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__________<br />
<strong>Theologische</strong><br />
<strong>Hochschule</strong><br />
Friedensau<br />
_________<br />
ALDEN THOMPSON<br />
INSPIRATION<br />
KNIFFLIGE FRAGEN - EHRLICHE ANTWORTEN<br />
__________<br />
Spes Christiana<br />
Beiheft 2<br />
1998<br />
__________
Titel der amerikanischen Originalausgabe:<br />
Inspiration. Hard Questions, Honest Answers<br />
© 1991 by Review and Herald Publ. Assn., Hagerstown, MD (USA)<br />
Herausgeber: Rolf J. Pöhler mit Johann Gerhardt<br />
im Auftrag der <strong>Theologische</strong>n <strong>Hochschule</strong> Friedensau<br />
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Rolf J. Pöhler<br />
Übersetzung: Dr. Lukas Haenel<br />
Redaktionelle Bearbeitung: Renate Poller;<br />
Candy Gunsch, Martin Peters, René Cornelius<br />
Korrektorat: Wolfgang F. Andersch, Reinhard Thäder<br />
L Dieses Buch ist auch auf Diskette erhältlich.<br />
Infos bei der ThH Friedensau anfordern!<br />
© 1998 <strong>Theologische</strong> <strong>Hochschule</strong> Friedensau, D-39291 Friedensau<br />
Herstellung: Grindeldruck GmbH, D-20144 Hamburg<br />
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede<br />
Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung<br />
des Herausgebers unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für<br />
Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen sowie die Verarbeitung in<br />
elektronischen Systemen.<br />
Alle Rechte vorbehalten - Printed in Germany<br />
ISSN 0942-5926
N.B.<br />
Die Seitenzahlen dieser Online-Version stimmen mit den der gedruckten Version<br />
nicht überein.
Inhaltsverzeichnis<br />
Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8<br />
Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />
Vorwort des Verfassers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />
TEIL I<br />
DOKUMENTE<br />
Klassische adventistische Aussagen über Inspiration<br />
Dokument 1<br />
Dokument 2<br />
Ellen G. White<br />
„Die Inspiration der prophetischen Schreiber“ . . . . . . . . . . . . . 21<br />
Ellen G. White<br />
Einführung in Der große Kampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29<br />
TEIL II<br />
THEORIE<br />
Plädoyer für eine pragmatische Einstellung zur Inspiration<br />
Kapitel 1<br />
Kapitel 2<br />
Kapitel 3<br />
Kapitel 4<br />
Kapitel 5<br />
Von Zweiflern, Ängstlichen und<br />
anderen Kindern Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39<br />
Über Offenbarung, Inspiration<br />
und Illumination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47<br />
Der Kanon<br />
Welche Bücher gehören in die Bibel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59<br />
Die Handschriften<br />
... und wenn etwas Wichtiges fehlt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69<br />
Die Übersetzungen<br />
Kann man sich auf sie verlassen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77<br />
Kapitel 6 Göttliche Botschaft – irdisches Gefäß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
Kapitel 7<br />
Kapitel 8<br />
Gottes Wort<br />
Beispielsammlung oder Regelwerk? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101<br />
Gottes Gesetz<br />
Eins ! Zwei ! Zehn ! Viele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115<br />
Exkurs A Die biblische Basis für die Gesetzespyramide . . . . . . 138<br />
Exkurs B Ellen G. White über das Wesen des Gesetzes . . . . . . 140<br />
TEIL III<br />
ILLUSTRATIONEN<br />
Die Probleme sind die Lösungen<br />
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145<br />
Kapitel 9 Das Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153<br />
Kapitel 10 Lieder und Gebete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157<br />
Kapitel 11 Worte der Weisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161<br />
Kapitel 12 Im Archiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165<br />
Kapitel 13 Im Studierzimmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169<br />
Kapitel 14 Bei den Verlegern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173<br />
Kapitel 15 Parallelabschnitte im Alten Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183<br />
Kapitel 16 Parallelabschnitte im Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199<br />
Kapitel 17 Visionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207<br />
Kapitel 18 Inspirierte Schreiber zitieren inspirierte Schreiber . . . . . . . . . 217<br />
Kapitel 19 Zahlen, Stammbäume, Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
TEIL IV<br />
ERGEBNIS<br />
Neue Einsichten gewinnen – den Glauben bewahren<br />
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253<br />
Kapitel 20<br />
Zwei Wege ins Verderben<br />
Der „rutschige Abhang“ und das „Rehabeam-Prinzip“ . . . . . . 255<br />
Kapitel 21 Es ist doch alles so klar! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267<br />
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271<br />
ANHANG<br />
Anhang A Die Inspirationsfrage in der Adventgeschichte . . . . . . . . . . . . 279<br />
Anhang B Die Revision der Testimonies for the Church . . . . . . . . . . . . . 285<br />
Anhang C Die Bedeutung des Wortes „Apokryphen“ . . . . . . . . . . . . . . . 289<br />
Anhang D Inspiration und prophetische Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291<br />
Anhang E Einstellungen zum Thema Exodus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305<br />
Anhang F Sind Meinungsverschiedenheiten fruchtbar oder schädlich? . 309<br />
Anhang G Ein autobiographischer Literaturhinweis . . . . . . . . . . . . . . . . . 315<br />
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325<br />
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
Die <strong>Theologische</strong> <strong>Hochschule</strong> Friedensau dankt<br />
der Advent-Stiftung in Basel für die tatkräftige<br />
Unterstützung und großzügige Förderung, durch<br />
die die Übersetzung und Herausgabe dieses Buches<br />
möglich wurde.<br />
Anliegen und Zweck der unabhängigen Stiftung ist<br />
die finanzielle Förderung von Projekten, die der<br />
Verkündigung des Evangeliums sowie der Verbreitung<br />
christlicher Literatur dienen.
Vorwort der Herausgeber<br />
Schon bald nach seinem Erscheinen im Jahr 1991 wurde die Übersetzung und<br />
Herausgabe des Buches Inspiration in deutscher Sprache von verschiedenen Seiten<br />
angeregt. Viele Leser sahen darin einen wichtigen Beitrag zu einer häufig kontrovers<br />
behandelten Frage. Die Reaktionen auf die Veröffentlichung des englischen Origin<strong>als</strong><br />
bestätigen dies.<br />
Die <strong>Theologische</strong> <strong>Hochschule</strong> Friedensau fühlt sich verpflichtet, kompetente<br />
Beiträge zur theologischen Diskussion zu veröffentlichen, die eine ausgewogene<br />
Meinungs- und Urteilsbildung fördern. Darum freuen wir uns, daß dieses Buch –<br />
dank des zielstrebigen Einsatzes von Übersetzer und Redakteuren, Sponsoren und<br />
<strong>Hochschule</strong> – nun <strong>als</strong> Beiheft zu Spes Christiana erscheinen kann.<br />
Thompsons Buch spiegelt eine doppelte Grundhaltung wider. Zum einen kommt<br />
darin eine hohe Achtung und Liebe zur Bibel <strong>als</strong> Wort Gottes sowie zu Ellen White<br />
zum Ausdruck. Der Verfasser sucht diese Wertschätzung bei seinen Lesern zu<br />
erhöhen und sie staunen zu lassen vor dem, was Gott für uns durch seine „Werkzeuge“<br />
getan hat. Zum anderen – und das verstärkt das Wunderbare an der Bibel – zeigt<br />
er, wie menschlich, ja beinahe alltäglich das Phänomen „Inspiration“ in der Praxis<br />
offenbar funktioniert.<br />
Für manche Leser mag die offene Behandlung scheinbarer Widersprüche und<br />
ungelöster Probleme, die Darlegung des Menschlichen an Gottes Wort, auf den<br />
ersten Blick neu und sogar anstößig erscheinen, wird doch die Aura des Unfehlbaren<br />
dabei angekratzt. Gleichzeitig jedoch macht die Relativierung des Gefäßes den darin<br />
enthaltenen Schatz umso sichtbarer, deutlicher, wunderbarer. Dadurch wird ein<br />
reiferer und differenzierterer Zugang zur Bibel gefördert, der das Vertrauen in Gottes<br />
