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Genetische Diagnostik bei Entwicklungsstörungen und seltenen ...

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Fortbildung | „Artikel des Monats“<br />

<strong>Genetische</strong> <strong>Diagnostik</strong> <strong>bei</strong><br />

<strong>Entwicklungsstörungen</strong> <strong>und</strong> <strong>seltenen</strong><br />

syndromalen Erkrankungen<br />

Birgit Zirn | Abt. Pädiatrie II mit Schwerpunkt Neuropädiatrie, Universitätsmedizin Göttingen<br />

Einleitung<br />

Etwa 2 – 3 % aller Kinder sind von einer<br />

Entwicklungsstörung oder geistigen Behinderung<br />

betroffen [5]. Liegen zusätzlich<br />

körperliche Auffälligkeiten (z. B. faziale<br />

Dysmorphien) <strong>und</strong> Fehlbildungen<br />

(z. B. Herzfehler) vor, so spricht man von<br />

Dysmorphie- bzw. Fehlbildungs-Syndromen.<br />

<strong>Entwicklungsstörungen</strong>, geistige Behinderung<br />

<strong>und</strong> syndromale Erkrankungen<br />

können genetische Ursachen (Chromosomen-<br />

oder Genmutationen) haben<br />

oder nicht genetisch (z. B. mütterliche Infektionen,<br />

Medikamenteneinnahme oder<br />

Drogenkonsum während der Schwangerschaft)<br />

bedingt sein.<br />

Der Anteil genetischer Ursachen wird<br />

auf über 50 % geschätzt. Aufgr<strong>und</strong> der rasanten<br />

Entwicklung neuer genetischer Diagnoseverfahren<br />

kann mittlerweile <strong>bei</strong> einem<br />

wachsenden Anteil betroffener Kinder<br />

eine ursächliche genetische Mutation nachgewiesen<br />

werden. In diesem Fortbildungsartikel<br />

sollen die wichtigsten genetischen<br />

Untersuchungsmethoden anhand von klinischen<br />

Beispielen vorgestellt werden.<br />

Allgemeines Vorgehen in der<br />

klinisch-genetischen Abklärung<br />

Bei jedem Kind mit einer unklaren Entwicklungsstörung<br />

oder einer geistigen Behinderung<br />

muss zunächst eine sorgfältige<br />

klinische Untersuchung erfolgen. Hier<strong>bei</strong><br />

wird nach wegweisenden Dysmorphien<br />

oder Fehlbildungen gesucht, die die Zuordnung<br />

zu einem übergeordneten Dysmorphie-<br />

oder Fehlbildungs-Syndrom erlauben<br />

(vgl. „Der diagnostische Blick“).<br />

Liegt eine spezifische klinische Verdachtsdiagnose<br />

mit bekannter genetischer<br />

Ursache vor, dann kann eine gezielte genetische<br />

Untersuchung veranlasst werden.<br />

Hierzu zählen die konventionelle Chromosomenanalyse,<br />

die Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung<br />

(FISH) sowie die Genanalyse<br />

(Abb. 1, „oberer Weg“).<br />

Oftmals kann das klinische Erscheinungsbild<br />

(Phänotyp) jedoch keinem bestimmten<br />

Syndrom zugeordnet werden.<br />

In diesem Fall kommen genetische Screening-Verfahren<br />

zum Einsatz, um nach einem<br />

kausalen Genotyp, also einer ursächlichen<br />

Gen- oder Chromosomenveränderung,<br />

zu suchen (Abb. 1, „unterer Weg“).<br />

Das derzeit meist angewendete Screening-<br />

Verfahren ist die Array-CGH („hochauflösende<br />

Chromosomenanalyse“). Als Revolution<br />

in der genetischen <strong>Diagnostik</strong> ist<br />

zudem die Hochdurchsatz-Sequenzierung<br />

zu bewerten, die bereits zur Aufdeckung<br />

Welche Vorteile hat eine genetische Ursachenklärung für das Kind <strong>und</strong> seine<br />

