Mein 1968 - Gerd Koenen
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wissen – das verknöcherte, „revisionistische“ Regime der alten<br />
Parteigarde durch einen wiiederaufgefrischten Geist der direkten,<br />
revolutionären Massendemokratie gestürzt und ersetzt hatten. Das<br />
ursprünglich für die Rekruten der Volksarmee kompilierte „Rote<br />
Buch“, ein in alle Sprachen übersetzter Katechismus aus Sprüchen<br />
Maos, avancierte zu einem hunderttausendfach vertriebenen<br />
Kultobjekt, halb modisches Gadget, halb ernsthafte<br />
Schulungsbroschüre. Mao-Buttons tauchten an tausenden Mützen<br />
und Revers auf. Und neben dem würdigen Bild von Onkel Ho,<br />
dessen Name die Springprozessionen der Antikriegsdemonstranten<br />
aller Länder beflügelte („Ho-Ho-Ho-Chi-Minh“) und der schon<br />
vertrauten Ikone von Bruder Che wurde das lächelnde Ölporträt des<br />
Vorsitzenden Mao zur Mona Lisa dieser imaginären Weltrevolution.<br />
Dabei hätten uns doch auch die wenigen, verfügbaren Bilder dieser<br />
chinesischen Kulturrevolution misstrauisch stimmen müssen, voller<br />
aufgeputscher Massen, die alle dieselben roten Büchlein<br />
schwenkten, um wie in einem Hexensabbath die „Schlangengeister<br />
und Schweinsteufel“ (in Maos blumig-mythischer Redeweise)<br />
auszutreiben. Man konnte ja durchaus ahnen oder aus verstreuten<br />
Informationen erschließen, dass es sich dabei um eine von oben<br />
orchestrierte „Spontaneität“ handelte, die in einem Kampf aller<br />
gegen alle Hunderttausenden das Leben kostete. Und die traurige<br />
Wahrheit war, dass schon mitten im Jahr <strong>1968</strong> das Gros der<br />
Rotgardisten (unsere imaginären Generationsgenossen also) in<br />
einem langen Marsch in entlegene „Kaderschulen“ abkommandiert<br />
wurden, in Wirklichkeit Zwangsarbeitslager, in denen sie oft mehr als<br />
ein Jahrzehnt voller Entbehrungen und Stumpfsinn verbrachten.<br />
Aber das alles wollten wir ja gar nicht wissen, im Gegenteil. Wir<br />
wollten uns eine Welt voller Freunde und Feinde zurechtschnitzen,