelle erst geschieht das, was wir Musik spielen nennen. Sie sagen sich<br />

vielleicht, damit sei der Prozess abgeschlossen. Weit gefehlt, denn dieser beginnt in Wirklichkeit erst an dieser<br />

Stelle. Wir haben es nämlich sträflich unterlassen, das be<strong>im</strong> Musizieren wichtigste Organ in den Prozess mit<br />

einzubeziehen, nämlich das Ohr. Jetzt erst erfährt der Musizierende einen akustischen Sinneseindruck . Dieser<br />

wird auf der Grundlage früherer Sinneseindrücke und Sinneserfahrungen sofort interpretiert und eingeordnet<br />

als richtig oder falsch, schön oder hässlich u.s.w. Liegt eine Falschmeldung vor, beginnt der Prozess ab hier von<br />

vorne. Wir sehen also, dass be<strong>im</strong> herkömmlichen Umsetzen eines Notentextes das Ohr <strong>im</strong>mer zuletzt mit<br />

einbezogen wird. In erster Linie geht es um die mechanische Entschlüsselung des abstrakten Notenbildes. Kein<br />

Wunder, dass dieses Entschlüsseln den Musizierenden so stark beansprucht, dass der Prozess be<strong>im</strong> Punkt der<br />

Tonerzeugung aufhört. Wie oben erwähnt, ist ein Mensch in der Lage, ein technisch anspruchsvolles Stück<br />

mechanisch abzuspulen, ohne sich je dabei selbst zugehört zu haben. Dabei bieten für den Musizierenden nur die<br />

Sinneseindrücke, welche durch sein Ohr empfangen werden die Grundlage für die Entscheidungskraft zwischen<br />

richtig und falsch, schön und unschön etc. Der Notentext hat mit der Musik sowenig gemeinsam wie der Mörder<br />

in einem Kr<strong>im</strong>inalroman mit der Druckerschwärze. Die Noten sind lediglich die Trägersubstanz der<br />

musikalischen Idee, nicht aber die Idee selbst. Solange Musik mit dem Notenbild assoziiert wird kann sie nicht<br />

lebendig sein. Nicht die Musik wird als schwierig empfunden, sondern die Noten. Das Vor <strong>–</strong>und Nachspielen<br />

nach Gehör, das Abschauen, Nachahmen von Bewegungsabläufen sollte deshalb bei Kindern der Besprechung<br />

des Notenbildes vorausgehen, so wird nicht nur das Hörorgan geschult sondern gleichzeitig die musikalische<br />

Vorstellungskraft. Oft hört man dann bei der Präsentation des Notenbildes den erstaunten Schüler - Ausruf:<br />

“Was, so etwas schwieriges habe ich gespielt!“ Ich bin deshalb der absoluten Ansicht, dass die Musikalisierung<br />

der Menschen die sich uns anvertrauen in erster Linie über die Schulung des Hörorganes stattfinden muss. Nurdas<br />

Ohr braucht Zeit, das Auge sieht schnell. Es ist absurd, dass in einer leistungsorientierten Gesellschaft,<br />

welche absolut visuell ausgerichtet ist sogar der Musikunterricht vorwiegend über das Auge stattfindet.“<br />

Noch ein Gedanke zu den Folgen eines Unterrichts zeitgleichen Lesens und Spielens von<br />

Musik; Francis Schneider „Üben <strong>–</strong> was ist das eigentlich?“, S. 58:<br />

“Millionen von Menschen auf der Welt sprechen ohne lesen und schreiben zu können und es gelingt ihnen, ihr<br />

Denken und Fühlen in Worte zu fassen um sich mitzuteilen. Verbale Improvisation findet in jedem Moment statt.<br />

Wir sprechen ja auch nicht wie Schiller und Goethe <strong>–</strong> warum wird bei der musikalischen Improvisation<br />

vorausgesetzt, dass sofort etwas Rechtes dabei herauskomme?<br />

<strong>Notenlesen</strong> <strong>im</strong> <strong>Anfangsunterricht</strong> <strong>–</strong> Teil 1 D. Hasselmeyer 2 von 5


Es gibt viele Schüler aller Altersstufen, welche bereits weit fortgeschritten sind; dennoch ist es ihnen nicht<br />

möglich, den Kontakt zu ihrem persönlichen Musikempfinden herzustellen und einen einfachen eigenen<br />

musikalischen Gedanken zu formulieren.“<br />

Ich wage zu behaupten, dass man den Begriff „Schüler“ <strong>im</strong> obigen Zitat auch gut durch den<br />

