17.11.2013 Aufrufe

Von dannen er kommen wird - Theologische Hochschule Friedensau

Von dannen er kommen wird - Theologische Hochschule Friedensau

Von dannen er kommen wird - Theologische Hochschule Friedensau

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

“<strong>Von</strong> <strong>dannen</strong> <strong>er</strong> <strong>kommen</strong> <strong>wird</strong> ...”<br />

Die Wied<strong>er</strong>kunft Jesu – wie kann sie heute v<strong>er</strong>standen w<strong>er</strong>den?<br />

Rolf J. Pöhl<strong>er</strong>, Th.D.<br />

Dozent für Systematische Theologie<br />

<strong>Theologische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Friedensau</strong><br />

Vortrag gehalten auf dem ökumenischen<br />

Stadtkirchentag Halle/S., 12.-14. Mai 2006<br />

Das Wappen d<strong>er</strong> Stadt Halle besteht aus einem liegenden nach oben geöffneten roten<br />

Halbmond zwischen zwei roten St<strong>er</strong>nen auf silb<strong>er</strong>weißem Grund. D<strong>er</strong> Sage nach soll es auf<br />

eine Äuß<strong>er</strong>ung des Bischofs von Giebichenstein zurückgehen, d<strong>er</strong> das Ansinnen d<strong>er</strong><br />

Stadtgründ<strong>er</strong> mit dem Wunsch <strong>kommen</strong>ti<strong>er</strong>te: “Es leuchte Euch Sonne, Mond und St<strong>er</strong>ne."<br />

Auch die and<strong>er</strong>e Erklärung, d<strong>er</strong>zufolge d<strong>er</strong> Mond den Qu<strong>er</strong>schnitt ein<strong>er</strong> Siedepfanne und die<br />

St<strong>er</strong>ne die beim Siedeprozess entstehenden Salzkristalle darstellen, <strong>wird</strong> wohl eine Hypothese<br />

bleiben. Wie auch imm<strong>er</strong> – d<strong>er</strong> aus Anlass d<strong>er</strong> 1200-Jahrfei<strong>er</strong> Halles an diesem Wochenende<br />

gefei<strong>er</strong>te Stadtkirchentag hat eine abgewandelte Form des Wappens zum Logo gewählt: Die<br />

Sonne ist zum St<strong>er</strong>n von Bethlehem muti<strong>er</strong>t, dessen kometenhaft<strong>er</strong> Schweif das Kommen des<br />

Welt<strong>er</strong>lös<strong>er</strong>s ankündigt.<br />

Ein ökumenisch<strong>er</strong> Kirchentag als Ansage des Kommens Gottes zum Heil d<strong>er</strong> Welt? Daß<br />

Christen einen w<strong>er</strong>tvollen Beitrag zum Aufbau und Erhalt d<strong>er</strong> polis leisten, ist in Halle<br />

eindrucksvoll an den Franckeschen Stiftungen zu <strong>er</strong>kennen, die seit üb<strong>er</strong> 300 Jahren das Bild<br />

d<strong>er</strong> Stadt prägen. Auch im 13. Jahrhund<strong>er</strong>t ihr<strong>er</strong> Existenz bzw. im dritten Jahrtausend uns<strong>er</strong><strong>er</strong><br />

Zeitrechnung haben die christlichen Kirchen eine wichtige Aufgabe (nicht nur) in dies<strong>er</strong> Stadt<br />

zu <strong>er</strong>füllen. Ob religiöse Sinnstiftung od<strong>er</strong> praktische Sozialarbeit, Hilfe in Lebenskrisen od<strong>er</strong><br />

W<strong>er</strong>tev<strong>er</strong>mittlung in Kind<strong>er</strong>gärten – Christen sind (folgt man d<strong>er</strong> B<strong>er</strong>gpredigt in Mt 5,13-16)<br />

Lichtträg<strong>er</strong> und Salzkörn<strong>er</strong>, in d<strong>er</strong>en Tun Gottes heilvolle Zuwendung zum Menschen<br />

zeichenhaft sichtbar <strong>wird</strong>.<br />

Gilt diese hoffnungsvolle Ansage auch im Hinblick auf das endzeitliche Kommen Christi und<br />

die Aufrichtung seines irdischen Friedensreiches? Hat die biblische Rede von d<strong>er</strong> “Wied<strong>er</strong>kunft<br />

Jesu” uns heute noch etwas zu sagen? Seit Johannes Weiss 1 und Alb<strong>er</strong>t Schweitz<strong>er</strong> 2 hat sich in<br />

d<strong>er</strong> Theologie die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Rede vom nahe bevorstehenden und ganz<br />

ohne menschliches Zutun in die Geschichte einbrechenden Reiches Gottes zum K<strong>er</strong>n d<strong>er</strong><br />

jesuanischen V<strong>er</strong>kündigung gehörte und auch Denken und Leben d<strong>er</strong> Urchristenheit bestimmte.<br />

Karl Barth zog daraus die Konsequenz: “Christentum, das nicht ganz und gar und restlos<br />

Eschatologie ist, hat mit Christus ganz und gar und restlos nichts zu tun.” 3 “Das<br />

eschatologische Bureau” (Ernst Troeltsch) war wied<strong>er</strong> <strong>er</strong>öffnet! Doch welche Impulse gehen<br />

heute von ihm aus?<br />

1 Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes (1892), hg. F. Hahn, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1964 3 .<br />

2 <strong>Von</strong> Reimarus zu Wrede: Eine Geschichte d<strong>er</strong> Leben-Jesu-Forschung, Tübingen: Mohr, 1906.<br />

3 Karl Barth, D<strong>er</strong> Röm<strong>er</strong>brief, München: Kais<strong>er</strong>, 1922 2 , 300.<br />

1


In ein<strong>er</strong> Gastvorlesung an d<strong>er</strong> theologischen Fakultät Halle am 19.10.1994 üb<strong>er</strong> “Die Aufgabe<br />

christlich<strong>er</strong> Eschatologie” sagte Wolfhart Pannenb<strong>er</strong>g: “Die Lehre von d<strong>er</strong> Wied<strong>er</strong>kunft Christi<br />

ist vielleicht d<strong>er</strong> am meisten ein<strong>er</strong> neuen v<strong>er</strong>stehenden Durchdringung und Aneignung<br />

bedürftige Teil d<strong>er</strong> traditionellen Eschatologie.” 4 In d<strong>er</strong> Tat, während die individuelle<br />

Eschatologie in d<strong>er</strong> theologischen Diskussion breiten Raum einnimmt, Fragen üb<strong>er</strong> Tod,<br />

Auf<strong>er</strong>stehung, ewiges Leben, Unst<strong>er</strong>blichkeit, Himmel, Hölle, G<strong>er</strong>icht und Vollendung viel<br />

Aufm<strong>er</strong>ksamkeit <strong>er</strong>halten, führt die Lehre vom Advent Christi am Ende d<strong>er</strong> Zeit meist ein<br />

Schattendasein. Aussagen üb<strong>er</strong> die univ<strong>er</strong>salgeschichtliche Eschatologie bleiben in eh<strong>er</strong><br />

philosophischen Erört<strong>er</strong>ungen stecken, die Parusiefrage <strong>wird</strong> auf wenigen Seiten abgehandelt. 5<br />

Dabei hatte sie im Glauben d<strong>er</strong> <strong>er</strong>sten Christen einen zentralen Platz inne. Nach Pannenb<strong>er</strong>g<br />

“lässt sich die Erwartung d<strong>er</strong> Wied<strong>er</strong>kunft Christi von den übrigen Inhalten christlich<strong>er</strong><br />

eschatologisch<strong>er</strong> Hoffnung nicht trennen.” 6<br />

W<strong>er</strong>fen wir also einen Blick auf die christliche V<strong>er</strong>kündigung von d<strong>er</strong> endzeitlichen Ankunft<br />

und Gegenwart des H<strong>er</strong>rn. Was ist an dies<strong>er</strong> Lehre – wenn üb<strong>er</strong>haupt – so wichtig und wie<br />

kann sie heute v<strong>er</strong>standen w<strong>er</strong>den? Ohne Zweifel b<strong>er</strong>ührt die Frage nach d<strong>er</strong> Zukunft uns<strong>er</strong><strong>er</strong><br />

Welt eines d<strong>er</strong> drängendsten Probleme uns<strong>er</strong><strong>er</strong> Zeit. Doch kann die Hoffnung auf die<br />

Wied<strong>er</strong>kunft Christi diese existentielle Frage <strong>er</strong>hellen od<strong>er</strong> gar beantworten?<br />

I. Erwartung und V<strong>er</strong>heißung d<strong>er</strong> Parusie Christi<br />

1. Die Parusie in d<strong>er</strong> urchristlichen Lehrv<strong>er</strong>kündigung<br />

Die Erwartung d<strong>er</strong> baldigen, p<strong>er</strong>sönlichen und sichtbaren Ankunft (gr.: parousia; lat.:<br />

adventus) 7 von Jesus Christus, dem auf<strong>er</strong>standenen und <strong>er</strong>höhten H<strong>er</strong>rn d<strong>er</strong> Kirche, durchzieht<br />

das gesamte Neue Testament. Sie ist ein auffälliges Kennzeichen d<strong>er</strong> urchristlichen<br />

Zukunftshoffnung und prägte Leben und Mission d<strong>er</strong> Apostel sowie d<strong>er</strong> frühen Kirche. D<strong>er</strong><br />

Gebetsruf “Marána thá” (1 Ko 16,22), die “apokalyptisch konstitui<strong>er</strong>te Christologie” des<br />

Paulus 8 sowie die abschließende Bitte d<strong>er</strong> Johannesapokalypse “Amén, érchou krie Iesou!”<br />

(Apk 22,20) bringen dies beispielhaft zum Ausdruck. Die unt<strong>er</strong>schiedlichen Ausprägungen<br />

dies<strong>er</strong> Adventhoffnung lassen dennoch ein Gemeinsames <strong>er</strong>kennen: die Erwartung d<strong>er</strong> <strong>er</strong>sten<br />

Christen, dass d<strong>er</strong> auf<strong>er</strong>standene und <strong>er</strong>höhte Kyrios-Christos in nah<strong>er</strong> Zukunft sichtbar<br />

4 Wolfhart Pannenb<strong>er</strong>g, “Die Aufgabe christlich<strong>er</strong> Eschatologie”, ZThK 92 (1995): 82, 71-82.<br />

5 Pannenb<strong>er</strong>g selb<strong>er</strong> widmet in sein<strong>er</strong> 1.700 Seiten umfassenden “Systematische[n] Theologie” d<strong>er</strong> allgemeinen<br />

Eschatologie fünfzig Seiten, von denen sich fünf mit dem “wied<strong>er</strong><strong>kommen</strong>den Christus” befassen. In Wilfried<br />

Härles 700-seitig<strong>er</strong> Dogmatik <strong>wird</strong> die Parusie sogar nur in einem einzigen Satz abgehandelt: “Das<br />

Entscheidende am Parusie-Gedanken ist dann, dass kein and<strong>er</strong><strong>er</strong> als d<strong>er</strong> zum Heil d<strong>er</strong> Menschen ge<strong>kommen</strong>e<br />

