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Simone Keil: SIE - Teil 3 - 06.12.2013

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Für Jürgen<br />

Frohe Weihnachten


„Mittelamerikanischer Staat mit sechs<br />

Buchstaben. Der erste ist ein P. Hm.“<br />

„Pömpel.“ Raphaela pustet auf ihre<br />

Fingernägel und schraubt umständlich den<br />

Nagellack zu, dann sieht sie Urielle an.<br />

Urielle rückt ihre Brille gerade und legt die<br />

Feder langsam in die Schale. „Pömpel!?“<br />

„Was denn?“<br />

„Nichts. Gar nichts, ich hab nur keine Lust<br />

mehr. Wann musst du los?“<br />

Raphaela sieht auf die Uhr und sagt: „Oh.“<br />

Sie wirft den Nagellack (Höllenrot) in ihre<br />

Handtasche, richtet ihren Busen und betrachtet<br />

kritisch ihre Nägel, ohne dabei die Stirn zu<br />

runzeln (Faltengefahr). „Findest du die Farbe<br />

zu gewagt?“, fragt sie und schwenkt die Hand<br />

vor Urielles Gesicht.<br />

Urielle lässt ihre Blicke über Raphaela<br />

gleiten. Sie trägt ein enges kurzes Kleid, dessen


Farbe penibel auf den Nagellack abgestimmt<br />

ist. Rot. Aber kein Höllenrot, das Rot des<br />

Kleides ist eine Nuance dunkler. Diese<br />

stilistische Feinheit bemerkt Urielle natürlich<br />

nicht, noch wüsste sie die Genialität, die hinter<br />

solch einer feinen, aber akzentuierten<br />

Farbabstufung steckt, zu würdigen.<br />

Raphaelas Busen sprengt fast den<br />

Ausschnitt. Urielle schiebt die Brille bis zur<br />

Nasenwurzel hoch und kneift die Augen<br />

zusammen. Ist er schon wieder größer<br />

geworden? Sie räuspert sich und sagt: „Nein,<br />

die Farbe ist nicht zu gewagt.“<br />

Raphaela kramt in ihrer Handtasche und<br />

zieht einen Spiegel und einen Haarreif heraus,<br />

platziert ihn (den Haarreif, nicht den Spiegel)<br />

über der Stirn und zupft einige<br />

wasserstoffblonde Wellen darüber. Sie schüttelt<br />

vorsichtig den Kopf, bis jede Strähne an ihrem


Platz sitzt, holt eine Dose Haarspray aus der<br />

Handtasche und fixiert das Ganze unter einer<br />

chemischen Wolke, die just in diesem<br />

Augenblick die Polschmelze einleitet.<br />

„Perfekt“, murmelt sie und lächelt sich im<br />

Spiegel an.<br />

Urielle nimmt die Brille ab, reibt sich die<br />

Schläfen, zieht die Brille wieder auf und summt<br />

eine beruhigende Melodie. „Raphaela“, sagt sie<br />

dann und zeigt mit dem Finger auf den<br />

Haarreif, genauer gesagt auf die Hörner, die<br />

daran befestigt sind und im Wasserstoffblond<br />

glitzern wie das Blut einer zentaurianischen<br />

Bachschnecke im Sonnenlicht. „Was ist das?“<br />

„Luzi besteht darauf.“ Raphaela zuckt mit<br />

den Schultern. „Arbeitskleidung. Allerdings<br />

passte dieses furchtbar gewöhnliche Rot nicht<br />

ansatzweise zum Nagellack, deswegen habe ich<br />

es etwas aufgepeppt. Moment!“ Sie steht auf


und stöckelt zum Küchenschrank, schaltet die<br />

Beleuchtung über der Arbeitsplatte ein und<br />

dreht den Kopf im Licht hin und her (natürlich<br />

sehr vorsichtig, um die kunstvolle Frisur nicht<br />

zu gefährden). Die Hörner glitzern und<br />

glimmen in allen erdenklichen (auf Höllenrot<br />

abgestimmten) Rottönen. „Wahnsinn, nicht<br />

wahr? Effektfarbe!“<br />

