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Mein 1968 - Gerd Koenen

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<strong>Gerd</strong> <strong>Koenen</strong><br />

<strong>Mein</strong> <strong>1968</strong><br />

Unter den historischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts bleibt <strong>1968</strong><br />

das am wenigsten greifbare. Alle, die irgendwie dabei waren, hatten<br />

ihr eigenes „68“. Zu einem historischen Datum ist „68“ erst in der<br />

Erinnerung geworden, mehr als ein Jahrzehnt später.<br />

Natürlich war es ein bewegtes und ein bewegendes Jahr. Unsere<br />

„Bildspur“ zeigt eine atemlose Folge dramatischer Ereignisse: die<br />

Tĕt-Offensive des Vietcong; das Attentat auf Martin Luther King, und<br />

wenig später das auf Rudi Dutschke; die anschließenden<br />

Osterunruhen und die Barrikaden des Pariser Mai; den Einmarsch<br />

sowjetischer Truppen in der CSSR, die herausfordernde Geste der<br />

schwarzen Sportler bei der Olympiade in Mexico; die<br />

Straßenschlachten in Chicago und Westberlin. Und doch wäre es<br />

schwierig, genau zu sagen, inwieweit <strong>1968</strong> dramatischer gewesen<br />

ist als irgendein anderes Jahr des letzten Jahrhunderts.<br />

Was also war dann „<strong>1968</strong>“? Warum hat es sich im kulturellen<br />

Gedächtnis so vieler – vor allem westlicher – Gesellschaften derart<br />

tief eingekerbt, und wieso erhitzt es die Gemüter gerade in der alten<br />

Bundesrepublik bis heute? Welchen Sinn macht es, dieses<br />

magische Datum mal als die Quelle aller möglichen<br />

gesellschaftlichen Fehlentwicklungen zu denunzieren, und mal wie<br />

einen Talisman mit Zähnen und Klauen zu verteidigen?<br />

Diese Fragen stellen, heißt, sie teilweise schon zu beantworten. Die<br />

Rede ist von einem Ereignis, das sich eben nur als Kulminationsoder<br />

Schnittpunkt vieler längerer Entwicklungslinien beschreiben


2<br />

lässt, als jähe Springflut einer „Revolution steigender Erwartungen“,<br />

als Ausbruch erotischer Lebensenergien und hallizunatorischer<br />

Weltgefühle, aber auch apokalyptischer Stimmungen. <strong>1968</strong> war<br />

jedenfalls ein hochgradig subjektiver historischer Moment; allerdings<br />

für so viele in solcher Intensität und etwa zur gleichen Zeit, dass sich<br />

aus dieser Erfahrung eine politische Generation formte, und mit ihr<br />

ein Generationsstil und eine Lebenshaltung, die bald auf die<br />

Gesellschaften im Ganzen abfärbten.<br />

Das gilt nicht nur für die alte Bundesrepublik, sondern für eine<br />

Vielzahl von Ländern dieser Erde – vor allem für die Länder, in<br />

denen die Verheerungen des Weltkriegs noch frisch und präsent<br />

waren. <strong>1968</strong> war eben auch ein Nachhall oder Nachspiel dieser<br />

traumatischen Erfahrungen, in die die „Nachgeborenen“, von denen<br />

Brecht 1947 im Futurum gesprochen hatte („Ihr, die ihr auftauchen<br />

werdet aus der Flut“), psychisch tief eingebunden und verstrickt<br />

waren.<br />

Die Entwicklungen, die um <strong>1968</strong> kulminierten, hatten etwa ein<br />

Jahrzehnt zuvor Fahrt aufgenommen. Man hat nicht zu Unrecht auch<br />

von einer „58er-Bewegung“ gesprochen. In der Bundesrepublik wie<br />

in anderen westlichen Ländern war der drohende „Atomtod“ das<br />

Schreckensbild, hinter dem sich eine neue, die hergebrachten<br />

politischen Einteilungen velfach überschreitende Protestbewegung<br />

sammelte. In der Bundesrepublik trat diese Bewegung in die<br />

Fußstapfen der Opposition gegen die Wiederbewaffnung im Rahmen<br />

der NATO und die damit verbundene Zementierung der deutschen<br />

Teilung.<br />

Hier stößt man auf ein erstes Grundmotiv der anschließenden „68er“-<br />

Bewegungen: den Impuls, das Erbe eines Zeitalters der Weltkriege hinter


3<br />

sich zu lassen und aus der in atomaren Vernichtungsdrohungen<br />

erstarrten Ost-West-Konfrontation auszusteigen. Diese Gefühle<br />

transzendentaler Verunsicherung verdichteten sich in der Kubakrise des<br />

Oktober 1962 zur akuten Panik. Am Morgen des Tages, an dem die Welt<br />

den Atem anhielt, als sowjetische Frachter sich der amerikanischen<br />

Blockadelinie vor der Karibikinsel näherten, saß ich in der Schule und sah<br />

aus dem grauen Himmel über der Ruhr Atomraketen wie Zeppeline sich<br />

zeitlupenhaft herabsenken. Gleich würden wir uns unter die Bänke werfen<br />

und auf Kommando die Aktentaschen über den Kopf stülpen, wie es in<br />

idiotischen Lehrfilmen vorgeführt worden war. Aber der Blitz, in dem wir<br />

alle verglühen sollten, blieb aus, und in den Nachrichten hieß es, die<br />

sowjetischen Schiffe hätten abgedreht und die Raketen würden wieder<br />

abgezogen. Zurück blieb ein taubes Gefühl der Unwirklichkeit – ein horror<br />

vacui, der gewaltsame Sinnstiftungen magisch anzog.<br />

Die frommen Ostermärsche unter der pazifistischen Friedensrune legten<br />

jedenfalls plötzlich an Masse, Tempo und Schärfe zu. Bis dahin hatten sie<br />

eher gewerkschaftlichen Sonntagsdemonstrationen geglichen, zu denen<br />

die alten und jungen Männer (es waren fast nur Männer) im guten Anzug<br />

mit Krawatte und Nelke im Knopfloch gingen. Hatten Parolen wie „Mutter,<br />

denk an Dein Kind. Atomtod droht“ vor allem an die noch frischen<br />

Katastrophenerfahrungen der Älteren und der (daheim gebliebenen)<br />

Frauen appelliert, so füllten sich jetzt die Reihen der Ostermarschierer mit<br />

allerhand jungem Gemüse beiderlei Geschlechts, und die Marsch- und<br />

Kleiderordnungen änderten sich. Als ich 1963 das erste Mal auf einen<br />

Ostermarsch ging, trugen wir Jeans und ausgemusterte Armee-Parkas,<br />

von denen die militärischen Zeichen abgetrennt waren, eine Art Anti-<br />

Uniform. Die Lieder der US-amerikanischen Bürgerrechts-Bewegung mit<br />

der Hymne „We shall overcome“ gaben einen neuen Gospel-Ton vor, der<br />

sich von dem Wandervogel-Geklampfe der alten Anti-Atom-Bewegung<br />

deutlich abhob.


4<br />

Überhaupt waren Sprache, Stil und Sound des jugendlichen<br />

Nonkonformismus in diesen Jahren noch überwiegend der<br />

amerikanischen Folk-, Rock- und Popkultur entlehnt, die mit Macht in<br />

die künstlich heile Welt der Gründerväter der Europäischen Einigung<br />

mit ihrer christlich-konservativen Abendländerei eingebrochen war.<br />

Die Konzerte von Elvis Presley und Bill Healey, und wenig später die<br />

der Beatles oder Stones, wurden in Deutschland wie überall zum<br />

Fokus einer hedonistisch-widerborstigen Jugendszene mit<br />

Röhrenhosen und Elvistolle, Parka und Pilzkopf, in die sich (auch<br />

das ein Novum) die jungen Mädchen mit hochgetürmten Haaren und<br />

Pettycoats oder kurzgeschnittenen Ponies und Hosen in<br />

„entfesselter“ Weise hineinmischten. Von einer „Verwahrlosung“ der<br />

Jugend war in den besorgten Erklärungen konservativer<br />

Familienminister und Medien jetzt dauernd die Rede, obwohl bis auf<br />

ein paar frühe „Gammler“, Tramps oder Beatniks die meisten noch<br />

ganz brav ihren Weg in Ausbildung und Beruf gingen.<br />

Diese aufgestauten lebenskulturellen Konflikte kulminierten in der<br />

Bundesrepublik in den „Schwabinger Krawallen“ vom Sommer 1962,<br />

als Hundertschaften der Polizei eine Woche lang mit gezogenem<br />

Knüppel auf Scharen jugendlicher Nachtschwärmer losgingen, die<br />

als „halbstarke Randalierer“ oder „Rowdys“ beschimpft wurden. Zwei<br />

Dinge heizten die Szenerie zusätzlich auf: Eine neue Boulevard-<br />

Presse, damals eher noch lokal orientiert, ergötzte sich mit<br />

heuchlerischer Empörung an diesen Jagdszenen, so wie es BILD<br />

1967/68 in Westberlin tun würde. Nur dass diese Stimmungsmache<br />

zur allgemeinen Verblüffung den umgekehrten Effekt hatte: Die<br />

Schwabinger standen angesichts der physischen und verbalen<br />

Knüppelorgien bald eher auf der Seite der Jugendlichen.