Rett<strong>er</strong> ihr Richt<strong>er</strong> ist und dass deswegen nichts and<strong>er</strong>es als die Liebe Gottes Grund, Maßstab und Ziel dieses<br />

G<strong>er</strong>ichtes sein kann.” (Dogmatik, B<strong>er</strong>lin: Walt<strong>er</strong> de Gruyt<strong>er</strong>, 2000 2 , 643)<br />

6 Pannenb<strong>er</strong>g, “Die Aufgabe christlich<strong>er</strong> Eschatologie”, 82.<br />

7 Albrecht Oepke, “parousía, páreimi”, in: ThWNT, hg. G. Friedrich, Band 5, Stuttgart: Kohlhamm<strong>er</strong>, 1954,<br />

856-869. D<strong>er</strong> Begriff parousía bedeutet “Gegenwart” und “Ankunft”.<br />

8 Hans-Heinrich Schade, Apokalyptische Christologie bei Paulus: Studien zum Zusammenhang von Christologie<br />

und Eschatologie in den Paulusbriefen, Götting<strong>er</strong> theologische Arbeiten 18, Göttingen: Vanden-hoeck &<br />

Ruprecht, 1981, 214. Schades Resumé lautet: “Die paulinische Christologie ist, indem sie nicht nur eine Fülle<br />

apokalyptisch<strong>er</strong> ‘Motive’, sond<strong>er</strong>n auch wesentliche Intentionen apokalyptischen Denkens aufnimmt und in ihr<strong>er</strong><br />

eschatologischen Konzeption in d<strong>er</strong> Dialektik von Erfüllung und Tradi<strong>er</strong>ung apokalyptisch<strong>er</strong> Erwartung zum<br />

Audruck bringt, wenn nicht ausschließlich, so doch konstitutiv apokalyptisch geprägt.” (215) Vgl. Joseph<br />

Plevnik, Paul and the Parousia: An Exegetical and Theological Investigation, Peabody, MS: Hendrickson<br />

Publ., 1997 (“The parousia of the Lord is a constituent part of Paul’s gospel”, xxxix).<br />

2


<strong>er</strong>scheinen und sein Heilsw<strong>er</strong>k vollenden <strong>wird</strong>. Die Parusiehoffnung gehört somit zum<br />

Proprium neutestamentlich<strong>er</strong> Theologie. 9<br />

Diese Zukunfts<strong>er</strong>wartung hat ihre Wurzeln in Leben und Lehre Jesu; sie ist keine nachträgliche<br />

Konstruktion d<strong>er</strong> Gemeinde. Jesus selbst sprach wied<strong>er</strong>holt vom Kommen des<br />

Menschensohns und vom Ende d<strong>er</strong> Welt(zeit); 10 ja, <strong>er</strong> <strong>er</strong>wartete es noch zu Lebzeiten sein<strong>er</strong><br />

Jüng<strong>er</strong>. 11 Damit hat <strong>er</strong> selbst das Problem d<strong>er</strong> sog. “Parusiev<strong>er</strong>zög<strong>er</strong>ung” v<strong>er</strong>ursacht, auf das<br />

die Schreib<strong>er</strong> des Neuen Testaments unt<strong>er</strong>schiedliche Antworten geben. D<strong>er</strong> eschatologische<br />

Horizont d<strong>er</strong> Gemeinde ab<strong>er</strong> war von Anfang an auf den v<strong>er</strong>heißenen “Tag des H<strong>er</strong>rn”<br />

ausg<strong>er</strong>ichtet, an dem <strong>er</strong> G<strong>er</strong>icht halten und Himmel und Erde neu machen <strong>wird</strong>. 12<br />

Mit dies<strong>er</strong> Zukunftsorienti<strong>er</strong>ung <strong>wird</strong> die “endzeitliche Gegenwart des Heils in Jesus<br />

Christus” 13 nicht relativi<strong>er</strong>t od<strong>er</strong> in Frage gestellt, sond<strong>er</strong>n bekräftigt. G<strong>er</strong>ade weil d<strong>er</strong><br />

gekreuzigte Christus auf<strong>er</strong>standen und in den Himmel <strong>er</strong>höht worden ist, dürfen wir gewiss<br />

sein, dass <strong>er</strong> von dort wied<strong>er</strong><strong>kommen</strong> <strong>wird</strong>. Die Zeitenwende ist eingetreten, deshalb steht das<br />

Ende d<strong>er</strong> Zeit und die Vollendung des göttlichen Heilsplans bevor. D<strong>er</strong> Parusieglaube setzt die<br />

Erlösungsbotschaft voraus und bestätigt sie zugleich; “gegenwärtige Heils<strong>er</strong>fahrung und<br />

zukünftige Heilshoffnung v<strong>er</strong>schränken sich.” 14 Doch “bei all<strong>er</strong> V<strong>er</strong>inn<strong>er</strong>lichung und<br />

V<strong>er</strong>gegenwärtigung des Heilsbesitzes bleibt diese [Parusiehoffnung] als unlöslich<strong>er</strong> K<strong>er</strong>n<br />

<strong>er</strong>halten. ... Die Parusie ist das abschließende Offenbarw<strong>er</strong>den des als eschatologische Realität<br />

b<strong>er</strong>eits Gesetzten.” 15<br />

9 “Die neutestamentliche Gemeinde richtete ihre Hoffnung nicht auf die himmlische Seligkeit nach dem Tod,<br />

sond<strong>er</strong>n auf den wied<strong>er</strong><strong>kommen</strong>den H<strong>er</strong>rn. Diese Hoffnung galt also d<strong>er</strong> Zukunft, nicht dem Jenseits.” (Kurt<br />

Hutten, Seh<strong>er</strong>, Grübl<strong>er</strong>, Enthusiasten, Stuttgart: Quell-V<strong>er</strong>lag, 1962 8 , 10)<br />

10 “Weit üb<strong>er</strong> das Vor<strong>kommen</strong> d<strong>er</strong> Vokabel hinaus ist das gesamte Denken Jesu von Parusievorstellungen<br />

durchtränkt, und zwar gleichmäßig in allen Schichten d<strong>er</strong> synoptischen Üb<strong>er</strong>lief<strong>er</strong>ung. ... D<strong>er</strong> Parusiegedanke<br />

gehört nach allem, was wir wissen, zum Urgestein d<strong>er</strong> Üb<strong>er</strong>lief<strong>er</strong>ung von Jesus.” (Oepke, ThWNT, 864)<br />

11 Mt 10,23; Mk 9,1par; Mk 13,30par; 14,62par. Nach Oepke handelt es sich dabei um “nicht aus bloß<strong>er</strong><br />

Gemeindetheologie ableitbare H<strong>er</strong>rnworte” (ThWNT, 865).<br />

12 Lk 17,22ff.; Apg 2,20; 1 Ko 1,7f.; 5,5; 2 Kor 1,14; Phil 1,6.10; 2,16; 1 Ths 5,2; 2 Ths 2,2; 2 Pe 3,10; Apk<br />

1,10; 16,14. D<strong>er</strong> Ausdruck “Tag des H<strong>er</strong>rn” findet sich wied<strong>er</strong>holt bei den atl. Propheten und beschreibt dort<br />

das eschatologische G<strong>er</strong>ichtshandeln Gottes an seinem Volk bzw. den Völk<strong>er</strong>n.<br />

13 Udo Schnelle, Paulus: Leben und Denken, B<strong>er</strong>lin: Walt<strong>er</strong> de Gruyt<strong>er</strong>, 2003, 437.<br />

14 Schnelle, 437. “Das b<strong>er</strong>eits Geschehene und nicht das Ausstehende ist d<strong>er</strong> entscheidende Inhalt des<br />

paulinischen Evangeliums” (ebd., 545). Eine einseitige Betonung d<strong>er</strong> präsentischen Heils<strong>er</strong>fahrung gegenüb<strong>er</strong><br />

sein<strong>er</strong> noch ausstehenden Vollendung lehnt Moltmann jedoch ab: “Paulus spricht nicht von einem b<strong>er</strong>eits eingetretenen<br />

Ende d<strong>er</strong> Geschichte, sond<strong>er</strong>n von einem endzeitlichen Prozess, d<strong>er</strong> durch die Auf<strong>er</strong>stehung des<br />

Gekreuzigten unwid<strong>er</strong>ruflich in Gang gesetzt worden ist. G<strong>er</strong>ade weil Kreuz und Auf<strong>er</strong>stehung Christi für ihn im<br />

Zentrum stehen, ist seine Theologie ganz eschatologisch auf die Parusie Christi ausg<strong>er</strong>ichtet.” (Moltmann, “Die<br />

Parusie Christi”, 343).<br />

15 Oepke, ThWNT, 866, 868.<br />

3


2. Die Parusie im Bekenntnis und Leben d<strong>er</strong> Kirche<br />

Alle bekannten altkirchlichen Glaubensbekenntnisse enthalten einen ausdrücklichen Hinweis<br />

auf die Wied<strong>er</strong>kunft Christi. Nach dem Zeugnis von Jesu Geburt, Tod, Auf<strong>er</strong>stehung und<br />

Erhöhung zur Rechten des Vat<strong>er</strong>s folgt – in ähnlich lautenden Formuli<strong>er</strong>ungen – das<br />

Bekenntnis: “<strong>Von</strong> <strong>dannen</strong> <strong>er</strong> <strong>kommen</strong> <strong>wird</strong> zu richten die Lebendigen und die Toten”<br />

(Romanum, Apostolikum). 16 Auch im Vat<strong>er</strong>uns<strong>er</strong> hat das endzeitliche Kommen Gottes einen<br />

h<strong>er</strong>vorgehobenen Platz: “Dein Reich komme!” betet die gottesdienstliche Gemeinde. 17 Man<br />

könnte meinen, die Parusie Christi sei ein zentral<strong>er</strong> Bestandteil des christlichen Glaubens –<br />

nicht nur d<strong>er</strong> Liturgie.<br />

Doch die kirchlich-christliche Lebenswirklichkeit sieht and<strong>er</strong>s aus. “In den großen Kirchen des<br />

Abendlandes spielt die Vorstellung vom [bald anbrechenden] Reiche Gottes kaum eine and<strong>er</strong>e<br />

Rolle, als dass sie im Vat<strong>er</strong>uns<strong>er</strong> regelmäßig wied<strong>er</strong>kehrt”, stellt d<strong>er</strong> Evangelische<br />

