Mein 1968 - Gerd Koenen
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Erziehern geführt, die das sicher auch in der Nazizeit getan hatten!<br />
Und so weiter und so fort.<br />
Alles richtig. Nur waren das ganz einfach die juristischen und<br />
kulturellen Standards dieser Zeit, wie sie in sämtlichen<br />
vergleichbaren Ländern herrschten. In der Kritik, die sich vor und<br />
nach <strong>1968</strong> in der Bundesrepublik daran entzündete, wurden diese<br />
überkommenen Moral- und Rechtsnormen aber zwangsläufig in das<br />
Gewitterlicht einer vom Nazismus durch und durch kontaminierten<br />
Gesellschaft gestellt – obwohl sie eher in Weimarer oder<br />
Wilhelminische Zeiten zurückreichten; und obwohl ihre Übernahme<br />
in den Rechtskanon der Bundesrepublik aus dem konservativen<br />
Impuls der Verfassungsgeber gespeist war, die nationalsozialistische<br />
„Entsittlichung“ des Familien- und Alltagslebens und die<br />
„Verwahrlosung“ einer vielfach vaterlos aufgewachsenen Jugend<br />
durch Krieg und Nachkriegszeit wieder in den Griff zu bekommen.<br />
Kurzum, vieles, was eher zum spießerhaften und kleinkarierten<br />
Zuschnitt der bundesdeutschen Nachkriegsrepublik zu rechnen war,<br />
verfiel einer fundamentalen Kritik, die (auch) aus dem Narzissmus<br />
des eigenen Oppositionsgestus lebte. Als der Dramatiker Rolf<br />
Hochhuth 1965 im „Spiegel“ erklärte, die vom Adenauer-Nachfolger<br />
und Kurzzeit-Kanzler Ludwig Erhard propagierte<br />
„Sozialpartnerschaft“ sei nichts als ein Schirm, hinter dem „die<br />
reichen Asozialen die totale Machtergreifung vollziehen“, antwortete<br />
der Vater des Wirtschaftswunders auf dem CDU-Wirtschaftstag<br />
gereizt: „Da hört bei mir der Dichter auf, da fängt der ganz kleine<br />
Pinscher an.“ Eine Äußerung, die einen Sturm der Empörung erntete<br />
und reflexhaft Assoziationen an die Bücherverbrennung von 1933<br />
weckte – wofür Hochhuth mit seinem Wort von der „totalen<br />
Machtergreifung“ natürlich die Vorlage geliefert hatte.