5<br />

Dass der Schritt zum politischen Protest nicht allzu groß war, zeigten<br />

die überwiegend von Studenten und Schülern getragenen<br />

Demonstrationen während der „Spiegel“-Affäre im Oktober<br />

desselben Jahres. Die Forderungen waren freilich noch ganz<br />

demokratisch und defensiv: Freiheit der Medien, Unabhängigkeit der<br />

Justiz und parlamentarische Kontrolle der Regierung.<br />

Noch war der jugendliche US-Präsident John F. Kennedy, der einen<br />

Aufbruch zu „new frontiers“ (neuen Grenzen) versprach und im Juni<br />

1963 Westberlin besuchte, ein Held dieser angehenden<br />

Protestgeneration. Als er im November in den Straßen von<br />

Dallas/Texas ermordet wurde, strömten in der Bundesrepublik<br />

Schüler und Studenten in zeremoniellen, stummen Fackelmärschen<br />

auf die Straße. Viele, die den ermordeten Präsidenten mit Tränen in<br />

den Augen betrauerten, würden nur ein paar Jahre später „USA-SA-<br />

SS“ skandieren<br />

Dazwischen lag der Prozess einer rasenden Entidealisierung der<br />

Vormacht der „freien Welt“. Die schockierenden Bilder des Kennedy-<br />

Attentats verschwammen mit anderen aus den Südstaaten der USA,<br />

in denen die nächtlichen Kreuze des Ku-Klux-Klan brannten und<br />

weiße wie schwarze Bürgerrechtsaktivisten bespuckt, gejagt und<br />

ermordet wurden, und immer zunehmend dann mit den Bildern des<br />

Kriegs in Vietnam, der 1965 nach der militärischen Intervention der<br />

US-Armee mit ihrer Politik der gnadenlosen Bombardements<br />

unaufhaltsam eskalierte.<br />

Dieselben Prozesse einer Entidealisierung hatten freilich auch die<br />

„Rebellen von Berkeley“ durchlaufen, Studenten einer der<br />

amerikanischen Eliteuniversitäten, deren Proteste (auch gegen die<br />

Rede- und Versammlungsverbote auf dem Campus) den Anstoß zur<br />

immer ausgedehnteren Antikriegsbewegung in den USA wie bald


6<br />

schon in der ganzen Welt gaben. Für sie, die Dissidenten aus der<br />

weißen Mittelklasse, hatte sich der „amerikanische Traum“ in einen<br />

Alptraum verwandelt. Dagegen beschwor der schwarze Pfarrer<br />

Martin Luther King, der in diesen Jahren eine friedliche, aber<br />

machtvolle und hartnäckige Bürgerrechtsbewegung vor die Tore des<br />

Weißen Hauses führte, mit klingender Stimme seinen eigenen<br />

„amerikanischen Traum“ von einer Gesllschaft der gleichen Rechte<br />

und der gleichen Chancen – bevor er ihn <strong>1968</strong> mit dem Tod<br />

bezahlte.<br />

Währenddessen waren die Länder Europas verstärkt mit ihrer<br />

eigenen „unbewältigen“ Geschichte konfrontiert, die vielfach noch<br />

unmittelbare Gegenwart war. So stand Frankreich zu Beginn der<br />

sechziger Jahre ganz im Bann des Krieges in und um Algerien, der<br />

in seiner letzten Phase mit äußerster Brutalität geführt wurde. Und<br />

der neu entbrannte Vietnamkrieg der USA musste die Franzosen an<br />

ihren eigenen, langjährigen Kolonialkrieg in Indochina erinnern, der<br />

erst 1954 durch ihre eklatante Niederlage in Dien Bien-Phu gegen<br />

die Vietminh des KP-Führers Ho Chi-Minh beendet worden war –<br />

eine Art Stalingrad im Kleinen.<br />

In der Bundesrepublik waren es, inmitten der Spannungen um<br />

Berlin, die 1961 im Mauerbau mündeten, vor allem die Gespenster<br />

einer „jüngsten Vergangenheit“, die unaufhaltsam zurückkehrten und<br />

gerade die Jüngeren zunehmend bewegten. In den langen 50er<br />

Jahren, der „Adenauer-Ära“, war nach einer stillschweigenden<br />

gesellschaftlichen Vereinbarung der Mantel des Vergessens (oder<br />

eines „kommunikativen Beschweigens“, so der Philosoph Hermann<br />

Lübbe) über die Massenverbrechen der NS-Zeit gebreitet worden.<br />

Man war jetzt Teil eines demokratischen Westens, der gegen den


7<br />

„totalitären“ Osten stand, und strebte eifrig neuen Ufern zu. Der<br />

Versuch der Regierung Adenauer, 1958 durch eine generelle<br />

Verjährung aller nicht geahndeten NS-Verbrechen einen<br />

Schlussstrich zu ziehen, scheiterte allerdings nach einem Aufschrei<br />

der Empörung sowohl unter den ehemaligen Kriegsgegnern wie im<br />

eigenen Land.<br />

Stattdessen wurde die Aufarbeitung des Nationalsozialismus zu<br />

einem zentralen, nicht mehr zu verdrängenden Thema der<br />

bundesdeutschen Öffentlichkeit. Aktive Staatsanwälte wie Fritz<br />

Bauer in Hessen eröffneten eine Reihe neuer NS-Verfahren, unter<br />

denen der Frankfurter Auschwitzprozess von 1963-65 herausragte.<br />

Ihm vorangegangen war mit einem weltweiten medialen Echo der<br />

Prozess in Jerusalem gegen den SS-Obersturmbannführer Adolf<br />

Eichmann, den Organisator der Vernichtungstransporte. Hannah<br />

Arendts auf die jämmerliche Figur und Selbstverteidigung<br />

Eichmanns gemünztes Wort von der „Banalität des Bösen“<br />

inspirierte mich damals zu einer Abitursrede, in der ich einem<br />

konsternierten Auditorium eröffnete, dass gerade die braven,<br />

unauffälligen Bürger und Dackelführer „unter uns“ ebenso gut<br />

bürokratische Exekutoren eines Massenmordes gewesen oder<br />

jederzeit wieder sein könnten.<br />

Damit meinte ich natürlich „sie“, die Angehörigen der<br />

Kriegsgeneration, der gegenüber „wir“ als junge Nachkriegsdeutsche<br />

uns in einer unüberbrückbaren, abstrakten Kluft zu sehen begannen.<br />

Das war unabhängig von allen guten oder schlechten Erfahrungen<br />

mit den eigenen Eltern oder im Alltag. Auch wenn es sie natürlich<br />

noch gab: die Sportlehrer, die uns „zäh wie Leder, flink wie<br />

Windhunde und hart wie Kruppstahl“ sehen wollten, oder die


8<br />

Passanten, die jugendlichen Demonstranten zuriefen, dass man<br />

„wohl vergessen hat, euch zu vergasen“. Und das waren dieselben,<br />

die „von allem nichts gewusst“ haben wollten! Es war diese<br />

unheimliche Döppelbödigkeit der eigenen Gesellschaft, worin die<br />

blonden Herrenmenschen und Weltbrandstifter von gestern zu<br />

Biedermännern mutiert waren, die zu einer elementaren<br />

Erschütterung des sozialen Urvertrauens führte.<br />

Die notwendige und legitime Distanzierung von einer bedrängenden<br />

und beschämenden Vergangenheit konnte allerdings sehr schnell<br />

auf Holzwege führen, solbald man aus seiner „kritischen Haltung“<br />

eine Pose machte und sich angewöhnte, die eigene Lebenswelt<br />

grundsätzlich in den schwärzesten Farben zu malen – vor der der<br />

eigene jugendliche Gratismut umso heller leuchtete. So wurde die<br />

Bundesrepublik unter den jungen Linksintellektuellen pauschal als<br />

„Nachfolgestaat des Dritten Reichs“ abgetan, so als hätte es nach<br />

1945 nur Kontinuität und „Restauration“ und nicht auch einen tiefen<br />

Bruch und grundlegenden Neubeginn gegeben. Ja, wir<br />

Nachgeborenen, die wir in dieser düsteren „Adenauer-Republik“<br />

aufgewachsen waren, waren dann auch so etwas wie „Verfolgte des<br />

Naziregimes“!<br />

Ich könnte die Litanei unserer angeblichen oder tatsächlichen<br />

Bedrückungen, die später als Erklärung für alle Umwege und<br />

Irrwege der 68er-Generation dienen sollte, bis heute auswendig<br />

hersagen. Also: Man durfte mit dem oder der „Verlobten“ nicht im<br />

elterlichen Haus oder in einem Hotelzimmer übernachten, weil der<br />

„Kuppelei“-Paragraph drohte! Es gab für Homosexuelle noch immer<br />

den § 175! Es gab für dissoziale Jugendliche noch immer<br />

Erziehungsheime mit harschem Regiment, von Nonnen oder


9<br />

Erziehern geführt, die das sicher auch in der Nazizeit getan hatten!<br />

Und so weiter und so fort.<br />

Alles richtig. Nur waren das ganz einfach die juristischen und<br />

kulturellen Standards dieser Zeit, wie sie in sämtlichen<br />

vergleichbaren Ländern herrschten. In der Kritik, die sich vor und<br />

nach <strong>1968</strong> in der Bundesrepublik daran entzündete, wurden diese<br />

überkommenen Moral- und Rechtsnormen aber zwangsläufig in das<br />

Gewitterlicht einer vom Nazismus durch und durch kontaminierten<br />

Gesellschaft gestellt – obwohl sie eher in Weimarer oder<br />

Wilhelminische Zeiten zurückreichten; und obwohl ihre Übernahme<br />

in den Rechtskanon der Bundesrepublik aus dem konservativen<br />

Impuls der Verfassungsgeber gespeist war, die nationalsozialistische<br />

„Entsittlichung“ des Familien- und Alltagslebens und die<br />

„Verwahrlosung“ einer vielfach vaterlos aufgewachsenen Jugend<br />

durch Krieg und Nachkriegszeit wieder in den Griff zu bekommen.<br />

Kurzum, vieles, was eher zum spießerhaften und kleinkarierten<br />

Zuschnitt der bundesdeutschen Nachkriegsrepublik zu rechnen war,<br />

verfiel einer fundamentalen Kritik, die (auch) aus dem Narzissmus<br />

des eigenen Oppositionsgestus lebte. Als der Dramatiker Rolf<br />

Hochhuth 1965 im „Spiegel“ erklärte, die vom Adenauer-Nachfolger<br />

und Kurzzeit-Kanzler Ludwig Erhard propagierte<br />

„Sozialpartnerschaft“ sei nichts als ein Schirm, hinter dem „die<br />

reichen Asozialen die totale Machtergreifung vollziehen“, antwortete<br />

der Vater des Wirtschaftswunders auf dem CDU-Wirtschaftstag<br />

gereizt: „Da hört bei mir der Dichter auf, da fängt der ganz kleine<br />

Pinscher an.“ Eine Äußerung, die einen Sturm der Empörung erntete<br />

und reflexhaft Assoziationen an die Bücherverbrennung von 1933<br />

weckte – wofür Hochhuth mit seinem Wort von der „totalen<br />

Machtergreifung“ natürlich die Vorlage geliefert hatte.


