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Irrungen, Wirrungen – Die Selbst(er)findung einer ... - Gerd Koenen

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<strong>Irrungen</strong>, <strong>Wirrungen</strong> <strong>–</strong><br />

<strong>Die</strong> <strong>Selbst</strong>(<strong>er</strong>)<strong>findung</strong> ein<strong>er</strong> Gen<strong>er</strong>ation<br />

(Gabriele Metzl<strong>er</strong>, Frankfurt<strong>er</strong> Allgemeine Zeitung, 2. Juli 2001)<br />

D<strong>er</strong> Aussenminist<strong>er</strong> ist als ehemalig<strong>er</strong> Sponti-Randali<strong>er</strong><strong>er</strong> geoutet, ein Ex-RAF -Mitglied<br />

wird demnaechst als Polizist in ein<strong>er</strong> TV-S<strong>er</strong>ie zu sehen sein - ein Leben bietet Raum fu<strong>er</strong><br />

viele Rollen und, so scheint es, ein deutsches Leben allemal. Dabei boten sich g<strong>er</strong>ade den<br />

Angeho<strong>er</strong>igen d<strong>er</strong> Gen<strong>er</strong>ation von Joschka Fisch<strong>er</strong> und Christof Wack<strong>er</strong>nagel<br />

Lebenschancen, wie sie ihren Vaet<strong>er</strong>n und Grossvaet<strong>er</strong>n kaum v<strong>er</strong>goennt gewesen waren:<br />

Gross geworden in Frieden und wachsendem Wohlstand, standen ihnen viele Wege und<br />

Karri<strong>er</strong>en offen, die sie indes ablehnten. <strong>Die</strong>s zumindest legt G<strong>er</strong>d <strong>Koenen</strong>s Studie ueb<strong>er</strong><br />

das "rote Jahrzehnt" zwischen dem Aufbruch d<strong>er</strong> Apo 1967 und dem "deutschen H<strong>er</strong>bst"<br />

1977 nahe. <strong>Koenen</strong>, Jahrgang 1944, weiss, wovon <strong>er</strong> schreibt: 1967 war <strong>er</strong> beim SDS,<br />

danach in v<strong>er</strong>schiedenen linken Gruppi<strong>er</strong>ungen, am Ende beim KBW. Er hat ein sp<strong>er</strong>riges<br />

Buch geschrieben, das sich einfachen Zuordnungsrast<strong>er</strong>n entzieht. Es ist ein<br />

Geschichtsbuch, es sind subjektive Erinn<strong>er</strong>ungen, in denen sich d<strong>er</strong> Zeitzeuge einmal<br />

mehr als Feind des Historik<strong>er</strong>s entpuppt; es ist Familienroman und Bildungsroman,<br />

Abrechnungsschrift, fast im Stile d<strong>er</strong> Renegatenlit<strong>er</strong>atur - von allem etwas, und das macht<br />

seinen Reiz aus.<br />

<strong>Die</strong> Revolte, fu<strong>er</strong> die "1968" als Chiffre steht, ueb<strong>er</strong>raschte die meisten Zeitgenossen,<br />

besond<strong>er</strong>s durch ihre rasch wachsende Radikalitaet. In einem "double-bind von<br />

narzisstisch<strong>er</strong> <strong>Selbst</strong>inszeni<strong>er</strong>ung und medial<strong>er</strong> V<strong>er</strong>mittlung" eskali<strong>er</strong>ten die<br />

Auseinand<strong>er</strong>setzungen bald. In ihrem K<strong>er</strong>n lag ein Gen<strong>er</strong>ationenkonflikt. <strong>Die</strong> Jungen - so<br />

<strong>Koenen</strong>s (<strong>Selbst</strong>-)Deutung - waren von d<strong>er</strong> Idee besessen, ihr<strong>er</strong> Biographie eigenes<br />

Gewicht geben zu muessen, waehrend ihre Elt<strong>er</strong>n die Leistungen in Kriegs- und<br />

Aufbauzeiten geltend machen konnten. Also steig<strong>er</strong>ten sich die aufbegehrenden<br />

Jugendlichen in Kriegsphantasien hinein, die mal ein v<strong>er</strong>meintlich unmittelbar<br />

bevorstehend<strong>er</strong> dritt<strong>er</strong> Weltkrieg, mal die Befreiungskriege in d<strong>er</strong> Dritten Welt duest<strong>er</strong><br />

grundi<strong>er</strong>ten.<br />

Im Partisanen- od<strong>er</strong> Gu<strong>er</strong>rill<strong>er</strong>ogestus eines guten Teils d<strong>er</strong> 68<strong>er</strong>-Bewegung wie auch<br />

in d<strong>er</strong> "symbolischen Kriegfuehrung" d<strong>er</strong> RAF wenige Jahre spaet<strong>er</strong> fanden solche<br />