Familie?<br />

◾◾<br />

Die Eltern können bezüglich der Prognose, der Therapie- <strong>und</strong> Fördermöglichkeiten<br />

der Erkrankung genauer beraten werden.<br />

◾◾<br />

Aus manchen genetischen Bef<strong>und</strong>en ergibt sich ein spezifisches Präventionsprogramm,<br />

z. B. werden <strong>bei</strong>m Beckwith-Wiedemann-Syndrom Vorsorgeuntersuchungen<br />

aufgr<strong>und</strong> des erhöhten Risikos für das Auftreten eines Wilms-Tumors<br />

(Nephroblastom) durchgeführt.<br />

◾◾<br />

Dem Kind werden weitere, zum Teil invasive Untersuchungen zur Diagnosefindung<br />

erspart.<br />

◾◾<br />

Die Familien können bezüglich eines etwaigen Wiederholungsrisikos für dieselbe<br />

syndromale Erkrankung <strong>bei</strong> weiteren Kindern genetisch beraten werden,<br />

<strong>und</strong> es kann ggf. eine gezielte Pränataldiagnostik in weiteren Schwangerschaften<br />

angeboten werden. Bei neu aufgetretenen (de novo) Mutationen ist das<br />

Wiederholungsrisiko für dieselbe Erkrankung <strong>bei</strong> weiteren Kindern eines Paares<br />

meist sehr gering.<br />

◾◾<br />

Die genetische Diagnosesicherung bedeutet für viele Eltern eine große Entlastung.<br />

Die Entwicklungsstörung oder syndromale Erkrankung hat dann „einen<br />

Namen“ <strong>und</strong> somit eine klare Ursache, die gegenüber weiteren Familienangehörigen,<br />

Erziehern, Lehrern <strong>und</strong> Krankenkassen benannt werden kann.<br />

◾◾<br />

Eltern <strong>und</strong> betroffene Kinder können sich Selbsthilfegruppen anschließen.<br />

272<br />

Kinderärztliche Praxis 83, 272 – 278 (2012) Nr. 5 www.kinderaerztliche-praxis.de


Fortbildung | „Artikel des Monats“<br />

Abb. 1: „Vom Phänotyp zum Genotyp <strong>und</strong> zurück“ – Vorgehen <strong>bei</strong> der genetischen <strong>Diagnostik</strong>. Bei klinischem Verdacht auf eine spezifische<br />

syndromale Erkrankung kann eine gezielte genetische Untersuchung veranlasst werden („oberer Weg“). Liegt eine Entwicklungsstörung<br />

oder geistige Behinderung mit unspezifischem Phänotyp vor, dann kommen genetische Screening-Verfahren zum Einsatz („unterer<br />

Weg“). Die Interpretation der Ergebnisse von Screening-Verfahren bedeutet eine besondere Herausforderung. Da<strong>bei</strong> muss unter<br />

Einsatz von Datenbanken geklärt werden, ob ein aufgef<strong>und</strong>ener Genotyp (Veränderung der Chromosomen oder Gene) kausal für den<br />

Phänotyp ist oder eine (familiäre) Normvariante darstellt. Dieses Vorgehen, zunächst den Genotyp zu erfassen <strong>und</strong> anschließend seine<br />

Pathogenität für den vorliegenden Phänotyp zu bewerten, wird als „Reverse Genetik“ bezeichnet.<br />

vieler neuer Krankheitsgene <strong>bei</strong> bislang<br />

ausschließlich klinisch definierten Phänotypen<br />

geführt hat.<br />

Chromosomenanalyse <strong>und</strong> Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung<br />

