Mein 1968 - Gerd Koenen
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Überhaupt waren Sprache, Stil und Sound des jugendlichen<br />
Nonkonformismus in diesen Jahren noch überwiegend der<br />
amerikanischen Folk-, Rock- und Popkultur entlehnt, die mit Macht in<br />
die künstlich heile Welt der Gründerväter der Europäischen Einigung<br />
mit ihrer christlich-konservativen Abendländerei eingebrochen war.<br />
Die Konzerte von Elvis Presley und Bill Healey, und wenig später die<br />
der Beatles oder Stones, wurden in Deutschland wie überall zum<br />
Fokus einer hedonistisch-widerborstigen Jugendszene mit<br />
Röhrenhosen und Elvistolle, Parka und Pilzkopf, in die sich (auch<br />
das ein Novum) die jungen Mädchen mit hochgetürmten Haaren und<br />
Pettycoats oder kurzgeschnittenen Ponies und Hosen in<br />
„entfesselter“ Weise hineinmischten. Von einer „Verwahrlosung“ der<br />
Jugend war in den besorgten Erklärungen konservativer<br />
Familienminister und Medien jetzt dauernd die Rede, obwohl bis auf<br />
ein paar frühe „Gammler“, Tramps oder Beatniks die meisten noch<br />
ganz brav ihren Weg in Ausbildung und Beruf gingen.<br />
Diese aufgestauten lebenskulturellen Konflikte kulminierten in der<br />
Bundesrepublik in den „Schwabinger Krawallen“ vom Sommer 1962,<br />
als Hundertschaften der Polizei eine Woche lang mit gezogenem<br />
Knüppel auf Scharen jugendlicher Nachtschwärmer losgingen, die<br />
als „halbstarke Randalierer“ oder „Rowdys“ beschimpft wurden. Zwei<br />
Dinge heizten die Szenerie zusätzlich auf: Eine neue Boulevard-<br />
Presse, damals eher noch lokal orientiert, ergötzte sich mit<br />
heuchlerischer Empörung an diesen Jagdszenen, so wie es BILD<br />
1967/68 in Westberlin tun würde. Nur dass diese Stimmungsmache<br />
zur allgemeinen Verblüffung den umgekehrten Effekt hatte: Die<br />
Schwabinger standen angesichts der physischen und verbalen<br />
Knüppelorgien bald eher auf der Seite der Jugendlichen.