Urielle nickt. Aber es ist kein<br />

zustimmendes Nicken, eher das<br />

Bewusstwerden der Tatsache, dass sie adoptiert<br />

worden sein muss. Sie beobachtet Raphaela<br />

dabei, wie sie den Taschenspiegel über dem<br />

Kopf schwenkt, um ihre Schönheit, sowie ihre<br />

Stilsicherheit und ihr Gespür für die richtigen<br />

Accessoires einzufangen, sich daran zu<br />

berauschen und sich selbst zu bestätigen, und<br />

nickt noch energischer. „Was glaubst du wohl,<br />

was <strong>SIE</strong> von dieser – äh – aufgepeppten


Arbeitskleidung halten wird? Und was für ein<br />

Job ist das überhaupt, den du bei Luzi<br />

angenommen hast?“<br />

Raphaela verstaut den Spiegel, das<br />

Haarpray, diverse Pinzetten, einen Kamm, zwei<br />

Bürsten, den neuen Fön, ein Paar<br />

Wechselpumps, zwei Büstenhalter (einen<br />

schwarzen und einen roten, man kann ja nie<br />

wissen), einen Strumpfhalter (schwarz),<br />

Gesichtspuder, drei Lippenstifte, Parfum und<br />

die Espressomaschine in der Handtasche<br />

(Höllenrot mit Strasssteinen an den Nähten)<br />

und klemmt sie sich unter den Arm. „Tut mir<br />

leid“, sagt sie, „aber ich muss jetzt wirklich los.<br />

Es wäre unhöflich, gleich am ersten Arbeitstag<br />

mehr als vier Stunden zu spät zu kommen. Wir<br />

sehen uns!“<br />

Urielle lauscht dem sich entfernenden<br />

Klackern der Pfennigabsätze und lässt die Stirn


auf die Tischplatte knallen. „Eine Adoption“,<br />

flüstert sie. „So muss es gewesen sein.“<br />

„Michaela?“ IHRE Stimme klingt selbst<br />

für IHRE Verhältnisse ungewöhnlich schrill.<br />

„Bist du das? Michaela!“<br />

Michaela stürzt atemlos in die Küche und<br />

schließt die Tür. „Das war knapp!“, sagt sie<br />

und stellt die Einkaufstüten auf dem Tisch ab.<br />

„Warum liegst du in gepeinigter Dichterpose<br />

auf dem Tisch?“<br />

Urielle hebt ein wenig den Kopf und sagt:<br />

„Raphaela.“<br />

Michaela nickt. „Ich bin ihr eben am<br />

Fahrstuhl begegnet.“<br />

„Sie hat einen Job. Bei Luzi. Hast du die“,<br />

Urielle tippt sich an die Stirn, „Hörner<br />

gesehen?“<br />

„Arbeitskleidung. Luzi besteht darauf.“


Urielle setzt sich auf und rückt ihre Brille<br />

gerade. „Du wusstest von den Hörnern?“<br />

Michaela betrachtet eine Packung<br />

Basmatireis aus ökologischem Anbau, als<br />

suchte sie darin den Stein der Weisen und<br />

murmelt etwas Unverständliches.<br />

„Du wusstest davon!“ Urielle trommelt mit<br />

den Fingern auf die Tischplatte. „Hörner!“,<br />

sagt sie und trommelt schneller.<br />

„Meine Güte. Urielle, manchmal klingst du<br />

genau wie <strong>SIE</strong>. Ja, Hörner. Na und?“ Sie dreht<br />

Urielle den Rücken zu, räumt die Lebensmittel<br />

in den Schrank und tut sehr beschäftigt. „Was<br />

hältst du von Ingwerplätzchen?“, fragt sie nach<br />

einer Weile.<br />

Urielle schiebt ihre Brille hoch und sagt:<br />

„Hörner!“<br />

„Okay! Hörner!“ Michaela knallt eine<br />

Packung Mehl auf die Arbeitsplatte. „Ja, sie


trägt bei der Arbeit Hörner, verdammt!“ Ein<br />

Blitz schlägt neben Michaelas Füßen ein. Sie<br />

macht einen Schritt zur Seite und ignoriert den<br />

aufsteigenden Qualm. „Raphaela geht arbeiten.<br />

Seit 500 Jahren redet jeder auf sie ein, dass sie<br />