Wort nicht schmälert, sondern sogar neu vertiefen kann.<br />
Wir sind es unseren Gemeinden schuldig, nicht zuletzt unseren Studenten und<br />
Akademikern, ein Werkzeug aus kompetenter Hand anzubieten. Wenn wir ein Volk<br />
der Bibel sein und bleiben wollen, brauchen wir solche offenen und engagierten<br />
Beiträge zu den so wichtigen Fragen nach Offenbarung und Inspiration, Autorität<br />
und Hermeneutik.<br />
Dr. Johann Gerhardt<br />
Dekan, Fachbereich Theologie<br />
Dr. Rolf J. Pöhler<br />
Dozent für Syst. Theologie<br />
Friedensau, im Oktober 1998<br />
9
Vorwort des Verfassers<br />
Hätte ich im letzten Sommer anläßlich einer Zeltversammlung nicht am<br />
Inspirations-Kurs von Paul Grove teilgenommen,“ sagte ein Gemeindeältester, „so<br />
wäre ich heute wahrscheinlich bei den unabhängigen Adventisten.“ Ein anderes<br />
Gemeindeglied meinte: „Wärest du nur sechs Monate früher gekommen, wäre unsere<br />
Gemeinde wohl nicht auseinandergerissen worden.“<br />
Diese Stimmen aus den 80er Jahren klingen mir noch in den Ohren. In gewissem<br />
Sinne stellt dieses Buch eine Antwort darauf dar. Fragen über Inspiration, die Rolle<br />
von Ellen White in der Adventgemeinde sowie die Autorität der Heiligen Schrift<br />
haben ihren Tribut gefordert. Eine Vereinigung der Nordpazifischen Union hatte die<br />
theologische Fakultät des Walla Walla College um Unterstützung einiger Gemeinden<br />
gebeten. Wir führten an mehreren Wochenenden Seminare und Diskussionsveranstaltungen<br />
durch. Ein Teil der in diesem Buch enthaltenen Studien wurde dam<strong>als</strong><br />
vorgetragen. Angesichts der aktuellen Krise fand sich eine interessierte Zuhörerschaft.<br />
Aber Krisen gehen vorüber und die Gemeinde schläft wieder ein. Damit<br />
werden wir dann reif für eine neue Krise.<br />
Weshalb sollten wir warten? Können wir die schwelende Krise bezüglich der<br />
Inspirationsfrage nicht erkennen? Wir sollten nicht die Augen davor verschließen,<br />
sondern etwas unternehmen. Allerdings ist das kein leichtes Thema. Ich erinnere<br />
mich lebhaft an eine Begebenheit aus meinem Unterricht. Einer meiner Studenten<br />
war offensichtlich beunruhigt über gewisse Erkenntnisse, die sich für ihn aus dem<br />
Studium ergeben hatten. Als ich mich mit ihm darüber unterhielt, fragte ich, ob ihm<br />
der vorangegangene Unterricht geholfen hätte. „Und ob!“ war die Antwort. „Wenn<br />
wir diese Fragen nicht gemeinsam besprochen hätten, wäre ich drauf und dran<br />
gewesen, mich umzubringen.“ Für ihn war das kein Scherz.<br />
Was diesem Studenten so zu schaffen gemacht hatte, war die simple Aufgabe:<br />
„Vergleiche die beiden biblischen Berichte über Davids Volkszählung in 2. Samuel<br />
24 und 1. Chronik 21. Notiere die Unterschiede in beiden Berichten.“<br />
Ich spürte, daß diese Klasse mehr <strong>als</strong> die üblichen Schwierigkeiten mit dem<br />
Lehrstoff hatte. Deshalb verteilte ich Auswertungsbögen und bat um anonyme<br />
Beantwortung. Ich wollte in Erfahrung bringen, was in diesen Studenten vorging, um<br />
ihnen dann auch wirklich helfen zu können.<br />
Wieder war es jener Student, der meine Aufmerksamkeit erregte. Obwohl die<br />
Klasse groß war und die Auswertung anonym stattfand, konnte ich leicht zwei und<br />
zwei zusammenzählen.<br />
11
INSPIRATION<br />
Nach dem Unterricht fragte ich ihn, ob wir miteinander reden könnten. Er wartete<br />
geradezu darauf.<br />
Dieser Student hatte seine Aufgabe mit einer Gründlichkeit erfüllt, die mehr<br />
Unterschiede ans Licht brachte, <strong>als</strong> ich selbst angenommen hatte. Ich wollte die<br />
Studenten veranlassen, die Eingangsverse in den beiden Berichten von Davids<br />
Volkszählung zu vergleichen und zu bewerten. In beiden Berichten wird David der<br />
Volkszählung wegen verurteilt. Der Autor des Buches Samuel erklärt, daß David von<br />
Gott zu diesem Schritt veranlaßt wurde, während im Buch der Chronik Satan verantwortlich<br />
gemacht wird (siehe unten, Kapitel 15).<br />
Die Erfahrung in jenem Kurs wirft drei wichtige Fragen auf. Erstens: Weshalb<br />
lösen diese offensichtlichen Unterschiede in der Heiligen Schrift so heftige Reaktionen<br />
aus? Zweitens: Warum sollte ein Dozent die Aufmerksamkeit darauf<br />
lenken? Drittens: Weshalb ließ Gott diese Abweichungen überhaupt zu?<br />
Das vorliegende Buch versucht diese Fragen zu beantworten. Aus eigener Beobachtung<br />
weiß ich, daß viele bibelgläubige Christen tief im Herzen befürchten,<br />
jemand könnte einen belastenden Beweis liefern, ein zwingendes Argument vorbringen,<br />
das die Autorität von Gottes Wort mit einem Schlag in Frage stellt.<br />
Ellen White erklärte: „Der Herr gab sein Wort genauso, wie es zu uns kommen<br />
sollte.” (1 FG 21) Deshalb brauchen wir uns keine Sorgen darüber zu machen, was<br />
wir oder andere in der Bibel entdecken könnten.<br />
Nachdem ich die Auseinandersetzungen über Inspiration innerhalb und außerhalb<br />
unserer Kirche verfolgt habe, bin ich zu dem Schluß gekommen, daß wir uns allzusehr<br />
durch das Schreckgespenst der Aufklärung des 18. Jahrhunderts haben beeindrucken<br />
lassen. In jener optimistisch geprägten Epoche wurde die göttliche Offenbarung<br />
vom Thron gestoßen und die menschliche Vernunft an ihrer Stelle zum Herrscher<br />
gekrönt. Der starke Einfluß der Aufklärung auf die abendländische Kultur hat<br />
Christen dazu verleitet, der Stimme der Bibel einen Dämpfer aufzusetzen. Anstatt die<br />
Bibel für sich selber sprechen zu lassen, haben wir versucht, uns auf einer Ebene mit<br />
ihr auseinanderzusetzen, die theoretischer Natur ist und die praktischen, lebensbezogenen<br />
Anliegen der Heiligen Schrift nicht berücksichtigt. Sobald der göttliche<br />
Ursprung der Schrift durch philosophische Argumente und wissenschaftliche Beweisführung<br />
in Frage gestellt wird, treten fromme Verteidiger mit ähnlichen Waffen<br />
auf den Plan, die ihrerseits Beweise aus Archäologie und Wissenschaft ins Feld<br />
führen. Dazu gehören auch Beweise aus der Prophetie, die durch statistische Wahrscheinlichkeitsberechnungen<br />
gestützt werden.<br />
Aber bedarf unsere Erfahrung mit Gott und seinem Wort solcher „Beweise“?<br />
Muß das Anliegen der Heiligen Schrift durch Fragen verdunkelt werden, die ihr<br />
12
VORWORT<br />
fremd sind? Ich denke, es ist Zeit, aus der gedanklichen Enge der Aufklärung herauszutreten<br />
und statt einer theoretischen die praktische Seite in den Mittelpunkt zu<br />
rücken – eine Sicht, die unsere Erfahrungen mit Gott, miteinander und mit der<br />
Schrift ernst nimmt. Gewiß ist für ein solches praktisches Vorgehen auch eine<br />
theoretische Grundlage erforderlich; das werde ich im zweiten Teil dieses Buches<br />
aufzeigen. Doch sollte die praktische Seite unserer Erfahrung im Mittelpunkt stehen.<br />
In diesem Buch haben viele persönliche Erfahrungen ihren Niederschlag gefunden.<br />
Es fällt mir in gewisser Weise leicht, darüber zu schreiben, welche Freude ich<br />
erlebte, <strong>als</strong> ich meine Angst überwunden hatte, – die Angst, die Autorität von Gottes<br />
Wort könnte zerbrechen, wenn ich die Bibel allzu genau untersuchen würde. Seitdem<br />
erscheint mir Gottes Wort wie der kostbare Brief eines Freundes – allerdings weit<br />
bedeutender <strong>als</strong> jeder andere Brief, den ich je von einem Menschen erhalten habe.<br />
Mit Hebräer 4,12 habe ich entdeckt, daß Gottes Wort „kräftig und schärfer <strong>als</strong> jedes<br />
zweischneidige Schwert“ ist. Ich möchte meine Begeisterung für Gottes Wort gerne<br />
mit anderen teilen.<br />
Andererseits empfinde ich ein solches Buch aber auch <strong>als</strong> recht schwierig, ist mir<br />
doch bewußt, daß die Behandlung von Themen wie Offenbarung und Inspiration<br />
unvorhersehbare Folgen haben kann. Ich bin heute noch ernüchtert, wenn ich an<br />
jenen Studenten denke, der mir erzählte, daß eine meiner Hausaufgaben ihn das<br />
Leben hätte kosten können.<br />
Was dieser junge Mann mir dann allerdings über seine Lebensumstände erzählte,<br />
ließ mich seine heftige Reaktion besser verstehen. Aufgewachsen war er in einem<br />
Zuhause mit einem zunächst katholischen, dann atheistischen Vater und einer bibelgläubigen<br />