Erwachsenen-katechismus von 1975 lapidar fest. 18 In d<strong>er</strong> Tat, die Parusiehoffnung hat so gut<br />

wie keine Wirkung im kirchlichen Leben. Romano Guardinis Einschätzung galt sich<strong>er</strong> nicht nur<br />

für seine Zeit und Kirche: “Wir sagen wohl nicht zuviel, wenn wir meinen, das Bewusstsein<br />

von d<strong>er</strong> Wied<strong>er</strong>kunft des H<strong>er</strong>rn habe auch im christlichen Leben keine <strong>er</strong>nsthafte Bedeutung<br />

mehr. Sie <strong>wird</strong> als f<strong>er</strong>nes Ereignis angenommen – so f<strong>er</strong>n, dass man sie auf sich b<strong>er</strong>uhen<br />

lässt.” 19<br />

Während die Parusie Christi also formalit<strong>er</strong> aufrecht<strong>er</strong>halten <strong>wird</strong>, hat sich ihr Sitz im Leben<br />

d<strong>er</strong> Kirche in and<strong>er</strong>e B<strong>er</strong>eiche v<strong>er</strong>lag<strong>er</strong>t: zum einen in die gottesdienstliche Liturgie (Christus<br />

kommt zu uns in d<strong>er</strong> eucharistischen Mahlfei<strong>er</strong>), zum and<strong>er</strong>en in die Todesstunde und den<br />

Eingang d<strong>er</strong> V<strong>er</strong>storbenen in das ewige Reich Gottes. So hatte bsp. Papst Johannes Paul II.<br />

sein p<strong>er</strong>sönliches Testament mit einem K<strong>er</strong>nsatz aus d<strong>er</strong> Endzeitrede Jesu begonnen – “Seid<br />

also wachsam! Denn ihr wisst nicht, an welchem Tag eu<strong>er</strong> H<strong>er</strong>r kommt” (Mt 24,42) – und die<br />

dort angekündigte Parusie auf den Augenblick seines eignen Todes bezogen (“Ich weiß nicht,<br />

wann <strong>er</strong> kommt...”). 20<br />

16 Das nizänische Symbolum (325 n. Chr.) bekennt, dass <strong>er</strong> “<strong>kommen</strong> <strong>wird</strong>, zu richten die Lebenden und die<br />

Toten”. Ausführlich<strong>er</strong> heißt es im Nizäno-Konstantinopolitanum (381 n. Chr.): “Er <strong>wird</strong> wied<strong>er</strong><strong>kommen</strong> in<br />

H<strong>er</strong>rlichkeit, G<strong>er</strong>icht zu halten üb<strong>er</strong> Lebende und Tote, und seines Reiches <strong>wird</strong> kein Ende sein.” Das<br />

Athanasianum (4.-6. Jh.) lehrt: “<strong>Von</strong> dort <strong>wird</strong> <strong>er</strong> <strong>kommen</strong>, zu richten die Lebendigen und die Toten. Bei sein<strong>er</strong><br />

Ankunft w<strong>er</strong>den alle Menschen in ihren Leib<strong>er</strong>n auf<strong>er</strong>stehen und Rechenschaft ablegen üb<strong>er</strong> ihre eigenen<br />

Handlungen.” Im sog. Apostolischen Glaubensbekenntnis (5.-6.Jh.) schließlich heißt es : “Er <strong>wird</strong><br />

wied<strong>er</strong><strong>kommen</strong> von dort, zu richten die Lebenden und die Toten.” Siehe Josef Neun<strong>er</strong> und Heinrich Roos, D<strong>er</strong><br />

Glaube d<strong>er</strong> Kirche in den Urkunden d<strong>er</strong> Lehrv<strong>er</strong>kündigung, neubearbeitet von Karl Rahn<strong>er</strong> und Karl-Heinz<br />

Weg<strong>er</strong>, Leipzig: St. Benno, 1982, 121, 165, 543, 548.<br />

17 “Aus diesem Grund beten die Christen, besond<strong>er</strong>s in d<strong>er</strong> Eucharistiefei<strong>er</strong>, um das rasche Eintreten d<strong>er</strong><br />

Wied<strong>er</strong>kunft Chrsti, indem sie zu ihm rufen: ‘Komm, H<strong>er</strong>r!’ (1 Kor 16,22; Offb 22,17.20)” (Katechismus d<strong>er</strong><br />

Katholischen Kirche, München: R. Oldenbourg, 1993, 206). “Das Gebet des H<strong>er</strong>rn handelt hauptsächlich vom<br />

endgültigen Kommen des Reiches Gottes durch die Wied<strong>er</strong>kunft Christi” (ebd., 705).<br />

18 Evangelisch<strong>er</strong> Erwachsenenkatechismus, Güt<strong>er</strong>sloh: Güt<strong>er</strong>sloh<strong>er</strong> V<strong>er</strong>lagshaus G<strong>er</strong>d Mohn, 1975, 130.<br />

19 Romano Guardini, D<strong>er</strong> H<strong>er</strong>r, Aschaffenburg: Pattloch, 1948 5 , 610. Ähnlich konstati<strong>er</strong>te Kurt Hutten “die<br />

V<strong>er</strong>nachlässigung des Eschatologischen” in den etabli<strong>er</strong>ten Kirchen. “Durch Gen<strong>er</strong>ationen hindurch führte die<br />

Zukunftshoffnung nur ein Randdasein im theologischen Denken und in d<strong>er</strong> Predigt auf den Kanzeln. Zeitweise<br />

schien sie ganz v<strong>er</strong>schüttet zu sein.” (Hutten, 9)<br />

20 “<strong>Von</strong> Johannes Paul II. Zu Benedikt XVI.” Kathpress Sond<strong>er</strong>publikation, 2/2005, 3. In sein<strong>er</strong> Predigt zu<br />

Beginn des Konklave am 18.04.2005 sah Joseph Ratzing<strong>er</strong> die Aufgabe d<strong>er</strong> Christen in d<strong>er</strong> “Umgestaltung d<strong>er</strong><br />

Welt in die Gemeinschaft mit dem H<strong>er</strong>rn”, die V<strong>er</strong>wandlung d<strong>er</strong> Erde “vom Tal d<strong>er</strong> Tränen in einen Garten Gottes”<br />

(10, 12). Am 1. Adventssonntag 2005 sprach d<strong>er</strong> neue Papst davon, dass Christen “mit dem Beistand<br />

Gottes die Welt v<strong>er</strong>änd<strong>er</strong>n können” und rief dazu auf “durch Taten d<strong>er</strong> Liebe d<strong>er</strong> Wied<strong>er</strong>kunft des H<strong>er</strong>rn die<br />

4


<strong>Von</strong> protestantischen Theologen <strong>wird</strong> die Wied<strong>er</strong>kunft Christi manchmal offen in Frage<br />

gestellt, ein kataklysmisches Ende d<strong>er</strong> Geschichte für undenkbar gehalten. “Die mythische<br />

Eschatologie ist im Grunde durch die einfache Tatsache <strong>er</strong>ledigt, dass Christi Parusie nicht,<br />

wie das Neue Testament <strong>er</strong>wartet, alsbald stattgefunden hat, sond<strong>er</strong>n dass die Weltgeschichte<br />

weit<strong>er</strong>lief und – wie jed<strong>er</strong> Zurechnungsfähige üb<strong>er</strong>zeugt ist – weit<strong>er</strong>laufen <strong>wird</strong>.” 21 “Die<br />

Hoffnung d<strong>er</strong> Urgemeinde ab<strong>er</strong> auf ein baldiges Weltende ist durch die Geschichte unrettbar<br />

wid<strong>er</strong>legt worden. ... Nach 1900 Jahren ist die Zeit für eine einig<strong>er</strong>maßen pünktliche Erfüllung<br />

d<strong>er</strong> urchristlichen Nah<strong>er</strong>wartung unwid<strong>er</strong>ruflich vorbei.” 22 Parusiehoffnung als ein Zeichen<br />

intellektuell<strong>er</strong> Armut?<br />

Wie gehen Theologen mit den ntl. Aussagen üb<strong>er</strong> das endzeitliche Handeln Gottes um?<br />

Während die präsentische Eschatologie das Reich Gottes in d<strong>er</strong> glaubenden Existenz b<strong>er</strong>eits<br />

v<strong>er</strong>wirklicht sieht (Bultmann, Dodd) und die transzendentale Eschatologie es in d<strong>er</strong><br />

üb<strong>er</strong>zeitlichen Ewigkeit wähnt (Barth, Althaus), <strong>er</strong>wartet die futurische Eschatologie das<br />

Kommen d<strong>er</strong> Gottesh<strong>er</strong>rschaft in d<strong>er</strong> geschichtlichen Zukunft, begleitet von großen<br />

politischen, gesellschaftlichen und sozialen V<strong>er</strong>änd<strong>er</strong>ungen (Pannenb<strong>er</strong>g, Moltmann 23 , Teilhard<br />

de Chardin, Politische Theologie, Theologie d<strong>er</strong> Befreiung u.a.). Die heilsgeschichtliche<br />

Theologie dagegen sieht in Tod und Auf<strong>er</strong>stehung Jesu die Mitte d<strong>er</strong> Zeit, die bei sein<strong>er</strong><br />

Parusie ihren Abschluß findet. Erst<strong>er</strong> und zweit<strong>er</strong> Advent bilden den Höhepunkt bzw. den<br />

Endpunkt d<strong>er</strong> Heilsgeschichte. Die Gegenwart ist als Endzeit so-t<strong>er</strong>iologisch wie<br />

eschatologisch gefüllt und auf die Vollendung ausg<strong>er</strong>ichtet (Cullmann, Ladd). 24<br />

Wo liegen die Ursachen dies<strong>er</strong> tiefen Diskrepanz zwischen Glaubenbekenntnis und<br />

Lebenspraxis, biblischem Zeugnis und theologisch<strong>er</strong> Reflexion? Entscheidend<strong>er</strong> Auslös<strong>er</strong> ist<br />

zweifellos das faktische Ausbleiben d<strong>er</strong> <strong>er</strong>warteten Parusie. Dies führte zur Suche nach<br />

alt<strong>er</strong>nativen Deutungs- und V<strong>er</strong>stehensmöglichkeiten d<strong>er</strong> biblischen Texte. Die Betonung<br />

präsentisch<strong>er</strong> Heils<strong>er</strong>fahrung hatte die V<strong>er</strong>nachlässigung futurisch<strong>er</strong> Heilsaussagen des<br />

Evangeliums zur Folge. V<strong>er</strong>bunden mit einem immanenten Welt- und Geschichtsv<strong>er</strong>ständnis<br />

sowie ein<strong>er</strong> negativ-kritischen Bew<strong>er</strong>tung apokalyptisch<strong>er</strong> Eschatologie entwickelte sich eine<br />

Zukunftsschau, für die die Parusie entbehrlich <strong>er</strong>scheint. Doch d<strong>er</strong> Preis ist hoch. Die<br />

Christenheit hat sich in dies<strong>er</strong> Welt dau<strong>er</strong>haft eing<strong>er</strong>ichtet, d<strong>er</strong> Realität angepasst und so die<br />

ursprüngliche “Radikalität d<strong>er</strong> christlichen Existenz” v<strong>er</strong>loren. 25<br />

Wege zu be-reiten”<br />

(www.vatican.va/holy_fath<strong>er</strong>/benedict_xvi/angelus/2005/documents/hf_ben_xvi_ang_20051127_ge.html).<br />

21 Rudolf Bultmann, “Neues Testament und Mythologie”, in: K<strong>er</strong>ygma und Mythos, Band 1: Ein theologisches<br />

Gespräch, hg. H.-W. Bartsch, Hamburg-Volksdorf: Reich Evangelisch<strong>er</strong> V<strong>er</strong>lag, 1954 3 , 18. “Die urchristliche<br />

