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Olivier Michael Bollacher - metaphorik.de

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<strong>metaphorik</strong>.<strong>de</strong> 01/2001 <strong>Bollacher</strong>, Metaphorik <strong>de</strong>s Meeres bei Loti und Maupassant<br />

wirkt, und nicht an<strong>de</strong>rs verhält es sich bei Maupassant. In <strong>de</strong>n Schriften bei<strong>de</strong>r Autoren weckt<br />

<strong>de</strong>r Anblick <strong>de</strong>s Meeres neben <strong>de</strong>m Verlangen nach Vereinigung mit <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Geschlecht<br />

jedoch auch <strong>de</strong>n Wunsch, im Wasser zu versinken, zu sterben. Es ist nicht zuletzt die<br />

Ambivalenz von Sanftheit und Rauheit, behüten<strong>de</strong>r Ruhe und grimmiger Raserei, die für die<br />

Schriftsteller <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>ren Reiz <strong>de</strong>r See ausmacht, die hier das Leben för<strong>de</strong>rt und dort <strong>de</strong>n<br />

Tod bringt.<br />

Beson<strong>de</strong>rs beeindruckt von <strong>de</strong>r gewaltigen Erscheinung <strong>de</strong>s Meeres zeigt sich Lautréamont<br />

alias Isidore Ducasse in seinen Chants <strong>de</strong> Maldoror (1869). Dort wer<strong>de</strong>n die scheinbare<br />

Unvergänglichkeit <strong>de</strong>r See, ihre Kraft und Konstanz in Kontrast zu <strong>de</strong>r zerbrechlichen und<br />

kurzen Existenz <strong>de</strong>s Menschen gesetzt und Maldoror bescheinigt <strong>de</strong>m ”grand célibataire”, wie<br />

er <strong>de</strong>n Ozean in seinem Hymnus unter an<strong>de</strong>rem anspricht, im Wesentlichen die<br />

Charaktereigenschaften, die er bei <strong>de</strong>n Menschen vermisst:<br />

”Je voudrais que la majesté humaine ne fût que l’incarnation du reflet <strong>de</strong> la tienne.<br />

Je <strong>de</strong>man<strong>de</strong> beaucoup, et ce souhait sincère est glorieux pour toi. Ta gran<strong>de</strong>ur<br />

morale, image <strong>de</strong> l’infini, est immense comme la réflexion du philosophe, comme<br />

l’amour <strong>de</strong> la femme, comme la beauté <strong>de</strong> l‘oiseau, comme la méditation du<br />

poète.” 43<br />

Stellenweise können die Prosagesänge als ein verzweifelter Aufschrei wi<strong>de</strong>r das Ephemere<br />

irdischen Lebens gelesen wer<strong>de</strong>n, als ein Aufbegehren, das am En<strong>de</strong> in Selbsthass und<br />

To<strong>de</strong>ssehnsucht mün<strong>de</strong>t. Paul Zweig bemerkt hierzu:<br />

”L’océan, dépositaire <strong>de</strong> toutes les profon<strong>de</strong>urs, possè<strong>de</strong> une ‘Gran<strong>de</strong>ur morale’ à<br />

‘L’image <strong>de</strong> l’infini’. Et l’homme qui, selon le poète, est le reflet symétrique et<br />

inverse <strong>de</strong> l’océan, <strong>de</strong>vient l’image <strong>de</strong> la faiblesse, le symbole d’un désir<br />

infiniment frustré. [...] Le poète découvre dans la puissance et l’harmonie <strong>de</strong><br />

l’océan un ensemble <strong>de</strong> qualités qui font justement défaut à l’homme.” 44<br />

We<strong>de</strong>r im Werk Maupassants noch bei Loti fin<strong>de</strong>n sich <strong>de</strong>rartige Spuren menschlicher<br />

Selbsterniedrigung beziehungsweise <strong>de</strong>r absoluten Überhöhung <strong>de</strong>r See, doch bei<strong>de</strong> tendieren<br />

zu einer pantheistischen Verehrung <strong>de</strong>s Meeres, begreifen es in <strong>de</strong>r Tradition <strong>de</strong>r Romantik<br />

und gleich Lautréamont als einen Teil göttlicher Natur. Doch die übermenschliche Weite <strong>de</strong>s<br />

Meeres wird auch in Lotis Werk bisweilen jenseits aller Faszinationskraft als beängstigend<br />

empfun<strong>de</strong>n, sein Anblick flößt die Urfurcht <strong>de</strong>r Sterblichen vor <strong>de</strong>r unermesslichen Natur ein,<br />

wie in <strong>de</strong>m 1905 erschienenen Roman Les Désanchantés beschrieben:<br />

”La mer <strong>de</strong> Biscaye [...] se révéla tout à coup d’une mélancolie intolérable [...]<br />

avec les gran<strong>de</strong>s volutes <strong>de</strong> sa houle presque éternelle, ouverture béante sur <strong>de</strong>s<br />

immensités trop infinies qui attirent et qui inquiètent.” 45<br />

Unter <strong>de</strong>n Autoren <strong>de</strong>s späteren 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts fin<strong>de</strong>t sich diese Furcht kaum mehr,<br />

ebensowenig wie die religiöse Verehrung <strong>de</strong>r See. Die Assoziation von ”mer” und ”mère”<br />

hingegen taucht bei nachfolgen<strong>de</strong>n Schriftstellern häufig wie<strong>de</strong>r auf, nicht nur <strong>de</strong>r<br />

43 Isidore Ducasse, le Comte <strong>de</strong> Lautréamont: Les chants <strong>de</strong> Maldoror, Paris 1990, S. 115.<br />

44 Paul Zweig: Lautréamont ou les violences du Narcisse, Paris 1967, S. 8, 51.<br />

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