(FISH)<br />

Die Chromosomenanalyse war die erste<br />

Methode, die die ätiologische Abklärung<br />

syndromaler Erkrankungen erlaubte.<br />

1959 wurde die Trisomie 21 als ursächliche<br />

Chromosomenstörung des Down-<br />

Syndroms entdeckt. Kurze Zeit später wurden<br />

die Trisomie 18 <strong>bei</strong>m Edwards-Syndrom<br />

sowie die Trisomie 13 als Ursache<br />

des Pätau-Syndroms beschrieben. Zudem<br />

wurden Veränderungen der Geschlechtschromosomen<br />

<strong>bei</strong>m Turner-Syndrom<br />

(45,X) <strong>und</strong> <strong>bei</strong>m Klinefelter-Syndrom<br />

(47,XXY) entdeckt (Überblick in [8]). Mit<br />

der Entwicklung der Bandentechnik in<br />

der Chromosomenanalyse konnten ab den<br />

1970er Jahren zudem strukturelle Chromosomenstörungen<br />

erfasst werden. Heute<br />

kommt die Chromosomenanalyse vor<br />

allem zur genetischen Bestätigung dieser<br />

„klassischen“ Chromosomen-Syndrome<br />

zum Einsatz.<br />

Die meisten Chromosomenstörungen<br />

treten infolge von Chromosomenfehlverteilungen<br />

neu <strong>bei</strong>m Kind auf <strong>und</strong> gehen<br />

mit einer sehr niedrigen Wiederholungswahrscheinlichkeit<br />

einher. Bei Trisomien<br />

handelt es sich meist um sog. freie Trisomien<br />

mit einem zusätzlich („frei“) vorliegenden<br />

Chromosom <strong>bei</strong>m betroffenen Kind.<br />

Die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten<br />

von freien Trisomien <strong>und</strong> vom Klinefelter-<br />

Syndrom (47,XXY) nimmt mit dem mütterlichen<br />

Alter zu. Beispielsweise hat eine<br />

28-jährige Frau eine 0,1 %ige Wahrscheinlichkeit,<br />

dass <strong>bei</strong>m Kind eine freie Trisomie<br />

21 <strong>und</strong> somit ein Down-Syndrom auftritt;<br />

<strong>bei</strong> einer 40-jährigen Frau liegt diese<br />

Wahrscheinlichkeit <strong>bei</strong> 1 %.<br />

Als Ursache von Trisomien können<br />

jedoch auch Translokationen (Chromosomenumlagerungen)<br />

in der Chromosomenanalyse<br />

festgestellt werden, die sich<br />

phänotypisch nicht von freien Trisomien<br />

unterscheiden. Translokations-Trisomien<br />

können durch ein ges<strong>und</strong>es Elternteil<br />

vererbt werden, so dass ein erheblich erhöhtes<br />

Wiederholungsrisiko (bis 100 % im<br />

Falle eines Isochromosoms 21 <strong>bei</strong> einem<br />

Elternteil) für eine Trisomie <strong>bei</strong> weiteren<br />

Kindern eines Paares bestehen kann. Die<br />

Chromosomenanalyse ist demnach nicht<br />

nur zur Bestätigung der klinischen Diagnose,<br />

sondern auch zur Abschätzung des<br />

Wiederholungsrisikos für dieselbe syndro-<br />

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Fortbildung | „Artikel des Monats“<br />

Abb. 2: Fazialer Phänotyp des DiGeorge-Syndroms <strong>und</strong> Nachweis<br />

der ursächlichen Mikrodeletion 22q11 in der FISH (= Fluoreszenzin-situ-Hybridisierung)-Analyse.<br />

Die Chromosomen erscheinen<br />

unter dem Fluoreszenzmikroskop hellblau. Die rote Farbsonde<br />

bindet an die Chromosomenregion 22q11 (rotes Signal), die grüne<br />

Farbsonde bindet an eine Kontrollregion auf demselben Chromosom<br />

(grünes Signal). Auf dem unteren der <strong>bei</strong>den Chromosomen<br />

22 bindet ausschließlich die grüne Kontrollsonde. Es liegt ein<br />

Chromosomenstückverlust (Mikrodeletion) des Bereichs 22q11<br />

vor, so dass die rote Farbsonde nicht binden kann (FISH-Abbildung<br />

modifiziert nach [9]). Bei ges<strong>und</strong>en Personen würden sich<br />

2 rote <strong>und</strong> 2 grüne Farbsignale auf den <strong>bei</strong>den Chromosomen 22<br />

