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Für Jürgen<br />
Frohe Weihnachten
„Mittelamerikanischer Staat mit sechs<br />
Buchstaben. Der erste ist ein P. Hm.“<br />
„Pömpel.“ Raphaela pustet auf ihre<br />
Fingernägel und schraubt umständlich den<br />
Nagellack zu, dann sieht sie Urielle an.<br />
Urielle rückt ihre Brille gerade und legt die<br />
Feder langsam in die Schale. „Pömpel!?“<br />
„Was denn?“<br />
„Nichts. Gar nichts, ich hab nur keine Lust<br />
mehr. Wann musst du los?“<br />
Raphaela sieht auf die Uhr und sagt: „Oh.“<br />
Sie wirft den Nagellack (Höllenrot) in ihre<br />
Handtasche, richtet ihren Busen und betrachtet<br />
kritisch ihre Nägel, ohne dabei die Stirn zu<br />
runzeln (Faltengefahr). „Findest du die Farbe<br />
zu gewagt?“, fragt sie und schwenkt die Hand<br />
vor Urielles Gesicht.<br />
Urielle lässt ihre Blicke über Raphaela<br />
gleiten. Sie trägt ein enges kurzes Kleid, dessen
Farbe penibel auf den Nagellack abgestimmt<br />
ist. Rot. Aber kein Höllenrot, das Rot des<br />
Kleides ist eine Nuance dunkler. Diese<br />
stilistische Feinheit bemerkt Urielle natürlich<br />
nicht, noch wüsste sie die Genialität, die hinter<br />
solch einer feinen, aber akzentuierten<br />
Farbabstufung steckt, zu würdigen.<br />
Raphaelas Busen sprengt fast den<br />
Ausschnitt. Urielle schiebt die Brille bis zur<br />
Nasenwurzel hoch und kneift die Augen<br />
zusammen. Ist er schon wieder größer<br />
geworden? Sie räuspert sich und sagt: „Nein,<br />
die Farbe ist nicht zu gewagt.“<br />
Raphaela kramt in ihrer Handtasche und<br />
zieht einen Spiegel und einen Haarreif heraus,<br />
platziert ihn (den Haarreif, nicht den Spiegel)<br />
über der Stirn und zupft einige<br />
wasserstoffblonde Wellen darüber. Sie schüttelt<br />
vorsichtig den Kopf, bis jede Strähne an ihrem
Platz sitzt, holt eine Dose Haarspray aus der<br />
Handtasche und fixiert das Ganze unter einer<br />
chemischen Wolke, die just in diesem<br />
Augenblick die Polschmelze einleitet.<br />
„Perfekt“, murmelt sie und lächelt sich im<br />
Spiegel an.<br />
Urielle nimmt die Brille ab, reibt sich die<br />
Schläfen, zieht die Brille wieder auf und summt<br />
eine beruhigende Melodie. „Raphaela“, sagt sie<br />
dann und zeigt mit dem Finger auf den<br />
Haarreif, genauer gesagt auf die Hörner, die<br />
daran befestigt sind und im Wasserstoffblond<br />
glitzern wie das Blut einer zentaurianischen<br />
Bachschnecke im Sonnenlicht. „Was ist das?“<br />
„Luzi besteht darauf.“ Raphaela zuckt mit<br />
den Schultern. „Arbeitskleidung. Allerdings<br />
passte dieses furchtbar gewöhnliche Rot nicht<br />
ansatzweise zum Nagellack, deswegen habe ich<br />
es etwas aufgepeppt. Moment!“ Sie steht auf
und stöckelt zum Küchenschrank, schaltet die<br />
Beleuchtung über der Arbeitsplatte ein und<br />
dreht den Kopf im Licht hin und her (natürlich<br />
sehr vorsichtig, um die kunstvolle Frisur nicht<br />
zu gefährden). Die Hörner glitzern und<br />
glimmen in allen erdenklichen (auf Höllenrot<br />
abgestimmten) Rottönen. „Wahnsinn, nicht<br />
wahr? Effektfarbe!“<br />
Urielle nickt. Aber es ist kein<br />
zustimmendes Nicken, eher das<br />
Bewusstwerden der Tatsache, dass sie adoptiert<br />
worden sein muss. Sie beobachtet Raphaela<br />