Phantasien ihren Ausdruck. So konnte die "Schlacht am Tegel<strong>er</strong> Weg" im Novemb<strong>er</strong> 1968<br />

im Sinne eines "real <strong>er</strong>fahrenen" Kriegsgeschehens in d<strong>er</strong> Studentenbewegung mythische<br />

Qualitaet gewinnen.<br />

Trotz zunehmend<strong>er</strong> Radikalitaet umgab die Apo-Aktivisten aus ihr<strong>er</strong> Sicht ein Nimbus<br />

"militant<strong>er</strong> Unschuld". Denn sie waren ueb<strong>er</strong>zeugt, auf d<strong>er</strong> richtigen Seite d<strong>er</strong> Geschichte<br />

zu stehen, ein<strong>er</strong> Geschichte, die voellig auf den Nationalsozialismus fixi<strong>er</strong>t war, ohne dass<br />

damit Int<strong>er</strong>esse an ein<strong>er</strong> sachlichen Aufarbeitung d<strong>er</strong> NS-Zeit einh<strong>er</strong>ging. Indem sie die<br />

historische Schuld d<strong>er</strong> Deutschen an<strong>er</strong>kannten, machten die Rebelli<strong>er</strong>enden ihre eigene<br />

moralische Ueb<strong>er</strong>legenheit geltend. Dass die spezifischen Faschismus-Deutungen link<strong>er</strong><br />

Provenienz nicht gegen Antisemitismus feiten, belegen zahlreiche Zeugnisse<br />

"antizionistisch<strong>er</strong>" (gemeint war haeufig: antijuedisch<strong>er</strong>) Ressentiments und Aktionen<br />

radikal<strong>er</strong> Kreise, bis hin zum (misslungenen) Anschlag auf das juedische


Gemeindezentrum in West-B<strong>er</strong>lin am 9. Novemb<strong>er</strong> 1969 od<strong>er</strong> zur b<strong>er</strong>uechtigten<br />

"Selektion" d<strong>er</strong> israelischen Passagi<strong>er</strong>e an Bord d<strong>er</strong> entfuehrten Air-France-Maschine<br />

1976.<br />

Fliessende Ueb<strong>er</strong>gänge.<br />

<strong>Die</strong> Ueb<strong>er</strong>gaenge von d<strong>er</strong> Apo zum T<strong>er</strong>rorismus waren aus <strong>Koenen</strong>s Sicht fliessend.<br />

<strong>Die</strong> Anfaenge des organisi<strong>er</strong>ten T<strong>er</strong>rorismus dati<strong>er</strong>t <strong>er</strong> auf das Ebrach<strong>er</strong> "Knast -Camp"<br />

vom Juli 1969. Von dort zieht <strong>er</strong> eine g<strong>er</strong>ade Linie in den "deutschen H<strong>er</strong>bst", ja, <strong>Koenen</strong><br />

int<strong>er</strong>preti<strong>er</strong>t den Ausstieg in den T<strong>er</strong>rorismus g<strong>er</strong>adezu als "paradigmatische Form d<strong>er</strong><br />

vielfaeltigen politischen Gruendungsakte und Sezessionsbewegungen" nach 1968/69.<br />

In d<strong>er</strong> Tat entmischte und diff<strong>er</strong>enzi<strong>er</strong>te sich die Protestbewegung nach 1969<br />

<strong>er</strong>heblich. Waehrend viele d<strong>er</strong> Brandtschen SPD beitraten, stellte die neue Regi<strong>er</strong>ung fu<strong>er</strong><br />

and<strong>er</strong>e <strong>er</strong>st recht ein Feindbild dar, das es zu bekaempfen galt. V<strong>er</strong>meintlich bestaetigt<br />

von d<strong>er</strong> Streikbewegung im Septemb<strong>er</strong> 1969, war fu<strong>er</strong> viele nun die Zeit d<strong>er</strong> Revolution<br />

gekommen. <strong>Die</strong> durch die Studentenbewegung Politisi<strong>er</strong>ten od<strong>er</strong> auch nur "Anpolitisi<strong>er</strong>ten"<br />

stu<strong>er</strong>zten sich deshalb in eine fieb<strong>er</strong>hafte Suche nach einem "Weltanschauungsdach" fu<strong>er</strong><br />

ihre zahllos neu gegruendeten Zirkel, Gruppen und Grueppchen.<br />

<strong>Die</strong> Neue Linke als "Schriftreligion" produzi<strong>er</strong>te B<strong>er</strong>ge von Traktaten und Pamphleten.<br />

Dass <strong>Koenen</strong> sich durch einen Grossteil dies<strong>er</strong> Schriften bei seinen Rech<strong>er</strong>chen<br />

hindurchgearbeitet hat, ist eine Leistung, die nicht viele <strong>er</strong>bringen (moegen). Klassik<strong>er</strong> und<br />

bis dato v<strong>er</strong>nachlaessigte W<strong>er</strong>ke wurden v<strong>er</strong>schlungen, v<strong>er</strong>schuettete linke Traditionen in<br />