finden. Eine Mikrodeletion 22q11 kann zudem über eine Array-<br />

CGH erfasst werden.<br />

male Erkrankung <strong>bei</strong> weiteren Kindern eines<br />

Paares <strong>und</strong> anderer Familienmitglieder<br />

von entscheidender Bedeutung!<br />

Ein weiterer Meilenstein in der genetischen<br />

<strong>Diagnostik</strong> war die Einführung<br />

der Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung<br />

(FISH) zum Nachweis kleinerer Chromosomenstückverluste<br />

(Mikrodeletionen).<br />

Solche Mikrodeletionen können zum<br />

Auftreten klinisch abgrenzbarer Syndrome<br />

führen, zum Beispiel:<br />

◾◾<br />

Mikrodeletion 22q11.2: DiGeorge- bzw.<br />

velokardiofaziales Syndrom (Abb. 2;<br />

Herzfehler, v. a. unterbrochener Aortenbogen,<br />

Thymushypoplasie, Hypoparathyreoidismus,<br />

faziale Dysmorphien,<br />

Gaumenspalte, psychomotorische Entwicklungsverzögerung)<br />

◾◾<br />

Mikrodeletion 17q12: Smith-Magenis-<br />

Syndrom (Wachstums- <strong>und</strong> Entwicklungsstörung,<br />

Schlafstörung, Herzfehler,<br />

Strabismus, Brachydaktylie, faziale<br />

Dysmorphien)<br />

◾◾<br />

Mikrodeletion 7q11.23: Williams-Beuren-<br />

Syndrom (Abb. 3; Herzfehler, v. a. Aorten-<br />

<strong>und</strong> Pulmonalstenosen, Kleinwuchs,<br />

Hyperkalziämie in den ersten Lebensjahren,<br />

gute Sprachentwicklung, kontaktfreudige<br />

Persönlichkeit, Lernbehinderung<br />

oder geistige Behinderung, typische<br />

faziale Dysmorphien).<br />

Ergibt sich klinisch der Verdacht auf ein<br />

solches Mikrodeletions-Syndrom, dann<br />

kann eine gezielte FISH-Untersuchung<br />

veranlasst werden (vgl. Abb. 2). Da Mikrodeletionen<br />

meist 1 – 5 Megabasen umfassen,<br />

sind sie in der konventionellen Chromosomenanalyse<br />

mit einer maximalen<br />

Auflösung von 5 – 10 Megabasen nicht<br />

sichtbar! Mikrodeletions-Syndrome werden<br />

auch durch die Array-CGH erfasst<br />

(s. u.).<br />

Genanalysen<br />

1854 begann der Mönch Gregor Mendel in<br />

seinem Klostergarten die Vererbung von<br />

Merkmalen <strong>bei</strong> Erbsen zu untersuchen. Bei<br />

seinen Kreuzungsversuchen beschrieb er,<br />

dass Merkmale unabhängig voneinander<br />

vererbt werden können <strong>und</strong> sich in dominante<br />

<strong>und</strong> rezessive Merkmale unterschieden<br />

lassen. Er legte somit die Gr<strong>und</strong>lage<br />

für die Beschreibung der „mendelschen<br />

Erbgänge“ (autosomal-dominante, autosomal-rezessive<br />

sowie X-chromosomale<br />

Vererbung) <strong>und</strong> unterschied erstmals zwischen<br />

Phänotyp (Erscheinungsbild) <strong>und</strong><br />

Genotyp (Erbbild). Mittlerweile ist bekannt,<br />

dass das menschliche Genom etwa<br />

22.500 Gene umfasst. Für über die Hälfte<br />

dieser Gene ist bereits ein entsprechender<br />

Phänotyp, d. h. eine Erkrankung oder ein<br />

Syndrom, beschrieben. Eine Zusammenstellung<br />

aller Gene mit bekanntem mendelschem<br />

Erbgang <strong>und</strong> entsprechendem<br />

Abb. 3: Fazialer Phänotyp des Williams-<br />

Beuren-Syndroms. Typisch sind die faziale<br />

Hypotonie, die kurze Nase mit den ausladenden<br />

Nasenflügeln sowie den nach<br />

vorne gerichteten Nasenlöchern, das lange<br />

Philtrum mit deutlich reduzierter Modellierung,<br />

die vollen Lippen, die kleinen<br />

Zähne <strong>und</strong> das kleine Kinn. Zudem sind<br />

die für das Williams-Beuren-Syndrom typischen<br />

kurzen Finger zu erkennen (Brachydaktylie).<br />

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Fortbildung | „Artikel des Monats“<br />