Parusie<strong>er</strong>wartung ist für die mod<strong>er</strong>ne Theologie eine V<strong>er</strong>legenheit, von d<strong>er</strong> sie sich mit Hilfe d<strong>er</strong><br />

Entmythologisi<strong>er</strong>ung befreien zu können glaubt.” (Moltmann, “Die Parusie Christi”, 336)<br />

22 Ethelb<strong>er</strong>t Stauff<strong>er</strong>, Jesus war ganz and<strong>er</strong>s, Hamburg: Wittig, 1967, 270f.<br />

23 Moltmann unt<strong>er</strong>scheidet zwischen dem zukünftigen ewigen Advent und dem v<strong>er</strong>gänglichen Futur(um) und hält<br />

dabei an ein<strong>er</strong> “real-futurischen Parusie<strong>er</strong>wartung” fest (Moltmann, “Die Parusie Christi”, 341f.).<br />

24 Die begrifflichen Abgrenzungen sind ebenso <strong>er</strong>hellend wie v<strong>er</strong>wirrend: horizontal-lineare Escha-tologie,<br />

v<strong>er</strong>tikal-existentiale Eschatologie, adventlich-antizipatorische Eschatologie, messianisch-apokalyptische<br />

Eschatologie, univ<strong>er</strong>salgeschichtlich-proleptische Eschatologie etc. (B<strong>er</strong>told Klapp<strong>er</strong>t, Worauf wir hoffen: Das<br />

Kommen Gottes und d<strong>er</strong> Weg Jesu Christi. Mit e. Antwort von J. Moltmann, Güt<strong>er</strong>sloh: Kais<strong>er</strong>, 1997, 16-21,<br />

54)<br />

25 Hutten, 10. “War es ab<strong>er</strong> nicht auch ein Zeichen d<strong>er</strong> V<strong>er</strong>bürg<strong>er</strong>lichung des Christentums, dass die<br />

Parusie<strong>er</strong>wartung kraftlos wurde und d<strong>er</strong> aufgeklärten Welt nichts mehr zu sagen hatte?” (Moltmann, “Die<br />

Parusie Christi”, 337)<br />

5


II.<br />

Notwendigkeit und Bedeutung d<strong>er</strong> Parusie Christi<br />

Ist die Wied<strong>er</strong>kunft Christi in d<strong>er</strong> Tat entbehrlich, wie es manchen <strong>er</strong>scheint? Hat d<strong>er</strong> Glaube<br />

an seine Parusie in Macht und H<strong>er</strong>rlichkeit seine Bedeutung wirklich v<strong>er</strong>loren? Besitzt die<br />

Hoffnung auf den endzeitlichen Advent tatsächlich keine Kraft mehr, das Leben des Einzelnen<br />

sowie die Gesellschaft nachhaltig zu beeinflussen und zu b<strong>er</strong>eich<strong>er</strong>n? Positiv gefragt, wie kann<br />

diese Lehre heute v<strong>er</strong>standen und gelebt w<strong>er</strong>den? Welche bleibende Bedeutung hat die biblischchristliche<br />

V<strong>er</strong>kündigung vom Kommen des H<strong>er</strong>rn am Ende d<strong>er</strong> Zeit? In welch<strong>er</strong> Hinsicht ist<br />

sie möglich<strong>er</strong>-weise sogar unentbehrlich? Das sind die Fragen, die im Folgenden ansatzweise<br />

und in geboten<strong>er</strong> Kürze beantwortet w<strong>er</strong>den sollen. Ich beschränke mich dabei auf vi<strong>er</strong><br />

Aspekte, von denen die <strong>er</strong>sten beiden primär mit Gott, die and<strong>er</strong>en in <strong>er</strong>st<strong>er</strong> Linie mit uns<br />

Menschen zu tun haben.<br />

1. Ohne Parusie bleibt d<strong>er</strong> Heilsplan Gottes unvollendet.<br />

Gottes Heilsplan ist in Jesus Christus b<strong>er</strong>eits <strong>er</strong>füllt, ab<strong>er</strong> noch nicht vollendet. Erst nach<br />

sein<strong>er</strong> Wied<strong>er</strong>kunft kommt <strong>er</strong> zum Abschluss. “Die Parusie Christi ist kein entbehrliches<br />

Anhängsel an die Geschichte Christi, sond<strong>er</strong>n ihr Ziel, denn sie ist ihre Vollendung. Sie ist<br />

neutestamentlich nicht ein mythisch bestimmtes und darum zeitgeschichtlich bedingtes<br />

Gewand, das die Theologie beim Üb<strong>er</strong>gang in ein and<strong>er</strong>es Zeitalt<strong>er</strong> ablegen könnte, sond<strong>er</strong>n d<strong>er</strong><br />

tragende Schlussstein d<strong>er</strong> ganzen Christologie und darum auch d<strong>er</strong> Schlüssel zum V<strong>er</strong>ständnis<br />

d<strong>er</strong> Geschichte Christi.” 26 Die Wied<strong>er</strong>kunft Christi beendet die Menschheitsgeschichte und<br />

vollendet die Heilsgeschichte. Sie bringt die letzte Wende in d<strong>er</strong> Zeit, mit d<strong>er</strong> d<strong>er</strong> alte Äon sein<br />

unwid<strong>er</strong>rufliches Ende findet. Erst<strong>er</strong> und zweit<strong>er</strong> Advent Christi bilden den Höhepunkt bzw.<br />

Endpunkt d<strong>er</strong> Heilsgeschehens. “<strong>Von</strong> d<strong>er</strong> Parusie Christi <strong>er</strong>wartet die Gemeinde die<br />

Vollendung d<strong>er</strong> Heils- und die Beendigung d<strong>er</strong> Unheilsgeschichte, die Vollendung d<strong>er</strong> Befreiung<br />

und das Ende des Leidens. Darum gehören die Parusie Christi und das Ende dies<strong>er</strong> Weltzeit<br />

zusammen.” 27<br />

Die präsentische Eschatologie, die die neue Existenz des Glaubenden als die eigentliche<br />

Erfüllung christlich<strong>er</strong> Zukunftshoffnung v<strong>er</strong>steht, raubt ihr das letzte Ziel. Das Reich Gottes<br />

ist zwar b<strong>er</strong>eits real <strong>er</strong>fahrbar, ab<strong>er</strong> noch nicht univ<strong>er</strong>sal sichtbar. Tod und Auf<strong>er</strong>stehung<br />

Christi <strong>er</strong>möglichen im Glauben die Rechtf<strong>er</strong>tigung des Sünd<strong>er</strong>s, das antizipatorische Urteil des<br />

Jüngsten G<strong>er</strong>ichts. Es <strong>er</strong>setzt das Endg<strong>er</strong>icht jedoch nicht, sond<strong>er</strong>n v<strong>er</strong>langt notwendig<strong>er</strong>weise<br />

danach. E. Thurneysen, ein eng<strong>er</strong> Weggefährte Karl Barths, hat die Konsequenzen des V<strong>er</strong>lusts<br />

d<strong>er</strong> Parusiehoffnung so beschrieben: “Streiche die Wied<strong>er</strong>kunft weg, und du hast das Kreuz<br />

durchgestrichen. Streiche die Wied<strong>er</strong>kunft weg, und es ist aus mit d<strong>er</strong> Hoffnung auf den Sieg<br />

des Reiches des Vat<strong>er</strong>s üb<strong>er</strong> alle Reiche dies<strong>er</strong> Welt. Streiche die Wied<strong>er</strong>kunft weg, und es ist<br />

auch mit d<strong>er</strong> Auf<strong>er</strong>stehung von den Toten nichts, es ist nichts mit d<strong>er</strong> V<strong>er</strong>gebung d<strong>er</strong> Sünden<br />

und dem ewigen Leben.” 28<br />

26 Moltmann, “Die Parusie Christi”, 339f.<br />

27 Moltmann, “Die Parusie Christi”, 345. “Das Reich kommt nicht durch den Gang d<strong>er</strong> Geschichte, sond<strong>er</strong>n als<br />

Ende d<strong>er</strong> Geschichte. Es kommt nicht chronisch durch Entwicklung, sond<strong>er</strong>n akut, als Aufhebung dies<strong>er</strong> uns<strong>er</strong><strong>er</strong><br />

Geschichte. ... Es kommt allein durch die ... von außen in die Geschichte h<strong>er</strong>einbrechende und sie damit<br />

abbrechende Wied<strong>er</strong>kunft des H<strong>er</strong>rn. Die Parusie ist das Ende d<strong>er</strong> Geschichte.” (Paul Althaus, Die letzten Dinge:<br />

Lehrbuch d<strong>er</strong> Eschatologie, Güt<strong>er</strong>sloh: C. B<strong>er</strong>telsmann, 1922/1949, 250)<br />

28 Eduard Thurneysen, “Die Wied<strong>er</strong>kunft Christi,” in: Kreuz und Wied<strong>er</strong>kunft Christi, <strong>Theologische</strong> Existenz<br />

heute, Heft 60, München: Chr. Kais<strong>er</strong>, 1939, 23, 17-31.<br />

6


2. Ohne Parusie bleibt das Theodizeeproblem ungelöst.<br />

“Die biblische Eschatologie hat es in allen ihren Formen und bei allen ihren Einzelthemen mit<br />

d<strong>er</strong> Üb<strong>er</strong>windung des Bösen und d<strong>er</strong> Übel zu tun.” 29 Darum tangi<strong>er</strong>t die Parusiehoffnung<br />

unmittelbar auch das Theodizeeproblem – die wohl schwi<strong>er</strong>igste all<strong>er</strong> theologischen<br />

H<strong>er</strong>ausford<strong>er</strong>ungen. Wie kann man angesichts des Bösen und des Leidens in d<strong>er</strong> Welt von<br />

Gottes Allmacht, Liebe und G<strong>er</strong>echtigkeit zugleich reden? Alle wohlgemeinten und<br />

aufwendigen Erklärungsv<strong>er</strong>suche bleiben im letzten Sinne unbefriedigend. Die Frage nach dem<br />

g<strong>er</strong>echten und liebenden Gott <strong>wird</strong> – wenn üb<strong>er</strong>haupt – nur im Eschaton beantwortet w<strong>er</strong>den.<br />

“Erst die eschatologische Vollendung, in d<strong>er</strong> Gott ‘alle Tränen abwischen’ <strong>wird</strong> (Jes 25,8; Apk<br />

21,4) kann die Offenbarung d<strong>er</strong> Liebe Gottes in Schöpfung und Heilsgeschichte üb<strong>er</strong> allen<br />

Zweifel <strong>er</strong>heben.” 30 Auch hi<strong>er</strong> gilt: D<strong>er</strong> Tod und die Auf<strong>er</strong>stehung Jesu sind Antizipationen<br />

dies<strong>er</strong> letzten Rechtf<strong>er</strong>tigung Gottes, nicht ihr Ersatz. 31<br />

Erst bei d<strong>er</strong> Parusie Christi zeigt sich unmissv<strong>er</strong>ständlich, dass Gott tatsächlich gewillt und in<br />

d<strong>er</strong> Lage ist, alles Böse und Unrecht in d<strong>er</strong> Welt endgültig zu üb<strong>er</strong>winden. Sein Eintreten für<br />

