Mein 1968 - Gerd Koenen
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„totalitären“ Osten stand, und strebte eifrig neuen Ufern zu. Der<br />
Versuch der Regierung Adenauer, 1958 durch eine generelle<br />
Verjährung aller nicht geahndeten NS-Verbrechen einen<br />
Schlussstrich zu ziehen, scheiterte allerdings nach einem Aufschrei<br />
der Empörung sowohl unter den ehemaligen Kriegsgegnern wie im<br />
eigenen Land.<br />
Stattdessen wurde die Aufarbeitung des Nationalsozialismus zu<br />
einem zentralen, nicht mehr zu verdrängenden Thema der<br />
bundesdeutschen Öffentlichkeit. Aktive Staatsanwälte wie Fritz<br />
Bauer in Hessen eröffneten eine Reihe neuer NS-Verfahren, unter<br />
denen der Frankfurter Auschwitzprozess von 1963-65 herausragte.<br />
Ihm vorangegangen war mit einem weltweiten medialen Echo der<br />
Prozess in Jerusalem gegen den SS-Obersturmbannführer Adolf<br />
Eichmann, den Organisator der Vernichtungstransporte. Hannah<br />
Arendts auf die jämmerliche Figur und Selbstverteidigung<br />
Eichmanns gemünztes Wort von der „Banalität des Bösen“<br />
inspirierte mich damals zu einer Abitursrede, in der ich einem<br />
konsternierten Auditorium eröffnete, dass gerade die braven,<br />
unauffälligen Bürger und Dackelführer „unter uns“ ebenso gut<br />
bürokratische Exekutoren eines Massenmordes gewesen oder<br />
jederzeit wieder sein könnten.<br />
Damit meinte ich natürlich „sie“, die Angehörigen der<br />
Kriegsgeneration, der gegenüber „wir“ als junge Nachkriegsdeutsche<br />
uns in einer unüberbrückbaren, abstrakten Kluft zu sehen begannen.<br />
Das war unabhängig von allen guten oder schlechten Erfahrungen<br />
mit den eigenen Eltern oder im Alltag. Auch wenn es sie natürlich<br />
noch gab: die Sportlehrer, die uns „zäh wie Leder, flink wie<br />
Windhunde und hart wie Kruppstahl“ sehen wollten, oder die