Phänotyp findet sich in der frei zugänglichen<br />

Datenbank OMIM (Online Mendelian<br />

Inheritance in Man, http://www.ncbi.<br />

nlm.nih.gov/omim).<br />

Die Untersuchung einzelner Gene wird<br />

veranlasst, wenn sich in der klinischen Untersuchung<br />

der Verdacht auf ein monogenes<br />

Syndrom ergibt, als dessen Ursache<br />

Mutationen in einem bestimmten Gen<br />

bekannt sind. Mithilfe molekulargenetischer<br />

Methoden wird ein entsprechendes<br />

Gen auf Fehler in der Basenabfolge (durch<br />

Sequenzierung) <strong>und</strong> kleinste Deletionen<br />

innerhalb des Gens (meist durch multiplex<br />

ligation-dependent probe amplification =<br />

MLPA-Analyse) untersucht. Ein Beispiel<br />

für ein monogenes Syndrom findet sich<br />

im folgenden Artikel „Der diagnostische<br />

Blick“ in diesem Heft.<br />

Wesentliches für die Praxis . . .<br />

Abb. 4: Mikroduplikations-Syndrom 7q11.23: fazialer Phänotyp <strong>und</strong> Array-CGH-Bef<strong>und</strong>.<br />

Der abgebildete Junge fiel durch eine globale Entwicklungsverzögerung mit ausgeprägter<br />

Sprachentwicklungsstörung auf. Sein fazialer Phänotyp ist durch gerade verlaufende<br />

Augenbrauen, einen Hypertelorismus, ein kurzes Philtrum <strong>und</strong> schmale Lippen gekennzeichnet<br />

(Array-CGH-Abbildung von Dr. M. Shoukier, Institut für Humangenetik, Universitätsmedizin<br />

Göttingen).<br />

◾◾<br />

Die Entwicklung der modernen Genetik ermöglicht <strong>bei</strong> immer mehr Kindern mit<br />

bislang unklarer Entwicklungsverzögerung, geistiger Behinderung oder syndromaler<br />

Erkrankung das Auffinden einer ursächlichen Chromosomen- oder Genmutation.<br />

◾◾<br />

Die körperliche Untersuchung mit Dokumentation von Dysmorphien <strong>und</strong> Fehlbildungen<br />

ist von entscheidender Bedeutung <strong>bei</strong> der klinischen Syndromeinordnung.<br />

◾◾<br />

Bei klinischem Verdacht auf eine spezifische syndromale Erkrankung kann eine<br />

gezielte genetische Untersuchung mittels Chromosomenanalyse, Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung<br />

oder Genanalyse veranlasst werden (Abb. 1, „oberer<br />

Weg“).<br />

◾◾<br />

Bei einem unspezifischen Phänotyp oder <strong>bei</strong> bislang ausschließlich klinisch<br />

charakterisierten Syndromen kann mittels genetischer Screening-Verfahren<br />

(Array-CGH <strong>und</strong> Hochdurchsatz/Exom-Sequenzierung) nach einer ursächlichen<br />

