Mein 1968 - Gerd Koenen
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sowjetische Einmarsch in Prag ohnehin eine abgekartete Sache mit<br />
den USA, die sich im Gegenzug noch freiere Hand in Vietnam geben<br />
ließen. Der Aufruf endete mit der Parole: „Es lebe die<br />
Weltrevolution!“ Kleiner hatten wir es nicht mehr. Und das war der<br />
große verbale Paravent, hinter dem man aus einer vermeintlichen<br />
Solidarität einen Akt der betonten Ignoranz und letztlich Indifferenz<br />
machen konnte.<br />
Von „drüben gesteuert“ war das alles gleichwohl nicht, wie einige<br />
schon damals und später immer wieder behauptet haben. So aktiv<br />
die Stasi- und SED-Kader gerade in Westberlin an der Suppe<br />
mitköchelten, so sehr diente das auch dazu, diese brodelnde<br />
Szenerie im Blick zu halten. Ein Abhauer und Schwarmgeist wie<br />
Dutschke war aus der Sicht der Ostberliner Politbürokraten<br />
brandgefährlich, so wie die Bewegung insgesamt, die er vertrat.<br />
So schwankt das Bild des Jahres <strong>1968</strong> im Magnetfeld der<br />
Widersprüche, die diese – nur scheinbar miteinander verbundenen –<br />
radikalen Jugendbewegungen geprägt haben. Und man erlebte<br />
diese Widersprüche am eigenen Leib, befand sich in einer Drift voller<br />
Strömungen und Gegenströmungen, die man selbst nicht<br />
kontrollierte, obwohl man sich doch gerade einer theoretisch<br />
vertieften „Bewusstheit“ und einer unbedingten Autonomie der<br />
eigenen Entscheidungen verschrieben hatte. Aber aus vergnügtem<br />
Hedonismus konnte in diesem Prozess – fast über Nacht –<br />
puritanischer Ernst werden, aus Egalitarismus Elitismus, aus einer<br />
antiautoritären Haltung ein neuer Autoritarismus, aus der Suche<br />
nach Individualität ein Bedürfnis nach Gemeinschaft und<br />
Einordnung, aus pazifistischem Antimilitarismus ein Kult