Recht und G<strong>er</strong>echtigkeit, Liebe und Fairness, Güte und Barmh<strong>er</strong>zigkeit bildet ab<strong>er</strong> auch den<br />

Grund dafür, dass wir mit gleich<strong>er</strong> Üb<strong>er</strong>zeugung und Tatkraft für das Recht and<strong>er</strong><strong>er</strong> eintreten,<br />

gegen Unrecht und Gewalt Position beziehen, Schwache und Unt<strong>er</strong>drückte schützen sowie<br />

barmh<strong>er</strong>zig und liebevoll handeln. Ohne den Glauben an diesen letzten Erweis d<strong>er</strong><br />

G<strong>er</strong>echtigkeit und Liebe Gottes bleibt uns<strong>er</strong> menschlich<strong>er</strong> Einsatz für eine bess<strong>er</strong>e Welt nur<br />

unzureichend begründet. Die Parusiehoffnung unt<strong>er</strong>mau<strong>er</strong>t die christliche Ethik und stärkt<br />

uns<strong>er</strong>e Motivation, Gutes zu tun.<br />

3. Ohne Parusie bleibt das Unrecht für imm<strong>er</strong> ungesühnt.<br />

V<strong>er</strong>gossenes Blut schreit zum Himmel. Das gilt für Abel (Gen 4,10) ebenso wie für alle<br />

and<strong>er</strong>en unschuldig Getöteten (vgl. Apk 6,9f.). Wird ihr Schreien jemals gehört, ihr V<strong>er</strong>langen<br />

nach G<strong>er</strong>echtigkeit gestillt? Od<strong>er</strong> bleiben die Opf<strong>er</strong> von Unrecht und Gewalt für imm<strong>er</strong><br />

betrogen, das millionenfach <strong>er</strong>littene Unrecht auf ewig ungesühnt? Die Hoffnung auf die<br />

Parusie ist zugleich die Hoffnung auf ein letztes G<strong>er</strong>icht, in dem Gott Recht sprechen und<br />

Recht schaffen <strong>wird</strong>. Die neutestamentliche Rede vom Jüngsten G<strong>er</strong>icht ist eng mit d<strong>er</strong><br />

Ankündigung d<strong>er</strong> Parusie Christi und d<strong>er</strong> Auf<strong>er</strong>stehung d<strong>er</strong> Toten v<strong>er</strong>knüpft (z.B. Apg<br />

17,31f.). “Zur Vollendung des Reiches gehört die Beendigung des Unrechts. ... Es gibt keinen<br />

Grund, die Erwartung des G<strong>er</strong>ichts auszulassen od<strong>er</strong> sie als alt<strong>er</strong>tümliche Apokalyptik zu<br />

entmythologisi<strong>er</strong>en.” 32<br />

29 Wolfhart Pannenb<strong>er</strong>g, “Die Vollendung d<strong>er</strong> Schöpfung im Reich Gottes”, in: Systematische Theologie, Band<br />

3, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1993, 684.<br />

30 Ebd., 692.<br />

31 “Dah<strong>er</strong> <strong>wird</strong> <strong>er</strong>st die eschatologische Vollendung d<strong>er</strong> Welt den definitiven Existenzbeweis Gottes <strong>er</strong>bringen<br />

zugleich mit d<strong>er</strong> endgültigen Klärung d<strong>er</strong> Eigenart seines Wirkens und Wesens. ... Alle rationale Theodizee hat<br />

demgegenüb<strong>er</strong> bestenfalls vorläufige Bedeutung.” (Ebd., 678f.)<br />

32 Moltmann, “Die Parusie Christi”, 338f. “Darüb<strong>er</strong> sind sich ja fast alle Religionen einig, und nicht wenige<br />

Philosophen sagen es auf ihre etwas abstrakt<strong>er</strong>e Weise auch: dass diese Welt nicht denkbar ist ohne die letzte<br />

Instanz eines uns<strong>er</strong>e Taten und Untaten wägenden Weltg<strong>er</strong>ichtes.” (Eb<strong>er</strong>hard Jüngel, Anfäng<strong>er</strong>: H<strong>er</strong>kunft und<br />

Zukunft christlich<strong>er</strong> Existenz: Zwei Texte, Stuttgart: Radius, 2003, 46) Psychologisch betrachtet besitzt die<br />

Parusiehoffnung auch eine entlastende Funktion, indem die Opf<strong>er</strong> die Bestrafung d<strong>er</strong> Übeltät<strong>er</strong> und die<br />

Wied<strong>er</strong>gutmachung des Unrechts nicht in die eigene Hand zu nehmen v<strong>er</strong>suchen, sond<strong>er</strong>n die V<strong>er</strong>antwortung an<br />

Gott abtreten. Das befreit sie von d<strong>er</strong> V<strong>er</strong>suchung, an ihren Feinden Rache zu nehmen, Unrecht mit Unrecht zu<br />

v<strong>er</strong>gelten und so die Spirale d<strong>er</strong> Gewalt imm<strong>er</strong> weit<strong>er</strong> zu v<strong>er</strong>läng<strong>er</strong>n (vgl. Apk 6,9-11).<br />

7


“Gäbe es kein G<strong>er</strong>icht, dann wären die Weltgeschichte und das Leben eines Menschen selbst<br />

das G<strong>er</strong>icht.” 33 So hat es Schill<strong>er</strong> in einem Gedicht mit dem Titel “Resignation” gesehen. Für<br />

ihn gibt es keinen ewigen, nur einen zeitlichen Lohn: ungezügelt<strong>er</strong> Lebensgenuss für die einen,<br />

Glaube an Gott und hoffnungsvolle Entsagung für die and<strong>er</strong>en. “Die Weltgeschichte ist das<br />

Weltg<strong>er</strong>icht.” Somit hat es jed<strong>er</strong> Mensch selbst in d<strong>er</strong> Hand, auf welche Weise <strong>er</strong> sein Glück<br />

suchen und finden will. V<strong>er</strong>bindliche Normen gibt es nicht, ebenswenig wie eine letzte<br />

Kontrollinstanz, vor d<strong>er</strong> sich d<strong>er</strong> Mensch einmal zu v<strong>er</strong>antworten hätte. Damit sind d<strong>er</strong><br />

Willkür Tür und Tor geöffnet; denn ein G<strong>er</strong>icht, das die Dinge wied<strong>er</strong> zurechtrücken könnte<br />

findet nicht statt. D<strong>er</strong> Glaube an das Jüngste G<strong>er</strong>icht am “Tag des H<strong>er</strong>rn” bewahrt dagegen vor<br />

Willkür, Resignation od<strong>er</strong> Zynismus. 34<br />

4. Ohne Parusie bleibt d<strong>er</strong> Mensch sich selbst üb<strong>er</strong>lassen.<br />

Damit läuft alles auf die Frage hinaus: Welche Rolle spielt Gott selbst bzw. d<strong>er</strong> Mensch bei<br />

d<strong>er</strong> Weltvollendung? W<strong>er</strong> zeichnet für die Zukunft v<strong>er</strong>antwortlich? Liegt diese in menschlich<strong>er</strong><br />

Hand od<strong>er</strong> hat Gott das letzte Wort? Im Evangelium ist diese Frage längst beantwortet. Gott<br />

rettet den Menschen aus sein<strong>er</strong> V<strong>er</strong>lorenheit und <strong>er</strong>öffnet ihm Leben und Zukunft. Die<br />

Rechtf<strong>er</strong>tigung des Sünd<strong>er</strong>s ist ganz allein Gottes Tat, das neue Leben ein unv<strong>er</strong>dientes<br />

Geschenk d<strong>er</strong> Gnade, die Auf<strong>er</strong>stehung ein Zeichen d<strong>er</strong> göttlichen Schöpf<strong>er</strong>kraft. Doch wie<br />

sieht es mit d<strong>er</strong> Zukunft uns<strong>er</strong><strong>er</strong> Erde aus? Auch hi<strong>er</strong> ist die Antwort des Glaubens eindeutig.<br />

D<strong>er</strong> neue Himmel und die neue Erde entstehen nicht durch menschliche Bemühungen, sond<strong>er</strong>n<br />

durch einen souv<strong>er</strong>änen Schöpfungsakt Gottes (Jes 65,17; 2 Pet 3,13; Apk 21,1).<br />

Deshalb beten Christen im Vat<strong>er</strong>uns<strong>er</strong>: “Dein Reich komme!” (Mt 6,10) Dies<strong>er</strong> Satz enthält<br />

keine (Selbst-)Aufford<strong>er</strong>ung zur frommen Tat im Sinne eines “Lasst uns das Reich Gottes<br />

bauen!” Das wäre nur eine neue Form uralt<strong>er</strong> babylonisch<strong>er</strong> Hybris (Gen 11,4). Vielmehr<br />

handelt es sich dabei um die Bitte zu Gott, sein Friedensreich auf dies<strong>er</strong> Erde endlich und<br />

endgültig aufzurichten – ein Wunsch, den offenbar nur <strong>er</strong> selbst <strong>er</strong>füllen kann. Nicht wir sollen<br />

das Reich Gottes auf Erden <strong>er</strong>richten, sond<strong>er</strong>n Gott selb<strong>er</strong> <strong>wird</strong> seine V<strong>er</strong>heißung wahrmachen,<br />

in d<strong>er</strong> Gestalt seines Sohnes zu uns <strong>kommen</strong> und die H<strong>er</strong>rschaft üb<strong>er</strong>nehmen. “Das Gebet des<br />

H<strong>er</strong>rn handelt hauptsächlich vom endgültigen Kommen des Reiches Gottes durch die<br />

Wied<strong>er</strong>kunft Christi” (siehe Anm. 17). Christen tun gut daran, sich imm<strong>er</strong> wied<strong>er</strong> daran zu<br />

<strong>er</strong>inn<strong>er</strong>n. Nur so können sie d<strong>er</strong> V<strong>er</strong>suchung wied<strong>er</strong>stehen, ein irdisches Gottesreich in seinem<br />

Namen <strong>er</strong>richten zu wollen – und dabei zu Handlang<strong>er</strong>n des Bösen zu w<strong>er</strong>den. Karl Popp<strong>er</strong><br />

hat es treffend auf den Punkt gebracht: “D<strong>er</strong> V<strong>er</strong>such, den Himmel auf Erden einzurichten,<br />

<strong>er</strong>zeugt stets die Hölle.” 35<br />

Die Wied<strong>er</strong>kunft Christi ist somit keineswegs bedeutungslos od<strong>er</strong> entbehrlich. Denn <strong>er</strong>st mit ihr<br />

<strong>wird</strong> d<strong>er</strong> göttliche Heilsplan vollendet, die Theodizeefrage endgültig beantwortet, Recht und<br />

G<strong>er</strong>echtigkeit für alle aufg<strong>er</strong>ichtet, die tiefe menschliche Sehnsucht nach dau<strong>er</strong>haftem Frieden<br />

gestillt und d<strong>er</strong> Mensch zugleich vor d<strong>er</strong> Schuldv<strong>er</strong>strickung durch seine eigenen Ideale bewahrt.<br />