dabei, wie sie den Taschenspiegel über dem<br />
Kopf schwenkt, um ihre Schönheit, sowie ihre<br />
Stilsicherheit und ihr Gespür für die richtigen<br />
Accessoires einzufangen, sich daran zu<br />
berauschen und sich selbst zu bestätigen, und<br />
nickt noch energischer. „Was glaubst du wohl,<br />
was <strong>SIE</strong> von dieser – äh – aufgepeppten
Arbeitskleidung halten wird? Und was für ein<br />
Job ist das überhaupt, den du bei Luzi<br />
angenommen hast?“<br />
Raphaela verstaut den Spiegel, das<br />
Haarpray, diverse Pinzetten, einen Kamm, zwei<br />
Bürsten, den neuen Fön, ein Paar<br />
Wechselpumps, zwei Büstenhalter (einen<br />
schwarzen und einen roten, man kann ja nie<br />
wissen), einen Strumpfhalter (schwarz),<br />
Gesichtspuder, drei Lippenstifte, Parfum und<br />
die Espressomaschine in der Handtasche<br />
(Höllenrot mit Strasssteinen an den Nähten)<br />
und klemmt sie sich unter den Arm. „Tut mir<br />
leid“, sagt sie, „aber ich muss jetzt wirklich los.<br />
Es wäre unhöflich, gleich am ersten Arbeitstag<br />
mehr als vier Stunden zu spät zu kommen. Wir<br />
sehen uns!“<br />
Urielle lauscht dem sich entfernenden<br />
Klackern der Pfennigabsätze und lässt die Stirn
auf die Tischplatte knallen. „Eine Adoption“,<br />
flüstert sie. „So muss es gewesen sein.“<br />
„Michaela?“ IHRE Stimme klingt selbst<br />
für IHRE Verhältnisse ungewöhnlich schrill.<br />
„Bist du das? Michaela!“<br />
Michaela stürzt atemlos in die Küche und<br />
schließt die Tür. „Das war knapp!“, sagt sie<br />
und stellt die Einkaufstüten auf dem Tisch ab.<br />
„Warum liegst du in gepeinigter Dichterpose<br />
auf dem Tisch?“<br />
Urielle hebt ein wenig den Kopf und sagt:<br />
„Raphaela.“<br />
Michaela nickt. „Ich bin ihr eben am<br />
Fahrstuhl begegnet.“<br />
„Sie hat einen Job. Bei Luzi. Hast du die“,<br />
Urielle tippt sich an die Stirn, „Hörner<br />
gesehen?“<br />
„Arbeitskleidung. Luzi besteht darauf.“
Urielle setzt sich auf und rückt ihre Brille<br />
gerade. „Du wusstest von den Hörnern?“<br />
Michaela betrachtet eine Packung<br />
Basmatireis aus ökologischem Anbau, als<br />
suchte sie darin den Stein der Weisen und<br />
murmelt etwas Unverständliches.<br />
„Du wusstest davon!“ Urielle trommelt mit<br />
den Fingern auf die Tischplatte. „Hörner!“,<br />
sagt sie und trommelt schneller.<br />
„Meine Güte. Urielle, manchmal klingst du<br />
genau wie <strong>SIE</strong>. Ja, Hörner. Na und?“ Sie dreht<br />
Urielle den Rücken zu, räumt die Lebensmittel<br />
in den Schrank und tut sehr beschäftigt. „Was<br />
hältst du von Ingwerplätzchen?“, fragt sie nach<br />
einer Weile.<br />
Urielle schiebt ihre Brille hoch und sagt:<br />
„Hörner!“<br />
„Okay! Hörner!“ Michaela knallt eine<br />
Packung Mehl auf die Arbeitsplatte. „Ja, sie
trägt bei der Arbeit Hörner, verdammt!“ Ein<br />
Blitz schlägt neben Michaelas Füßen ein. Sie<br />
macht einen Schritt zur Seite und ignoriert den<br />
aufsteigenden Qualm. „Raphaela geht arbeiten.<br />
Seit 500 Jahren redet jeder auf sie ein, dass sie<br />
mal was Sinnvolles tun soll und jetzt, wo sie<br />
sich endlich aufgerafft hat, willst du ihr das<br />
vermiesen, wegen ein paar Hörnerchen?“<br />
Urielle sagt: „Hm.“ Dann stützt sie die<br />