10<br />

Das Moment authentischer Erschütterung und eines Gefühls<br />

moralischer Leere, das sich für uns als die ungefragten Erben des<br />

NS-Regimes auftat, soll dabei nicht verkannt werden. In Wirklichkeit<br />

hatte es aber weder mit reinem Edelmut noch mit Masochismus zu<br />

tun, wenn man sich „mit der eigenen Geschichte auseinandersetzte“,<br />

die ja auch eine Kränkung des eigenen Selbstbildes war. Zum<br />

jungen, anderen Deutschland zu gehören, das sich aus der Asche<br />

einer dunklen Vergangenheit erhob, war auch ein Adelstitel und ein<br />

moralisches Kapital, mit dem man wuchern konnte. Ach, auch wir<br />

lebten (nach den Sinnsprüchen aus Brechts lyrischer Hausapotheke)<br />

„in finsteren Zeiten“, und „der Schoß war fruchtbar noch“, aus dem<br />

wir selbst gekrochen waren. Umso mehr kam es auf uns jetzt an!<br />

Zumal jetzt von einer „Bildungskatastrophe“ die Rede war und von<br />

der Notwendigkeit, in weitaus größerem Umfang als bisher junge<br />

Leute auf die Gymnasien und Universitäten zu schicken. „Bildung“<br />

schien in politischer wie in gesellschaftlicher Hinsicht das<br />

Allheilmittel zu sein. Wer zur „gebildeten Jugend“ gehörte, von der<br />

die Soziologen jetzt als einem Schlüsselfaktor sprachen, war also<br />

Mitglied einer designierten Elite, die einer in stumpfer Unwissenheit<br />

gehaltenen „Masse“ das Licht der Aufklärung zu bringen hatte.<br />

Das alles waren vorpolitische Prägungen und Aufladungen der<br />

späteren 68er-Generation – einer Generation, die allerdings nach<br />

den übereinstimmenden Befunden der Jugendforscher bis ins Jahr<br />

1967 überwiegend karriereorientiert und auf Pflege der eigenen<br />

Individualität ausgerichtet war. Äußerlich gesehen, gab es nur wenig,<br />

was einen derartigen Ausbruch an Protestenergien,<br />

Gemeinschaftsbedürfnissen und Fundamentalkritiken hätte erwarten<br />

lassen.