33 Schnelle, 676.<br />

34 Erich Kästn<strong>er</strong> hat diese befreiende Einsicht in seinem Vi<strong>er</strong>zeil<strong>er</strong> “Als die Synagogen brannten” äuß<strong>er</strong>st<br />

eindrücklich zum Ausdruck gebracht: “D<strong>er</strong> junge SA-Mann: Wo steckt Jehovah nun, d<strong>er</strong> nie v<strong>er</strong>zeiht? Ist <strong>er</strong>,<br />

Adresse unbekannt, v<strong>er</strong>zogen? D<strong>er</strong> alte Jude: Gibt’s einen Gott, gibt’s auch G<strong>er</strong>echtigkeit. Wenn’s keinen gibt,<br />

was braucht es Synagogen?” (Erich Kästn<strong>er</strong>, Kurz und bündig: Epigramme, B<strong>er</strong>lin, Darmstadt, Wien: Deutsche<br />

Buch-Gemeinschaft, 1967, 49).<br />

35 Karl R. Popp<strong>er</strong>, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 2: Falsche Propheten: Hegel, Marx und die<br />

Folgen, Tübingen: Mohr (Siebeck), 1992 7 , 277.<br />

8


III.<br />

Dialektik von Nähe und Distanz d<strong>er</strong> Parusie Christi<br />

Wenn die Hoffnung auf den Advent Christi auch heute noch von grundlegend<strong>er</strong> Bedeutung und<br />

Aktualität für Denken und Leben d<strong>er</strong> Ekklesia ist, welche Rolle spielt dann die im Neuen<br />

Testament mehr od<strong>er</strong> wenig<strong>er</strong> stark ausgeprägte Nah<strong>er</strong>wartung? Lässt sich d<strong>er</strong> Gedanke vom<br />

“baldigen” Kommen Christi üb<strong>er</strong>haupt noch aufrecht<strong>er</strong>halten? Lähmt die Nah<strong>er</strong>wartung nicht<br />

das Engagement d<strong>er</strong> Christen in Welt und Gesellschaft und g<strong>er</strong>ät so in Wid<strong>er</strong>spruch zum<br />

Glauben?<br />

1. Nah<strong>er</strong>wartung und Parusiev<strong>er</strong>zög<strong>er</strong>ung<br />

Das Neue Testament ringt offenkundig an vielen Stellen mit dem Problem d<strong>er</strong> Nah<strong>er</strong>wartung<br />

und Parusiev<strong>er</strong>zög<strong>er</strong>ung und bietet dazu unt<strong>er</strong>schiedliche Lösungen an. 36 So betonen die<br />

Schreib<strong>er</strong> ein<strong>er</strong>seits die Nähe d<strong>er</strong> Parusie Christi (Mt 10,23; 16,28; 24,33f.par; 1 Thess 4,15ff.;<br />

1 Pe 4,7; Jak 5,8f.; Offb 1,3; 3,11; 22,6-20), warnen and<strong>er</strong><strong>er</strong>seits ab<strong>er</strong> auch vor üb<strong>er</strong>steig<strong>er</strong>t<strong>er</strong><br />

Erwartung (Mt 24-25; Lk 21,9.24; 2 Thess 2,1ff.; Offb 6,10f.) sowie vor den Folgen ihres<br />

V<strong>er</strong>blassens (Röm 13,11ff.; Hbr 10,23-25). 37 Üb<strong>er</strong>einstimmend <strong>er</strong>klären sie jedoch: Niemand<br />

kann sagen, wie bald Christus wied<strong>er</strong>kommt. Sein Kommen ist gewiss, d<strong>er</strong> Zeitpunkt bleibt<br />

uns jedoch v<strong>er</strong>borgen. Er kommt üb<strong>er</strong>raschend und plötzlich wie ein Dieb, darum ist stete<br />

Wachsamkeit und geduldiges Ausharren <strong>er</strong>ford<strong>er</strong>lich (Mt 10,22; 24,13.36-25,13par; Apg 1,7;<br />

Jak 5,7-9; Offb 13,10).<br />

Die Zeit des Wartens ist in ihr<strong>er</strong> Dau<strong>er</strong> (Quantität) unbestimmt, in ihrem Wesen (Qualität)<br />

jedoch als “Endzeit” charakt<strong>er</strong>isi<strong>er</strong>t. Mit Jesus sind die letzten Tage angebrochen (Apg 2,17; 1<br />

Kor 10,11; 1 Tim 4,1; 2 Tim 3,1; 1 Pet 1,20; 4,7; 1 Joh 2,18; Heb 1,2; 9,26-28; Jak 5,3).<br />

Seitdem leben wir in ein<strong>er</strong> Üb<strong>er</strong>gangsphase, in d<strong>er</strong> d<strong>er</strong> alte und d<strong>er</strong> neue Äon nebeneinand<strong>er</strong><br />

existi<strong>er</strong>en. Wenn Christus kommt, <strong>wird</strong> das Alte für imm<strong>er</strong> v<strong>er</strong>gehen, das Neue auf ewig<br />

Bestand haben. Das “Siehe, ich komme bald!” will also nicht in <strong>er</strong>st<strong>er</strong> Linie chronologischquantitativ,<br />

sond<strong>er</strong>n theologisch-qualitativ v<strong>er</strong>standen w<strong>er</strong>den. Weil die V<strong>er</strong>heißungen d<strong>er</strong><br />

Propheten <strong>er</strong>füllt sind und das Reich Gottes ge<strong>kommen</strong> ist, deshalb leben wir am Ende d<strong>er</strong><br />

Zeiten, deshalb steht das Ende all<strong>er</strong> Dinge nahe vor d<strong>er</strong> Tür – unabhängig davon, wie lange d<strong>er</strong><br />

H<strong>er</strong>rn noch v<strong>er</strong>ziehen mag.<br />

Die “eschatologische Qualifikation d<strong>er</strong> Gegenwart” (Schnelle) bedeutet nicht die V<strong>er</strong>mischung<br />

von Gegenwart und Zukunft, die Auflösung des Unt<strong>er</strong>schieds zwischen dem gegenwärtigen<br />

Heil und sein<strong>er</strong> Vollendung im Eschaton. Erst die Parusie Christi <strong>wird</strong> die v<strong>er</strong>heißene<br />

Vollendung d<strong>er</strong> im Glauben b<strong>er</strong>eits <strong>er</strong>fahrbaren Erlösung bringen. Beide zusammen bilden<br />

36 Während die Synoptik<strong>er</strong> die V<strong>er</strong>klärung Jesu offenbar als (eine) Erfüllung d<strong>er</strong> Ankündigung Jesu vom<br />

Kommen des Gottesreiches ansehen (Mk 9,1ff.par), betont Johannes die präsentische Dimension des Heils. Die<br />

Apostelgeschichte rückt das Kommen des heiligen Geistes in den Vord<strong>er</strong>grund. Im Corpus Paulinum finden sich<br />

unt<strong>er</strong>schiedliche Antworten auf das Problem d<strong>er</strong> Parusiev<strong>er</strong>zög<strong>er</strong>ung (vgl. 1 Thess 4,13ff. und 2 Thess 2,1ff.).<br />

D<strong>er</strong> 2. Petrusbrief dagegen weist auf Gottes and<strong>er</strong>es Zeitmaß und seine Geduld mit Sünd<strong>er</strong>n hin (3,8f.), während<br />

die Apokalypse die gegenwärtige Leidenszeit d<strong>er</strong> Gemeinde als “eine kleine Zeit” des Ausharrens bezeichnet<br />

(6,11).<br />

37 Dass sich diese Antworten nicht nur bei unt<strong>er</strong>schiedlichen Autoren, sond<strong>er</strong>n auch inn<strong>er</strong>halb desselben<br />

biblischen Buches finden (Matthäus, Lukas, Offenbarung), zeigt, dass die neutestamentlichen Schreib<strong>er</strong> um eine<br />

Balance zwischen gespannt<strong>er</strong> Erwartung und geduldigem Abwarten bemüht sind.<br />

9


sachlich betrachtet ein einziges Geschehen, liegen ab<strong>er</strong> zeitlich gesehen auseinand<strong>er</strong>. 38 Die<br />

Parusie und das mit ihr v<strong>er</strong>bundene Endg<strong>er</strong>icht bilden das eine entscheidende Ereignis des<br />

göttlichen Heilsplans, dessen V<strong>er</strong>wirklichung noch aussteht. Entscheidend ist jedoch nicht das<br />

ungewisse “wann” (Mt 24,3), sond<strong>er</strong>n das sich<strong>er</strong>e “dann” (Mt 24,14.30.40) d<strong>er</strong> Wied<strong>er</strong>kunft<br />

Christi und d<strong>er</strong> Vollendung. 39<br />

Nah<strong>er</strong>wartung hat ab<strong>er</strong> nicht nur eine chronologisch-quantitative und theologisch-qualitative,<br />

sond<strong>er</strong>n auch eine psychologisch-emotive Seite. W<strong>er</strong> imm<strong>er</strong> auf den Advent Christi hofft, hält<br />

zwangsläufig zu seinen Lebzeiten Ausschau danach. Wird die Parusie dagegen inn<strong>er</strong>halb d<strong>er</strong><br />

eigenen Lebenszeit nicht für realistisch gehalten, entfällt auch d<strong>er</strong> Impuls des Wartens. Darum<br />

schließt das aktive Warten auf den H<strong>er</strong>rn imm<strong>er</strong> auch den Gedanken sein<strong>er</strong> Nähe ein. W<strong>er</strong> sich<br />

nach einem geliebten Menschen sehnt, hofft auf die baldige Begegnung mit ihm; w<strong>er</strong> auf<br />

Christus wartet, ebenfalls. “Eine lebendige End<strong>er</strong>wartung kann nur in d<strong>er</strong> Form d<strong>er</strong><br />

Nah<strong>er</strong>wartung existi<strong>er</strong>en. Nur dann ist sie ‘aktuell’. ... Zur End<strong>er</strong>wartung gehört also das<br />

‘Bald’.” 40<br />

Kirchenvat<strong>er</strong> Augustinus hat die Kennzeichen christlichen Wartens auf den Advent so<br />

zusamen-gefasst: “Nicht d<strong>er</strong>jenige liebt die Wied<strong>er</strong>kunft des H<strong>er</strong>rn, d<strong>er</strong> sagt, sie liegt noch in<br />

weit<strong>er</strong> F<strong>er</strong>ne; auch nicht d<strong>er</strong>, d<strong>er</strong> sagt, sie steht unmittelbar bevor; sond<strong>er</strong>n d<strong>er</strong>jenige, d<strong>er</strong> sie<br />

mit <strong>er</strong>nstem Glauben, fest<strong>er</strong> Hoffnung und brennend<strong>er</strong> Liebe <strong>er</strong>wartet, ganz gleich, ob sie f<strong>er</strong>n<br />

od<strong>er</strong> nah ist.” 41<br />

2. Wied<strong>er</strong>kunfts<strong>er</strong>wartung und Weltv<strong>er</strong>antwortung<br />

Zur Dialektik von Nähe und Distanz d<strong>er</strong> Parusie gehört auch die notwendige Spannung<br />

zwischen lebendig<strong>er</strong> Adventhoffnung und praktisch<strong>er</strong> Nächstenliebe. Zu allen Zeiten ihr<strong>er</strong><br />