Begriff „Instrumentallehrer“ ersetzen könnte. (Übrigens: ein ausgezeichnetes Buch, welches<br />

u. a. Ursachen für die heutige Situation der Instrumentalpädagogik aus historischer<br />

Entwicklung komplex beleuchtet, ist M. Gellrichs „Üben mit Lis(z)t“, Waldgut. l o g o)<br />

Was aber ist nun der eigentliche Hintergrund, weshalb der heute üblicherweise praktizierte<br />

Anfangsinstrumentalunterricht Lehrern, Eltern und Schülern so schwierig scheint?<br />

Den Ansatz dazu liefert der 1956 erschienene aufsehenserregende Aufsatz des amerikanischen<br />

Forschers George A. Miller. Das menschliche Gehirn kann Informationen in Gruppen<br />

verarbeiten. Es ist ihm möglich dies auch gleichzeitig zu tun. Jeder Mensch, auch ein Genie,<br />

hat 7 plusminus 2 solcher Gruppen, also <strong>im</strong> Schnitt 7 <strong>zur</strong> Verfügung. Diese <strong>Ein</strong>heiten nannte<br />

Miller „chunks“. Man kann sich „chunks“ als Ballung/Bündel/Gefäß oder was auch <strong>im</strong>mer<br />

vorstellen. Die Anzahl der „chunks“ ist (wie oben genannt) beschränkt, ihre Größe jedoch<br />

nicht!<br />

Wie lernt ein Kind lesen? Es besitzt einen ausgeprägten Wortschatz, wenn es in die Schule<br />

kommt. Der Lehrer vermittelt die ersten Buchstaben. Das Kind benötigt be<strong>im</strong> Lernen für<br />

jeden Buchstaben zunächst einen der durchschnittlich 7 vorhandenen Speicherplätze in<br />

seinem Hirn. Das Wort „M-A-M-A“ benötigt be<strong>im</strong> Anfänger daher 4 Speicherplätze. Wenn<br />

das Kind lernt, in Silben zu sprechen - „MA-MA“ - , werden nur zwei Speicherplätze<br />

verbraucht <strong>–</strong> für jede Silbe einer. Be<strong>im</strong> fortgeschrittenen Schüler schon zum Ende der 1.<br />

Klasse benötigt das Wort „MAMA“ nur noch einen „chunk“, das Kind hat gelernt, das Wort<br />

mit einem Blick zu erkennen und auszusprechen.<br />

Was unterscheidet ein Genie aber vom „normalen“ Menschen, wenn es auch nicht mehr<br />

Speicherplätze als dieser <strong>zur</strong> Verfügung hat? Genies haben „chunks mit außerordentlich<br />

großem Inhalt bilden können. In einem Versuch wurden Schachmeistern und schwachen<br />

Spielern best<strong>im</strong>mte Spielstellungen genau 5 Sekunden gezeigt. Schachmeister waren danach<br />

in der Lage, die Positionen von über 20 Figuren zu rekonstruieren, den schwächeren Spielern<br />

gelang das nur mit etwa 5 Figuren. Schachmeister merkten sich also gar nicht einzelne<br />

Figuren. Sie erinnerten sich vielmehr an ganze Spielstellungen. (Interessant ist, dass sich<br />

Schachmeister und <strong>–</strong>anfänger bei der Vorgabe von zufälligen Schachpositionen kaum mehr<br />

unterschieden. Auch Meister beklagten dann die verwirrend chaotische Figurenstellung und<br />

konnten sich nicht mehr merken als ein Amateur…)<br />

Das ist wie be<strong>im</strong> Lesen. <strong>Ein</strong> schwacher Schüler buchstabiert. Sein Gedächnis ist ausgelastet<br />

mit Buchstaben und Silben. <strong>Ein</strong> guter Leser erkennt ganze Worte. Sein Vortrag ist flüssig und<br />

leichter. Sehr gute Leser können sogar Gruppen von Wörtern erfassen. Sie sind in der Lage,<br />

neue Texte ausdrucksstark wiederzugeben, weil ihr Gedächnis mehr Reserven hat. Sie haben<br />

die Fähigkeit, vorauszulesen! Gute Blattspieler können dies übrigens aus, sie erfassen ganze<br />