11<br />

Allerdings braute sich Mitte der sechziger Jahre in Westberlin etwas<br />

zusammen, das zumindest die Frontstadtpolitiker zu beschäftigen<br />

begann, zu denen auch der sozialdemokratische Bürgermeister und<br />

Kanzlerkandidat Willy Brandt gehörte. Ein „Wahlkontor“ prominenter<br />

Autoren, vorwiegend aus Berlin, hatte 1965 seine Kanzlerkandidatur<br />

unterstützt. Umso größer war die Enttäuschung, als der ehemalige<br />

sozialistische Emigrant Brandt im Herbst 1966 als Vizekanzler in<br />

eine Große Koalition unter der Kanzlerschaft des Christdemokraten<br />

Kurt Georg Kiesinger eintrat, eines liberalkonservativen<br />

Württembergers, von dem bekannt war, dass er langjähriges<br />

NSDAP-Mitglied gewesen war. Als Beate Klarsfeld (die deutsche<br />

Frau eines Sohnes jüdischer Deportierter) ihn 1969 ohrfeigte, war<br />

das von fast peinlich überdeutlicher Symbolik.<br />

Zu den zentralen Vorhaben der Großen Koalition gehörte die<br />

Verabschiedung einer Notstands-Verfassung, die die Ablösung der<br />

„alliierten Vorbehaltsrechte“ im Krisenfall bringen sollte und als<br />

entscheidender Schritt auf dem Weg zur vollen Souveränität der<br />

Bundesrepublik galt. Dieses Paket von Gesetzen, die in der<br />

entstehenden Außerparlamentarischen Opposition bald nur noch als<br />

„NS-Gesetze“ firmierten, wurde zu einem weiteren<br />

Kristallisationspunkt aller Vorbehalte gegen die eigene Gesellschaft.<br />

In Westberlin nahm diese, vorwiegend intellektuell geprägte<br />

Protestbewegung erstmals die Züge einer Studentenbewegung an,<br />

deren Stoßrichtung sich im Zeichen des immer weiter eskalierenden<br />

Vietnamkriegs zunehmend auch gegen die USA als die Vormacht<br />

der bundesdeutschen Nachkriegsrepublik und Schutzmacht von<br />

Westberlin richtete. Dabei hatte dieser Protest seine eigene<br />

Mechanik der Eskalation. Ein früher Wachruf war die Empörung,<br />

welche sich im Februar 1966 über ein Häuflein von Vietnam-


12<br />

Demonstranten ergoss, die ein paar Eier auf die Fassade des<br />

Berliner Amerikahauses geschleudert hatten. Politik und<br />

Frontstadtpresse, allen voran das neue Zentralorgan des gesunden<br />

Volksempfindens, die BILD-Zeitung, behandelten diesen<br />

vergleichsweise harmlosen Vorfall wie einen teroristischen Anschlag.<br />

Es dauerte nicht lange, und die demonstrierenden Studenten sahen<br />

sich an die Seite des „Vietcong“ gerückt, oder sie wurden als<br />

„Rotgardisten“ und „FU-Chinesen“ den Kampfbünden der<br />

maoistischen Kulturrevolution eingemeindet.<br />

Das war freilich eine Einladung zur Identifikation, die sich die<br />

Avantgardisten dieser entstehenden Protestbewegung nicht<br />

entgehen ließen, so wie sie die unbegrenzte Empörungsbereitschaft<br />

der Westberliner Politik und Presse schon bald in eine bewusste<br />

„Provokationsstrategie“ ummünzten, die in halb bewusster, halb<br />

unbewusster Weise auf die Verbreiterung wie die Radikalisierung<br />

der eigenen Bewegung zielte. Man warf sich blindlings in eine Serie<br />

von Konfrontationen und Mutproben, die sich in einem endlosen<br />

Reiz-Reaktions-Spiel an den Restriktionen oder Verboten<br />

entzündeten, die auch mit großer Zuverlässigkeit ausgesprochen<br />

wurden.<br />

Ein Focus der Auseinandersetzung war der Streit über das<br />

„politische Mandat“, das die zunehmend links orientierten<br />

Allgemeinen Studentenausschüsse der Universitäten für sich in<br />

Anspruch nahmen, im Paket mit Forderungen nach einer<br />

„Studienreform“, die unter der zentralen Maxime einer Öffnung und<br />

Demokratisierung der Hochschulen standen. Schließlich waren die<br />

Universitäten einmal Horte des obrigkeitsstaatlichen und<br />

reaktionären Denkens gewesen, und lange vor 1933 auch die<br />

Sturmvögel der nationalsozialistischen Machtergreifung. Wir wollten


13<br />

jetzt die Sturmvögel einer historischen Gegenbewegung sein, mit<br />

allem avantgardistischen und missionarischen Bewusstsein, das<br />

dazugehörte.<br />

Die Bilder dieser frühen Berliner Studentenproteste sind interessante<br />

Dokumente eigener Art. Der Habitus der Studenten ist noch<br />

überwiegend bürgerlich. Rollkragen oder T-Shirt unter dem Sakko<br />

waren der Inbegriff des intellektuellen Nonkonformismus, so wie das<br />

Vokabular der Parolen noch rein demokratisch und pazifistisch war.<br />

Nur wenige junge Frauen (Mädchen, sagte man damals) sind mit im<br />

Bild. Die Protestformen waren großteils den Rebellen von Berkeley<br />

entlehnt, denen sich die Studenten der von den Amerikanern<br />

gegründeten „Freien Univeristät“ besonders verbunden fühlten. Aus<br />

Diskussionsveranstaltungen wurden jetzt obligatorisch „Teach-ins“,<br />

während man sich noch ganz akademisch-korrekt mit „Kommilitone“<br />

anredete. Und das erste „Sit-in“ im Henry-Ford-Bau im April 1967 –<br />

als alle sich wie auf ein unsichtbares Signal hin auf den Boden<br />

setzten, nachdem der Rektor die Polizei gerufen hatte – könnte wohl<br />

als der Beginn der eigentlichen Studentenbewegung gelten.<br />

Und dann war da einer, der in diese Protestversammlungen einen<br />

anderen Stil und neuen Ton hineinbrachte. Er war in den Zirkeln der<br />

Berliner Linksoppositionellen kein Unbekannter, aber ein völlig<br />

Ungebundener, ohne Amt und Mandat – außer dem, das er nun als<br />

Tribun einer neuen, „anti-autoritären“ Bewegung an sich zog: Rudi<br />

Dutschke. Er war eine ungewöhnliche und ganz unrepräsentative<br />

Figur: Ein Abhauer aus der DDR und protestantischer Dissident, der<br />

das Neue Testament ebenso intensiv studiert hatte wie die Schriften<br />

von Heidegger und Sartre, von Marx und Lukács. Ein Puritaner eher<br />

als ein Hedonist, kein Angehöriger der Rock’n Roll-Generation


14<br />

jedenfalls. Die Züge eines pfingstlich durchglühten Eiferers wurden<br />

durch seine hohe, singende Stimme gemildert, die ihm doch etwas<br />

von einem sanften Rebellen verlieh, der er wohl auch war.<br />

Verglichen mit dem Gros der Bewegung, als deren Sprecher er nun<br />

die Bühne betrat, schien Dutschke ein eher unzeitgemäßer Mensch,<br />

jemand, der in der Welt der historischen sozialistischen Doktrinen<br />

(die er auf neue Weise fusionieren wollte) mehr zuhause war als in<br />

der profanen Gegenwart. Genau darin erwies er sich freilich als ein<br />

Trendsetter. Bald stürzten sich Scharen der in den Bewegungsstrom<br />

hineingerissenen Aktivisten in die Lektüre all dieser auf den<br />

Büchertischen ausgebreiteten, weithin esoterischen Schriften aus<br />

einer vergangenen Revolutionsepoche. Man suchte in ihnen so<br />

etwas wie das Bewegungsgesetz der menschlichen Geschichte oder<br />

das, was die Welt im Innersten zusammenhält.<br />

In diesem faustischen Impuls lag der Zauber dieser Lesebewegung,<br />

die irgendwann 1967 begann und mehr als ein Jahrzehnt anhielt. In<br />

ihrem Verlauf wurden heute längst unvorstellbar gewordene Mengen<br />

an Lektüren, vielfach in Form von Raubdrucken, verschlungen oder<br />

systematisch „geschult“ – ein Wort, das es bis dahin gar nicht<br />

gegeben hatte, nun aber zur selbstverständlichsten Sache der Welt<br />

wurde. In scholastischen Disputationen wurden alle Windungen und<br />

Wendungen einer jeweiligen theoretischen Argumentation<br />

ausgeleuchtet, überprüft und verglichen. Es lag in der Logik der<br />

Sache, dass man bald begann, Präferenzen zu entwickeln. So<br />

wurde man vom Radikaldemokraten und „Anti-Autoritären“ erst zum<br />

Marxisten, dann zum Leninisten, schließlich zum Trotzkisten und<br />

Maoisten oder auch zum Anarchisten, Syndikalisten usw.<br />

Diese Lektüren und Studien überschritten von vornherein alle<br />

Zwecke einer gegenwartsbezogenen Erkenntnis. Fast im Gegenteil:


15<br />

Sie kündeten von einem geschichtlichen Kontinuum, das uns<br />

frischgebackenen Revolutionäre, meist aus bürgerlichem Haus, weit<br />

realer erschien als unsere eigene, trügerische Lebenswelt. Man<br />

könnte es einen Akt historischer Rückversicherung nennen: Indem<br />

ich Marxist wurde, war ich Teil einer historischen Tendenz, die in<br />

Deutschland wie in anderen Ländern der kapitalistischen<br />

Metropolenwelt zwar Niederlagen erlitten oder faschistisch<br />

unterdrückt worden war, im sowjetischen Osten auch „bürokratisch<br />

deformiert“ erschien, aber die vor allem draußen in den Ländern der<br />

„Dritten Welt“ nun von Neuem den Vormarsch angetreten hatte.<br />

Dazwischen lag das Schlüsselereignis des 2. Juni 1967, das alle<br />

diese Themen und Motive bündelte und suggestiv miteinander<br />

verschmolz. Die Erschießung eines Studenten bei den Treibjagden<br />

der Berliner Bereitschaftspolizei auf die Demonstranten, die den<br />

Staatsbesuch des Schahs von Persien frech, fröhlich und lautstark<br />

begleitet hatten, wurde zum Erweckungserlebnis einer ganzen, sich<br />

blitzartig herausbildenden politischen Generation.<br />

Alles, was man vermutet oder schon mal verkündet hatte, schien<br />

sich plötzlich wie in einem kruden Lehrstück zu bewahrheiten. Der<br />

„Notstandsstaat“ zeigte seine faschistische Fratze. Ein keineswegs<br />

militanter Demonstrant, ein Germanist, der wie in einer zynischen<br />

Laune des Schicksals auch noch Ohnesorg hieß, war kaltblütig<br />

abgeknallt worden. Geschützt wurde so die freundschaftliche<br />

Beziehung der demokratischen Bundesrepublik zur orientalischen<br />

Ölmonarchie eines Schahs auf dem Pfauenthron, der seine erste<br />

(deutsche) Frau Soraya Jahre wegen Kinderlosigkeit verstoßen und<br />

sich eine junge Schönheit der Teheraner Aristokratie, Farah Diba,<br />

zur Zweitgattin erkoren hatte – während im Land schreiende Armut


16<br />

herrschte und ein berüchtigter Geheimdienst namens SAVAK alle<br />

Gegner drangsalierte. Dessen Agenten hatten sich als „Jubelperser“<br />

unter den Augen der Berliner Polizei als erste mit Knüppeln und<br />

Totschlägern auf die schutzlosen Demonstranten vor der Oper<br />

geworfen, bis wenig später dann die Schüsse fielen. War das die<br />

„freie Welt“, die in Vietnam wie in Berlin verteidigt wurde?<br />

Binnen Stunden und Tagen formte sich eine zuvor nur in Ansätzen,<br />

Latenzen und Stimmungen bestehende Außerparlamentarische<br />

Bewegung, deren Kern die Studenten waren und die in sehr kurzer<br />

Zeit Züge einer Fundamentalopposition annahm. Ich habe<br />

prototypisch am eigenen Leib erlebt, wie der flashartige Eindruck,<br />

dass „sie“ auf „uns“ geschossen hatten, zu dem Gefühl führte, dass<br />

nun alles glasklar geworden sei – und wie sich buchstäblich über<br />

Nacht das eigene Weltbild radikal nach links verschob. Als<br />

Wehrdienstverweigerer, der erst nach der Einziehung als<br />

Zwangsrekrut zur Bundeswehr in letzter Instanz anerkannt und ein<br />

Jahr zivilen Ersatzdienst in einer Nervenklinik geleistet hatte, war ich<br />

mit Studienbeginn in Tübingen Mitglied der Humanistischen<br />

Studenten-Union geworden.<br />

Jetzt, fast über Nacht, begannen wir eine völlig andere Sprache zu<br />

sprechen. Aus dem „Establishment“ wurden „die Herrschenden“, die<br />

früher mittels faschistischer Unterdrückung und heute hinter einer<br />

brüchigen demokratischen Fassade ihre „kapitalistische<br />

Ausbeuterordnung“ verteidigten. Die Arbeiter im eigenen Land<br />

hatten sie mittels eines „autoritären Wohlstandsstaates“ (wie Herbert<br />

Marcuse diagnostiziert hatte) stillgestellt, um sie desto reibungsloser<br />

auspressen zu können. Sie betäubten die Massen durch ihre<br />

zynische Pressepropaganda, vorneweg die Blätter aus dem Hause<br />

Springer. Sie zogen sich in universitären „Untertanenfabriken“ willige


17<br />

Funktionäre und Helfer heran. Und für den Fall, dass jemand<br />

aufmuckte, standen die neuen „NS-Gesetze“ und ihre zu jeder Untat<br />

fähigen Repressionsorgane bereit. Eben das hatten sie uns gerade<br />

eingebläut.<br />

Aber das eigentliche, globale Proletariat waren jetzt die<br />

Ausgebeuteten der „Dritten Welt“, die kolonial oder neo-kolonial<br />

Unterdrückten. Sie alle waren nach einer berühmten Schrift des<br />

algerischen Arztes Frantz Fanon die „Verdammten dieser Erde“,<br />

denen die Kolonialisten und Imperialisten neben ihrem Land und<br />

ihrem Besitz auch noch ihre Kultur, ihren Stolz und ihr<br />

Selbstbewusstsein geraubt hatten. Und wie der Philosoph Jean-Paul<br />

Sartre im Vorwort zur Schrift Fanons (die 1966 auf Deutsch<br />

erschien) geschrieben hatte, konnten sich die Kolonialsklaven nur<br />

dadurch wieder zu Menschen machen, dass sie die Kolonisatoren in<br />

einem blutigen Akt der Befreiung erschlugen – und damit auch den<br />

Sklaven in sich selbst töteten.<br />

So hatten es die Algerier gemacht, und so machten es jetzt die<br />

Vietnamesen in einer exemplarischen Befreiungsschlacht gegen die<br />

bis an die Zähne gerüstete Vormacht des Weltimperialismus, die<br />

USA. Deren einseitig und willkürlich entfesselter Aggressionskrieg<br />

(so sahen wir es, halb zu Recht und halb zu Unrecht) war auf dem<br />

besten Wege, dieses Land in eine einzige, mit Entlaubungsmitteln<br />

vergiftete, mit Napalm verbrannte Wüste zu verwandeln und (nach<br />

dem bekannten Wort eines US-Strategen) „in die Steinzeit zurück zu<br />

bombardieren“. Aber in den Höhlen und Katakomben überlebte ein<br />

mythischer „Vietcong“ und führte einen Guerillakrieg, der den<br />

überlegenen Invasoren trotz Ungleichheit der Waffen schwere<br />

Verluste zufügte und sie an den Rand des Wahnsinns trieb.