Ellbogen auf dem Tisch auf und legt die<br />
Fingerspitzen aneinander.<br />
Michaela stöhnt. „Bitte nicht, ich bin<br />
wirklich nicht in Stimmung für einen deiner<br />
Vorträge.“<br />
Urielle schnauft, nimmt die Arme herunter<br />
und legt die Hände flach auf die Tischplatte.<br />
„Gut“, sagt sie. „Ich schweige. Nur eine Frage<br />
noch: Um was für einen Job handelt es sich<br />
überhaupt? Warum zum Geier muss Raphaela
diese Hörner tragen? Und was sagt <strong>SIE</strong> zu dem<br />
Ganzen?“<br />
„Nun ja“, sagt Michaela und nimmt die<br />
große Backschüssel aus dem Schrank. „Du<br />
weißt ja, dass Luzi einige Startschwierigkeiten<br />
hatte, seit sie sich selbstständig gemacht hat.<br />
Die Sache mit der Erdwärme ist ja gehörig in<br />
die Hose gegangen, seit die Subventionen<br />
gestrichen wurden und ihre Steuerberaterin mit<br />
der Kohle durchgebrannt ist. Erinnerst du dich<br />
daran? <strong>SIE</strong> hatte eine Heidenarbeit damit, den<br />
ganzen Qualm aus der Atmosphäre zu kurbeln.<br />
Und dann noch die hohen Kredite und die<br />
Kosten für die Angestellten …“<br />
„Michaela! Könntest du bitte auf den<br />
Punkt kommen? Was treibt Raphaela da<br />
unten?“<br />
Michaela bindet ihre Schürze um, wirft vier<br />
Päckchen Butter in die Schüssel und schlägt
zwölf Eier hinein. Urielle klopft mit den<br />
Fingerspitzen auf den Tisch. Michaela gibt<br />
sieben Pfund Mehl und zwei Kilo Zucker zu<br />
den Eiern und der Butter in die Schüssel, reibt<br />
zwei Pfund Ingwer und verrührt das Ganze zu<br />
einer Ingwer-Ei-Butter-Mehl-Zucker-Pampe.<br />
(Mit der Hand. Von Küchenmaschinen hat sie<br />
seit dem Vorfall mit der Nudelmaschine die<br />
Nase voll. Vorerst.) Dann sagt sie: „Raphaela<br />
ist Arbeitsvermittlerin in Luzis neuem<br />
Jobcenter. Luzi meinte, der Laden würde<br />
besser laufen, wenn ihre Angestellten<br />
einheitliche Arbeitskleidung tragen. Samt<br />
Hörnern.“ Sie steckt ihren Finger in die<br />
Ingwer-Ei-Undsoweiter-Pampe und leckt ihn<br />
ab.<br />
Urielle reibt sich die pochenden Schläfen.<br />
„Ein Jobcenter“, sagt sie. „Raphaela ist<br />
Arbeitsvermittlerin in einem Jobcenter.“ Sie
schließt die Augen und lässt die Information<br />
tief in ihr zentrales Nervensystem eindringen.<br />
Die Neuronen beginnen zu blubbern wie<br />
Brausekügelchen und hüpfen im Großhirn<br />
herum, bis die Hirnrinde Blasen schlägt. Dann<br />
knallt sie die Stirn auf die Tischplatte und<br />
bricht in unkontrolliertes Lachen aus.<br />
„Arbeitsvermittlerin“, keucht sie und wischt<br />
sich die Tränen aus den Augen.<br />
Michaela stemmt die Hände in die Hüften.<br />
„Du bist unglaublich blasiert!“<br />
Urielle sagt „Arbeitshaver“ (zumindest<br />
klingt es so) und verschluckt sich keuchend<br />
und prustend am Rest des Wortes. Als sie sich<br />
soweit unter Kontrolle hat, dass sie nur<br />
gelegentlich von Lachanfällen geschüttelt wird,<br />
schnäuzt sie sich in ihr Taschentuch und<br />
richtet ihre Brille. „Okay“, sagt sie, hält einen
Moment die Luft an und unterdrückt ein<br />
Kichern.<br />
Michaela sieht sie vorwurfsvoll an und sagt<br />
nichts. Dann rollt sie den Teig aus und beginnt<br />
kleine dicke Engel auszustechen, legt sie<br />