Takte mit einem Blick und lesen weiter, während Hände und Finger den aktuellen Takt<br />

spielen. Je mehr Informationen innerhalb eines „chunks“ enthalten sind, desto höher ist die<br />

Leistungsfähigkeit des Menschen.<br />

Nur ein Anfänger liest Noten. Er benötigt für jede Note einen „chunk“. Sein Spiel ist daher<br />

wie be<strong>im</strong> Analphabeten stockend und unmusikalisch. Er ist belastet mit dem Spiel von<br />

einzelnen Tönen. Wie hat es einmal einer unsrer großen Klassiker so schön mit Biss<br />

formuliert: „Es gibt zwei Sorten von Menschen; die einen machen Musik, die anderen spielen<br />

<strong>Notenlesen</strong> <strong>im</strong> <strong>Anfangsunterricht</strong> <strong>–</strong> Teil 1 D. Hasselmeyer 3 von 5


Noten“. Der fortgeschrittene Schüler kann allerdings schon Zusammenhänge erkennen. Der<br />

C-Dur-Dreiklang „c-e-g“ benötigt bei ihm vielleicht nur noch einen „chunk“ <strong>–</strong> be<strong>im</strong> Anfänger<br />

hingegen sind es wenigstens drei!<br />

Jeder lesekundige Erwachsene erfährt diesen Effekt bei unbekannten Begriffen am eigenen<br />

Leibe. Kein Mensch kann Wörter schnell lesen, auch wenn er alle Buchstaben kennt, wenn es<br />

unbekannte Wörter sind! Wie lange benötigt der durchschnittlich gebildete Leser zum<br />

Verständnis folgendes Textes: „Nun, wir haben Attraktoren und Turbulenzen behandelt, was<br />

aber sind seltsame Attraktoren? Wir haben bisher die notwendigen Konzepte zum Verständnis<br />

dieser Idee entworfen. Wenn ein periodisch angetriebenes zweid<strong>im</strong>ensionales (oder<br />

höherd<strong>im</strong>ensionales) dissipatives System durch eine Gruppe gekoppelter Iterationen<br />

wiedergegeben wird, hinterlassen die sukzessiven Punkte, die durch die Lichtblitze des<br />

periodischen Stroboskops erfasst werden, eine Form, die für dieses System die gleiche Rolle<br />

spielt wie für unsere Parabel eine einfache Bahn.“ (Douglas R. Hofstadter in<br />

„Metamagicum“, S. 404)<br />

Obiges Zitat ist ein Ausschnitt aus einem Artikel <strong>zur</strong> Chaostheorie und einigen Ideen <strong>zur</strong><br />

Wolkenbildung oder auch Eisblumenbildung an Fensterscheiben. (Anm. d. Autors)<br />

Dem Instrumentalschüler geht es <strong>im</strong> heutigen <strong>Anfangsunterricht</strong> kaum anders. Er ist nicht in<br />

der Lage, Zusammenhänge zu erfassen. Er besitzt von Natur aus keinen musikalischen<br />

„Wortschatz“. Er ist mit einfachsten motorischen Aufgaben beschäftigt, liest Note für Note<br />

mühsam ab. Er hat kaum Zeit, auf das zu hören, was er spielt. Das Notenblatt wird für ihn <strong>zur</strong><br />

schwer überwindbaren Barrikade.<br />

Noch ein Groß-Zitat aus Jürg Kindles Grundsatzreferat in Cambridge:<br />

„Wir nennen es "Gitarre spielen". Wenn wir uns jedoch an Vortragsübungen in Musikschulen oder an Klassenstunden<br />

in Konservatorien und Musikhochschulen umsehen, gewinnen wir oft den <strong>Ein</strong>druck, dass der Ausdruck<br />

"Gitarre kämpfen" wohl eher angebracht wäre. Wir sollten den Begriff "Spielen" <strong>im</strong> ursprünglichen Sinne ins<br />

Zentrum unserer musikalischen Betrachtungsweise stellen. Der Mensch lernt alle seine Lebensgrundlagen <strong>im</strong><br />

Säuglings und Kleinkindalter durch Nachahmung, Empfindungen Spiel und Körpererfahrung. Wenn wir sagen<br />

„Gitarre spielen“, “Klavier spielen“, „Geige spielen“ sollten wir das <strong>im</strong> wahrsten und kindlichsten Sinne so<br />

verstehen. Der Mensch möchte spielend lernen. Er möchte das Instrument mit derselben Leidenschaft erkunden<br />

wie einst die Puppenstube, den Sandkasten oder die elektrische Eisenbahn. Das Spiel beinhaltet die natürliche<br />

