Mein 1968 - Gerd Koenen

11
Allerdings braute sich Mitte der sechziger Jahre in Westberlin etwas
zusammen, das zumindest die Frontstadtpolitiker zu beschäftigen
begann, zu denen auch der sozialdemokratische Bürgermeister und
Kanzlerkandidat Willy Brandt gehörte. Ein „Wahlkontor“ prominenter
Autoren, vorwiegend aus Berlin, hatte 1965 seine Kanzlerkandidatur
unterstützt. Umso größer war die Enttäuschung, als der ehemalige
sozialistische Emigrant Brandt im Herbst 1966 als Vizekanzler in
eine Große Koalition unter der Kanzlerschaft des Christdemokraten
Kurt Georg Kiesinger eintrat, eines liberalkonservativen
Württembergers, von dem bekannt war, dass er langjähriges
NSDAP-Mitglied gewesen war. Als Beate Klarsfeld (die deutsche
Frau eines Sohnes jüdischer Deportierter) ihn 1969 ohrfeigte, war
das von fast peinlich überdeutlicher Symbolik.
Zu den zentralen Vorhaben der Großen Koalition gehörte die
Verabschiedung einer Notstands-Verfassung, die die Ablösung der
„alliierten Vorbehaltsrechte“ im Krisenfall bringen sollte und als
entscheidender Schritt auf dem Weg zur vollen Souveränität der
Bundesrepublik galt. Dieses Paket von Gesetzen, die in der
entstehenden Außerparlamentarischen Opposition bald nur noch als
„NS-Gesetze“ firmierten, wurde zu einem weiteren
Kristallisationspunkt aller Vorbehalte gegen die eigene Gesellschaft.
In Westberlin nahm diese, vorwiegend intellektuell geprägte
Protestbewegung erstmals die Züge einer Studentenbewegung an,
deren Stoßrichtung sich im Zeichen des immer weiter eskalierenden
Vietnamkriegs zunehmend auch gegen die USA als die Vormacht
der bundesdeutschen Nachkriegsrepublik und Schutzmacht von
Westberlin richtete. Dabei hatte dieser Protest seine eigene
Mechanik der Eskalation. Ein früher Wachruf war die Empörung,
welche sich im Februar 1966 über ein Häuflein von Vietnam-