mal was Sinnvolles tun soll und jetzt, wo sie<br />

sich endlich aufgerafft hat, willst du ihr das<br />

vermiesen, wegen ein paar Hörnerchen?“<br />

Urielle sagt: „Hm.“ Dann stützt sie die<br />

Ellbogen auf dem Tisch auf und legt die<br />

Fingerspitzen aneinander.<br />

Michaela stöhnt. „Bitte nicht, ich bin<br />

wirklich nicht in Stimmung für einen deiner<br />

Vorträge.“<br />

Urielle schnauft, nimmt die Arme herunter<br />

und legt die Hände flach auf die Tischplatte.<br />

„Gut“, sagt sie. „Ich schweige. Nur eine Frage<br />

noch: Um was für einen Job handelt es sich<br />

überhaupt? Warum zum Geier muss Raphaela


diese Hörner tragen? Und was sagt <strong>SIE</strong> zu dem<br />

Ganzen?“<br />

„Nun ja“, sagt Michaela und nimmt die<br />

große Backschüssel aus dem Schrank. „Du<br />

weißt ja, dass Luzi einige Startschwierigkeiten<br />

hatte, seit sie sich selbstständig gemacht hat.<br />

Die Sache mit der Erdwärme ist ja gehörig in<br />

die Hose gegangen, seit die Subventionen<br />

gestrichen wurden und ihre Steuerberaterin mit<br />

der Kohle durchgebrannt ist. Erinnerst du dich<br />

daran? <strong>SIE</strong> hatte eine Heidenarbeit damit, den<br />

ganzen Qualm aus der Atmosphäre zu kurbeln.<br />

Und dann noch die hohen Kredite und die<br />

Kosten für die Angestellten …“<br />

„Michaela! Könntest du bitte auf den<br />

Punkt kommen? Was treibt Raphaela da<br />

unten?“<br />

Michaela bindet ihre Schürze um, wirft vier<br />

Päckchen Butter in die Schüssel und schlägt


zwölf Eier hinein. Urielle klopft mit den<br />

Fingerspitzen auf den Tisch. Michaela gibt<br />

sieben Pfund Mehl und zwei Kilo Zucker zu<br />

den Eiern und der Butter in die Schüssel, reibt<br />

zwei Pfund Ingwer und verrührt das Ganze zu<br />

einer Ingwer-Ei-Butter-Mehl-Zucker-Pampe.<br />

(Mit der Hand. Von Küchenmaschinen hat sie<br />

seit dem Vorfall mit der Nudelmaschine die<br />

Nase voll. Vorerst.) Dann sagt sie: „Raphaela<br />

ist Arbeitsvermittlerin in Luzis neuem<br />

Jobcenter. Luzi meinte, der Laden würde<br />

besser laufen, wenn ihre Angestellten<br />

einheitliche Arbeitskleidung tragen. Samt<br />

Hörnern.“ Sie steckt ihren Finger in die<br />

Ingwer-Ei-Undsoweiter-Pampe und leckt ihn<br />

ab.<br />

Urielle reibt sich die pochenden Schläfen.<br />

„Ein Jobcenter“, sagt sie. „Raphaela ist<br />

Arbeitsvermittlerin in einem Jobcenter.“ Sie


schließt die Augen und lässt die Information<br />

tief in ihr zentrales Nervensystem eindringen.<br />

Die Neuronen beginnen zu blubbern wie<br />

Brausekügelchen und hüpfen im Großhirn<br />

herum, bis die Hirnrinde Blasen schlägt. Dann<br />

knallt sie die Stirn auf die Tischplatte und<br />

bricht in unkontrolliertes Lachen aus.<br />

„Arbeitsvermittlerin“, keucht sie und wischt<br />

sich die Tränen aus den Augen.<br />

Michaela stemmt die Hände in die Hüften.<br />

„Du bist unglaublich blasiert!“<br />

Urielle sagt „Arbeitshaver“ (zumindest<br />

klingt es so) und verschluckt sich keuchend<br />

und prustend am Rest des Wortes. Als sie sich<br />

soweit unter Kontrolle hat, dass sie nur<br />

gelegentlich von Lachanfällen geschüttelt wird,<br />

schnäuzt sie sich in ihr Taschentuch und<br />