Freude an der Körperlichkeit (Motorik), der Entdeckungslust (Wissen) und der damit verbundenen Empfindung<br />

(Emotion). Spielen ist damit die wichtigste und ganzheitlichste Form von Lernen. Während der grösste Teil<br />

unserer Schulbildung nur über eind<strong>im</strong>ensionale Wissensvermittlung läuft fordert der musikalische Prozess die<br />

bedingungslose Hingabe aller drei Zentren, dem Denk- Fühl <strong>–</strong>und Bewegungsapparat. Wollen wir diese ganzheitliche<br />

Betrachtungsweise auf unser Instrumentalspiel anwenden, ist die Spieltechnik dabei die motorische<br />

D<strong>im</strong>ension, die theoretischen Kenntnisse bilden die Wissensebene und die Interpretation liefert den emotionalen<br />

Baustein. Schon <strong>im</strong> 18. Jahrhundert prägte der berühmte Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi die<br />

ganzheitliche Idee von Kopf, Herz und Hand. Mein bewusstes Ziel <strong>im</strong> Unterricht ist es, diese drei Seinsebenen<br />

gleichsam anzusprechen. In der Arbeit mit Kindern spielt dabei die assoziative Ebene eine zentrale Rolle. Das<br />

vermitteln von Bildern spielt dabei eine enorm wichtige Rolle. Wenn mir dies gelingt, ist es möglich, ungeahnte<br />

technische sowie musikalische Fähigkeiten zu wecken. Das Kind ist sich keiner "technischen Chronologie des<br />

Gitarrenspiels" bewusst. Warum also sollen wir nicht Lagenspiel, Flageolettspiel, Tamboraeffekte etc. in das<br />

frühe Gitarrenspiel einbauen? Wir setzen uns unsere eigenen Grenzen wenn wir auf diese musikalisch so wertvollen<br />

Eigenarten der Gitarre verzichten und stattdessen die Kinder über Jahre hinweg mit billigster Fast-food -<br />

Literatur narkotisieren. Schauen sie sich die sportliche Fitness und Geschicklichkeit der Kinder be<strong>im</strong> Sport an.<br />

Spielfreude beinhaltet auch eine sportliche Komponente. Anstatt auf den Sport zu sch<strong>im</strong>pfen, sollten wir uns<br />

seine positiven methodischen Aspekte aneignen. Sprechen Sie bei gewissen Schülern anstelle von Üben von trainieren<br />

und sie werden erstaunliche Fortschritte bemerken. Vergleichen Sie den Wechselschlag mit einem Drippling<br />

, die Finger mit den Spielern einer Mannschaft die opt<strong>im</strong>al zusammenarbeiten müssen. Fragen Sie die Schüler,<br />

wie schnell sie 100 Meter bewältigen, sie werden stolze Antworten hören. Stellen Sie diesem Schüler dann<br />

<strong>Notenlesen</strong> <strong>im</strong> <strong>Anfangsunterricht</strong> <strong>–</strong> Teil 1 D. Hasselmeyer 4 von 5


das Metronom hin und messen Sie das Tempo seiner Finger. Fordern Sie nicht nur das abstrakte Denkvermögen<br />

des Schülers, fordern Sie ihn auch körperlich heraus.“<br />

<strong>Ein</strong> erfahrener Spieler, ein Solist liest keine Noten. Er liest genauso wenig Noten, wie ein<br />

geübter Leser Buchstaben. Zu den Folgen des <strong>Notenlesen</strong>s <strong>im</strong> <strong>Anfangsunterricht</strong> einige<br />

Auszüge aus einem sehr interessanten Buch von Robert Jourdain „Das wohltemperierte<br />

Gehirn“, S. 264/289/291:<br />

„Es ist sehr aufschlussreich, dass sich viele Amateurmusiker Kompositionen einfach nicht merken können. Ohne<br />

ein Verständnis für die Struktur des Stückes halten sie sich streng an den Notentext und hangeln sich dabei von<br />

einer Note <strong>zur</strong> nächsten…. Der vielleicht größte Feind der Virtuosität und des Ausdrucks ist das starre Festhalten<br />

an den einzelnen Noten…. Dummerweise steigen Kinder häufig über die Notenschrift in das Musizieren ein.<br />

Sie plagen sich damit ab, ein kompliziertes Notensystem zu begreifen, oftmals, bevor sie überhaupt lesen können.<br />