Chromosomenstörung oder Genmutation gesucht werden (Abb. 1, „unterer<br />

Weg“).<br />

Array-CGH<br />

In den letzten Jahren haben genetische<br />

Screening-Verfahren, insbesondere die Array-CGH,<br />

einen bedeutenden Fortschritt<br />

in der <strong>Diagnostik</strong> bislang unklarer Dysmorphie-<br />

<strong>und</strong> Retardierungs-Syndrome<br />

gebracht. Bei der Array-CGH (Array comparative<br />

genomic hybridisation = chipbasierte<br />

vergleichende genomweite Bindung)<br />

handelt es sich um ein molekulargenetisches<br />

Verfahren, mit dem genomweit nach<br />

kleinen chromosomalen Veränderungen<br />

(Mikrodeletionen <strong>und</strong> Mikroduplikationen)<br />

gesucht wird. Im Vergleich zur konventionellen<br />

Chromosomenanalyse (Auflösung<br />

5 – 10 Megabasen) ist die Auflösung<br />

der Array-CGH mit 50 – 100 Kilobasen etwa<br />

100-mal besser, so dass die Array-CGH<br />

auch als „hochauflösende Chromosomenanalyse“<br />

bezeichnet wird.<br />

Durch die Array-CGH kann <strong>bei</strong> 10 – 15 %<br />

aller Kinder mit bislang unklarer Entwicklungsstörung<br />

oder einem Dysmorphie-/<br />

Fehlbildungs-Syndrom eine ursächliche<br />

Chromosomenstörung aufgedeckt werden<br />

[6, 7]. Aufgr<strong>und</strong> dieser hohen Detektionsrate<br />

hat sich die Array-CGH als primärer<br />

genetischer Screening-Test <strong>bei</strong> Kindern<br />

mit unklaren Dysmorphie- <strong>und</strong> Retardierungs-Syndromen<br />

durchgesetzt [3].<br />

Auch im Rahmen der Pränataldiagnostik<br />

erlangt die Array-CGH eine zunehmende<br />

Bedeutung.<br />

Mittels Array-CGH wurden kürzlich<br />

neue Syndrome mit rekurrenten Bruchpunkten<br />

beschrieben, z. B. das Mikroduplikations-Syndrom<br />

7q11.23 ([1], Abb. 4).<br />

Hier<strong>bei</strong> ist ein Abschnitt des langen Arms<br />

von Chromosoms 7 verdoppelt. Betroffene<br />

Kinder fallen meist durch eine Entwicklungsverzögerung<br />

mit ausgeprägter<br />

Sprachentwicklungsstörung sowie fazialen<br />

Dysmorphien auf.<br />

Interessanterweise führt eine Deletion<br />

derselben Region zum Williams-Beuren-<br />

Syndrom, das mit Herzfehlern (v. a. Aorten-<br />

<strong>und</strong> Pulmonalstenosen), einer Entwicklungsstörung<br />

<strong>und</strong> charakteristischen<br />

fazialen Dysmorphien einhergeht (Abb. 3).<br />

Die Sprachentwicklung von Kindern mit<br />

Williams-Beuren-Syndrom ist meist gut,<br />

die Kinder sind häufig sehr sprachgewandt<br />

<strong>und</strong> mitteilsam, so dass sie im Alltag überschätzt<br />

werden können. In der Chromosomenregion<br />

7q11.23 liegen demnach Gene,<br />

die dosisabhängig Einfluss auf die Sprachentwicklung<br />

haben: Im Falle einer Deletion<br />

tritt eine eher gute <strong>und</strong> differenzierte,<br />

im Falle einer Duplikation tritt eine verzögerte<br />

Sprachentwicklung auf.<br />

Das Williams-Beuren-Syndrom zählt<br />

zu den „klassischen“ Mikrodeletions-Syn-<br />

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Fortbildung | „Artikel des Monats“<br />

dromen mit einem klinisch wiedererkennbaren Phänotyp (Abb. 3)<br />

<strong>und</strong> wurde bislang durch eine gezielte FISH-Analyse bestätigt.<br />

Allerdings wird die für das Williams-Beuren-Syndrom typische<br />

Mikrodeletion 7q11.23 <strong>bei</strong> manchen Kindern auch „zufällig“ ohne<br />

vorherigen klinischen Verdacht im Rahmen einer Array-CGH<br />

gef<strong>und</strong>en. Dies ist auch <strong>bei</strong> anderen Mikrodeletions-Syndromen<br />

(z. B. DiGeorge-Syndrom <strong>bei</strong> Mikrodeletion 22q11.2, Abb. 2) der<br />

Fall, die ebenfalls klinisch variabel sein können <strong>und</strong> daher selbst<br />

für erfahrene Kliniker, insbesondere <strong>bei</strong> atypischer oder milder<br />

Ausprägung, nicht immer als „wiedererkennbares Syndrom“ erfassbar<br />

sind. Auch <strong>bei</strong> Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkindern kann eine<br />