Existenz war die Kirche von zwei Extremhaltungen bedroht: von fromm<strong>er</strong> Weltflucht und<br />

gnostisch-dualistisch<strong>er</strong> Weltv<strong>er</strong>neinung auf d<strong>er</strong> einen, gottv<strong>er</strong>gessen<strong>er</strong> Weltliebe und<br />

sündhaft<strong>er</strong> Weltv<strong>er</strong>fallenheit auf d<strong>er</strong> and<strong>er</strong>en Seite. Die biblische Alt<strong>er</strong>native dazu lautet:<br />

aktive Weltv<strong>er</strong>antwortung und tätige Nächstenliebe im Geist Jesu Christi. Damit <strong>wird</strong> ein<strong>er</strong><br />

pharisäischen Selbstisolation und dem ängstlichen Rückzug aus d<strong>er</strong> sündigen Welt ebenso<br />

gewehrt wie d<strong>er</strong> Preisgabe d<strong>er</strong> genuinen und distinktiven christlichen Zukunfts<strong>er</strong>wartung.<br />

Christen glauben an, hoffen auf und arbeiten für eine bess<strong>er</strong>e Welt. Deshalb ziehen sie sich<br />

nicht in ihr eigenes frommes Ghetto zurück, sond<strong>er</strong>n wenden sich d<strong>er</strong> Welt und den Menschen<br />

in selbstlos<strong>er</strong> Liebe zu. Das Wissen um die letzten (ewigen und endgültigen) Dinge hilft ihnen<br />

38 D<strong>er</strong> fließende Üb<strong>er</strong>gang zwischen d<strong>er</strong> gegenwärtigen und d<strong>er</strong> zukünftigen Auf<strong>er</strong>stehung in Joh 5,21-29 weist<br />

ebenfalls auf die enge inhaltliche V<strong>er</strong>bindung zwischen d<strong>er</strong> Erfüllung und Vollendung d<strong>er</strong> Erlösung hin.<br />

39 Zum ntl. Zeitv<strong>er</strong>ständnis siehe Oscar Cullmann, Christus und die Zeit: Die urchristliche Zeit- und<br />

Geschichtsauffassung, Zollikon-Zürich: Evangelisch<strong>er</strong> V<strong>er</strong>lag, 1948 2 ; G<strong>er</strong>hard Delling, Das Zeitv<strong>er</strong>ständnis des<br />

Neuen Testaments, Güt<strong>er</strong>sloh: B<strong>er</strong>telsmann, 1940; d<strong>er</strong>s., Zeit und Endzeit: Zwei Vorlesungen zur Theologie des<br />

Neuen Testaments, hg. Helmut Gollwitz<strong>er</strong>, Biblische Studien 58, Neukirchen-Vluyn: Neukirchen<strong>er</strong> V<strong>er</strong>lag,<br />

1970; K. Erlemann, Nah<strong>er</strong>wartung und Parusiev<strong>er</strong>zög<strong>er</strong>ung im Neuen Testament: Ein Beitrag zur Frage<br />

religiös<strong>er</strong> Zeit<strong>er</strong>fahrung, TANZ 17, Tübingen: Francke, 1995; d<strong>er</strong>s., Endzeit<strong>er</strong>wartungen im frühen<br />

Christentum, UTB 1937, Tübingen: Francke, 1996.<br />

40 Hutten, 11f. Zum Unt<strong>er</strong>schied zwischen passiv v<strong>er</strong>harrendem Warten im Noch-Nicht und aktiv<strong>er</strong>,<br />

zielg<strong>er</strong>ichtet<strong>er</strong> Erwartung des Zukünftigen, siehe Lothar Pikulik, Warten, Erwartung: Eine Lebensform in Endund<br />

Üb<strong>er</strong>gangszeiten: An Beispielen aus d<strong>er</strong> Geistesgeschichte, Lit<strong>er</strong>atur und Kunst, Vandenhoeck & Ruprecht,<br />

1997. Ein klassisches Beispiel le<strong>er</strong>en Wartens bietet Samuel Becketts absurdes Drama “Warten auf Godot”.<br />

41 Brief 199; lat. Text in: CSEL 57, S. 255.<br />

10


im Umgang mit den vorletzten (vorläufigen und v<strong>er</strong>gänglichen). D<strong>er</strong> Einsatz für eine bess<strong>er</strong>e<br />

Welt lohnt sich – selbst dann, wenn uns<strong>er</strong> Bemühen <strong>er</strong>folglos zu sein scheint. Auf den Advent<br />

Christi hoffen, heißt wissen, dass das Gute letztlich siegen und das Böse v<strong>er</strong>gehen <strong>wird</strong>. Das<br />

befreit auch von d<strong>er</strong> V<strong>er</strong>suchung, die H<strong>er</strong>rschaft Gottes auf dies<strong>er</strong> Erde mit allen Mitteln<br />

(einschließlich denen d<strong>er</strong> Gewalt) durchsetzen zu wollen – eine V<strong>er</strong>suchung, d<strong>er</strong> die<br />

Christenheit nach ihr<strong>er</strong> An<strong>er</strong>kennung und Privilegi<strong>er</strong>ung im 4. Jahrhund<strong>er</strong>t n. Chr. nicht zu<br />

wid<strong>er</strong>stehen v<strong>er</strong>mochte.<br />

Die Liebesethik des Neuen Testaments <strong>wird</strong> an mehr<strong>er</strong>en Stellen eschatologisch begründet.<br />

Das Wissen um den nahe bevorstehenden Tag des H<strong>er</strong>rn schärft das Bewusstsein für Recht<br />

und G<strong>er</strong>echtigkeit, motivi<strong>er</strong>t zum v<strong>er</strong>antwortungsvollen Leben und fürsorglichen Handeln und<br />

schützt vor egoistisch<strong>er</strong> Rücksichts- und Zügellosigkeit. 42 Adventglaube blickt nicht v<strong>er</strong>träumt<br />

in den Himmel, sond<strong>er</strong>n nücht<strong>er</strong>n auf die Zukunft dies<strong>er</strong> Erde. Parusiehoffnung und<br />

Zukunftsgestaltung, aktive Wied<strong>er</strong>kunfts<strong>er</strong>wartung und gesellschaftliches Engagement gehen<br />

Hand in Hand. Christen wissen sich als V<strong>er</strong>walt<strong>er</strong> dies<strong>er</strong> Erde, bis ihr H<strong>er</strong>r wied<strong>er</strong>kommt. Eine<br />

im Neuen Testament v<strong>er</strong>ortete Nah<strong>er</strong>wartung v<strong>er</strong>leitet deshalb nicht zum spekuli<strong>er</strong>enden<br />

Nichtstun, sond<strong>er</strong>n motivi<strong>er</strong>t zu tätigem Glauben. Sie führt zu ein<strong>er</strong> Neuordnung d<strong>er</strong><br />

Prioritäten und W<strong>er</strong>te, indem sie Gegenwärtiges relativi<strong>er</strong>t, Unvoll<strong>kommen</strong>es akzepti<strong>er</strong>t, und<br />

Zukünftiges proleptisch visualisi<strong>er</strong>t.<br />

Die angemessene Vorb<strong>er</strong>eitung auf die Parusie besteht also im aktiven Warten auf den H<strong>er</strong>rn.<br />

In diesem Sinn ist Weltv<strong>er</strong>antwortung ein Ausdruck christlich<strong>er</strong> Zukunfts<strong>er</strong>wartung und ein<br />

Zeichen d<strong>er</strong> Hoffnung auf eine neue, bess<strong>er</strong>e Welt. Sie ist die lebendige Konkretion d<strong>er</strong><br />

Parusie<strong>er</strong>wartung, nicht ihre glaubensle<strong>er</strong>e Substitution, und ihr eigentliches<br />

Erkennungszeichen, kein billig<strong>er</strong> Ersatz dafür. Eine im Evangelium vom Heil v<strong>er</strong>wurzelte<br />

apokalyptische Weltsicht v<strong>er</strong>breitet Zuv<strong>er</strong>sicht, nicht Pessimismus, sie förd<strong>er</strong>t Engagement,<br />

nicht Resignation. Im selbstlosen Dienst für die Welt festigt und <strong>er</strong>neu<strong>er</strong>t sich die christliche<br />

Hoffnung. Indem Christen Anteil nehmen am Leiden d<strong>er</strong> Schöpfung und ihr<strong>er</strong> Sehnsucht nach<br />

Erlösung, v<strong>er</strong>breiten sie das Licht d<strong>er</strong> Hoffnung. Solidarität mit d<strong>er</strong> gesamten Schöpfung<br />

Gottes kennzeichnet somit echte Parusie<strong>er</strong>wartung (Röm 8,18ff.).<br />

Folgende Geschichte illustri<strong>er</strong>t diese Einsicht: Im 19.Jahrhund<strong>er</strong>t tagte irgendwo im<br />

Mittelwesten Am<strong>er</strong>ikas ein Parlament. Da trat eine Sonnenfinst<strong>er</strong>nis ein. Eine Panik drohte<br />

auszubrechen, weil man den Weltunt<strong>er</strong>gang befürchtete. Daraufhin sagte ein Abgeordnet<strong>er</strong>:<br />

“Meine H<strong>er</strong>ren, es gibt jetzt nur zwei Möglichkeiten. Entwed<strong>er</strong> d<strong>er</strong> H<strong>er</strong>r kommt – dann soll <strong>er</strong><br />

uns bei d<strong>er</strong> Arbeit finden. Od<strong>er</strong> <strong>er</strong> kommt nicht – dann besteht kein Grund, uns<strong>er</strong>e Arbeit zu<br />

unt<strong>er</strong>brechen.”<br />

D<strong>er</strong> ökumenische Kirchentag anläßlich d<strong>er</strong> 1200-Jahrfei<strong>er</strong> d<strong>er</strong> Stadt Halle trägt das Motto: “Ihr<br />

seid das Salz d<strong>er</strong> Erde.” Das ist nicht nur eine gelungene Hommage an die alte Salzstadt,<br />

sond<strong>er</strong>n auch eine anschauliche Beschreibung d<strong>er</strong> Aufgabe d<strong>er</strong> Christen in d<strong>er</strong> Welt (Mt 5,13).<br />

Mit ihrem Glauben an die von Gott v<strong>er</strong>heißene neue Erde und ihrem Einsatz für die<br />

<strong>er</strong>lösungsbedürftige alte Erde v<strong>er</strong>breiten Christen das kostbare Salz d<strong>er</strong> Hoffnung. Uns<strong>er</strong>e<br />

Gesellschaft benötigt solche Menschen wie Lebensmittel das Salz. D<strong>er</strong> katholische<br />

Dogmatik<strong>er</strong> Michael Schmaus beschrieb wohl wenig<strong>er</strong> die Realität als das Ideal, als <strong>er</strong><br />

formuli<strong>er</strong>te: “Die Hoffnung auf den <strong>kommen</strong>den H<strong>er</strong>rn prägt das Denken und Leben, ja die<br />