Baptistin <strong>als</strong> Mutter. Noch nicht lange Adventist, mußte er sich mit dem<br />
Scheitern seiner eigenen Ehe auseinandersetzen. Er erinnerte sich an den Tag, an<br />
dem er vom Gymnasium nach Hause kam und seiner Mutter erklärte, er sei jetzt ein<br />
Verfechter der Evolution geworden und glaube nicht mehr an eine Schöpfung. „Sie<br />
griff nach ihrem Regenschirm“, sagte er, „und brachte mir auf handgreifliche Weise<br />
den Glauben an die Bibel bei!“<br />
Wenn in den folgenden Kapiteln verschiedene Aspekte der Offenbarung und<br />
Inspiration behandelt werden, so scheinen mir besonders die Parallelberichte in der<br />
Schrift hilfreich zu sein, um Gottes Wirken bei der Übermittlung seines Buches<br />
deutlich zu machen. Als Ellen White schrieb: „Der Herr gab sein Wort genauso, wie<br />
es zu uns kommen sollte“ (1 FG 21), meinte sie auch die Abweichungen in den<br />
Parallelberichten der Bibel.<br />
Wir haben die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: Entweder veranlaßte Gott<br />
diese Unterschiede in der Schrift, um zu prüfen, ob wir trotzdem glauben, oder er<br />
13
INSPIRATION<br />
erlaubte den Schreibern der Bibel, ihre eigenen Erfahrungen mit Gott unterschiedlich<br />
darzustellen, um uns gerade dadurch zu bereichern.<br />
Zuweilen müssen wir über die menschlichen Spuren in der Bibel einfach hinwegsehen;<br />
aber ich werde in diesem Buch die zweite Ansicht vertreten: Unterschiede und<br />
Abweichungen sind nützlich. Wir profitieren davon, nicht obwohl, sondern weil es<br />
sie gibt. Wie Ellen White sagt, gab Gott uns sein Wort „durch unterschiedliche<br />
Schreiber, von denen jeder seine eigene Persönlichkeit hatte. Alle aber schrieben<br />
über dasselbe Geschehen.“ (1 FG 21)<br />
„Nicht immer finden wir in der Schrift vollkommene Ordnung oder offenbarte<br />
Einheit“ (1 FG 19), konnte Ellen White aufgrund ihres Inspirationsverständnisses<br />
sagen. Und sie fügte hinzu: „Alles aber, was menschlich ist, ist auch unvollkommen.“<br />
(1 FG 20)<br />
Wenn Ellen White im Zusammenhang mit dem Thema Inspiration zitiert wird,<br />
führt das zu Fragen, denen wir uns <strong>als</strong> Siebenten-Tags-Adventisten ebenfalls stellen<br />
müssen. Da ihre Aussagen unsere Diskussion auf verschiedene Weise beeinflussen<br />
können, muß die besondere Bedeutung ihrer Schriften klar herausgestellt werden.<br />
Im Gespräch zwischen evangelischen Christen und Adventisten erweist sich die<br />
Rolle von Ellen White <strong>als</strong> problematisch. Wird ihre Autorität der Heiligen Schrift<br />
gleichgestellt? In Reaktion darauf hat unsere Kirche die prophetische Gabe von Ellen<br />
White zu verteidigen versucht. In seinem Buch In Defense of the Faith (1933)<br />
veröffentlichte W. H. Branson eine Widerlegung der Einwände von D. M. Canright.<br />
Dasselbe versuchte F. D. Nichol in seinem Buch Answers to Objections (1952);<br />
ähnliches gilt für Questions on Doctrine (1957).<br />
In diesem Buch versuche ich nicht, Ellen White zu verteidigen. Ich zitiere auch<br />
nicht systematisch aus ihren Schriften, um damit biblische Aussagen zu erklären oder<br />
zu untermauern. Interessant und lehrreich wie ein solches Vorgehen vielleicht sein<br />
könnte, würde es das Lesen dieses Buches unnötig erschweren. Ich schlage aber vor,<br />
daß wir uns ihre wesentlichen Aussagen über Inspiration näher ansehen, besonders<br />
die beiden klassischen Abschnitte in Für die Gemeinde geschrieben, Band 1, sowie<br />
die Einführung zu ihrem Buch Der große Kampf. Diese beiden Dokumente werden<br />
hier <strong>als</strong> Teil I des Buches wiedergegeben; sie sollen für unsere weitere Betrachtung<br />
<strong>als</strong> Ausgangspunkt dienen. Genau genommen sagen sie nicht viel mehr über Inspiration<br />
<strong>als</strong> das, was ein aufmerksamer Leser der Bibel selber herausfinden kann.<br />
Jedoch ist es Ellen White hervorragend gelungen, dieses Thema realistisch und<br />
zugleich glaubensstärkend darzustellen. Traditionelle Vorstellungen von Inspiration<br />
verhindern oft Einsichten, die sich eigentlich vom Text her eindeutig ergeben. Die<br />
Tatsache, daß sie „sah“ und glaubte, macht es für uns einfacher, ebenfalls zu „sehen“<br />
14
VORWORT<br />
und zu glauben. Ausgehend vom Modell der Inkarnation (Menschwerdung) entwickelt<br />
sie eine Sicht der Inspiration, die den menschlichen Anteil anerkennt und<br />
gleichzeitig die göttliche Autorität des Wortes aufrecht erhält. Die Geschichte der<br />
christlichen Theologie zeigt, wie schwer es ist, diese Aspekte im Gleichgewicht zu<br />
halten.<br />
Ein Grund, warum ich meine Gedanken in diesem Buch darlege, ist die wachsende<br />
Überzeugung, daß Adventisten bestens in der Lage sind, zu der unter Protestanten<br />
stattfindenden Diskussion über Inspiration einen hilfreichen Beitrag zu leisten. Ich<br />
glaube, daß uns die Schriften von Ellen White zu einer besseren Standortbestimmung<br />
verhelfen. Wir brauchen sie anderen gegenüber nicht <strong>als</strong> Autorität anzuführen. Aber<br />
ihre Stimme kann für alle, die sie <strong>als</strong> Gottes Botin anerkennen, eine Hilfe dabei sein,<br />
über dieses Thema klar und überzeugend mit anderen zu reden.<br />
Ich erinnere mich gut an die Reaktion eines Pfarrers der „Church of Christ“<br />
anläßlich meines Referats über Inspiration bei einem Seminar in Medford, Oregon.<br />
Nach dem Vortrag kam er nach vorn und dankte für mein umsichtiges Vorgehen bei<br />
der Behandlung eines so schwierigen Themas. „Wir hätten das nie akzeptiert, wenn<br />
Sie es nicht auf so einfühlsame Weise vorgetragen hätten“, versicherte er mir. Dann<br />
fragte er: „Können Sie mir irgendwelche Bücher dazu empfehlen? Welche Quellen<br />
haben Sie benutzt?“<br />
Diese Frage traf mich unvorbereitet. Mein erster Gedanke war, ihn auf die Einleitung<br />
von Der große Kampf und auf die Seiten 15-23 aus Für die Gemeinde geschrieben,<br />
Band 1, hinzuweisen. Doch dann fiel mir ein, daß ihm dieses Quellenmaterial<br />
möglicherweise keinen direkten Nutzen bringen würde. Andererseits hatte mir<br />
mein Studium zum Thema Inspiration gezeigt, daß ein wirkliches „Inkarnationsmodell“<br />
schwer zu finden ist. Die meisten Autoren neigen dazu, entweder den<br />
menschlichen oder den göttlichen Aspekt in den Vordergrund zu rücken, anstatt<br />
beide Gesichtspunkte ausgewogen zu behandeln.<br />
Ich versprach, ihm einige Literaturvorschläge zu schicken. Das tat ich dann auch<br />
und erklärte ihm gleichzeitig, inwiefern ich die Schriften und Erfahrungen von Ellen<br />
White <strong>als</strong> besonders hilfreich empfände. Ihr gelingt es treffend, ein realistisches Bild<br />
der menschlichen Mitwirkung zu entwerfen und gleichzeitig die göttliche Autorität<br />
des Wortes hervorzuheben.<br />
Aus eigener Erfahrung und Beobachtung weiß ich, daß konservative Christen<br />
befürchten, die Betonung der menschlichen Seite der Heiligen Schrift könnte zu<br />
immer weiteren Zugeständnissen führen, bis nichts mehr von ihrer göttlichen Autorität<br />
übrigbleibt. Eine Reihe von Begriffen und Redewendungen spiegelt diese Denkweise<br />
wieder: Domino-Effekt, rutschiger Abhang, Riß im Deich, Wehret den Anfän-<br />
15
INSPIRATION<br />
gen! Natürlich brauchen wir klare Richtlinien, die uns zeigen, wie weit wir gehen<br />
können und wo die Grenzen liegen. Ich bin aber überzeugt, daß die Aussagen von<br />
Ellen White in Verbindung mit den Fakten, die die Bibel selber berichtet, eine<br />
wirksame Schutzvorrichtung darstellen.<br />
Schlüsselsätze aus der Feder von Ellen White zeigen, daß sie sowohl in der Lage<br />
<strong>als</strong> auch gewillt war, bestimmte Phänomene der Schrift zu akzeptieren, wozu konservative<br />
Verteidiger der Irrtumslosigkeit im allgemeinen nicht bereit sind. Einfach<br />
ausgedrückt: Wenn sie sich dieser Probleme bewußt war und dennoch glauben<br />
konnte, können wir das auch. Soziologen würden sagen, daß sie es uns ermöglicht,<br />
eine neue „Plausibilitätsstruktur“ zu errichten und daß sie dabei eine Sicht der<br />
Inspiration sozial absichert, bei der Menschliches und Göttliches vereint ist.<br />