18<br />

Dieser ferne Krieg in Vietnam war allerdings auch der erste moderne<br />

Krieg, den man im gerade angebrochenen Fernsehzeitalter nun fast<br />

„live“ verfolgen konnte. Erstmals konnten Filmaufnahmen per Funk<br />

übermittelt und in allen Ländern der Welt binnen kürzester Zeit<br />

ausgestrahlt und gesehen werden. Mehr als uns bewusst war, trug<br />

dies dazu bei, den Vietnam-Krieg als eine globale<br />

Entscheidungsschlacht zu sehen, die uns suggestiv mahnte, Partei<br />

zu nehmen. Binnen kürzester Zeit änderten sich die Parolen: Aus<br />

„Friede für Vietnam“ wurde „Amis raus aus Vietnam“, dann „Waffen<br />

für den Vietcong“, und schließlich „Sieg im Volkskrieg“. Wir wollten,<br />

aus sicherer Entfernung, diesen Krieg nicht mehr beendet, sondern<br />

gewonnen sehen.<br />

Das entsprach schließlich auch der testamentarischen Botschaft, die<br />

der argentinische Weltrevolutionär Che Guevara dem in Havanna<br />

tagenden Kongress einer „Trikontinentale“ der kämpfenden Völker<br />

hatte zukommen lassen: „Schafft zwei, drei, viele Vietnams!“ Er<br />

selbst hatte währenddessen im Dschungel Boliviens diesen Kampf<br />

mit einer kleinen Schar Getreuer aufgenommen. Dass er im Oktober<br />

1967 durch von US-Beratern instruierte Rangertruppen aufgespürt<br />

und ermordet worden war, machte seinen Nimbus nur noch<br />

symbolkräftiger und strahlender. Zumal das Bildnis des<br />

aufgebahrten, den Blitzlichtern der Fotografen preisgegebenen,<br />

schönenToten in einem unglaublichen Akt ikonographischer<br />

Überhöhung denen des für die Sünden der Welt gestorbenen Jesus<br />

Christus glichen. „Che lebt!“, stand an den Wänden vieler, fast aller<br />

Universitätsviertel der Welt. Und das vom Mailänder Verleger<br />

Feltrinelli verbreitete Bildnis des Che wurde zur berühmtesten und<br />

dauerhaftesten Ikone einer unbestimmten Sehnsucht nach einer<br />

großen, alles umfassenden, revolutionären Veränderung der Welt.


19<br />

Unter der Che-Parole „Die Pflicht des Revolutionärs ist es, die<br />

Revolution zu machen“, tagte im Februar <strong>1968</strong> ein Internationaler<br />

Vietnam-Kongress in Berlin. Wir vom Tübinger Sozialistischen<br />

Deutschen Studentenbund (dem ich inzwischen beigetreten war)<br />

waren in mehreren Autos nach Berlin gefahren, voller insgeheimer<br />

Angst, in ein Frontstadt-Pogrom blutigeren Ausmaßes als am 2. Juni<br />

hineinzugeraten – nur um festzustellen, dass die Tribüne und die<br />

Straße in ungeahnter Weise uns gehörte, den jungen Rebellen.<br />

Unter den Lichtern der Weltpresse war da leibhaftig Rudi Dutschke,<br />

wie er auf der Tribüne sein Haupt zum ersten seiner Jünger, dem<br />

Chilenen Gaston Salvatore, neigte. Da war der illustre Freund Fidel<br />

Castros, Feltrinelli, der (was niemand wusste) die ganze<br />

Veranstaltung aus dem Geldkoffer finanziert und ein paar Stangen<br />

Dynamit mitgebracht hatte, um einen Anschlag gegen die<br />

Kriegsmaschine der USA zu unternehmen. Da waren berühmte<br />

Schriftsteller wie Peter Weiss und Erich Fried. Und da waren<br />

Studentenführer wie Tariq Ali aus London und Alain Krivine aus<br />

Paris. Die Franzosen waren in Samurai-artiger Lederkluft und, wie<br />

geflüstert wurde, mit Knüppeln, Helmen und authentischer<br />

Straßenkampferfahrung angereist. Von irgendwoher (manche<br />

behaupten, aus DDR-Beständen) waren plötzlich Bauarbeiter-Helme<br />

aufgetaucht, die viele Demonstranten als Ausweis ihrer<br />

„proletarischen“ Militanzbereitschaft aufsetzten. Im Foyer verkauften<br />

die Kommunarden der K1, Kunzelmann und Teufel, die mit ihren<br />

permanenten Provokationen und Happenings schon eine Art Pop-<br />

Stars der Bewegung geworden waren, ihre eigenen<br />

Flugblattsammlungen sowie das Rote Buch des Vorsitzenden Mao<br />

und die „Peking-Rundschau“.


20<br />

Aber vielleicht verwischen sich hier die Bilder mit denen späterer<br />

SDS-Kongresse. Jedenfalls war gerade für uns Provinzler ein<br />

beherrschender Eindruck all dieser Bewegungs-Events, dass wir in<br />

ein Meer der Prominenz eintauchten. „Wir“, die jungen APO-<br />

Rebellen, schmückten ja jetzt eins ums andere mal auch die<br />

Titelseiten von „Spiegel“ und „Stern“, und es hatte schon etwas<br />

Beschwörendes und zugleich Kokettes, wenn wir auf den<br />

Demonstrationen begeistert skandierten: „Wir - sind - eine - kleine -<br />

radikale - Minderheit!“<br />

Das waren wir, zweifellos, aber zugleich auch viel mehr. Wir hatten<br />

das wohlbegründete Gefühl, die Verhältnisse zum Tanzen gebracht<br />

zu haben. So zahlenmäßig klein – gemessen an den siebziger und<br />

achtziger Jahren, aber auch an entsprechenden Großaktionen der<br />

heutigen Zeit – die Demonstrationen von <strong>1968</strong> waren, so ungeheuer<br />

war die Aufregung, die sie durch ihre ständig gesteigerte verbale<br />

Radikalität und ihre provokativen Auftritte im Karpfenteich dieser auf<br />

Konsens gestimmten Republik erzeugten, bei Sozialdemokraten<br />

kaum weniger als bei den Christdemokraten und Liberalen. Und je<br />

mehr wohlmeinende Angehörige des „Establishments“, Professoren,<br />

Verleger oder Industrielle, sich um einen Dialog mit den Köpfen<br />

dieser neuen Außerparlamentarischen Opposition bemühten, umso<br />

schroffer wurden sie als „Scheißliberale“, „Pseudodemokraten“ und<br />

„Ausbeuter“ abgefertigt.<br />

Denn das große Schreckenswort neben der „Repression“ war die<br />

„Integration“. Man wollte uns wieder integrieren! Wir aber hatten zu<br />

beweisen, dass wir nicht mehr integrierbar waren. Die erste Aufgabe<br />

der Revolutionäre in den Metropolenländern wie der Bundesrepublik<br />

Deutschland sei es, „sich selbst zu revolutionieren“. Mit diesen<br />

Worten hatte Rudi Dutschke uns in seiner Abschiedsrede auf dem


21<br />

Vietnam-Kongress entlassen. Sie wirkten lange nach, in mir<br />

jedenfalls.<br />

Dieser Kongress hatte im Widerschein der Tet-Offensive<br />

stattgefunden, eines vorzeitigen Versuchs der von Nordvietnam mit<br />

regulären, modern ausgerüsteten Divisionen aufgefüllten<br />

Revolutionsstreitkräfte, der US-Armee und ihren<br />

südvietnamesischen Verbündeten eine entscheidene Niederlage<br />

beizubringen. Nur ein monströses Bombardement der vom Vietcong<br />

besetzten Städte, die unter den Augen der Weltpresse in<br />

Trümmerhaufen verwandelt wurden, verhinderte das – und brachte<br />

dem Regime Ho Chi-Minhs am Ende einen propagandistischen Sieg.<br />

Wenig später wurde in den USA der schwarze Bürgerrechtler Martin<br />

Luther King ermordet, brannten die Ghettos, rückte Nationalgarde<br />

mit aufgepflanztem Bajonett in die eigenen Großstädte ein. Die<br />

Vormacht des freien Westens lieferte nicht nur ein abstoßendes Bild,<br />

sondern sei zeigte auch Zeichen eines dramatischen Verfalls.<br />

Auf dem Gegenpol konnte man in diesem Frühjahr <strong>1968</strong> ernsthaft<br />