richtet ihre Brille. „Okay“, sagt sie, hält einen


Moment die Luft an und unterdrückt ein<br />

Kichern.<br />

Michaela sieht sie vorwurfsvoll an und sagt<br />

nichts. Dann rollt sie den Teig aus und beginnt<br />

kleine dicke Engel auszustechen, legt sie<br />

vorsichtig auf das Backblech und schiebt es in<br />

den Ofen. Sie wischt die Hände an der Schürze<br />

ab und räuspert sich. „Es wäre sehr nett von<br />

dir“, sagt sie dann, immer noch zum Ofen<br />

gewandt, „wenn du IHR nichts von Raphaelas<br />

Job sagen würdest. <strong>SIE</strong> denkt, Raphaela leistet<br />

ihr soziales Jahr bei der Heilsarmee ab.“<br />

Urielle presst eine Hand aufs Zwerchfell,<br />

atmet tief ein und aus und starrt Michaela an<br />

(Michaela starrt zurück).<br />

Das Telefon klingelt. Michaela nimmt den<br />

Hörer ab, dreht an der Kurbel und sagt:<br />

„Michaela.“ Nach einer Weile nickt sie langsam<br />

und sagt: „Hm … Nun reg dich bitte nicht auf,


das ist bestimmt nur eine kleine Verzögerung.<br />

<strong>SIE</strong> hat sicher schon … Ja, ich bringe das in<br />

Ordnung, okay. Bis dann!“ Sie legt den Hörer<br />

auf und sieht Urielle an. „Kann es sein“, sagt<br />

sie, „dass du etwas vergessen hast?“<br />

Urielle versucht nachzudenken, aber das<br />

Bild von Raphaela in einer Uniform der<br />

Heilsarmee will einfach nicht zur Seite rücken,<br />

um anderen Gedanken Platz zu machen.<br />

„Nicht, dass ich wüsste“, sagt sie also nur und<br />

zuckt die Schultern.<br />

„Sintflut“, sagt Michaela.<br />

Urielle nimmt ihre Brille ab und putzt die<br />

Gläser mit einem Taschentuch, als sie mit dem<br />

Ergebnis zufrieden ist, setzt sie sie wieder auf<br />

und sagt: „Upps.“<br />

Michaela bläst die Luft aus und sagt:<br />

„Noah liegt mit diesem riesigen,<br />

selbstgebastelten Holzschiff auf dem


Trockenen und wartet auf die Flut. Sie ist<br />

ziemlich sauer. Die Tiere werden auch unruhig.<br />

Die Einhörner haben angekündigt, dass sie auf<br />

keinen Fall länger warten werden und die<br />

Greife haben das Schiff bereits verlassen.“<br />

Urielle hört nur mit halbem Ohr hin, sie<br />

kramt in ihren Unterlagen und sucht die Stelle<br />

mit der Sintflut heraus. „Ah“, murmelt sie,<br />

„tatsächlich.“ Wie hatte sie das nur vergessen<br />

können? Daran sind nur Raphaela und ihr<br />

merkwürdiger Job schuld! Sie schiebt das<br />

Heilsarmee-Bild gewaltsam zur Seite und sucht<br />

tief in ihrem Inneren nach Inspiration, um das<br />

Werk angemessen, aber vor allem zügig, zu<br />

beenden. Wo war sie stehen geblieben? Ah, ja,<br />

also dann.<br />

Und <strong>SIE</strong> sprach: Denn von nun an über<br />

sieben Tage will ICH regnen lassen auf Erden<br />

vierzig Tage und vierzig Nächte und vertilgen


von dem Erdboden alles, was nicht Pink ist,<br />

nicht glitzert, nicht süß aussieht und schmeckt<br />

oder MIR rechtzeitig meinen Pfefferminztee<br />

bringt.<br />

Urielle schüttelt den Kopf und sieht<br />

Michaela an. „Was soll das überhaupt?“, fragt<br />

sie. „Warum will <strong>SIE</strong> den Blauen überfluten?“<br />

„Damit er ganz blau ist. <strong>SIE</strong> meinte, IHR<br />

gingen die unregelmäßigen Flecken auf die<br />

Nerven.“<br />

„Das ist doch ein Scherz?“ Urielle legt die<br />