Diagnosestellung schwierig sein, denn teilweise entwickelt sich ein<br />

„klassischer“ Phänotyp erst nach einigen Jahren. Die Array-CGH<br />

fördert somit <strong>bei</strong> einigen Kindern eine frühe Diagnosestellung <strong>bei</strong><br />

noch nicht „klassischer“ Syndrom-Symptomatik.<br />

Etwa zwei Drittel aller Chromosomenveränderungen, die durch<br />

eine Array-CGH festgestellt werden, sind kausal für den Phänotyp<br />

des untersuchten Kindes. Dies sind vor allem bekannte Mikrodeletions-<br />

<strong>und</strong> Mikroduplikations-Syndrome sowie unbalancierte<br />

Translokationen [7]. Dahingegen gestaltet sich die Bewertung<br />

von etwa einem Drittel der in der Array-CGH gef<strong>und</strong>enen<br />

Chromosomenveränderungen aus folgenden Gründen schwierig:<br />

◾◾<br />

Es besteht keine Überlappung mit bekannten Chromosomenaberrationen.<br />

◾◾<br />

Die Chromosomenveränderung wurde von einem ges<strong>und</strong>en<br />

Elternteil vererbt.<br />

◾◾<br />

Es handelt sich um eine sehr kleine Veränderung (typischerweise<br />

< 1 Mb), in der Gene ohne bislang bekannte Krankheitsrelevanz<br />

liegen.<br />

Vermutlich kann die Krankheitsrelevanz solcher bislang unklarer<br />

Bef<strong>und</strong>e in einigen Jahren deutlich besser bewertet werden,<br />

da Array-CGH-Bef<strong>und</strong>e <strong>und</strong> die entsprechenden klinischen Phänotypen<br />

in Datenbanken gesammelt werden (z. B. ECARUCA,<br />

http://umcecaruca01.extern.umcn.nl:8080/ecaruca/ecaruca.jsp).<br />

Hochdurchsatz-Sequenzierung<br />

Eine neue Ära der Sequenzierung (Ablesen der Basenabfolge in<br />

der DNA) wurde durch die Entwicklung der Hochdurchsatz-Sequenzierung<br />

(„next generation sequencing“., NGS) eingeläutet.<br />

Während es früher oft Monate bis Jahre dauerte, ein neues Gen<br />

mittels der „Sanger-Sequenzierung“ (jede Base wird nacheinander<br />

gelesen) zu identifizieren, erlaubt die Hochdurchsatz-Sequenzierung<br />

die parallele Sequenzierung des gesamten humanen Genoms<br />

(3 x 10 9 Basen) in wenigen Wochen für mittlerweile weniger<br />

als 5.000 Euro.<br />

Bei medizinischen Fragestellungen wird die Hochdurchsatz-Sequenzierung<br />

vor allem folgendermaßen angewandt:<br />

1. Gen-Panel: Es werden alle für einen Phänotyp bekannten Gene<br />

parallel sequenziert. Beispielsweise liegen dem Noonan-Syndrom<br />

(Herzfehler, Ptosis, Pterygium colli, Entwicklungsverzögerung,<br />

Kleinwuchs) in nur 50 % Mutationen im PTPN11-Gen<br />

zugr<strong>und</strong>e. Zudem können Mutationen in den Genen KRAS,<br />

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Fortbildung | „Artikel des Monats“<br />