vorsichtig auf das Backblech und schiebt es in<br />
den Ofen. Sie wischt die Hände an der Schürze<br />
ab und räuspert sich. „Es wäre sehr nett von<br />
dir“, sagt sie dann, immer noch zum Ofen<br />
gewandt, „wenn du IHR nichts von Raphaelas<br />
Job sagen würdest. <strong>SIE</strong> denkt, Raphaela leistet<br />
ihr soziales Jahr bei der Heilsarmee ab.“<br />
Urielle presst eine Hand aufs Zwerchfell,<br />
atmet tief ein und aus und starrt Michaela an<br />
(Michaela starrt zurück).<br />
Das Telefon klingelt. Michaela nimmt den<br />
Hörer ab, dreht an der Kurbel und sagt:<br />
„Michaela.“ Nach einer Weile nickt sie langsam<br />
und sagt: „Hm … Nun reg dich bitte nicht auf,
das ist bestimmt nur eine kleine Verzögerung.<br />
<strong>SIE</strong> hat sicher schon … Ja, ich bringe das in<br />
Ordnung, okay. Bis dann!“ Sie legt den Hörer<br />
auf und sieht Urielle an. „Kann es sein“, sagt<br />
sie, „dass du etwas vergessen hast?“<br />
Urielle versucht nachzudenken, aber das<br />
Bild von Raphaela in einer Uniform der<br />
Heilsarmee will einfach nicht zur Seite rücken,<br />
um anderen Gedanken Platz zu machen.<br />
„Nicht, dass ich wüsste“, sagt sie also nur und<br />
zuckt die Schultern.<br />
„Sintflut“, sagt Michaela.<br />
Urielle nimmt ihre Brille ab und putzt die<br />
Gläser mit einem Taschentuch, als sie mit dem<br />
Ergebnis zufrieden ist, setzt sie sie wieder auf<br />
und sagt: „Upps.“<br />
Michaela bläst die Luft aus und sagt:<br />
„Noah liegt mit diesem riesigen,<br />
selbstgebastelten Holzschiff auf dem
Trockenen und wartet auf die Flut. Sie ist<br />
ziemlich sauer. Die Tiere werden auch unruhig.<br />
Die Einhörner haben angekündigt, dass sie auf<br />
keinen Fall länger warten werden und die<br />
Greife haben das Schiff bereits verlassen.“<br />
Urielle hört nur mit halbem Ohr hin, sie<br />
kramt in ihren Unterlagen und sucht die Stelle<br />
mit der Sintflut heraus. „Ah“, murmelt sie,<br />
„tatsächlich.“ Wie hatte sie das nur vergessen<br />
können? Daran sind nur Raphaela und ihr<br />
merkwürdiger Job schuld! Sie schiebt das<br />
Heilsarmee-Bild gewaltsam zur Seite und sucht<br />
tief in ihrem Inneren nach Inspiration, um das<br />
Werk angemessen, aber vor allem zügig, zu<br />
beenden. Wo war sie stehen geblieben? Ah, ja,<br />
also dann.<br />
Und <strong>SIE</strong> sprach: Denn von nun an über<br />
sieben Tage will ICH regnen lassen auf Erden<br />
vierzig Tage und vierzig Nächte und vertilgen
von dem Erdboden alles, was nicht Pink ist,<br />
nicht glitzert, nicht süß aussieht und schmeckt<br />
oder MIR rechtzeitig meinen Pfefferminztee<br />
bringt.<br />
Urielle schüttelt den Kopf und sieht<br />
Michaela an. „Was soll das überhaupt?“, fragt<br />
sie. „Warum will <strong>SIE</strong> den Blauen überfluten?“<br />
„Damit er ganz blau ist. <strong>SIE</strong> meinte, IHR<br />
gingen die unregelmäßigen Flecken auf die<br />
Nerven.“<br />
„Das ist doch ein Scherz?“ Urielle legt die<br />
Feder zurück in die Schale und schiebt ihre<br />
Brille hoch. Dann schüttelt sie den Kopf und<br />
sagt: „Schon gut, vergiss es, das war eine<br />
dämliche Frage.“ Sie atmet tief ein und aus und<br />
setzt die Feder an. Augen zu und durch.<br />
Und Noah tat, was <strong>SIE</strong> ihr geheißen<br />