Feder zurück in die Schale und schiebt ihre<br />

Brille hoch. Dann schüttelt sie den Kopf und<br />

sagt: „Schon gut, vergiss es, das war eine<br />

dämliche Frage.“ Sie atmet tief ein und aus und<br />

setzt die Feder an. Augen zu und durch.<br />

Und Noah tat, was <strong>SIE</strong> ihr geheißen<br />

(zumindest fast). Sie brachte von allen Tieren


ein paar auf die Arche und wartete auf die<br />

angekündigte Flut.<br />

Urielle reibt sich über die Stirn. „Ich kann<br />

das nicht schreiben“, sagt sie. „Unmöglich. <strong>SIE</strong><br />

spinnt doch!“<br />

Michaela gießt eine Tasse Pfefferminztee<br />

ein und nickt resigniert. „Dass <strong>SIE</strong> spinnt, ist ja<br />

nun nichts Neues.“ Sie stellt den Tee und<br />

Zucker auf das Tablett und seufzt. „Ich muss<br />

erst mal. <strong>SIE</strong> wartet sicher schon.“<br />

<strong>SIE</strong> sitzt in IHREM Ohrensessel. Die Kurbel<br />

quietscht lauter als gewöhnlich und Michaela<br />

lauscht einen Augenblick, bis sie feststellt, dass<br />

<strong>SIE</strong> etwas summt, das wohl eine Melodie sein<br />

soll.<br />

Sie stellt das Tablett auf dem kleinen Tisch<br />

ab, schenkt den Tee ein und rührt drei Stück<br />

Zucker hinein. <strong>SIE</strong> dreht und quietscht und


summt und beachtet die Teetasse nicht, die<br />

Michaela IHR hinhält. „DEIN Tee“, sagt sie<br />

deshalb.<br />

„Pssst!“, zischt <strong>SIE</strong> und dreht und summt<br />

konzentriert weiter.<br />

Michaela seufzt. Sie registriert das irre<br />

Funkeln in IHREN Augen und fragt sich, wie<br />

lange es wohl noch dauern wird, bis <strong>SIE</strong><br />

gänzlich durchdreht. Oder nicht mehr dreht,<br />

was in IHREM speziellen Fall wohl<br />

zutreffender ist.<br />

Michaela stellt die Teetasse auf das Tablett<br />

zurück. Und immer noch summt <strong>SIE</strong> und<br />

zuckt irgendwie spastisch mit dem Kopf.<br />

„Jetzt!“, kreischt <strong>SIE</strong>. Summen. „Jetzt,<br />

Michaela, guck doch!“ Summmmmmm. „Da,<br />

ich schaffe es!“ Summsummmmm.<br />

Michaela sieht nach oben. <strong>SIE</strong> stoppt<br />

abrupt die Kurbel, dreht kurz in die


entgegengesetzte Richtung und dann wieder<br />

andersherum. <strong>SIE</strong> summt jetzt noch<br />

angestrengter. Die braunen Flecken auf dem<br />

Blauen werden plötzlich komplett von blauen<br />

Schlieren überzogen, die sich aber gleich darauf<br />

wieder in die ursprüngliche Lage zurückziehen.<br />

Der Blaue ist immer noch blau-braun-gefleckt.<br />

<strong>SIE</strong> hört auf zu summen und sagt: „Scheiße!“<br />

Dann hört <strong>SIE</strong> auf zu drehen und stürzt<br />

IHREN Pfefferminztee hinunter. „Warum ist<br />

Urielle immer noch nicht fertig? Warum ist der<br />

Blaue immer noch nicht blau?“<br />

Michaela zuckt mit den Schultern und <strong>SIE</strong><br />

dreht die Kurbel. IHREN Blick auf IHRE<br />

Häschen-Hausschuhe gerichtet. <strong>SIE</strong> wackelt<br />

mit den Füßen und singt leise „Blau, blau, blau,<br />

sind alle meine Farben“ vor sich hin.<br />

Michaela nimmt das Tablett und zieht sich<br />

leise zurück. Die Ohren der Häschen wackeln


und <strong>SIE</strong> kichert. Zumindest summt <strong>SIE</strong> nicht<br />