Im allgemeinen – zumindest bei oberflächlicher Betrachtung – bezeichnen wir<br />
eine Ansicht, die uns plausibel erscheint, <strong>als</strong> „vernünftig“ und darum für jeden<br />
einleuchtend. Oft aber entspricht das, was uns vernünftig erscheint, mehr einer Art<br />
Übereinkunft, die das gemeinsame Denken einer Gruppe zum Ausdruck bringt. Was<br />
ständig wiederholt und von Respektspersonen oder Leuten unseres Vertrauens<br />
vertreten wird, erhält schließlich den Anschein letzter Wirklichkeit. Permanente<br />
Wiederholung macht es zum Bestandteil unserer eigenen Überzeugung. Mose war<br />
sich dieser Tatsache sicher bewußt, <strong>als</strong> er dem Volk Israel gebot, Erinnerungshilfen<br />
für ihre Kinder vorzusehen: „Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu<br />
Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du<br />
in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst.“<br />
(5. Mose 6,6.7)<br />
Von mir selbst kann ich sagen, daß mir in meinen früheren Jahren gewisse vorgefaßte<br />
Meinungen über die Heilige Schrift vermittelt wurden. Diese Vorurteile<br />
ließen sich schwer vereinbaren mit den Tatsachen, die die Schrift selber liefert.<br />
Wohlmeinende Freunde hatten mich sogar davor gewarnt zu sehen, was ich mit<br />
eigenen Augen sah oder zumindest zu sehen meinte. Beispielsweise wurde gesagt<br />
(und verschiedentlich bekräftigt), daß ein einziger „Irrtum“ – in meinem Unterricht<br />
vermeide ich dieses Wort – genüge, um die gesamte Bibel über Bord werfen zu<br />
können. Diese Androhung machte das Lesen von Parallelberichten in der Schrift zu<br />
einem riskanten Unterfangen, da diese Parallelstellen tatsächlich viele Unterschiede<br />
aufweisen. Wie sollte man der Versuchung widerstehen, sie <strong>als</strong> Irrtümer zu bezeichnen?<br />
In Ellen Whites Aussagen über Inspiration entdeckte ich, daß sie sich der Abweichungen,<br />
über die ich gestolpert war, durchaus bewußt war. Aber sie weigerte sich,<br />
diese <strong>als</strong> Irrtümer zu bezeichnen. Da Ellen White aber in meiner eigenen geistlichen<br />
16
VORWORT<br />
Entwicklung eine herausragende Rolle gespielt hat, vertraue ich ihr. Wenn sie die<br />
menschlichen Unzulänglichkeiten in der Schrift kannte und trotzdem glaubte, sollte<br />
ich dazu ebenfalls fähig sein. Sie öffnete mir den Weg zu einem Bibelstudium ohne<br />
die ständige Furcht vor jenem hypothetischen und folgenschweren Irrtum, den ich<br />
vielleicht entdecken könnte; seitdem brauche ich nicht mehr besorgt zu sein, was ich<br />
<strong>als</strong> nächstes entdecken werde.<br />
Mancher Leser wird nicht so konservativ sein wie ich und deshalb auch weniger<br />
Unterstützung von anderen benötigen, um die eigenen Entdeckungen in der Bibel<br />
zuzulassen. Jedoch besitzen die meisten von uns eine ausgesprochene Neigung zu<br />
konservativen Auffassungen. Schließlich ist eine bewahrende Haltung für unser<br />
geistiges und gesellschaftliches Wohlergehen sehr wichtig, sind doch allzu schnelle<br />
Veränderungen für unsere Familien und die Gesellschaft riskant.<br />
Unterschiedliche Gruppierungen unterstützen unterschiedliche Ansichten über die<br />
Heilige Schrift. Widerspruch gegen die Wahrnehmung der eigenen Gruppe bedeutet<br />
ein nicht unerhebliches Risiko. Wenn die neue Sicht dem widerspricht, was die<br />
Gruppe für richtig und wichtig hält, setzt ein Prozeß der Unterstützung für das Alte<br />
ein, so daß das Neue kein Gehör findet. Deshalb wird eine Gemeinschaft, die an die<br />
Irrtumslosigkeit der Bibel glaubt, keinen anderen Standpunkt dulden.<br />
Demgegenüber haben gerade Adventisten die einzigartige Gelegenheit, sich <strong>als</strong><br />
Gemeinschaft zu einer Sicht der Heiligen Schrift zu bekennen, die sowohl die<br />
menschliche <strong>als</strong> auch die göttliche Seite angemessen betont. Unsere Kinder, Nachbarn<br />
und Freunde können durch unser Beispiel im Glauben ermutigt und gefestigt<br />
werden. Wenn sie beim Lesen der Bibel auf Schwierigkeiten stoßen, können andere,<br />
die schon vor ihnen „gesehen“ haben und dennoch glauben, ihnen helfen, ebenfalls<br />
zu „sehen“ und zu glauben.<br />
Dieses Buch ist für Adventisten geschrieben – allerdings mit dem erklärten Ziel,<br />
unsere Wirkung nach außen und unsere weltweite Mission zu fördern. Ich bin überzeugt,<br />
daß uns Gottes Wort die geistliche Kraft dazu gibt. Andererseits gibt es in<br />
meiner Kirche aber auch Menschen, die ein ernsthaftes Bibelstudium aus Angst vor<br />
dem vermeiden, was sie dabei entdecken könnten. Bleibt aber die Bibel ungeöffnet,<br />
wie kann sie dann eine Quelle der Kraft und Freude sein?<br />
Im folgenden werden wir einen ehrlichen Blick auf die Schrift werfen und Mißverständnissen<br />
direkt begegnen, f<strong>als</strong>che Auffassungen offen ansprechen. Wo es<br />
sinnvoll erscheint, werde ich auf Ellen White verweisen, die mir geholfen hat, mit<br />
gewissen biblischen Tatsachen zurechtzukommen. Durch Gottes Hilfe soll dadurch<br />
auch der Leser in die Lage versetzt werden, zu sehen und zu glauben.<br />
17
TEIL I<br />
DOKUMENTE<br />
Klassische adventistische Aussagen<br />
über Inspiration
Dokument 1<br />
Ellen G. White<br />
„Die Inspiration der prophetischen Schreiber“ *<br />
Die Inspiration des Wortes Gottes<br />
Wir leben heute in einer Zeit, da mit Recht gefragt werden muß: „Wenn der<br />
Menschensohn kommen wird, meinst du, er werde Glauben finden auf Erden?“<br />
(Lukas 18,8)<br />
Geistliche Finsternis bedeckt die Erde und große Dunkelheit die Menschen. In<br />
vielen Kirchen werden Zweifel und Unglauben gegenüber der Inspiration der Bibel<br />
geäußert. Sehr viele stellen die Wahrheit und Zuverlässigkeit der Heiligen Schrift in<br />
Frage. Verstandesgründe und menschliche Vorstellungen untergraben die Inspiration<br />
des Wortes Gottes, und das, was <strong>als</strong> sicher gelten sollte, ist von einer dunklen Wolke<br />
umgeben. Nichts steht mehr klar und deutlich auf Felsengrund. Darin sehen wir eines<br />
der auffallendsten Zeichen der Endzeit.<br />
Die Heilige Schrift hat den Angriffen Satans widerstanden. Satan hat sich mit<br />
üblen Menschen zusammengetan, um alles, was göttlich ist, in Nebel und Dunkel<br />
einzuhüllen. Doch der Herr hat die Heilige Schrift durch seine Wunderkraft in ihrer<br />
gegenwärtigen Gestalt bewahrt – <strong>als</strong> ein Handbuch, das den Menschen den Weg zum<br />
Himmel zeigt.<br />
Aber die Weisungen Gottes wurden so offenkundig vernachlässigt, daß es heute<br />
nur wenige Menschen auf der Welt gibt, selbst unter denen, die sie auszulegen<br />
vorgeben, die eine von Gott geleitete Kenntnis der Schrift haben. Es gibt gebildete<br />
Männer mit Hochschulstudium, doch diese Hirten versorgen die Herde Gottes nicht<br />
mit Speise. Sie wissen nicht, daß die Schrift ständig ihren verborgenen Reichtum<br />
entfaltet, so wie kostbare Juwelen dadurch entdeckt werden, daß man nach ihnen<br />
gräbt.<br />
Es gibt Leute, die originell sein möchten und sich für klüger halten <strong>als</strong> das geschriebene<br />
Wort Gottes. Darum wird ihre Weisheit zur Narrheit. Sie entdecken<br />
wundervolle zukünftige Dinge, und ihre Vorstellungen offenbaren, daß sie den<br />
* Aus: Für die Gemeinde geschrieben – Ausgewählte Botschaften von Ellen G. White, Band<br />
1, S. 15-23<br />
21
INSPIRATION<br />
Willen und die Absichten Gottes bei weitem nicht begriffen haben. Sie wollen<br />
Geheimnisse erklären oder enträtseln, die den Menschen seit alters verschlossen<br />
sind, und gleichen dabei einem Mann, der sich im Sumpf abquält und sich nicht<br />
selbst herausziehen kann und dennoch anderen sagt, wie sie aus dem Schlamm, in<br />
dem sie sich befinden, herauskommen können. Das ist ein anschauliches Bild für<br />
Menschen, die die Bibel berichtigen wollen. Niemand kann die Bibel verbessern,<br />
weil er angeblich weiß, was der Herr sagen wollte oder besser gesagt haben sollte.<br />
Manche blicken uns ernst an und sagen: „Meinst du nicht, daß sich beim Abschreiben<br />
oder Übersetzen einige Fehler eingeschlichen haben?“ Das ist möglich.<br />