Abb. 5: 12-jähriger Junge mit Proteus-<br />

Syndrom (OMIM 176920). Klinisch wegweisend<br />

sind eine Hemihyperplasie des<br />

rechten Beines sowie eine Hypertrophie<br />

der vierten Zehe rechts <strong>und</strong> der Kleinzehe<br />

links. Als Ursache des Proteus-Syndroms<br />

wurde <strong>bei</strong> diesem Jungen mittels Exom-<br />

Sequenzierung eine neu aufgetretene Mutation<br />

im AKT1-Gen nachgewiesen [2] (Fotos<br />

von Prof. Dr. K. Brockmann, SPZ, Universitätsmedizin<br />

Göttingen).<br />

SOS1 <strong>und</strong> RAF1 krankheitsauslösend<br />

sein, so dass eine parallele Sequenzierung<br />

dieser Gene als „Noonan-Gen-<br />

Panel“ zu einer höherer „Trefferquote“<br />

für Mutationen in kürzerer Zeit führt.<br />

2. Exom-Sequenzierung: Es werden alle<br />

kodierenden Bereiche (Exone) des<br />

menschlichen Genoms (ca. 23.000 Gene)<br />

parallel sequenziert. Die Interpretation<br />

der Daten ist derzeit noch sehr<br />

schwierig <strong>und</strong> erfolgt schrittweise [4].<br />

Zunächst werden von den üblicherweise<br />

über 10.000 aufgef<strong>und</strong>enen Varianten<br />

all solche ausgeschlossen, die bereits<br />

als Varianten <strong>bei</strong> ges<strong>und</strong>en Personen<br />

bekannt sind. Hierzu werden interne<br />

<strong>und</strong> externe Datenbanken herangezogen<br />

(z. B. dbSNP, http://www.ncbi.nlm.<br />

nih.gov/projects/SNP/). Die krankheitsrelevante<br />

Mutation wird anschließend<br />

unter den verbleibenden nicht-synonymen<br />

(Aminosäure verändernden) Varianten<br />

innerhalb des kodierenden Bereiches<br />

sowie unter den Varianten innerhalb<br />

von Spleißstellen gesucht. Triplett-Repeat-Erkrankungen<br />

(z. B. CGG-<br />

Trinukleotid-Expansion im FMR1-Gen<br />

<strong>bei</strong>m Fragilen-X-Syndrom) können<br />

durch die Exom-Sequenzierung nicht<br />

erkannt werden. Die Exom-Sequenzierung<br />

hat bereits zur Identifikation der<br />

krankheitsauslösenden Gene <strong>bei</strong> diversen<br />

Erkrankungen geführt (z. B. Proteus-Syndrom<br />

[2], vgl. Abb. 5).<br />

Der Einsatz genetischer Screening-Verfahren<br />

entspricht einem „umgekehrten“<br />

diagnostischen Vorgehen, das als „reverse<br />

Genetik“ bezeichnet wird: islang wurde<br />

ausgehend von einem spezifischen Phänotyp<br />

eine gezielte genetische <strong>Diagnostik</strong><br />

veranlasst. Mit Screening-Verfahren wird<br />

dagegen <strong>bei</strong> einem unspezifischen Phänotyp<br />

(z. B. Dysmorphie- <strong>und</strong> Retardierungs-<br />

Syndrom unklarer Ursache) zunächst genomweit<br />

nach Chromosomen- <strong>und</strong> Genvarianten<br />

gesucht, deren Bedeutung für<br />

den Phänotyp anschließend bewertet wird<br />

(Abb. 1). Diese Genotyp-Phänotyp-Korrelation<br />

stellt derzeit häufig noch eine große<br />

Herausforderung dar. Die Interpretation<br />

genetischer Daten wird jedoch in den kommenden<br />

Jahren durch die Erweiterung klinisch-genetischer<br />

Datenbanken entscheidend<br />

erleichtert werden.<br />

Literatur<br />

1. Dixit A, McKee S, Mansour S, Mehta S, Tanteles G et al.<br />

(2012) 7q11.23 Microduplication: a recognizable phenotype.<br />

Clin Genet, Epub ahead of print, doi: 10.1111/j.1399-<br />

0004.2012.01862.x<br />

2. Lindhurst MJ, Sapp JC, Teer JK, Johnston JJ, Finn EM et al.<br />

(2011) A mosaic activating mutation in AKT1 associated with<br />

the Proteus syndrome. N Engl J Med 365: 611 – 9<br />

3. Miller DT, Adam MP, Aradhya S, Biesecker LG, Brothman AR<br />

et al. (2010) Consensus statement: chromosomal microarray<br />

is a first-tier clinical diagnostic test for individuals with<br />

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93 – 98<br />

Korrespondenzadresse<br />

PD Dr. med. Dr. rer. nat. Birgit Zirn<br />

Sozialpädiatrisches Zentrum<br />

Abt. Pädiatrie II mit Schwerpunkt<br />

Neuropädiatrie<br />

Universitätsmedizin Göttingen<br />

Robert-Koch-Straße 40<br />

37075 Göttingen<br />

Tel.: 05 51/3 91 32 41<br />

Fax: 05 51/39 62 52<br />

E-Mail: birgit.zirn@med.uni-goettingen.de<br />

278<br />

Kinderärztliche Praxis 83, 272 – 278 (2012) Nr. 5 www.kinderaerztliche-praxis.de

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