mehr.<br />

Urielle starrt auf das unvollendete Werk und<br />

seufzt. Sie hasst es, unvollendete Werke zu<br />

hinterlassen und sinnt auf einen Kompromiss,<br />

der sie zufriedenstellen würde und den <strong>SIE</strong><br />

nicht als solchen erkennt. Sintflut geht gar<br />

nicht, soviel steht fest.<br />

Das Telefon klingelt und sie steckt sich die<br />

Finger in die Ohren, um den<br />

Inspirationsfindungsvorgang nicht zu<br />

unterbrechen. Sintflut, Springflut, Armut,<br />

Hartmut, Tutut. Die Muse will einfach nicht<br />

wie sie soll. Genialität ist eine schwere Bürde<br />

und Musen sind fiese, launische Geschöpfe, die<br />

direkt aus dem Höllenschlund gekrochen<br />

kommen, zu dem einen und einzigen Zweck,


Urielles Genie zu untergraben und den<br />

schöpferischen Prozess zu behindern.<br />

Sie rückt ihre Brille gerade und krempelt<br />

die Ärmel auf. Dann eben mit dem<br />

Holzhammer!<br />

<strong>SIE</strong> überlegte es sich anders und die<br />

angekündigte Sintflut blieb aus. Die Tiere<br />

kehrten zurück in ihre Heimat, nur die<br />

Einhörner waren so sauer, dass sie sich von<br />

diesem Tag an nicht mehr blicken ließen und<br />

tief in die verwunschenen Wälder zurückzogen.<br />

Noah dankte IHR für IHRE unermessliche<br />

Güte und …<br />

Urielle kaut sinnend auf der Feder. Was<br />

macht Noah eigentlich, wenn sie keine Arche<br />

baut?<br />

Das Telefon klingelt. Schon wieder. Wie<br />

soll man bei diesen nervenzerrenden<br />

Unterbrechungen klare Gedanken fassen?