Wenn jemand so klein denkt und wegen solcher Möglichkeiten oder Wahrscheinlichkeiten<br />
in Zweifel und ins Straucheln gerät, dann würde er auch über die Geheimnisse<br />
des inspirierten Wortes ins Straucheln geraten, weil sein begrenzter Geist die Absichten<br />
Gottes nicht erkennt. Ja, er würde sogar an klaren Tatsachen Anstoß nehmen,<br />
die der einfache Mensch <strong>als</strong> göttlich anerkennen würde und für den Gottes Worte<br />
eindeutig, schön und voller Kraft sind.<br />
Alle diese Fehler werden niemandem Schwierigkeiten bereiten oder ihn straucheln<br />
lassen, der nicht auch Schwierigkeiten mit den klarsten Wahrheiten hat.<br />
Gott übertrug die Erstellung seines göttlichen, inspirierten Wortes fehlbaren<br />
Menschen. Dieses Wort, in die Bücher des Alten und Neuen Testaments gefaßt, ist<br />
das Handbuch für die Bewohner einer gefallenen Welt. Es ist ihnen anvertraut, und<br />
niemand wird vom Weg zum Himmel abirren, der dessen Weisungen erforscht und<br />
befolgt.<br />
Alle, die meinen, sie müßten die angeblichen Schwierigkeiten in der Bibel aufklären<br />
und nach eigenen begrenzten Maßstäben unterscheiden, was inspiriert und<br />
was nicht inspiriert ist, sollten ihr Haupt bedecken wie Elia, <strong>als</strong> Gott in einem „stillen,<br />
sanften Sausen“ zu ihm sprach. Sie befinden sich nämlich in der Gegenwart<br />
Gottes und heiliger Engel, die seit Urzeiten dem Menschen Licht und Kenntnis<br />
vermittelt haben. Sie haben ihnen gesagt, was sie tun und nicht tun sollen. Sie haben<br />
Szenen von größter Bedeutung vor ihnen ausgebreitet und ihnen durch Symbole,<br />
Zeichen und Bilder den Weg gewiesen.<br />
Ich nehme die Bibel schlicht <strong>als</strong> das, was sie ist: das inspirierte Wort. Ich glaube<br />
den Aussagen der ganzen Bibel. Menschen kommen und meinen, sie fänden etwas an<br />
Gottes Wort, was sie kritisieren müßten. Sie breiten es vor anderen <strong>als</strong> einen Beweis<br />
ihrer überlegenen Weisheit aus. Viele von ihnen sind tüchtige, gebildete Leute. Sie<br />
sind beredt und begabt, aber ihr ganzes Lebenswerk besteht darin, Menschen wegen<br />
der Inspiration der Bibel zu verunsichern. Sie bringen viele dazu, die Sache wie sie<br />
zu sehen. Dieses Werk wird nach Satans Willen von einem zum andern übertragen,<br />
22
DOKUMENT 1<br />
bis uns die volle Bedeutung des Wortes Christi aufgeht: „Wenn der Menschensohn<br />
kommen wird, meinst du, er werde Glauben finden auf Erden?“ (Lukas 18,8)<br />
Brüder, beteiligt euch niem<strong>als</strong> daran, die Bibel zu kritisieren. Das ist etwas,<br />
worüber sich Satan freut; es gehört jedenfalls nicht zu den Aufgaben, die der Herr<br />
euch aufgetragen hat.<br />
Die Menschen sollten Gott selbst für sein Buch und seine lebendigen Weisungen<br />
sorgen lassen, wie er es seit jeher getan hat. So aber stellten sie einige Teile der<br />
Offenbarung in Frage und entdeckten Widersprüche bei dieser und jener Aussage.<br />
Sie beginnen beim ersten Buch Mose und geben alles auf, was ihnen fragwürdig<br />
erscheint. Ihr Geist läßt ihnen keine Ruhe, denn Satan wird sie zu jeder Kritik verleiten,<br />
bis sie an der ganzen Schrift etwas auszusetzen haben. Ihr kritisches Vermögen<br />
wird sich durch ständigen Gebrauch noch verstärken, und bald ist ihnen nichts mehr<br />
gewiß. Zu versuchen, vernünftig mit ihnen zu sprechen, ist verlorene Mühe. Sie<br />
werden sich selbst über die Bibel lustig machen. Sie werden zu Spöttern und sind<br />
dennoch erstaunt, wenn du ihnen das sagst.<br />
Brüder, haltet fest an der Bibel, wie sie niedergeschrieben ist, und gebt eure<br />
Kritik an ihrer Zuverlässigkeit auf. Gehorcht dem Wort, und keiner von euch wird<br />
verlorengehen. Seit alters hat sich die Intelligenz der Menschen daran geübt, das<br />
Wort Gottes an ihrem begrenzten Geist und Fassungsvermögen zu messen. Wenn der<br />
Herr, der Urheber der lebendigen Worte, vor ihnen seine Weisheit und Herrlichkeit<br />
enthüllte, würden sie vergehen und wie Jesaja ausrufen: „Ich bin unreiner Lippen<br />
und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen.“ (Jesaja 6,5) Schlichte und klare<br />
Worte werden vom Ungebildeten, vom Landmann und Kind ebenso verstanden wie<br />
vom gereiften, geschulten Menschen. Wenn jemand Fähigkeiten und geistige Kraft<br />
besitzt, entdeckt er in den Weisungen Gottes Schätze der Wahrheit, schön und<br />
wertvoll, die er sich aneignen kann. Er wird auch auf Schwierigkeiten, Geheimnisse<br />
und Wunder stoßen, deren Studium ihn ein Leben lang tief befriedigen wird, und<br />
dennoch gibt es darüber hinaus noch Bereiche des Unendlichen und Unermeßlichen.<br />
Menschen mit bescheidenen Kenntnissen, die nur begrenzte Fähigkeiten und<br />
Gelegenheiten haben, mit der Schrift vertraut zu werden, finden in diesen lebendigen<br />
Worten Trost, Führung und Rat. Der Erlösungsplan wird ihnen klar wie ein Sonnenstrahl.<br />
Niemand braucht aus Mangel an Kenntnissen verlorenzugehen, wenn er sich<br />
nicht absichtlich verschließt.<br />
Wir danken Gott, daß die Bibel sowohl für einfache <strong>als</strong> auch für gebildete Menschen<br />
geschrieben ist. Sie paßt zu allen Altersstufen und sozialen Schichten. –<br />
Manuskript 16, 1888; geschrieben in Minneapolis, Minnesota, im Herbst 1888<br />
23
INSPIRATION<br />
24<br />
Einwände gegen die Bibel<br />
Das Denken der Menschen ist sehr verschieden voneinander. Der Geist ist durch<br />
unterschiedliche Bildung geprägt und verbindet dieselben Worte mit unterschiedlichen<br />
Eindrücken. Es ist schwierig, jemandem mit anderem Temperament, anderer<br />
Bildung und anderem Verhalten einen Gedanken sprachlich so genau zu übermitteln,<br />
daß er diesem so klar und deutlich wird wie dem eigenen Verständnis. Man kann<br />
jedoch mit einem aufrichtigen, geradlinigen Menschen einfach und klar reden, um<br />
richtig verstanden zu werden. Wenn jedoch der Betreffende, mit dem er spricht, nicht<br />
redlich ist und die Wahrheit gar nicht verstehen will, dann wird er ihm die Worte im<br />
Munde umdrehen, damit sie seinen eigenen Absichten entsprechen. Er wird die<br />
Worte mißverstehen, seiner Phantasie freien Lauf lassen, die Worte ihrer wahren<br />
Bedeutung entkleiden, um sich dann hinter seinem Unglauben zu verschanzen und zu<br />
behaupten, alles Gesagte sei f<strong>als</strong>ch.<br />
So werden meine Schriften von denen behandelt, die sie mißverstehen und verfälschen<br />
wollen. Sie verdrehen Gottes Wahrheit in Lüge. In derselben Weise, wie sie<br />
mit meinen Büchern und veröffentlichten Artikeln umgehen, behandeln diese Skeptiker<br />
und Ungläubigen auch die Bibel. Sie lesen sie in der Absicht, sie zu verdrehen,<br />
f<strong>als</strong>ch anzuwenden und die Worte vorsätzlich von ihrem wahren Sinn zu lösen. Sie<br />
sagen, mit der Bibel könne man alles und jedes beweisen, jede Sekte berufe sich bei<br />
ihren Lehren auf die Bibel, und die meisten Lehren könnten mit der Bibel bewiesen<br />
werden.<br />
Die Schreiber der Bibel mußten ihre Gedanken in menschlicher Sprache zum<br />
Ausdruck bringen. Die Bibel ist von Menschen geschrieben. Diese waren vom Heiligen<br />
Geist inspiriert. Das menschliche Verständnis von Sprache ist begrenzt, der<br />
menschliche Geist ist geschwächt, und er ist erfinderisch im Aushöhlen der Wahrheit.<br />
Darum lesen und verstehen viele die Bibel, bloß um sich selbst zu gefallen. Die<br />
Schwierigkeiten liegen nicht bei der Bibel. So streiten opponierende Politiker über<br />
Gesetzestexte und nehmen doch eine andere Einstellung ein, wenn es um die Anwendung<br />
dieser Gesetze geht.<br />
Die Schrift wurde den Menschen nicht in einer zusammenhängenden Folge gegeben,<br />
sondern Stück für Stück durch die aufeinanderfolgenden Generationen, so wie<br />
gemäß der Vorsehung Gottes sich passende Gelegenheiten zu unterschiedlichen<br />
Zeiten und an unterschiedlichen Orten ergaben. Die Menschen schrieben, wie sie<br />
vom Heiligen Geist bewegt wurden. Es stimmt, wenn es heißt: „Zuerst den Halm,<br />
danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre.“ (Markus 4,28) Ähnlich<br />
geht es auch mit den Worten der Bibel.