Deutschland wied<strong>er</strong> freigelegt. Solches Handeln koppelte sich mehr und mehr von d<strong>er</strong><br />

realen Umwelt ab und war wie in ein<strong>er</strong> Sekte bald nur noch auf die eigene Gruppe (mit d<strong>er</strong><br />

Wohngemeinschaft als "Basismodul") bezogen.<br />

Natu<strong>er</strong>lich gab es Teilbewegungen, die naeh<strong>er</strong> an d<strong>er</strong> Realitaet blieben, wie etwa die<br />

neue Frauenbewegung, die sich in manch<strong>er</strong> Hinsicht als Antithese zur kommunistischen<br />

Bewegung int<strong>er</strong>preti<strong>er</strong>en laesst. Antithesen, vulgo: Feindschaften, waren im uebrigen auch<br />

das Charakt<strong>er</strong>istikum d<strong>er</strong> Kommunisten selbst. Was landlaeufig als "K-Gruppen"<br />

bezeichnet wird, war ein Konglom<strong>er</strong>at unt<strong>er</strong>schiedlichst<strong>er</strong> Gruppi<strong>er</strong>ungen, die einand<strong>er</strong><br />

<strong>er</strong>bitt<strong>er</strong>t gegenueb<strong>er</strong>standen und in sich noch mehrfach z<strong>er</strong>splitt<strong>er</strong>t sein konnten. Kaum<br />

ueb<strong>er</strong>raschend, hatten die westdeutschen Linken fu<strong>er</strong> die zeitgleichen<br />

Oppositionsbewegungen in d<strong>er</strong> DDR und Osteuropa kein V<strong>er</strong>staendnis. Fu<strong>er</strong> <strong>Koenen</strong> und<br />

das Gros sein<strong>er</strong> Gen<strong>er</strong>ation war die DDR bald nur noch das "unbekannteste Land d<strong>er</strong><br />

Welt".<br />

Im H<strong>er</strong>bst 1977 kulmini<strong>er</strong>te das "rote Jahrzehnt". Hi<strong>er</strong> geht die Darstellung nicht ueb<strong>er</strong><br />

das laengst Bekannte hinaus; doch die These, die T<strong>er</strong>roristen haetten in einem "blinden<br />

Wied<strong>er</strong>holungszwang bis hin zu ihrem kollektiven <strong>Selbst</strong>mord im Bunk<strong>er</strong>" gehandelt, ist<br />

durchaus bedenkensw<strong>er</strong>t: Vielleicht war d<strong>er</strong> H<strong>er</strong>bst 1977 tatsaechlich eine "f<strong>er</strong>ne Replik<br />

auf die nebligen Unt<strong>er</strong>gaenge des April 1945", wie <strong>Koenen</strong> schreibt, und vielleicht, so<br />

koennte man hinzufuegen, war 1977 ein V<strong>er</strong>such, die ausgebliebene Katharsis von 1945<br />

nachzuholen.<br />

D<strong>er</strong> T<strong>er</strong>rorismus wurde <strong>er</strong>folgreich bekaempft, auch wenn sich das Problem<br />

keineswegs b<strong>er</strong>eits 1977 <strong>er</strong>ledigte, die von manchen <strong>er</strong>sehnte Revolution fand nicht statt,<br />

die grossen Entwu<strong>er</strong>fe von einst sind laengst Makulatur, abgelegte Irrtuem<strong>er</strong>. Was also


leibt vom "roten Jahrzehnt"? <strong>Koenen</strong>s Bilanz faellt bescheiden aus. <strong>Die</strong><br />

Protestbewegungen waren Katalysatoren in einem V<strong>er</strong>aend<strong>er</strong>ungsprozess, d<strong>er</strong> laengst im<br />

Gange war; insof<strong>er</strong>n, folg<strong>er</strong>t <strong>Koenen</strong>, zeichnet die bundesdeutsche Geschichte ein hohes<br />

Mass an Kontinuitaet aus, das <strong>er</strong>st die Zaesur von 1989/90 unt<strong>er</strong>brach. Dass den<br />

vielfaeltigen Bewegungen ihre Militanz und Radikalitaet genommen und sie in einen<br />

gesellschaftlichen Konsens eingebunden w<strong>er</strong>den konnten, belegt den hohen Grad an<br />

<strong>Selbst</strong>zivilisi<strong>er</strong>ung dies<strong>er</strong> Gesellschaft. Gleichwohl wandelte sie sich selbst im Laufe des<br />

"roten Jahrzehnts". Indem die Gruenen im neuen progressiven Mittelstand ihre Hauptbasis<br />

fanden, konnten sie den V<strong>er</strong>such ein<strong>er</strong> Synthese zwischen Mehrheitsgesellschaft und<br />

Protestbewegungen darstellen. Neue Themen wurden politikfaehig. Wie sehr dies<br />

V<strong>er</strong>dienst d<strong>er</strong> einen od<strong>er</strong> d<strong>er</strong> and<strong>er</strong>en Seite war, bleibt als offene Frage.

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