glauben, Teil einer globalen Aufbruchsbewegung der Jugend aller<br />

Länder zu sein. Überall, so schien es, gärte es, von den USA<br />

angefangen über halb Europa bis nach Asien und Lateinamerika.<br />

Dieser Eindruck war auch nicht völlig falsch – und doch eine<br />

Halluzination. Denn in Wirklichkeit lebten die jugendlichen Radikalen<br />

der verschiedenen Länder in vollkommen getrennten Welten. Und<br />

die entschlossenste „Solidarität“ war oft nur eine Form des<br />

offensiven Desinteresses und der praktischen Entsolidarisierung.<br />

So sympathisierten viele der jugendlichen Radikalen in der<br />

Bundesrepublik wie in anderen westlichen Ländern mit den Roten<br />

Garden der chinesischen Kulturrevolution, die – so meinte man zu


22<br />

wissen – das verknöcherte, „revisionistische“ Regime der alten<br />

Parteigarde durch einen wiiederaufgefrischten Geist der direkten,<br />

revolutionären Massendemokratie gestürzt und ersetzt hatten. Das<br />

ursprünglich für die Rekruten der Volksarmee kompilierte „Rote<br />

Buch“, ein in alle Sprachen übersetzter Katechismus aus Sprüchen<br />

Maos, avancierte zu einem hunderttausendfach vertriebenen<br />

Kultobjekt, halb modisches Gadget, halb ernsthafte<br />

Schulungsbroschüre. Mao-Buttons tauchten an tausenden Mützen<br />

und Revers auf. Und neben dem würdigen Bild von Onkel Ho,<br />

dessen Name die Springprozessionen der Antikriegsdemonstranten<br />

aller Länder beflügelte („Ho-Ho-Ho-Chi-Minh“) und der schon<br />

vertrauten Ikone von Bruder Che wurde das lächelnde Ölporträt des<br />

Vorsitzenden Mao zur Mona Lisa dieser imaginären Weltrevolution.<br />

Dabei hätten uns doch auch die wenigen, verfügbaren Bilder dieser<br />

chinesischen Kulturrevolution misstrauisch stimmen müssen, voller<br />

aufgeputscher Massen, die alle dieselben roten Büchlein<br />

schwenkten, um wie in einem Hexensabbath die „Schlangengeister<br />

und Schweinsteufel“ (in Maos blumig-mythischer Redeweise)<br />

auszutreiben. Man konnte ja durchaus ahnen oder aus verstreuten<br />

Informationen erschließen, dass es sich dabei um eine von oben<br />

orchestrierte „Spontaneität“ handelte, die in einem Kampf aller<br />

gegen alle Hunderttausenden das Leben kostete. Und die traurige<br />

Wahrheit war, dass schon mitten im Jahr <strong>1968</strong> das Gros der<br />

Rotgardisten (unsere imaginären Generationsgenossen also) in<br />

einem langen Marsch in entlegene „Kaderschulen“ abkommandiert<br />

wurden, in Wirklichkeit Zwangsarbeitslager, in denen sie oft mehr als<br />

ein Jahrzehnt voller Entbehrungen und Stumpfsinn verbrachten.<br />

Aber das alles wollten wir ja gar nicht wissen, im Gegenteil. Wir<br />

wollten uns eine Welt voller Freunde und Feinde zurechtschnitzen,


23<br />

eine weltweite Befreiungsbewegung, deren Teil wir sein würden –<br />

wir, die nach dem Wort des Che den „Kampf in der Brust der Bestie“<br />

selbst aufgenommen hatten, in den Metropolenländern des<br />

Kapitalismus und Imperialismus also.<br />

Von solchen, ebenso beklemmenden wie faszinierenden<br />

Vorstellungen, die mehr einem rasenden Existenzialismus als einem<br />

radikalen Marxismus entsprangen, waren auch diejenigen getrieben,<br />

die Anfang April <strong>1968</strong> die riskanten Parolen („burn, warehouse,<br />

burn“) der Berliner Spaßguerilla um die „Kommune 1“ in eine<br />

wirkliche herostratische Tat überführten: Sie zündeten zwei<br />

Frankfurter Kaufhäuser an. Noch war allerdings nicht zu ahnen,<br />

dass aus den beiden Hauptbrandstiftern Andreas Baader und<br />

Gudrun Ensslin zwei Jahre später das Gründungspaar eines<br />

bundesdeutschen Terrorismus werden würde. Und noch weniger<br />

hätte man ahnen können, dass auch einige der Kommunarden<br />

selbst, allen voran der Provokationsspezialist Dieter Kunzelmann<br />

und der lustige Fritz Teufel, sich kaum ein Jahr später in den<br />

bewaffneten Untergrund verabschieden würden. Noch waren wir<br />

weit entfernt von der bleiernen Zeit, mit der das „Rote Jahrzehnt“<br />

1977 in den „deutschen Herbst“ von 1977 münden würde.<br />

Vielmehr war das Doppeljahr 1967/68 bei allem apokalyptischen<br />

Wetterleuchten eher zunächst eine traumhafte Situation der<br />

Entgrenzung, ein magischer Moment des aus sich Herausgehens<br />

und Heraustretens; und darin lag der Vorschein von etwas<br />

Künftigem, Möglichem, dessen Erinnerung unverlierbar bleibt. Wir<br />

fühlten uns unmittelbar zu allen Ereignissen in der Welt, und diese<br />

waren unmittelbar zu uns. Alles ging uns an. Nicht anders verhielt es<br />

sich mit der Geschichte, die man sich als ein Kontinuum von


24<br />

revolutionären Ausbrüchen und Aufbrüchen neu erfand. Das zu<br />

Herzen gehende Lied von Sacco und Vanzetti, den (so hieß es) zu<br />

Unrecht zum Tode verurteilten Anarchisten der späten zwanziger<br />

Jahre, oder die aufwühlenden Bilder und aufrüttelnden Gesänge des<br />

spanischen Bürgerkriegs wurden in einer Intensität gehört, gesungen<br />

und betrachtet, als geschähe das alles hier und heute.<br />

<strong>1968</strong> war in Wirklichkeit schon eine post-moderne Bewegung, und<br />

ihr Subjekt eine Neue Linke, die in all ihrer auschweifenden<br />

Textversessenheit und Theoriewut vor allem in Bildern und Musiken<br />

lebte und schwelgte. Die Welt war Zeichen und Klang – ein riesiger,<br />

symphonischer Raum unterschiedlicher Sounds und Signale,<br />

Rhythmen und Gesänge, von den alten Arbeiterliedern über die<br />

Folklore aller Kontinente bis zu den Heartbeats des Rock’n Roll.<br />

Auch die Götter des Pop, die Jimi Hendrix, Janis Joplin oder Mike<br />

Jagger, traten ja jetzt im obligatorischen Gestus der Rebellen auf.<br />

The time is ripe for fighting in the street, boys, hieß es in einem Lied<br />

der Stones. Und die Bilder dieses Jahres schienen das auch wirklich<br />

zu bestätigen.<br />

Eine Jugendbewegung ist, fast naturgemäß, auch eine Sphäre<br />

entgrenzter Erotik, die aus ihrem sinnlichen Appeal lebt und sich<br />

daraus nährt – einem Appeal, von dem sich auch die lüsterngeifernde<br />

Boulevardpresse und die empörte Spießerwelt ständig ihre<br />

Scheibe abschnitt. Pfui Teufel, war das interessant, was diese Ferkel<br />

da hinter ihren kaum verhängten Fenstern trieben!<br />

In Wirklichkeit kämpfte die „sexuelle Revolution“, von der bald die<br />

Rede war, längst an zwei völlig gegensätzlichen Fronten: Auf der<br />

einen Seite gegen eine nur noch mühsam und „autoritär“ behauptete<br />

Prüderie und anachronistische Wohlanständigkeit – und auf der<br />

anderen Seite schon gegen eine durch die Medien schwappende,


25<br />

kommerzialisierte „Sexwelle“, die jedenfalls ungleich hemmungsloser<br />

war als alles, was sich genuin mit !968 verbindet.<br />

Wer die ungestylte, fast unschuldige Nacktheit der Protestanten von<br />

Woodstock mit den raffinierten Entblößungsstrategien der Werbung<br />

oder den geilen Erregungen der Boulevardpresse von damals<br />

vergleicht, ahnt in etwa, was einige Köpfe der 68er-Bewegung mit<br />

Herbert Marcuse als „repressive Entsublimierung“ anprangerten:<br />

eine Kommerzialisierung der Körper und der Sinnlichkeit, deren<br />

erstes Resultat die Abstumpfung und völlige Austauschbarkeit war.<br />

Der Tod des Eros mithin, kaum dass er sich ungeschützt gezeigt<br />

hatte.<br />

Und so gab es eine dritte, damals noch kaum bewusst registrierte<br />

Frontlinie, die von dem theoretischen Kronzeugen der „sexuellen<br />

Revolution“, dem lange verstorbenenen, kommunistischen<br />

Sexualtherapeuten Wilhelm Reich, markiert wurde. Von jedem<br />

fröhlichen Hedonismus weit entfernt, ging es in dessen Schriften um<br />

die Destruktion des eigenen bourgeoisen, autoritären, latent<br />

faschistischen „Charakterpanzers“ und um die Produktion befreiter,<br />

mit vitaler Lebensenergie aufgeladener proletarischer Kader, Männer<br />

und Frauen.<br />

Tatsächlich trugen die Experimente mit Drugs & Sex, die in den aus<br />

dem Boden schießenden Kommunen unter den Postern von Mao<br />

und Che oder auch Lenin und Stalin betrieben wurden, nicht selten<br />

Züge eines gewaltsamen Selbstexperiments. Und gerade hier, in<br />

denen Zonen der radikalsten Entbindung, gab es vielfach auch<br />

schon den Drang nach neuer Bindung: sei es in den rigoros<br />

disziplinierten marxistisch-leninistischen Parteiklonen und<br />

Kampfbünden der anbrechenden siebziger Jahre, oder eben in den<br />

entstehenden terroristischen Gruppen, die sich (wie willig oder


26<br />

unwillig auch immer) der Disziplin des Untergrunds unterwerfen<br />

mussten.<br />

Das alles waren nicht zuletzt Fluchtbewegungen aus dem sich<br />

steigernden, immer unübersichtlicheren Chaos dieses Jahres <strong>1968</strong>.<br />