(zumindest fast). Sie brachte von allen Tieren
ein paar auf die Arche und wartete auf die<br />
angekündigte Flut.<br />
Urielle reibt sich über die Stirn. „Ich kann<br />
das nicht schreiben“, sagt sie. „Unmöglich. <strong>SIE</strong><br />
spinnt doch!“<br />
Michaela gießt eine Tasse Pfefferminztee<br />
ein und nickt resigniert. „Dass <strong>SIE</strong> spinnt, ist ja<br />
nun nichts Neues.“ Sie stellt den Tee und<br />
Zucker auf das Tablett und seufzt. „Ich muss<br />
erst mal. <strong>SIE</strong> wartet sicher schon.“<br />
<strong>SIE</strong> sitzt in IHREM Ohrensessel. Die Kurbel<br />
quietscht lauter als gewöhnlich und Michaela<br />
lauscht einen Augenblick, bis sie feststellt, dass<br />
<strong>SIE</strong> etwas summt, das wohl eine Melodie sein<br />
soll.<br />
Sie stellt das Tablett auf dem kleinen Tisch<br />
ab, schenkt den Tee ein und rührt drei Stück<br />
Zucker hinein. <strong>SIE</strong> dreht und quietscht und
summt und beachtet die Teetasse nicht, die<br />
Michaela IHR hinhält. „DEIN Tee“, sagt sie<br />
deshalb.<br />
„Pssst!“, zischt <strong>SIE</strong> und dreht und summt<br />
konzentriert weiter.<br />
Michaela seufzt. Sie registriert das irre<br />
Funkeln in IHREN Augen und fragt sich, wie<br />
lange es wohl noch dauern wird, bis <strong>SIE</strong><br />
gänzlich durchdreht. Oder nicht mehr dreht,<br />
was in IHREM speziellen Fall wohl<br />
zutreffender ist.<br />
Michaela stellt die Teetasse auf das Tablett<br />
zurück. Und immer noch summt <strong>SIE</strong> und<br />
zuckt irgendwie spastisch mit dem Kopf.<br />
„Jetzt!“, kreischt <strong>SIE</strong>. Summen. „Jetzt,<br />
Michaela, guck doch!“ Summmmmmm. „Da,<br />
ich schaffe es!“ Summsummmmm.<br />
Michaela sieht nach oben. <strong>SIE</strong> stoppt<br />
abrupt die Kurbel, dreht kurz in die
entgegengesetzte Richtung und dann wieder<br />
andersherum. <strong>SIE</strong> summt jetzt noch<br />
angestrengter. Die braunen Flecken auf dem<br />
Blauen werden plötzlich komplett von blauen<br />
Schlieren überzogen, die sich aber gleich darauf<br />
wieder in die ursprüngliche Lage zurückziehen.<br />
Der Blaue ist immer noch blau-braun-gefleckt.<br />
<strong>SIE</strong> hört auf zu summen und sagt: „Scheiße!“<br />
Dann hört <strong>SIE</strong> auf zu drehen und stürzt<br />
IHREN Pfefferminztee hinunter. „Warum ist<br />
Urielle immer noch nicht fertig? Warum ist der<br />
Blaue immer noch nicht blau?“<br />
Michaela zuckt mit den Schultern und <strong>SIE</strong><br />
dreht die Kurbel. IHREN Blick auf IHRE<br />
Häschen-Hausschuhe gerichtet. <strong>SIE</strong> wackelt<br />
mit den Füßen und singt leise „Blau, blau, blau,<br />
sind alle meine Farben“ vor sich hin.<br />
Michaela nimmt das Tablett und zieht sich<br />
leise zurück. Die Ohren der Häschen wackeln
und <strong>SIE</strong> kichert. Zumindest summt <strong>SIE</strong> nicht<br />
mehr.<br />
Urielle starrt auf das unvollendete Werk und<br />
seufzt. Sie hasst es, unvollendete Werke zu<br />
hinterlassen und sinnt auf einen Kompromiss,<br />
der sie zufriedenstellen würde und den <strong>SIE</strong><br />
nicht als solchen erkennt. Sintflut geht gar<br />
nicht, soviel steht fest.<br />
Das Telefon klingelt und sie steckt sich die<br />