Zum Glück kommt Michaela in die Küche<br />

und nimmt den Hörer ab. Sie nickt, schüttelt<br />

den Kopf, nickt wieder, sieht Urielle an und<br />

zieht theatralisch die Augenbrauen hoch.<br />

„Hmhm“, sagt sie dann und „Moment!“ Sie<br />

hält den Hörer zu und zieht die Augenbrauen<br />

noch ein Stück höher. „Das ist Noah.<br />

Möchtest du dich vielleicht zu dem Thema<br />

Sintflut äußern?“<br />

Urielle verschränkt die Arme vor der Brust<br />

und lehnt sich zurück, was ihr hoffentlich<br />

einen entspannten und selbstsicheren<br />

Ausdruck verleiht. „Die Sintflut wurde<br />

gecancelt“, sagt sie knapp.<br />

Noahs Stimme dringt, durch Michaelas<br />

Finger hindurch, verzerrt aus dem Hörer.<br />

Michaela stöhnt, nickt Urielle aber zu. „Okay“,<br />

sagt sie, atmet tief ein und legt den Hörer<br />

wieder ans Ohr. „Noah, es gab da eine


Planänderung … Jetzt hör doch erst mal …<br />

Nein, <strong>SIE</strong> wird nicht … Auf keinen Fall, aber<br />

du könntest doch …“ Michaela holt tief Luft<br />

und schreit: „Halt die Klappe!“ Stille. Keine<br />

Gekreische mehr vom anderen Ende der<br />

Leitung. Gut. „Also: Ich werde jetzt Raphaela<br />

anrufen und sie wird dir einen neuen Job<br />

besorgen. Was? … Ja, sicher mit besseren<br />

Konditionen, das ist doch … Und Urlaub …<br />

Ja, Weihnachtsgeld auch … Überstrapaziere<br />

meine Geduld nicht! Ich melde mich dann …<br />

Natürlich!“<br />

Sie knallt den Hörer auf, nimmt ihn wieder<br />

ab, dreht die Kurbel und wartet. „Raphaela,<br />

bitte“, sagt sie und wartet wieder, wiegt den<br />

Kopf und summt eine Melodie mit. „Hallo,<br />

Raphaela? Michaela, ja. Ich brauche deine Hilfe<br />

… Nein, ich möchte meinen Look nicht …<br />

Nein, keine … Was für Problemzonen? Ich


habe keine … Jetzt halt bitte mal die Luft an!<br />

Ich schicke dir Noah vorbei. Sie braucht einen<br />

sicheren Job mit garantierten Sozialleistungen<br />

… Nein, die Sintflut wurde gecancelt … Ja,<br />

okay, bis später.“<br />

Der Hörer knallt auf die Gabel.<br />

Abnehmen, Kurbel drehen, warten. „Noah,<br />

Klappe halten und zuhören! Du hast einen<br />

Termin bei Raphaela. Jobcenter, Höllenschlund<br />

6, in fünfzehn Minuten. Tschüss!“<br />

Sie legt auf und lehnt sich an die<br />

Arbeitsplatte. Ihre Wangen sind gerötet und sie<br />

verdreht die Augen. „Ich hasse diesen<br />

Telefonapparat“, sagt sie.<br />

Urielle sagt: „Ha! Meine Rede.“ Dabei<br />

kommen ihr glitzernde Visionen in den Sinn,<br />

die nach Weihrauch und Würsten duften und<br />

sie zieht sich tief in ihren Geist zurück.<br />

Versonnen greift sie zur Feder und beginnt ein


neues Meisterwerk, das so voller Friede und<br />

Freude ist, dass es ihr Tränen der Rührung in<br />

die Augen treibt.<br />

Michaela sieht Urielle zu. Ihr<br />

Gesichtsausdruck erinnert sie erschreckend an<br />

IHREN Gesichtsausdruck, als <strong>SIE</strong> verzückt<br />

die wackelnden Häschenohren betrachtete, und<br />

sie macht sich doch ein wenig Sorgen.<br />

„Urielle?“, fragt sie. „Alles okay?“<br />

Urielle ist so mit ihrem Genie<br />

verschmolzen, dass sie alles um sich herum<br />

vergessen hat. „Kerzenschimmer“, murmelt<br />

sie. „Oh ja!“<br />

Michaela schüttelt den Kopf und holt das<br />

Mehl aus dem Schrank. Sie verspürt das<br />

dringende Bedürfnis, eine Tätigkeit auszuüben,<br />

die eindeutig belegt, dass sie nicht<br />

durchgedreht ist und was wäre da<br />

angebrachter, als noch ein Blech Plätzchen zu


acken? Zimtsterne. Oder doch<br />

Kokosmakronen? Auf jeden Fall müssen die<br />

Plätzchen normal aussehen. Klare,<br />

wohlproportionierte Formen und unauffällige<br />

Farben. Braun ist gut, vielleicht eine Glasur?<br />

Nein, eine Glasur könnte falsch verstanden<br />

werden. Besser auch keine Zuckerstreusel.<br />

Urielles Feder kratzt über das Pergament<br />

und Michaela gibt die Zutaten in die große<br />

Schüssel. Beide sind in ihren eigenen Welten<br />

gefangen, selbstvergessen, ganz Konzentration.<br />

Keine von beiden registriert das<br />

ungewöhnliche Scharren und Rumpeln, das aus<br />

dem Kamin in IHR Zimmer dringt und keine<br />

hört den langgezogenen Schrei, das Poltern<br />

und IHR Gekreische. Erst als die Küchentür<br />

an die Wand schlägt und ein rotgekleideter,<br />

bärtiger, fetter Mann in die Küche stürzt sehen<br />

die Beiden auf.