DOKUMENT 1<br />
Nicht immer finden wir in der Schrift vollkommene Ordnung oder offenbarte Einheit.<br />
Die Wunder Christi werden nicht in genauer zeitlicher Folge berichtet, sondern<br />
jeweils nach den Umständen, die eine Offenbarung seiner Macht nötig machten. Die<br />
Wahrheiten der Bibel sind wie verborgene Perlen. Nach ihnen muß gesucht, sie<br />
müssen unter Mühen ausgegraben werden. Wer aber die Bibel nur oberflächlich liest,<br />
wird bei seinen oberflächlichen Kenntnissen, die er für besonders tiefgehend hält,<br />
von Widersprüchen in der Bibel reden und die Autorität der Schrift in Frage stellen.<br />
Wessen Herz aber in Übereinstimmung mit Wahrheit und Pflicht ist, wird die Schrift<br />
lesen und bereit sein, sich von Gott ansprechen zu lassen. Der erleuchtete Mensch<br />
wird eine geistliche Einheit erkennen und einen goldenen Faden, der sich durch das<br />
Ganze zieht. Doch es erfordert Geduld, Nachdenken und Gebete, um den kostbaren<br />
goldenen Faden herauszufinden. Heftige Diskussionen um die Bibel haben zum<br />
Studium der Schrift geführt und kostbare Juwelen der Wahrheit zutage gefördert. Es<br />
flossen viele Tränen, und es wurde viel gebetet, damit der Herr sein Wort unserem<br />
Verständnis öffnen möge.<br />
Die Bibel wurde nicht in einer großartigen übermenschlichen Sprache offenbart.<br />
Um jeden zu erreichen, wurde Jesus Mensch. Die Bibel mußte <strong>als</strong>o in der Sprache<br />
des Menschen geschrieben werden. Alles aber, was menschlich ist, ist auch unvollkommen.<br />
Dasselbe Wort kann verschiedene Bedeutungen haben. Eine bestimmte<br />
Idee läßt sich nicht nur durch ein einziges Wort ausdrücken. Die Bibel ist ganz praktisch<br />
zu nehmen.<br />
Jeder Mensch ist in seinem Denken anders geprägt. Alle Äußerungen und Bemerkungen<br />
werden nicht von allen in derselben Weise verstanden. Manche verstehen die<br />
Aussage der Schrift so, daß sie ihrem Denken und ihrer gegenwärtigen Lage entsprechen.<br />
Voreingenommenheit, Vorurteile und Leidenschaften tragen in erheblichem<br />
Maße dazu bei, selbst beim Lesen der Heiligen Schrift das Denken zu verdunkeln<br />
und zu verwirren.<br />
Jene Jünger auf dem Weg nach Emmaus mußten, was die Auslegung der Schrift<br />
betrifft, aus ihrer Befangenheit gelöst werden. Jesus wanderte unerkannt mit und<br />
sprach <strong>als</strong> Mensch zu ihnen. Er fing bei Mose und den Propheten an und lehrte sie all<br />
die Dinge, die ihn selbst betrafen: Sein Leben, seine Sendung, seine Leiden, sein Tod<br />
erfolgten genauso, wie es das Wort Gottes vorausgesagt hatte. Er öffnete ihnen das<br />
Verständnis für die heiligen Schriften. Er entwirrte ihre Vorstellungen und zeigte<br />
ihnen die Einheit und göttliche Wahrheit jener Schriften. Viele Menschen haben es<br />
heute nötig, daß ihnen dieses Verständnis geöffnet wird.<br />
Die Bibel wurde von inspirierten Menschen geschrieben, aber es ist nicht die Art,<br />
wie Gott seine Gedanken ausdrückt, sondern wie es Menschen tun. Nicht Gott <strong>als</strong><br />
25
INSPIRATION<br />
Autor wird dargestellt. Menschen werden oft sagen, ein solcher Ausdruck sei nicht<br />
göttlich. Aber Gott hat sich in der Bibel nicht in Worten, Logik und Rhetorik einem<br />
Test unterziehen wollen. Die Autoren der Bibel waren Gottes Schreiber, nicht seine<br />
Feder. Halte dir doch die verschiedenen Schreiber vor Augen!<br />
Nicht die Worte der Bibel sind inspiriert, sondern die Menschen. Die Inspiration<br />
bezieht sich nicht auf die Worte oder Ausdrücke des Menschen, sondern auf ihn<br />
selbst. Er ist es, der unter dem Einfluß des Heiligen Geistes mit Gedanken erfüllt<br />
wird. Doch die Worte tragen den Stempel der jeweiligen Persönlichkeit. Der göttliche<br />
Geist hat sich mitgeteilt. Der göttliche Geist und Wille verbinden sich mit dem<br />
Geist und Willen des Menschen. Auf diese Weise werden die Worte des Menschen<br />
zum Wort Gottes. – Manuskript 24, 1886; geschrieben in Europa 1886<br />
Einheit in Vielfalt<br />
An einem Baum in seiner Vielfalt gleichen sich kaum zwei Blätter. Doch diese Vielfalt<br />
trägt zur Vollkommenheit des Baumes <strong>als</strong> Ganzes bei.<br />
Bei unserer Bibel könnten wir fragen: Warum müssen Matthäus, Markus, Lukas<br />
und Johannes in den Evangelien, warum müssen die Apostelgeschichte und die<br />
unterschiedlichen Schreiber der neutestamentlichen Briefe über dieselbe Sache<br />
schreiben?<br />
Der Herr gab sein Wort genauso, wie es zu uns kommen sollte. Er gab es durch<br />
unterschiedliche Schreiber, von denen jeder seine eigene Persönlichkeit hatte. Alle<br />
aber schrieben über dasselbe Geschehen. Ihre Zeugnisse wurden in einem Buch<br />
gesammelt. Sie sind wie die Aussagen von Menschen, die gesellig beisammen sind.<br />
Jeder hat seine eigene Erfahrung, und diese Unterschiedlichkeit erweitert und vertieft<br />
die Kenntnis, die notwendig ist, um dem unterschiedlichen Verständnis der Menschen<br />
gerecht zu werden. Die zum Ausdruck gebrachten Gedanken sind nicht so<br />
uniform, <strong>als</strong> ob sie in derselben Form gegossen worden wären, was selbst das Anhören<br />
monoton macht. Solche Uniformität käme einem Mangel an Gnade und Schönheit<br />
gleich ...<br />
Der Urheber aller Vorstellungen kann unterschiedlichen Menschen denselben<br />
Gedanken mitteilen, und jeder wird ihn in einer anderen Weise wiedergeben, ohne<br />
daß dadurch Widersprüche entstehen. Diese Tatsache sollte uns nicht beunruhigen<br />
oder verwirren. Es kommt selten vor, daß zwei Menschen die Wahrheit in derselben<br />
Weise sehen und ausdrücken. Jeder setzt eigene Schwerpunkte, die ihm aufgrund<br />
seiner Art und Bildung wertvoll sind. Das Sonnenlicht gibt ja auch den unterschiedlichen<br />
Dingen eine unterschiedliche Färbung.<br />
26
DOKUMENT 1<br />
Durch den Heiligen Geist teilte der Herr seinen Aposteln die Wahrheit mit, die sie<br />
entsprechend ihrer inneren Entwicklung durch den Heiligen Geist formulieren sollten.<br />
Aber der menschliche Geist ist dabei nicht eingezwängt, <strong>als</strong> ob er in einer einheitlichen<br />
Schablone geformt wäre. – Brief 53, 1900<br />
Der Herr spricht in einer unvollkommenen Sprache<br />
Der Herr spricht zu den Menschen in einer unvollkommenen Sprache, damit der<br />
Mensch mit seinen geschwächten Sinnen und seiner getrübten Fassungskraft seine<br />
Worte verstehen kann. Darin zeigt sich Gottes Menschenfreundlichkeit. Er begegnet<br />
den gefallenen Menschen dort, wo sie sind. So vollkommen die Bibel in ihrer Einfachheit<br />
auch ist, hat sie dennoch die großen Gedanken Gottes nicht aufgenommen;<br />
denn unendliche Gedanken können nicht in die begrenzte Sprache menschlicher<br />
Gedanken eingehen. Viele meinen, die biblischen Ausdrücke seien übertrieben, doch<br />
die überwältigendsten Ausdrücke verblassen vor der Hoheit der Gedanken Gottes,<br />
auch wenn die Schreiber sich um eine gewählte Sprache bemühen, um die Wahrheit<br />
mitzuteilen. Sündige Menschen können nur den Schatten vom Glanz der himmlischen<br />
Herrlichkeit ertragen. – Brief 121, 1901<br />
Keinem Menschen steht das Richteramt über Gottes Wort zu<br />
Sowohl im Gotteshaus (in Battle Creek) <strong>als</strong> auch auf dem College wurde über die<br />
Sache der Inspiration gelehrt, und fehlbare Menschen haben sich vermessen zu sagen,<br />
daß einige Dinge in der Schrift inspiriert seien und andere nicht. Der Herr zeigte<br />
mir, daß weder die Artikel über Inspiration, wie sie im Review veröffentlicht wurden,<br />
inspiriert waren noch die Ausführungen vor unserer Jugend auf dem College, bei<br />
denen diese Gedanken bestätigt wurden, Gottes Billigung haben. Wenn Menschen<br />
wagen, das Wort Gottes zu kritisieren, dann wagen sie sich auf heiligen Boden, und<br />
es wäre besser, sie würden ihre Weisheit für Torheit halten und von Furcht und<br />
Zittern erfüllt sein. Gott hat niemandem das Richteramt über sein Wort gegeben, um<br />
das eine <strong>als</strong> inspiriert auszuwählen und anderes <strong>als</strong> nicht inspiriert abzutun. Genauso<br />
sind die Zeugnisse behandelt worden. Doch Gott wirkt hier nicht. – Brief 22, 1889<br />
27
Dokument 2<br />
Ellen G. White<br />
Einführung in Der große Kampf *<br />
Ehe die Sünde in die Welt kam, erfreute sich Adam eines freienVerkehrs mit<br />
seinem Schöpfer; doch seit der Mensch sich durch die Übertretung von Gott trennte,<br />
wurde ihm diese hohe Segnung entzogen. Im Erlösungsplan entstand jedoch ein<br />
Weg, durch den die Bewohner der Erde noch immer mit dem Himmel in Verbindung<br />
treten können. Gott war durch seinen Geist mit den Menschen verbunden. Indem er<br />
sich seinen erwählten Dienern offenbarte, vermittelte er der Welt göttliches Licht.<br />
„Die heiligen Menschen Gottes haben geredet, getrieben von dem Heiligen Geist.“<br />
(2. Petrus 1,21)<br />
Während der ersten 2500 Jahre der menschlichen Geschichte gab es keine geschriebene<br />
Offenbarung. Die Gott gelehrt hatte, teilten ihre Erkenntnis anderen mit,<br />
die vom Vater über den Sohn auf die folgenden Geschlechter überliefert wurde. Die<br />
Niederschrift des überlieferten Wortes begann zur Zeit Moses. Die vom Geist Gottes<br />