Finger in die Ohren, um den<br />
Inspirationsfindungsvorgang nicht zu<br />
unterbrechen. Sintflut, Springflut, Armut,<br />
Hartmut, Tutut. Die Muse will einfach nicht<br />
wie sie soll. Genialität ist eine schwere Bürde<br />
und Musen sind fiese, launische Geschöpfe, die<br />
direkt aus dem Höllenschlund gekrochen<br />
kommen, zu dem einen und einzigen Zweck,
Urielles Genie zu untergraben und den<br />
schöpferischen Prozess zu behindern.<br />
Sie rückt ihre Brille gerade und krempelt<br />
die Ärmel auf. Dann eben mit dem<br />
Holzhammer!<br />
<strong>SIE</strong> überlegte es sich anders und die<br />
angekündigte Sintflut blieb aus. Die Tiere<br />
kehrten zurück in ihre Heimat, nur die<br />
Einhörner waren so sauer, dass sie sich von<br />
diesem Tag an nicht mehr blicken ließen und<br />
tief in die verwunschenen Wälder zurückzogen.<br />
Noah dankte IHR für IHRE unermessliche<br />
Güte und …<br />
Urielle kaut sinnend auf der Feder. Was<br />
macht Noah eigentlich, wenn sie keine Arche<br />
baut?<br />
Das Telefon klingelt. Schon wieder. Wie<br />
soll man bei diesen nervenzerrenden<br />
Unterbrechungen klare Gedanken fassen?
Zum Glück kommt Michaela in die Küche<br />
und nimmt den Hörer ab. Sie nickt, schüttelt<br />
den Kopf, nickt wieder, sieht Urielle an und<br />
zieht theatralisch die Augenbrauen hoch.<br />
„Hmhm“, sagt sie dann und „Moment!“ Sie<br />
hält den Hörer zu und zieht die Augenbrauen<br />
noch ein Stück höher. „Das ist Noah.<br />
Möchtest du dich vielleicht zu dem Thema<br />
Sintflut äußern?“<br />
Urielle verschränkt die Arme vor der Brust<br />
und lehnt sich zurück, was ihr hoffentlich<br />
einen entspannten und selbstsicheren<br />
Ausdruck verleiht. „Die Sintflut wurde<br />
gecancelt“, sagt sie knapp.<br />
Noahs Stimme dringt, durch Michaelas<br />
Finger hindurch, verzerrt aus dem Hörer.<br />
Michaela stöhnt, nickt Urielle aber zu. „Okay“,<br />
sagt sie, atmet tief ein und legt den Hörer<br />
wieder ans Ohr. „Noah, es gab da eine
Planänderung … Jetzt hör doch erst mal …<br />
Nein, <strong>SIE</strong> wird nicht … Auf keinen Fall, aber<br />
du könntest doch …“ Michaela holt tief Luft<br />
und schreit: „Halt die Klappe!“ Stille. Keine<br />
Gekreische mehr vom anderen Ende der<br />
Leitung. Gut. „Also: Ich werde jetzt Raphaela<br />
anrufen und sie wird dir einen neuen Job<br />
besorgen. Was? … Ja, sicher mit besseren<br />
Konditionen, das ist doch … Und Urlaub …<br />
Ja, Weihnachtsgeld auch … Überstrapaziere<br />
meine Geduld nicht! Ich melde mich dann …<br />
Natürlich!“<br />
Sie knallt den Hörer auf, nimmt ihn wieder<br />
ab, dreht die Kurbel und wartet. „Raphaela,<br />
bitte“, sagt sie und wartet wieder, wiegt den<br />
Kopf und summt eine Melodie mit. „Hallo,<br />
Raphaela? Michaela, ja. Ich brauche deine Hilfe<br />
… Nein, ich möchte meinen Look nicht …<br />
Nein, keine … Was für Problemzonen? Ich
habe keine … Jetzt halt bitte mal die Luft an!<br />
Ich schicke dir Noah vorbei. Sie braucht einen<br />
sicheren Job mit garantierten Sozialleistungen<br />
… Nein, die Sintflut wurde gecancelt … Ja,<br />
okay, bis später.“<br />
Der Hörer knallt auf die Gabel.<br />
Abnehmen, Kurbel drehen, warten. „Noah,<br />
Klappe halten und zuhören! Du hast einen<br />