Viele lernen niemals, sich dem Instrument musikalisch zu nähern.“<br />

Kinder haben in der Regel zu Beginn des Instrumentalunterrichts keinen musikalischen<br />

Wortschatz. Dieser besteht be<strong>im</strong> erfahrenen Solisten/Virtuosen aus Strukturen wie Phrasierung,<br />

Akkorden oder Kadenzen. Phrase, Tonleiter, Dreiklang u. a. bilden das „Vokabular“<br />

des Musikers. Mozart erwarb beispielsweise dieses Vokabular, bevor er lesen und schreiben<br />

konnte. <strong>Ein</strong> sehr interessantes Beispiel ist der Werdegang der Klaviervirtuosin Clara<br />

Schumann, M. Gellrich „Üben mit Lis(z)t“, S. 78:<br />

„Sie begann erst zwischen dem vierten und fünften Lebensjahr, einzelne Worte zu sprechen, wohl u. a. deshalb,<br />

weil sie in ihrer Kindheit einer „wenig sprachseligen Magd“ überlassen war.. Klavierspielen hörte sie jedoch<br />

sehr viel und bildete dadurch schneller ein Gehör für musikalische Töne als für Sprache aus. Im vierten<br />

Lebensjahr begann sie unter Anleitung ihrer Mutter, auf dem Klavier einige Übungen bei stillstehender Hand <strong>im</strong><br />

Fünftonraum und außerdem leichte Begleitungen nach dem Gehör zu Tänzen zu spielen. Die Doppelgleisigkeit<br />

der Lernmethode: Passagenübungen und Spiel nach Gehör, wurde von ihrem Vater E. Wiek fortgeführt, bei dem<br />

sie ab dem 5. Lebensjahr Unterricht hatte: „Sie lernte zunächst stufenweise alle Tonleitern in Dur und Moll<br />

rasch nacheinander mit beiden Händen zusammen, sowie Dreiklänge in jeder Lage und aus allen Tonarten.<br />

Zugleich ließ sie der Vater nach dem Gehör eine Menge eigens von ihm für sie geschriebener kleiner Stücke<br />

einüben.“ (Litzmann, 1910, 6). Diese Stücke sind uns dank M. Wieck (siehe oben) erhalten geblieben. Da Clara<br />

zunächst nur die Stücke ihres Vaters spielte, übernahm sie natürlich auch dessen Musiksprache. F. Wieck<br />

unterrichtete Clara zusammen mit Therese Geyer und Henriette Wieck, nicht zuletzt, um Clara zum Sprechen zu<br />

bewegen. Dies gelang schließlich auch. Clara lernte gleichzeitig Klavierspielen und Sprechen. Ähnlich wie das<br />

Gefühl für den Sprachrhythmus be<strong>im</strong> Muttersprachenerwerb über das Nachahmen angeeignet wird, bildete<br />

Clara durch Imitation ihres Vaters ziemlich rasch ein sicheres Taktgefühl aus. Die Berechnung der Takteinteilung<br />

lernte sie erst mit acht Jahren, zugleich mit dem Bruchrechnen in der Schule, in einem Alter, in dem sie<br />

<strong>im</strong>merhin bereits Hummels Konzert op. 73 bewältigte. Ähnlich wie das Lesen be<strong>im</strong> Muttersprachenerwerb,<br />

spielte auch das <strong>Notenlesen</strong> bei Claras Musiklernen zunächst keine Rolle. Sie lernte die Noten über das<br />

Schreiben und begann erst <strong>im</strong> ausgehenden sechsten Lebensjahr mit dem Spiel nach Noten“<br />

<strong>Notenlesen</strong> lernen <strong>im</strong> <strong>Anfangsunterricht</strong> empfinde ich seit Jahren zunehmend als eigentliche<br />

Ursache eines „schwierigen“ Beginns. Ich bin inzwischen überzeugt, dass ein „Blick über die<br />

Schultern <strong>zur</strong>ück“ <strong>zur</strong> Unterrichtspraxis alter Meister durchaus einen Gewinn bringen kann.<br />

Im Teil 2 werde ich einige Alternativen vorstellen, die ich aus momentaner Sicht für denkbar<br />

und praktikabel halte.<br />

<strong>Notenlesen</strong> <strong>im</strong> <strong>Anfangsunterricht</strong> <strong>–</strong> Teil 1 D. Hasselmeyer 5 von 5

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