42 Mt 24,45ff.; 25,14ff.; Röm 13,11ff.; 1 Thess 5,6-8; 2 Pet 3,11ff.; 1 Joh 3,1ff.; vgl. Jes 56,1.<br />

11


ganze Existenz des Christen.” 43 Solche Menschen sind die lebendige Antwort auf die Frage,<br />

wie die Wied<strong>er</strong>kunft Jesu heute v<strong>er</strong>standen w<strong>er</strong>den kann.<br />

Das folgende Zitat von Emil Brunn<strong>er</strong> fasst das Anliegen dieses Vortrags anschaulich<br />

zusammen:<br />

“Sowenig als d<strong>er</strong> Anfang ein<strong>er</strong> Rede Sinn hat, wenn sie nicht zu Ende kommt,<br />

sowenig hat d<strong>er</strong> Glaube Sinn, wenn <strong>er</strong> nicht zu seinem Ziel kommt in d<strong>er</strong><br />

Volloffenbarung, in d<strong>er</strong> Apokalypsis, die Parusia heißt, in d<strong>er</strong> Parusia, die<br />

Apokalypsis heißt. Aus alledem <strong>wird</strong> deutlich, dass dies<strong>er</strong> Gedanke von d<strong>er</strong><br />

Zu-kunft alles and<strong>er</strong>e als entbehrliche Mythologie ist. Was imm<strong>er</strong> die Gestalt<br />

dieses Geschehens sein möge: an ihr, d<strong>er</strong> Zu-kunft selbst, dass sie geschieht,<br />

liegt alles. An ihr rütteln zu wollen, hieße am Fundament des Glaubens rütteln,<br />

den Schluss-stein h<strong>er</strong>ausbrechen, in dem alles zusammengehalten <strong>wird</strong> und ohne<br />

den alles auseinand<strong>er</strong>fällt. D<strong>er</strong> Glaube an Jesus ohne die Erwartung sein<strong>er</strong><br />

Parusie ist ein Gutschein, d<strong>er</strong> nie eingelöst <strong>wird</strong>, ein V<strong>er</strong>sprechen, das nicht<br />

<strong>er</strong>nst gemeint ist. Ein Christusglaube ohne Parusie<strong>er</strong>wartung ist wie eine<br />

Treppe, die nirgendwohin führt, sond<strong>er</strong>n im Le<strong>er</strong>en endet. ... Ohne das<br />

Kommen des H<strong>er</strong>rn in H<strong>er</strong>rlichkeit bleibt das neue Leben in d<strong>er</strong> V<strong>er</strong>borgenheit,<br />

gibt es für die un<strong>er</strong>löste Welt keine Vollendung. ... Wir wissen, dass uns<strong>er</strong><br />

Erkennen Stückw<strong>er</strong>k ist, und wir sagen dies ganz besond<strong>er</strong>s im Gedanken an<br />

uns<strong>er</strong>e eschatologischen Vorstellungen. Ab<strong>er</strong> wir wissen auch, dass d<strong>er</strong> Glaube<br />

an das endgültige und alles vollendende Kommen des Offenbares und Erlös<strong>er</strong>s<br />

notwendig zum Glauben an den Gekreu-zigten und Auf<strong>er</strong>standenen gehört, an<br />

den, d<strong>er</strong> uns gemacht ist zur G<strong>er</strong>echtigkeit und zum Leben, auch wenn wir<br />

dieses endgültig-offenbarende Kommen nur in d<strong>er</strong> stammelnden Sprache d<strong>er</strong><br />

apokalyptischen Symbolik formuli<strong>er</strong>en können.” 44<br />

43 Michael Schmaus, Katholische Dogmatik, Band 4, Teil 2: <strong>Von</strong> den letzten Dingen, München: Max Hueb<strong>er</strong>,<br />

1953, 26f. Dass es dabei auch zu falschen Erwartungen und bitt<strong>er</strong>en Enttäuschungen <strong>kommen</strong> kann, ist in d<strong>er</strong><br />

Kirchengeschichte vielfach belegt. Kardinal Newman meinte einmal dazu: “Es ist tausendmal bess<strong>er</strong> zu glauben,<br />

dass Christus kommt, wenn <strong>er</strong> nicht kommt, als ein einziges Mal zu glauben, dass <strong>er</strong> nicht kommt, wenn <strong>er</strong><br />

wirklich kommt! ... Ich möchte lieb<strong>er</strong> d<strong>er</strong>jenige sein, d<strong>er</strong> aus Liebe zu Christus und Mangel an Wissenschaft<br />

irgendeine unbedeutende Erscheinung am Himmel ... als ein Zeichen d<strong>er</strong> Wied<strong>er</strong>kunft Christi ansieht, als ein<br />

Mensch, d<strong>er</strong> durch Üb<strong>er</strong>fluss an Wissenschaft und Mangel an Liebe nur üb<strong>er</strong> diesen Irrtum lacht.” (John Henry<br />

Newman, ziti<strong>er</strong>t bei Charles G<strong>er</strong>b<strong>er</strong>, Le Christ Revient, Dammarie-les-Lys: Les Signes des temps, 1949, 180).<br />

44 Emil Brunn<strong>er</strong>, Die christliche Lehre von d<strong>er</strong> Kirche, vom Glauben und von d<strong>er</strong> Vollendung, Dogmatik, Band<br />

3, Zürich: Zwingli-V<strong>er</strong>lag, 1960, 443-445.<br />

12


Ausgewählte Lit<strong>er</strong>aturhinweise<br />

Althaus, Paul. Die letzten Dinge: Lehrbuch d<strong>er</strong> Eschatologie. Güt<strong>er</strong>sloh: C. B<strong>er</strong>telsmann,<br />

1922/1949.<br />

Beiß<strong>er</strong>, Friedrich. Hoffnung und Vollendung. Güt<strong>er</strong>sloh: Güt<strong>er</strong>sloh<strong>er</strong> V<strong>er</strong>lagshaus Mohn, 1993.<br />

Brunn<strong>er</strong>, Emil. Die christliche Lehre von d<strong>er</strong> Kirche, vom Glauben und von d<strong>er</strong> Vollendung,<br />

Dogmatik, Band 3, Zürich: Zwingli-V<strong>er</strong>lag, 1960.<br />

Bultmann, Rudolf. Geschichte und Eschatologie. Tübingen: Mohr, 1964 2 .<br />

Cullmann, Oscar. Heil als Geschichte: Heilsgeschichtliche Existenz im Neuen Testament.<br />

Tübingen: Mohr, 1965.<br />

Kreck, Walt<strong>er</strong>. Die Zukunft des Ge<strong>kommen</strong>en: Grundprobleme d<strong>er</strong> Eschatologie. München:<br />

Kais<strong>er</strong>, 1961.<br />

Moltmann, Jürgen. Theologie d<strong>er</strong> Hoffnung: Unt<strong>er</strong>suchungen zur Begründung und zu den<br />

Konsequenzen ein<strong>er</strong> christlichen Eschatologie. München: Kais<strong>er</strong>, 1964.<br />

Moltmann, Jürgen. “Die Parusie Christi.” In: D<strong>er</strong> Weg Jesu Christi: Christologie in<br />

messianischen Dimensionen. München: Kais<strong>er</strong>, 1989. 337-366.<br />

Moltmann, Jürgen. Das Kommen Gottes: Christliche Eschatologie. Güt<strong>er</strong>sloh: Kais<strong>er</strong> /<br />

Güt<strong>er</strong>sloh<strong>er</strong> V<strong>er</strong>lagshaus, 1995.<br />

Oepke, Albrecht. “parousía, páreimi”. ThWNT. Hg. G. Friedrich. Band 5. Stuttgart:<br />

Kohlhamm<strong>er</strong>, 1954. 856-869.<br />

Pannenb<strong>er</strong>g, Wolfhart. “Die Vollendung d<strong>er</strong> Schöpfung im Reich Gottes.” In: Systematische<br />

Theologie, Band 3. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1993. 569-694.<br />

Pannenb<strong>er</strong>g, Wolfhart. “Die Aufgabe christlich<strong>er</strong> Eschatologie.” Zeitschrift für Theologie und<br />

Kirche 92 (1995):71-82.<br />

Pikulik, Lothar. Warten, Erwartung: Eine Lebensform in End- und Üb<strong>er</strong>gangszeiten: An Beispielen<br />

aus d<strong>er</strong> Geistesgeschichte, Lit<strong>er</strong>atur u. Kunst. Vandenhoeck & Ruprecht, 1997<br />

Plevnik, Joseph. Paul and the Parousia: An Exegetical and Theological Investigation.<br />

Peabody, MS: Hendrickson Publ., 1997.<br />

Pöhl<strong>er</strong>, Rolf J. “D<strong>er</strong> Adventismus als Endzeitbewegung – gest<strong>er</strong>n und heute.”<br />

Freikirchenforschung 11 (2001): 120-141.<br />

Pöhl<strong>er</strong>, Rolf J. “Kein ewig<strong>er</strong> Himmel ohne Jüngstes G<strong>er</strong>icht? Biblische Apokalyptik und<br />

christliche Hoffnung.” In: Apokalyptik und apokalyptisches Lebensgefühl. Hg.<br />

13


B<strong>er</strong>nhard Oestreich. Spes Christiana, Beiheft 5. <strong>Friedensau</strong>: <strong>Theologische</strong> <strong>Hochschule</strong><br />

<strong>Friedensau</strong>, 2001. 21-46.<br />

Rempel, G<strong>er</strong>hard. Ende und Vollendung d<strong>er</strong> Welt. D<strong>er</strong> Christ in d<strong>er</strong> Welt 4. Hamburg:<br />

Advent-V<strong>er</strong>lag, 1977.<br />

Schade, Hans-Heinrich. Apokalyptische Christologie bei Paulus: Studien zum Zusammenhang<br />

von Christologie u. Eschatologie in d. Paulusbriefen. Vandenhoeck & Ruprecht, 1981<br />

Schmaus, Michael. Katholische Dogmatik. Band 4, Teil 2: <strong>Von</strong> den letzten Dingen. München:<br />

Max Hueb<strong>er</strong>, 1953.<br />

Schnelle, Udo. Paulus: Leben und Denken. B<strong>er</strong>lin: Walt<strong>er</strong> de Gruyt<strong>er</strong>, 2003.<br />

Schwarz, Hans. Jenseits von Utopie und Resignation: Einführung in die Christliche<br />

Eschatologie. Wupp<strong>er</strong>tal und Zürich: R. Brockhaus, 1990.<br />

Schwarz, Hans. Die christliche Hoffnung: Grundkurs Eschatologie. Göttingen: Vandenhoeck<br />

& Ruprecht, 2002.<br />

Thurneysen, Eduard. “Die Wied<strong>er</strong>kunft Christi.” In: Kreuz und Wied<strong>er</strong>kunft Christi.<br />

<strong>Theologische</strong> Existenz heute, Heft 60. München: Chr. Kais<strong>er</strong>, 1939. 17-31.<br />

14

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!