Termin bei Raphaela. Jobcenter, Höllenschlund<br />
6, in fünfzehn Minuten. Tschüss!“<br />
Sie legt auf und lehnt sich an die<br />
Arbeitsplatte. Ihre Wangen sind gerötet und sie<br />
verdreht die Augen. „Ich hasse diesen<br />
Telefonapparat“, sagt sie.<br />
Urielle sagt: „Ha! Meine Rede.“ Dabei<br />
kommen ihr glitzernde Visionen in den Sinn,<br />
die nach Weihrauch und Würsten duften und<br />
sie zieht sich tief in ihren Geist zurück.<br />
Versonnen greift sie zur Feder und beginnt ein
neues Meisterwerk, das so voller Friede und<br />
Freude ist, dass es ihr Tränen der Rührung in<br />
die Augen treibt.<br />
Michaela sieht Urielle zu. Ihr<br />
Gesichtsausdruck erinnert sie erschreckend an<br />
IHREN Gesichtsausdruck, als <strong>SIE</strong> verzückt<br />
die wackelnden Häschenohren betrachtete, und<br />
sie macht sich doch ein wenig Sorgen.<br />
„Urielle?“, fragt sie. „Alles okay?“<br />
Urielle ist so mit ihrem Genie<br />
verschmolzen, dass sie alles um sich herum<br />
vergessen hat. „Kerzenschimmer“, murmelt<br />
sie. „Oh ja!“<br />
Michaela schüttelt den Kopf und holt das<br />
Mehl aus dem Schrank. Sie verspürt das<br />
dringende Bedürfnis, eine Tätigkeit auszuüben,<br />
die eindeutig belegt, dass sie nicht<br />
durchgedreht ist und was wäre da<br />
angebrachter, als noch ein Blech Plätzchen zu
acken? Zimtsterne. Oder doch<br />
Kokosmakronen? Auf jeden Fall müssen die<br />
Plätzchen normal aussehen. Klare,<br />
wohlproportionierte Formen und unauffällige<br />
Farben. Braun ist gut, vielleicht eine Glasur?<br />
Nein, eine Glasur könnte falsch verstanden<br />
werden. Besser auch keine Zuckerstreusel.<br />
Urielles Feder kratzt über das Pergament<br />
und Michaela gibt die Zutaten in die große<br />
Schüssel. Beide sind in ihren eigenen Welten<br />
gefangen, selbstvergessen, ganz Konzentration.<br />
Keine von beiden registriert das<br />
ungewöhnliche Scharren und Rumpeln, das aus<br />
dem Kamin in IHR Zimmer dringt und keine<br />
hört den langgezogenen Schrei, das Poltern<br />
und IHR Gekreische. Erst als die Küchentür<br />
an die Wand schlägt und ein rotgekleideter,<br />
bärtiger, fetter Mann in die Küche stürzt sehen<br />
die Beiden auf.
Michaela hebt abwehrend den Kochlöffel<br />
(wobei etwas Teig auf die Fliesen tropft),<br />
Urielle hebt angriffslustig die Feder. Der fette<br />
Mann zupft sich ein paar Hustenbonbons aus<br />
dem Bart, legt einen IHRER Häschen-<br />
Hausschuhe auf den Tisch und sagt: „Hohoho.<br />
<strong>SIE</strong> spinnt doch!“<br />
Urielle und Michaela kneifen die Augen<br />
zusammen, starren den Mann an und sagen:<br />
„Noah?“<br />
Noah sagt „Ach so“ und nimmt den Bart<br />
ab, in dem immer noch hartnäckig einige<br />
Bonbons kleben.<br />
Urielle schiebt ihre Brille hoch und legt die<br />
Feder in die Schale. „Okay“, sagt sie und reibt<br />
sich die Schläfen. „Ich bin nicht sicher, ob ich<br />
es wissen will.“<br />
„Aber ich will es wissen!“ Michaela<br />
fuchtelt mit dem Kochlöffel herum und
espritzt die Küchenschränke mit<br />
Plätzchenteig. „Warum trägst du einen Bart,<br />
diesen Bauch und diese Klamotten? Was<br />
machst du mit IHREM Hausschuh? Und was<br />
machst du überhaupt hier?“<br />
„Ach so“, sagt Noah noch einmal, zieht<br />