Michaela hebt abwehrend den Kochlöffel<br />

(wobei etwas Teig auf die Fliesen tropft),<br />

Urielle hebt angriffslustig die Feder. Der fette<br />

Mann zupft sich ein paar Hustenbonbons aus<br />

dem Bart, legt einen IHRER Häschen-<br />

Hausschuhe auf den Tisch und sagt: „Hohoho.<br />

<strong>SIE</strong> spinnt doch!“<br />

Urielle und Michaela kneifen die Augen<br />

zusammen, starren den Mann an und sagen:<br />

„Noah?“<br />

Noah sagt „Ach so“ und nimmt den Bart<br />

ab, in dem immer noch hartnäckig einige<br />

Bonbons kleben.<br />

Urielle schiebt ihre Brille hoch und legt die<br />

Feder in die Schale. „Okay“, sagt sie und reibt<br />

sich die Schläfen. „Ich bin nicht sicher, ob ich<br />

es wissen will.“<br />

„Aber ich will es wissen!“ Michaela<br />

fuchtelt mit dem Kochlöffel herum und


espritzt die Küchenschränke mit<br />

Plätzchenteig. „Warum trägst du einen Bart,<br />

diesen Bauch und diese Klamotten? Was<br />

machst du mit IHREM Hausschuh? Und was<br />

machst du überhaupt hier?“<br />

„Ach so“, sagt Noah noch einmal, zieht<br />

den Bart wieder an, breitet die Arme aus, holt<br />

tief Luft und beginnt zu singen:<br />

„Vom Höllenschlund da komm ich her,<br />

ich bring euch gute-he neue Mär,<br />

und Werbegeschenke bring ich viel,<br />

weil Luzi eure Se-he-le will.“<br />

Noah dreht sich einmal ungrazil um die<br />

eigene Achse und deutet mit einer<br />

übertriebenen Geste auf den Jutesack, den sie<br />

zu ihren Füßen abgestellt hat. Urielles Brille<br />

rutscht auf die Nasenspitze. Sie schiebt sie<br />

nicht zurück. Michaela betrachtet das rote


Horn, das unter Noahs verrutschter Mütze<br />

hervorlugt und sagt: „Äh.“<br />

Nach einigem Kramen in dem braunen<br />

Sack zieht Noah zwei in rotes Geschenkpapier<br />

gewickelte Päckchen hervor und legt sie auf<br />

den Küchentisch. „So, Feierabend“, sagt sie<br />

und setzt sich. „Könnte ich vielleicht ein Bier<br />

bekommen? Meine Kehle ist vom vielen<br />

Singen ganz ausgedörrt!“<br />

Michaela stellt ihr wortlos eine Tasse<br />

Pfefferminztee hin und setzt sich neben<br />

Urielle. „Also“, sagt sie streng, „was genau soll<br />

das alles?“<br />

Noah nippt an ihrem Tee und verzieht das<br />

Gesicht. „Werbemaßnahmen“, sagt sie dann.<br />

„Luzi hat sich entschlossen, ihren<br />

Bekanntheitsgrad zu erhöhen. Ich bin dafür<br />

zuständig, die Werbegeschenke zu verteilen.<br />

Flächendeckend! Ich könnt euch nicht


vorstellen, was für ein riesiges Gebiet ich<br />

alleine zu bewältigen habe. Aber die Bezahlung<br />

ist gut. Und ich habe einen niegelnagelneuen<br />

Firmenwagen mit zwölf Rentierstärken!“ Sie<br />

deutet auf die Päckchen. „Macht doch mal<br />

auf!“<br />

Urielle zuckt mir den Schultern. Ist nun<br />

auch egal. Sie wickelt das Geschenkpapier ab.<br />

Michaela sieht ihr skeptisch dabei zu und<br />

Noah plappert munter weiter: „Auf dem<br />

Blauen, das war allerdings etwas merkwürdig.<br />

Es schien fast so, als hätten mich die Leute<br />

erwartet. Fast alle Häuser waren mit kitschigen<br />

Lichterketten geschmückt, dazu überall<br />

schmalzige Musik und Kerzengedöns und so.“<br />

Urielle hält inne, sieht auf ihr neues Werk<br />

und schiebt unauffällig ein leeres Blatt auf das<br />

Geschriebene, bevor sie das Päckchen<br />

endgültig öffnet. „Ah“, sagt sie.


Michaela saugt die Luft durch die Zähne<br />

ein und sagt: „Oh.“<br />

Noah trinkt den Tee aus und sagt: „Cool,<br />

was?“ Dann zieht sie Urielles Kreuzworträtsel<br />

heran und murmelt: „Mittelamerikanisches<br />

Land mit sechs Buchstaben. Hm. Ah, na klar!“<br />

Sie greift sich Urielles Feder und schreibt:<br />

PÖMPEL<br />

<strong>SIE</strong> kreischt nach Michaela und wackelt mit<br />

den Füßen, IHREN Blick auf IHREN<br />

verbliebenen Häschen-Hausschuh gerichtet.<br />

Die Häschenohren wackeln auch. <strong>SIE</strong> kichert.<br />

Die Welten zittern. Gelegentlich wanken sie,<br />

verlangsamen ihren Lauf und beschleunigen<br />

ihn wieder. Aber <strong>SIE</strong> dreht die Kurbel, wie <strong>SIE</strong><br />

es schon immer tat. Dreht und dreht (und<br />

wackelt) und dreht.


Mehr von und über <strong>Simone</strong> <strong>Keil</strong> findet ihr auf<br />

ihrer Website www.simonekeil.com und auf<br />

www.qindie.de<br />

Frohe Weinachten<br />

und einen guten Rutsch<br />

ins neue Jahr!

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