eingegebenen Offenbarungen wurden dam<strong>als</strong> zu einem Buch vereinigt, dessen Worte<br />
von Gottes Geist durchweht waren. Dies wiederholte sich während eines Zeitraumes<br />
von 1600 Jahren, beginnend mit Mose, dem Geschichtsschreiber der Schöpfung und<br />
der Gesetzgebung, bis zu Johannes, dem Schreiber der erhabensten Wahrheiten des<br />
Evangeliums.<br />
Die Heilige Schrift bezeichnet Gott <strong>als</strong> ihren Urheber; doch sie wurde von Menschenhand<br />
geschrieben und zeigt auch in dem verschiedenartigen Stil ihrer einzelnen<br />
Bücher die wesenseigenen Züge der jeweiligen Verfasser. Ihre offenbarten Wahrheiten<br />
sind alle von Gott eingegeben (2. Timotheus 3,16), werden aber in menschlichen<br />
Worten ausgedrückt. Der Unendliche hat durch seinen Heiligen Geist den<br />
Verstand und das Herz seiner Diener erleuchtet. Er hat Träume und Gesichte, Symbole<br />
und Bilder gegeben, und alle, denen die Wahrheit auf diese Weise offenbart<br />
wurde, haben die Gedanken mit ihren Worten zum Ausdruck gebracht.<br />
Die Zehn Gebote sprach und schrieb Gott selbst. Sie sind göttlichen und nicht<br />
menschlichen Ursprungs. Die Heilige Schrift aber, mit ihren von Gott eingegebenen,<br />
in menschlichen Worten ausgedrückten Wahrheiten, stellt eine Verbindung des<br />
* Der Große Kampf zwischen Licht und Finsternis, S. 7-14<br />
29
INSPIRATION<br />
Göttlichen mit dem Menschlichen dar. Eine solche Verbindung bestand in Christus,<br />
der der Sohn Gottes und eines Menschen Sohn war. Mithin gilt von der Heiligen<br />
Schrift, was auch von Christus geschrieben steht: „Das Wort ward Fleisch und wohnte<br />
unter uns.“ (Johannes 1,14)<br />
In verschiedenen Zeitaltern von Menschen geschrieben, die ihrer gesellschaftlichen<br />
Stellung, ihrem Beruf, ihren geistigen und geistlichen Fähigkeiten nach sehr<br />
ungleich waren, sind die Bücher der Heiligen Schrift nicht nur besonders<br />
unterschiedlich in ihrem Stil, sondern auch mannigfaltig in der Art des dargebotenen<br />
Stoffes. Die verschiedenen Schreiber bedienen sich verschiedener Ausdrucksweisen;<br />
oft wird die gleiche Wahrheit von dem einen nachdrücklicher betont <strong>als</strong> von dem<br />
andern. Und wo mehrere Schreiber denselben Fall unter verschiedenen Gesichtspunkten<br />
und Beziehungen betrachten, mag der oberflächliche, nachlässige oder<br />
vorurteilsvolle Leser da Ungereimtheiten oder Widersprüche sehen, wo der nachdenkende,<br />
gottesfürchtige Forscher mit klarer Einsicht die zugrundeliegende Übereinstimmung<br />
erblickt.<br />
Da verschiedene Persönlichkeiten die Wahrheit dargelegt haben, sehen wir sie<br />
auch unter deren verschiedenen Gesichtspunkten. Der eine Schreiber zeigt sich von<br />
der einen Seite des Gegenstandes stärker beeindruckt; er erfaßt die Dinge, die mit<br />
seiner Erfahrung oder mit seinem Verständnis und seiner Vorstellung übereinstimmen.<br />
Ein zweiter nimmt sie unter einem anderen Blickwinkel auf, aber jeder stellt<br />
unter der Leitung des Geistes Gottes das dar, was sein Gemüt am stärksten beeindruckte.<br />
So hat man in jedem eine bestimmte Seite der Wahrheit und doch eine vollkommene<br />
Übereinstimmung in allem. Die auf diese Weise offenbarten Wahrheiten<br />
verbinden sich zu einem vollkommenen Ganzen, das den Bedürfnissen der Menschen<br />
in allen Verhältnissen und Erfahrungen des Lebens angepaßt ist.<br />
Es war Gottes Wille, der Welt die Wahrheit durch menschliche Werkzeuge mitzuteilen.<br />
Er selbst hat durch seinen Heiligen Geist die Menschen befähigt, diese<br />
Aufgabe durchzuführen. Was zu reden oder zu schreiben war, zu dieser Auswahl hat<br />
er die Gedanken geleitet. Der Schatz war irdischen Gefäßen anvertraut worden, aber<br />
nichtsdestoweniger ist er vom Himmel. Das Zeugnis wird mit Hilfe unvollkommener,<br />
menschlicher Worte mitgeteilt und ist dennoch das Zeugnis Gottes. Das gehorsame<br />
gläubige Gotteskind sieht darin die Herrlichkeit einer göttlichen Macht voller Gnade<br />
und Wahrheit.<br />
In seinem Wort hat Gott den Menschen die für das Seelenheil nötige Erkenntnis<br />
anvertraut. Die Heilige Schrift soll <strong>als</strong> eine maßgebende, untrügliche Offenbarung<br />
seines Willens angenommen werden. Sie ist der Maßstab für den Charakter, die<br />
Verkünderin der Grundsätze, der Prüfstein der Erfahrung. „Alle Schrift, von Gott<br />
30
DOKUMENT 2<br />
eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der<br />
Gerechtigkeit, daß ein Mensch Gottes sei vollkommen, zu allem guten Werk geschickt.“<br />
(2. Timotheus 3,16.17)<br />
Doch die Tatsache, daß Gott den Menschen seinen Willen durch sein Wort offenbart<br />
hat, ließ die beständige Gegenwart des Heiligen Geistes und seine Führung<br />
nicht überflüssig werden. Im Gegenteil, unser Heiland verhieß den Heiligen Geist,<br />
damit dieser seinen Dienern das Wort erschließe, dessen Lehren erhelle und bei ihrer<br />
Verwirklichung helfe. Da Gottes Geist die Heilige Schrift durchweht, ist es auch<br />
unmöglich, daß die Lehren des Geistes der Schrift je entgegen sein können.<br />
Der Geist wurde nicht gegeben – und kann auch nie dazu verliehen werden –, um<br />
die Heilige Schrift zu verdrängen; denn die Schrift erklärt ausdrücklich, daß das<br />
Wort Gottes der Maßstab ist, an dem alle Lehren und jede Erfahrung geprüft werden<br />
müssen. Der Apostel Johannes sagt: „Glaubet nicht einem jeglichen Geist, sondern<br />
prüfet die Geister, ob sie von Gott sind; denn es sind viele f<strong>als</strong>che Propheten ausgegangen<br />
in die Welt.“ (l. Johannes 4,1) Und Jesaja erklärt: „Ja, nach dem Gesetz und<br />
Zeugnis! Werden sie das nicht sagen, so werden sie die Morgenröte nicht haben.“<br />
(Jesaja 8,20)<br />
Durch die Irrtümer etlicher Menschen ist auf das Werk des Heiligen Geistes große<br />
Schmach geworfen worden. Sie beanspruchen, von ihm erleuchtet zu sein, und behaupten,<br />
einer weiteren Führung nach Gottes Wort nicht mehr zu bedürfen. Sie lassen<br />
sich von Eindrücken leiten, die sie für die Stimme Gottes im Herzen halten, aber<br />
der Geist, der sie beherrscht, ist nicht der Geist Gottes. Gefühlen nachzugeben, durch<br />
die das Studium der Heiligen Schrift vernachlässigt wird, kann nur zu Verwirrung,<br />
Täuschung und Verderben führen. Sie dienen nur dazu, die Vorhaben des Bösen zu<br />
fördern. Da die Wirksamkeit des Heiligen Geistes für die Gemeinde Christi außerordentlich<br />
bedeutsam ist, gehört es auch zu den listigen Anschlägen Satans, durch die<br />
Irrtümer der Überspannten und Schwärmer das Werk des Geistes zu schmähen und<br />
das Volk Gottes zu veranlassen, diese Kraftquelle, die uns der Herr selbst gegeben<br />
hat, zu vernachlässigen.<br />
In Übereinstimmung mit dem Worte Gottes sollte der Heilige Geist seine Aufgabe<br />
während der ganzen Zeit der Evangeliumsverkündigung fortsetzen. Selbst in der Zeit,<br />
da die Schriften des Alten und des Neuen Testaments gegeben wurden, hörte der<br />
Heilige Geist, abgesehen von den Offenbarungen, die dem heiligen Buche hinzugefügt<br />
werden sollten, nicht auf, auch die Seelen einzelner zu erleuchten. Die Heilige<br />
Schrift berichtet, daß Menschen durch den Heiligen Geist in Angelegenheiten, die in<br />
keiner Beziehung zur Übermittlung der Heiligen Schrift standen, gewarnt, getadelt,<br />
beraten und belehrt wurden. Zu verschiedenen Zeiten werden Propheten erwähnt,<br />
31
INSPIRATION<br />
über deren Wirksamkeit nichts verzeichnet steht. Gleicherweise sollte auch nach<br />
Zusammenstellung des Kanons der Schrift der Heilige Geist seine Aufgabe, zu erleuchten,<br />
zu warnen und Gottes Kinder zu trösten, weiterführen.<br />
Jesus verhieß seinen Jüngern: „Aber der Tröster, der Heilige Geist, welchen mein<br />
Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch erinnern<br />
alles des, das ich euch gesagt habe.“ (Johannes 14,26) „Wenn aber jener, der Geist<br />
der Wahrheit, kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten ... und was zukünftig<br />
ist, wird er euch verkündigen.“ (Johannes 16,13) Die Schrift lehrt deutlich,<br />
daß diese Verheißungen, weit davon entfernt, auf die Zeit der Apostel beschränkt zu<br />
sein, für die Gemeinde Christi in allen Zeiten gelten. Der Heiland versicherte seinen<br />
Nachfolgern: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“ (Matthäus<br />
28,20), und Paulus erklärte, daß die Gaben und Bekundungen des Geistes der Gemeinde<br />
gegeben worden seien, damit „die Heiligen zugerichtet werden zum Werk<br />
des Dienstes, dadurch der Leib Christi erbaut werde, bis daß wir alle hinankommen<br />
zu einerlei Glauben und Erkenntnis des Sohnes Gottes und ein vollkommener Mann<br />
werden, der da sei im Maße des vollkommenen Alters Christi.“ (Epheser 4,12.13)<br />
Für die Gläubigen zu Ephesus betete der Apostel: „Der Gott unsers Herrn Jesu<br />
Christi, der Vater der Herrlichkeit, gebe euch den Geist der Weisheit und der Offenbarung<br />
zu seiner selbst Erkenntnis und erleuchtete Augen eures Verständnisses,<br />
daß ihr erkennen möget, welche da sei die Hoffnung eurer Berufung, ... und welche<br />