den Bart wieder an, breitet die Arme aus, holt<br />
tief Luft und beginnt zu singen:<br />
„Vom Höllenschlund da komm ich her,<br />
ich bring euch gute-he neue Mär,<br />
und Werbegeschenke bring ich viel,<br />
weil Luzi eure Se-he-le will.“<br />
Noah dreht sich einmal ungrazil um die<br />
eigene Achse und deutet mit einer<br />
übertriebenen Geste auf den Jutesack, den sie<br />
zu ihren Füßen abgestellt hat. Urielles Brille<br />
rutscht auf die Nasenspitze. Sie schiebt sie<br />
nicht zurück. Michaela betrachtet das rote
Horn, das unter Noahs verrutschter Mütze<br />
hervorlugt und sagt: „Äh.“<br />
Nach einigem Kramen in dem braunen<br />
Sack zieht Noah zwei in rotes Geschenkpapier<br />
gewickelte Päckchen hervor und legt sie auf<br />
den Küchentisch. „So, Feierabend“, sagt sie<br />
und setzt sich. „Könnte ich vielleicht ein Bier<br />
bekommen? Meine Kehle ist vom vielen<br />
Singen ganz ausgedörrt!“<br />
Michaela stellt ihr wortlos eine Tasse<br />
Pfefferminztee hin und setzt sich neben<br />
Urielle. „Also“, sagt sie streng, „was genau soll<br />
das alles?“<br />
Noah nippt an ihrem Tee und verzieht das<br />
Gesicht. „Werbemaßnahmen“, sagt sie dann.<br />
„Luzi hat sich entschlossen, ihren<br />
Bekanntheitsgrad zu erhöhen. Ich bin dafür<br />
zuständig, die Werbegeschenke zu verteilen.<br />
Flächendeckend! Ich könnt euch nicht
vorstellen, was für ein riesiges Gebiet ich<br />
alleine zu bewältigen habe. Aber die Bezahlung<br />
ist gut. Und ich habe einen niegelnagelneuen<br />
Firmenwagen mit zwölf Rentierstärken!“ Sie<br />
deutet auf die Päckchen. „Macht doch mal<br />
auf!“<br />
Urielle zuckt mir den Schultern. Ist nun<br />
auch egal. Sie wickelt das Geschenkpapier ab.<br />
Michaela sieht ihr skeptisch dabei zu und<br />
Noah plappert munter weiter: „Auf dem<br />
Blauen, das war allerdings etwas merkwürdig.<br />
Es schien fast so, als hätten mich die Leute<br />
erwartet. Fast alle Häuser waren mit kitschigen<br />
Lichterketten geschmückt, dazu überall<br />
schmalzige Musik und Kerzengedöns und so.“<br />
Urielle hält inne, sieht auf ihr neues Werk<br />
und schiebt unauffällig ein leeres Blatt auf das<br />
Geschriebene, bevor sie das Päckchen<br />
endgültig öffnet. „Ah“, sagt sie.
Michaela saugt die Luft durch die Zähne<br />
ein und sagt: „Oh.“<br />
Noah trinkt den Tee aus und sagt: „Cool,<br />
was?“ Dann zieht sie Urielles Kreuzworträtsel<br />
heran und murmelt: „Mittelamerikanisches<br />
Land mit sechs Buchstaben. Hm. Ah, na klar!“<br />
Sie greift sich Urielles Feder und schreibt:<br />
PÖMPEL<br />
<strong>SIE</strong> kreischt nach Michaela und wackelt mit<br />
den Füßen, IHREN Blick auf IHREN<br />
verbliebenen Häschen-Hausschuh gerichtet.<br />
Die Häschenohren wackeln auch. <strong>SIE</strong> kichert.<br />
Die Welten zittern. Gelegentlich wanken sie,<br />
verlangsamen ihren Lauf und beschleunigen<br />
ihn wieder. Aber <strong>SIE</strong> dreht die Kurbel, wie <strong>SIE</strong><br />
es schon immer tat. Dreht und dreht (und<br />
wackelt) und dreht.
Mehr von und über <strong>Simone</strong> <strong>Keil</strong> findet ihr auf<br />
ihrer Website www.simonekeil.com und auf<br />
www.qindie.de<br />
Frohe Weinachten<br />
und einen guten Rutsch<br />
ins neue Jahr!