Wer sich einmal zur „Bewegung“ dazuzählte, der fühlte sich in einem<br />

reißenden Strom der Ereignisse, der auf irgendeinen im Dunkeln<br />

liegenden Punkt der Entscheidung oder auch der Erfüllung<br />

hinauslief. Alles schien sich tatsächlich mit allem in der Welt zu<br />

verknüpfen.<br />

Der junge DDR-Flüchtling und Hilfsarbeiter Josef Bachmann las die<br />

Meldung über das erfolgreiche Attentat gegen den schwarzen<br />

Prediger Martin Luther King, und beschloss, diesen roten Agitator<br />

Rudi Dutschke, der bestimmt von der SED oder Stasi gesteuert war,<br />

seinerseits durch ein Attentat zu eliminieren. (Und zehn Jahre später<br />

würde Rudi Dutschke, kurz vor seinem Tod, überzeugt sein, dass es<br />

gerade die Stasi war, die ihm diesen jungen Flüchtling Bachmann<br />

auf den Hals gehetzt hatte.)<br />

Das Attentat auf Dutschke am 11. April wirkte buchstäblich wie der<br />

Funke, der einen Steppenbrand auslöste. Die spontanen Versuche<br />

tausender, vielleicht zehntausender Demonstranten, die<br />

Auslieferung der Springer-Blätter zu verhindern, sind unter der<br />

Chiffre „Osterunruhen“ in die Geschichte der Republik eingegangen<br />

und markieren darin einen bis dahin unerhörten Fall eines<br />

gewaltsamen zivilen Ungehorsams, der das vielzitierte<br />

„Establishment“ vollends aufscheuchte. Jetzt war diese linksradikale<br />

„APO“ ein politischer Faktor eigener Art geworden; und wieder hatte<br />

es Tote gegeben, diesmal in München und durch Wurfgeschosse<br />

aus den Reihen der Demonstranten. Dass auf dem rechten Flügel


27<br />

auch die NPD mit wachsendem Zulauf und hohen Wählerziffern (bis<br />

über 10%) Züge einer militanten Gegenbewegung annahm, machte<br />

das politische Tableau nur noch alarmierender. War Bonn doch<br />

Weimar?<br />

Das schien allerdings fast noch harmlos, verglichen mit dem, was<br />

sich einen Monat später in Frankreich abspielte, als<br />

Studentendemonstrationen in Paris in tagelangen<br />

Barrikadenschlachten klassischen Zuschnitts mündeten und bald<br />

darauf ein politischer Generalstreiks das ganze Land lahmlegte –<br />

wie man das seit Jahrzehnten in Europa nicht gesehen hatte. Der<br />

Staatschef General de Gaulle eilte (oder flüchtete?) zu den<br />

Fallschirmjägertruppen nach Baden-Baden, die womöglich Paris<br />

wieder einnehmen sollten. Aber der General und Vater der IV.<br />

Republik trug sich auch mit Rücktrittsgedanken. So mündete der<br />

„Pariser Mai“ in einer Staatskrise, die erst durch eine gewaltige<br />

Gegenmobilisierung der Gaullisten beendet wurde, als eine Million<br />

sich unter der Trikolore auf den Champs Elysées versammelte. Und<br />

plötzlich war alles wie ein Spuk vergangen – und doch wirklich<br />

passiert! In der historischen Erinnerung war es gerade dieser Pariser<br />

„Mai 68“ mit seinen etwas karnevalistischen Zügen eines kurzen<br />

Sommers der Anarchie, das Bild der Zeit nachträglich prägte. Wenn<br />

wir heute von „<strong>1968</strong>“ sprechen, dann bildet der Pariser Mai die<br />

geheime, stille Achse dieser Erinnerung.<br />

Als eine Achterbahn der Hochgefühle und Enttäuschungen erwies<br />

sich dieses ganze Jahr <strong>1968</strong> für alle, die sich als Teil dieser<br />

radikalen Jugendbewegung aller Länder sahen. Trotz aller Proteste,<br />

und wohl auch aus diesem Grunde, gingen die Notstandsgesetze im<br />

Mai <strong>1968</strong> mit übergroßer Mehrheit durch den Bundestag. Ein


28<br />

„Sternmarsch“ nach Bonn war bereits von einer gewissen Ermüdung<br />

gezeichnet, aber auch von der wachsenden Unvereinbarkeit der<br />

traditionellen und der neuen, „antiautoritären“ Linken. Nicht wenige<br />

APO-Aktivisten suchten jetzt verstärkt eine politische Heimat und<br />

fanden sie am Ende doch auf dem linken Flügel der SPD, vor allem<br />

bei den Jungsozialisten, oder in der neu entstehenden, wieder<br />

zugelassenen Kommunistischen Partei, die jetzt DKP hieß.<br />

Aber auch die Antiautoritären verstrickten sich in eine Diskussion<br />

über die Notwendigkeit einer revolutionären Organisation, die eine<br />

wissenschaftliche revolutionäre Theorie und ein klares Programm<br />

brauchte; und gleichzeitig in eine Diskussion über die Bereitschaft<br />

zur Anwendung revolutionärer Gewalt gegenüber einer staatlichen<br />

Repression, die sich in zehntausenden von Strafverfahren und einer<br />

demonstrativen Aufrüstung der Polizei zeigte.<br />

Die Lage schien sich weltweit zuzuspitzen. War das 1967 in<br />

Griechenland installierte Militärregime vielleicht nur die erste Etappe<br />

einer Rückkehr Westeuropas zum Faschismus? Und wie sollte man<br />

die Entwicklungen in den USA beurteilen, wo im Juni auch Robert<br />

Kennedy, der aussichtsreiche Kandidat des linken Flügels der<br />

Demokraten, durch ein Attentat starb – und wieder (angeblich) durch<br />

einen verwirrten Einzeltäter? Kein Wunder, dass der Wahlkongress<br />

der Demokraten im August von tagelangen Straßenschlachten<br />

begleitet war, denen im Oktober noch einmal die „Days of rage“ (die<br />

Tage der Wut) eines militanten Kerns von Demonstranten folgten –<br />

während der Krieg in Vietnam nach vergeblichen<br />

Friedensgesprächen immer verheerendere Ausmaße annahm und<br />

auch immer größere Opfer auf amerikanischer Seite forderte (allein<br />

im Mai <strong>1968</strong> waren es 2000 Gefallene).


29<br />

Eine eigene, faszinierende Facette dieser Bewegungen in den USA<br />

waren die Black Panther, eine bewaffnete, in schwarzes Leder<br />

gekleidete Organisation von Afro-Amerikanern, die auch innerhalb<br />

der US-Armee agitierte. Angeführt von militanten Agitatoren und<br />

Literaten wie Bobby Seale, Huy Newton und Eldrige Cleaver (dessen<br />

Autobiographie „Seele auf Eis“ auch auf Deutsch Furore machte),<br />

entwickelten sie einen Gospel der „befreienden Gewalt“, der sich mit<br />

dem verdüsterten Weltbild vieler 68er-Aktivisten in der<br />

Bundesrepublik wie in anderen Ländern verband.<br />

Als die schwarzen Sprinter und Weitspringer auf den<br />

Siegertreppchen der Olympiade von Mexico im Herbst <strong>1968</strong> die<br />

schwarze Faust mit einem Lederhandschuh reckten, wirkte das wie<br />

ein weltweites Fanal. Umso mehr, als diese Olympischen Spiele mit<br />

einem regelrechten Massaker der Armee an den protestierenden<br />

Studenten von Mexico City eröffnet worden waren – an unseren<br />

Brüdern und Schwestern, den „sisters and brothers“ also, als die die<br />

Black Panther-Prediger ihre Zuhörer ansprachen.<br />

Nicht nur dieser Gospel einer „befreienden Gewalt“ war es, der die<br />

Demonstranten bei der „Schlacht am Tegeler Weg“ im November<br />

<strong>1968</strong> in Berlin antrieb. Sondern es war auch eine fixe Idee (wie sie<br />

unter anderem der angeschossene Dutschke vom Krankenbett aus<br />

formuliert hatte): dass die Arbeiter es nicht verstünden, wenn die<br />

Studente sich wehrlos zusammenschlagen ließen, ohne<br />

zurückzuschlagen. War Gewalt also das Medium, mit dem der<br />

Brückenschlag zum mythischen Proletariat vollzogen werden<br />

konnte? Wie eine Bestätigung konnte es da erscheinen, dass sich in<br />

die Bataillen mit der Berliner Polizei jetzt zunehmend auch die<br />

„proletarische“ Vorstadtjugend mischte – und in der zitierten<br />

„Schlacht am Tegeler Weg“ wie in einer mittelalterlichen


30<br />

Sporenschlacht ein Dutzend Tschakos und Schilde auf der mit<br />

Steinen übersäten Walstatt zurückließen, von der die Polizei sich<br />

zurückgezogen hatte.<br />

In diesem scheinbar homogenen Bild dieses Jahres der Revolten lag<br />

ein politisches Ereignis quer – fast wie eine Gräte im Hals: der<br />

Einmarsch der sowjetische geführten Truppen des Warschauer<br />

Paktes in die sozialistische Tschechoslowakei am 21. August.<br />

Tatsächlich hatte es ja auch im östlichen Europa eine gärende<br />

Unruhe unter der Jugend gegeben und Ansätze einer neuen<br />

intellektuellen Opposition. In unserem übermütigen Egozentrismus<br />

hatten wir neugetauften Westlinken die (rasch niedergeschlagenen)<br />

Studentendemonstrationen in Warschau im März und den parallelen,<br />

vielversprechenden Ausbruch des „Prager Frühlings“ für mehr oder<br />

weniger gleichgerichtete Bewegungen gehalten. Und das war ja<br />

auch nicht völlig falsch. In Warschau wie in Prag oder Budapest, in<br />

Belgrad und Zabreb, und selbst in Moskau und Leningrad, war ein<br />

wiederaufgefrischter Marxismus das erste Medium einer<br />

intellektuellen Dissidenz gewesen.<br />

<strong>Mein</strong>e erste Berührung damit auf einem Studentenseminar in<br />

Bratislava Ende März <strong>1968</strong> war allerdings höchst verwirrend<br />

verlaufen. Die Mitglieder des Kommunistischen Jugendverbandes<br />

dort interessierten sich pluralistischer Weise auch für jene<br />

„bürgerlichen“ Theorien, von Popper bis Dahrendorf, die wir gerade<br />

hinter uns gelassen hatten. Entsprechend hochmütig fertigten wir sie<br />

mit Marx, Lenin und Marcuse ab. Zur gleichen Zeit war im übrigen<br />

Rudi Dutschke in Prag gewesen und hatte den neugierigen, aber<br />

dann verwirrten Studenten der Universität die Notwendigkeit des<br />

Aufbaus einer wahrhaft „revolutionären Partei“ vor Augen geführt.


31<br />

Zur Verwirrung der Fronten bei unserem Bratislavaer Seminar trug<br />

wiederum eine Delegierte der Universität Budapest bei, die sich mit<br />

uns Westlinken alliierte und, wie sich herausstellte, Mitglied eines<br />

„Vietnam-Komitees“ war, hinter dem sich eine „Gruppe<br />

revolutionärer Kommunisten“ mit maoistischen Neigungen verbarg.<br />

Maoisten aus Budapest! Das alles gab es ja durchaus.<br />

Wie so oft, gingen Eros und Verblendung auch in unserem Falle eine<br />

intime Verbindung ein. Als ich die Budapester Genossin im August<br />

<strong>1968</strong> besuchen fuhr, kreuzte die Geschichte spätnachts meinen<br />

Weg – in Gestalt riesiger sowjetischer Amphibienpanzer, die gleich<br />

links im Dunkel der Donauauen verschwanden. Am nächsten<br />

Morgen war Prag von ihnen okkupiert. Wir fuhren weiter über<br />

Belgrad nach Sofia, wo es auf den Weltjugendfestspielen zu<br />

lebhaften Scharmützeln zwischen SDS-Delegierten aus Frankfurt<br />

und der bulgarischen Polizei gekommen war. Überall auf den<br />

Campingplätzen sammelten sich die tschechoslowakischen<br />

Flüchtlinge, das Ohr am Transistor. Wir fühlten aufrichtig mit ihnen.<br />

Aber als nach ein, zwei Wochen alles vorbei war und die Bilder der<br />

Demonstranten und der Panzer in den Straßen von Prag verweht<br />

waren, schwenkten wir auf eine Linie der Interpretation ein, wie sie<br />

etwa Fidel Castro formuliert hatte: Der „Prager Frühling“ war eben<br />

doch allzu bürgerlich-reformerisch gewesen, und eben deshalb hatte<br />

es auch keinen echten, revolutionären Widerstand gegeben. Somit<br />

war die Okkupation die zwangläufige Strafe für den Liberalismus der<br />

Reformer gewesen.<br />

Auf dieser Linie bewegte sich auch eine Protestdemonstration in<br />

Westberlin, zu der – in betonter Abgrenzung zu allen „reaktionären“<br />

Solidaritätsaktionen – die linken Gruppen des AStA der Freien<br />

Universität aufgerufen hatte. Ihrem Aufruf zufolge war der


32<br />

sowjetische Einmarsch in Prag ohnehin eine abgekartete Sache mit<br />

den USA, die sich im Gegenzug noch freiere Hand in Vietnam geben<br />

ließen. Der Aufruf endete mit der Parole: „Es lebe die<br />

Weltrevolution!“ Kleiner hatten wir es nicht mehr. Und das war der<br />

große verbale Paravent, hinter dem man aus einer vermeintlichen<br />

Solidarität einen Akt der betonten Ignoranz und letztlich Indifferenz<br />

machen konnte.<br />

Von „drüben gesteuert“ war das alles gleichwohl nicht, wie einige<br />

schon damals und später immer wieder behauptet haben. So aktiv<br />

die Stasi- und SED-Kader gerade in Westberlin an der Suppe<br />

mitköchelten, so sehr diente das auch dazu, diese brodelnde<br />

Szenerie im Blick zu halten. Ein Abhauer und Schwarmgeist wie<br />

Dutschke war aus der Sicht der Ostberliner Politbürokraten<br />

brandgefährlich, so wie die Bewegung insgesamt, die er vertrat.<br />

So schwankt das Bild des Jahres <strong>1968</strong> im Magnetfeld der<br />

Widersprüche, die diese – nur scheinbar miteinander verbundenen –<br />

radikalen Jugendbewegungen geprägt haben. Und man erlebte<br />

diese Widersprüche am eigenen Leib, befand sich in einer Drift voller<br />

Strömungen und Gegenströmungen, die man selbst nicht<br />

kontrollierte, obwohl man sich doch gerade einer theoretisch<br />

vertieften „Bewusstheit“ und einer unbedingten Autonomie der<br />

eigenen Entscheidungen verschrieben hatte. Aber aus vergnügtem<br />

Hedonismus konnte in diesem Prozess – fast über Nacht –<br />

puritanischer Ernst werden, aus Egalitarismus Elitismus, aus einer<br />

antiautoritären Haltung ein neuer Autoritarismus, aus der Suche<br />

nach Individualität ein Bedürfnis nach Gemeinschaft und<br />

Einordnung, aus pazifistischem Antimilitarismus ein Kult


33<br />

revolutionärer Gewalt, aus Zärtlichkeit und Partnerschaft emotionaler<br />

Autismus und erotische Segregation.<br />

Die Anfänge der Frauenbewegung, die mit den Tomaten auf den<br />

Frankfurter SDS-Matador Hans-Jürgen Krahl begannen, waren<br />

jedenfalls zunächst einmal Sezessionen und Rückzüge aus den<br />

Zentren dieser politischen Bewegung, in denen – gerade in der<br />

informellen Offenheit aller Gremien und Meetings – sich faktisch eine<br />

machistische Hackordnung durchsetzte. So entsprang die<br />

Frauenbewegung wie viele andere Entwicklungen der siebziger<br />

Jahre, von den Bürgerinitiativen bis zur Ökologie, zwar dem Energieund<br />

Bewegungsstrom, der von <strong>1968</strong> ausging, aber gehört doch<br />

eigentlich nicht in den Kontext dieses Jahres, wie die von uns<br />

zusammengestellte „Bildspur“ deutlich zeigt. Vieles hat sich später<br />

unter der Chiffre „68“ eingeloggt, das in Wirklichkeit nicht hierhin<br />

gehört.<br />

Vieles war ja auch eine Komödie der Irrungen und Wirrungen. Als<br />

die Studentenbewegung an ihre Schranken stieß, wurde der Drang,<br />

in die „proletarischen“ Wohnviertel und Fabriken zu ziehen,<br />

übermächtig. Die „Wilden Streiks“ im September 1969 schienen<br />

Anlass zu den wildesten Hoffnungen zu bieten; und tatsächlich trat<br />

auch eine junge Generation aktiver Streikführer und Gewerkschafter<br />

auf den Plan. Aber es waren eben doch Streiks und Kämpfe, die sich<br />

im Kern darum drehten, in Zeiten der Hochkonjunktur einen<br />

ordentlichen „Schluck aus der Pulle“ zu nehmen. Überhaupt<br />

orientierten wir uns aus der Logik unseres radikalen Antikapitalismus<br />

heraus auf ein historisches Subjekt, eine Arbeiterbewegung, die<br />

tatsächlich als gesellschaftliche Größe schmolz und fast schon in<br />

Abwicklung war.


34<br />

Ähnlich verhielt es sich mit dem gerade erst entdeckten, neuen<br />

Subjekt der „Dritten Welt“. Der halluzinatorische Moment dieses<br />

Jahres <strong>1968</strong>, als alle Weltereignisse plötzlich einen Kontext zu<br />

bilden und eine geschichtliche Strömung zu ergeben schienen, war<br />

schon verflogen, bevor man ihn so recht zu fassen bekommen hatte.<br />

Am Ussuri standen sich sowjetische und chinesische Truppen<br />

gegenüber, um Grenzkämpfe ältesten Stils auszukämpfen. Wenig<br />

später stürzte der „kleine General“ der Kulturrevolution und<br />

designierte Mao-Nachfolger Lin Piao bei der Flucht in die Mongolei<br />

ab und galt plötzlich als „Faschist“. Im Jahr darauf toastete Nixon in<br />

Peking Tschou En-lai zu. Verschiedene Befreiungsbewegungen<br />

zeigten ihre düsteren und chauvinistischen Seiten. Die<br />

Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) glitt sehr schnell in<br />

blanken Terrorismus ab; und die lateinamerikanischen<br />

Stadtguerilleros konnten zwar spektakuläre Aktionen machen, die für<br />

die Militärdiktatoren des Kontinents aber eher ein willkommener<br />

Vorwand waren als eine ernsthafte Bedrohung.<br />

Aber auch die politischen, technischen und ökonomischen<br />

Entwicklungen überholten uns eins ums andere mal, während wir<br />

uns doch per Definition an der Spitze des Fortschritts sahen. Der<br />

beispiellose sozialökonomische Entwicklungszyklus der<br />

Nachkriegsperiode hielt an, statt in die immer progrnostizierte,<br />

fundamentale Krise zu münden. Der erste Mensch landete auf dem<br />

Mond. Und statt des massiven Rechtsrutsches in Richtung Franz<br />

Josef Strauß, den alle Welt erwartete, war es stattdessen die SPD<br />

Willy Brandts und eine runderneuerte FDP, die die Wahlen<br />

gewannen und durch eine sozialliberale Koalition die scheinbar<br />

„ewige“ Ära christdemokratisch geführter Regierungen beendeten.


35<br />

Nicht nur diejenigen, die im Winter 1969/70 den Gang in einen<br />

bewaffneten Untergrund antraten, begaben sich damit ins Abseits.<br />

Viele andere 68er-Aktivisten (darunter der Autor dieser Zeilen) und<br />

zehntausende Jüngerer, die zum großen Fest der Bewegung von<br />

<strong>1968</strong> zu spät gekommen und umso radikaler waren, taten es auf<br />

andere, weniger gravierende Weise, indem sie sich ein ganzes<br />

„rotes Jahrzehnt“ lang in eine brodelnde Szenerie linksradikaler und<br />

neokommunistischer Gruppen einkapselten. Der<br />

„Erfahrungshunger“, den Michael Rutschky einmal als<br />

Charakteristikum der siebziger Jahre beschrieben hat, blieb über<br />

weite Strecken selektiv und ließe sich ebenso auch als<br />

Erfahrungsverweigerung beschreiben.<br />

Nichts lässt sich auf einen Nenner bringen. Und insofern ist es auch<br />

völlig sinnlos und verfehlt, von heute aus „für“ oder „gegen“ <strong>1968</strong> zu<br />

optieren. Alles war, wie es war – so vieldeutig nämlich, wie es solche<br />

historischen Kulminationspunkte nun einmal sind.

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