da sei die überschwengliche Größe seiner Kraft an uns, die wir glauben.“ (Epheser<br />
1,17-19) Die Wirksamkeit des Geistes Gottes in der Erleuchtung des Verständnisses<br />
und dem Auftun der Tiefe der Heiligen Schrift war der Segen, den Paulus auf die<br />
Gemeinde zu Ephesus herabgefleht hatte.<br />
Nach der wunderbaren Ausgießung des Heiligen Geistes am Pfingsttage ermahnte<br />
Petrus das Volk zur Buße und Taufe auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung ihrer<br />
Sünden, und er schloß mit den Worten: „So werdet ihr empfangen die Gabe des<br />
Heiligen Geistes. Denn euer und eurer Kinder ist diese Verheißung und aller, die<br />
ferne sind, welche Gott, unser Herr, herzurufen wird.“ (Apostelgeschichte 2,38.39)<br />
In unmittelbarem Zusammenhang mit dem Geschehen des großen Tages Gottes<br />
hat der Herr durch den Propheten Joel eine besondere Offenbarung seines Geistes<br />
verheißen. (Joel 3,1) Diese Prophezeiung erfüllte sich teilweise in der Ausgießung<br />
des Heiligen Geistes am Pfingsttage; ihre volle Erfüllung wird sie jedoch in der<br />
Offenbarung der göttlichen Gnade erreichen, die die abschließende Verkündigung<br />
des Evangeliums begleiten wird.<br />
Der große Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen wird bis zum Ende hin an<br />
Heftigkeit zunehmen. Zu allen Zeiten trat der Zorn Satans der Gemeinde Christi<br />
32
DOKUMENT 2<br />
entgegen. Gott hat seinem Volk seine Gnade und seinen Geist verliehen, um es zu<br />
stärken, damit es vor der Macht des Bösen bestehe. Als die Apostel das Evangelium<br />
in die Welt hinaustragen und für alle Zukunft überliefern sollten, wurden sie in besonderer<br />
Weise von dem Geist Gottes erleuchtet. Wenn sich aber der Gemeinde<br />
Gottes die endgültige Befreiung naht, wird Satan mit größerer Macht wirken. Er<br />
kommt herab „und hat einen großen Zorn und weiß, das er wenig Zeit hat.“ (Offenbarung<br />
12,12) Er wird „mit allerlei lügenhaften Kräften und Zeichen und Wundern“<br />
wirken (2. Thessalonicher 2,9). Sechstausend Jahre lang hat jener mächtige Geist,<br />
einst der höchste unter den Engeln Gottes, es völlig auf Täuschung und Verderben<br />
abgesehen. In dem letzten Kampf wird er alle Mittel der Verlogenheit, Verschlagenheit<br />
und Grausamkeit, die er jahrhundertelang erprobt hat, in Vollendung gegen<br />
Gottes Volk einsetzen. In dieser gefahrvollen Zeit sollen die Nachfolger Christi der<br />
Welt die Botschaft von der Wiederkunft des Herrn bringen; ein Volk muß zubereitet<br />
werden, das bei seinem Kommen „unbefleckt und unsträflich“ (2. Petrus 3,14) vor<br />
ihm stehen kann. Zu dieser Zeit bedarf die Gemeinde der besonderen Gabe der göttlichen<br />
Gnade und Macht nicht weniger <strong>als</strong> in den Tagen der Apostel.<br />
Durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes sind mir, der Verfasserin dieser<br />
Seiten, die Ereignisse des langanhaltenden Kampfes zwischen dem Guten und dem<br />
Bösen enthüllt worden. Von Zeit zu Zeit wurde es mir gestattet, den großen Kampf<br />
zwischen Christus, dem Fürsten des Lebens, dem Herzog unserer Seligkeit, und<br />
Satan, dem Fürsten des Bösen, dem Urheber der Sünde, dem ersten Übertreter des<br />
heiligen Gesetzes Gottes, in verschiedenen Zeitaltern zu schauen. Satans Feindschaft<br />
gegen Christus bekundet sich gegen dessen Nachfolger. Der gleiche Haß gegen die<br />
Grundsätze des Gesetzes Gottes, die gleichen trügerischen Pläne, durch die der Irrtum<br />
<strong>als</strong> Wahrheit erscheint, durch die menschliche Gesetze an die Stelle des Gesetzes<br />
Gottes gestellt und die Menschen verleitet werden, eher das Geschöpf <strong>als</strong> den<br />
Schöpfer anzubeten, können durch die ganze Vergangenheit hindurch verfolgt werden.<br />
Satan ist seit jeher bemüht, Gottes Wesen f<strong>als</strong>ch darzustellen, damit die Menschen<br />
dem Schöpfer nicht mit Liebe, sondern in Furcht und Haß begegnen. Aus<br />
diesem Grunde bemüht sich Satan, die Menschen dahin zu bringen, daß göttliche<br />
Gesetz beiseite zu setzen und sie glauben zu machen, daß sie von den Forderungen<br />
Gottes entbunden seien. In allen Jahrhunderten wurden nachweisbar alle, die sich<br />
seinen Täuschungen widersetzten, um ihres Glaubens willen verfolgt. Diese Verfolgung<br />
zeichnet sich ab in der Geschichte der Patriarchen, Propheten und Apostel, der<br />
Märtyrer und Reformatoren.<br />
In dem letzten großen Kampf wird Satan dieselbe Klugheit anwenden, denselben<br />
Geist bekunden und nach demselben Ziel streben wie in allen vergangenen Zeital-<br />
33
INSPIRATION<br />
tern. Was gewesen ist, wird wieder sein. Jedoch wird der kommende Kampf alles<br />
bisher Dagewesene an Heftigkeit übertreffen. Satans Täuschungen werden listiger,<br />
seine Angriffe entschlossener sein. Wenn es möglich wäre, würde er selbst die Auserwählten<br />
verführen. (Markus 13,22)<br />
Als mir durch den Geist Gottes die großen Wahrheiten seines Wortes und die<br />
Ereignisse der Vergangenheit und der Zukunft erschlossen wurden, erhielt ich den<br />
Auftrag, anderen weiterzugeben, was mir offenbart worden war: die Geschichte des<br />
Kampfes in der Vergangenheit zu verfolgen und sie so nachzuzeichnen, daß dadurch<br />
Licht auf den rasch herannahenden Kampf der Zukunft geworfen werde. Um dieser<br />
Absicht zu dienen, habe ich mich bemüht, Ereignisse aus der Kirchengeschichte<br />
auszuwählen und so zusammenzustellen, daß sie die Entfaltung der großen entscheidenden<br />
Wahrheiten zeigen, die zu verschiedenen Zeiten der Welt gegeben wurden,<br />
die den Zorn Satans und die Feindschaft einer verweltlichten Kirche erregten und die<br />
durch das Zeugnis derer aufrechterhalten werden, die ihr Leben nicht geliebt haben<br />
bis an den Tod. (Offenbarung 12,11)<br />
In diesen Berichten können wir ein Bild des uns bevorstehenden Kampfes erblicken.<br />
Wenn wir sie in dem Lichte des Wortes Gottes und durch die Erleuchtung<br />
seines Geistes betrachten, sehen wir unverhüllt die Anschläge des Bösen und die<br />
Gefahren, denen alle ausweichen müssen, die beim Kommen des Herrn „unsträflich“<br />
gefunden werden wollen.<br />
Die großen Ereignisse, die den Fortschritt der geistlichen Erneuerung in den<br />
vergangenen Jahrhunderten kennzeichneten, sind wohlbekannte und von der protestantischen<br />
Welt allgemein bestätigte geschichtliche Tatsachen, die niemand bestreiten<br />
kann. Dieses Geschehen habe ich in Übereinstimmung mit der Aufgabe des<br />
Buches und der Kürze, die notwendigerweise beachtet werden mußte, deutlich dargestellt<br />
und so weit zusammengedrängt, wie es zu ihrem richtigen Verständnis möglich<br />
war. In etlichen Fällen, in denen ein Historiker die Ereignisse so zusammengestellt<br />
hat, daß sie in aller Kürze einen umfassenden Überblick gewährten, oder wo<br />
er die Einzelheiten in passender Weise zusammenfaßte, ist er wörtlich zitiert worden;<br />
aber in einigen Fällen wurden keine Namen angegeben, da die Zitate nicht in der<br />
Absicht angeführt wurden, den betreffenden Verfasser <strong>als</strong> Autorität hinzustellen,<br />
sondern weil seine Aussagen eine treffende und kraftvolle Darstellung der historischen<br />
Ereignisse boten. Von den Erfahrungen und den Ansichten der Männer, die<br />
das Erneuerungswerk in unserer Zeit vorwärtsführen, wurde aus ihren veröffentlichten<br />
Werken in ähnlicher Weise zitiert.<br />
Es ist nicht so sehr die Absicht dieses Buches, neue Wahrheiten über die Kämpfe<br />
früherer Zeiten zu bringen, <strong>als</strong> vielmehr Tatsachen und Grundsätze hervorzuheben,<br />
34
DOKUMENT 2<br />
die die kommenden Ereignisse beeinflussen werden. Diese Berichte über die Vergangenheit<br />
erlangen, angesehen <strong>als</strong> ein Teil des Kampfes zwischen den Mächten des<br />
Lichts und der Finsternis, eine neue Bedeutung. Durch sie scheint ein Licht auf die<br />
Zukunft und erhellt den Pfad derer, die selbst auf die Gefahr hin, alle irdischen Güter<br />
zu verlieren, wie die früheren Reformatoren berufen werden, Zeugnis abzulegen um<br />
des Wortes Gottes und des Zeugnisses Jesu Christi willen.<br />
Die Begebenheiten des großen Kampfes zwischen Wahrheit und Irrtum zu beschreiben,<br />
Satans listige Anschläge und die Möglichkeiten, durch die wir ihm widerstehen<br />
können, zu offenbaren, eine befriedigende Lösung des großen Problems<br />
der Sünde zu geben, indem der Ursprung und die endgültige Abrechnung mit allem<br />
Bösen so erhellt werden, daß sich dadurch die Gerechtigkeit und die Güte Gottes in<br />
all seinem Handeln mit seinen Geschöpfen eindeutig bekundet, sowie die Heiligkeit<br />
und ewige Gültigkeit seines Gesetzes zu zeigen, das ist die Aufgabe dieses Buches.<br />
Möge der Einfluß dieses Buches helfen, Seelen von der Macht der Finsternis zu<br />
befreien, damit sie teilhaben am „Erbe der Heiligen im Licht“ zum Lobe dessen, der<br />
uns geliebt und sich selbst für uns gegeben hat! Dies ist mein aufrichtiges Gebet.<br />
35
TEIL II<br />
THEORIE<br />
Plädoyer für eine pragmatische<br />
Einstellung zur Inspiration
Kapitel 1<br />
Von Zweiflern, Ängstlichen und<br />
anderen Kindern Gottes<br />
Vor einigen Jahren bat ich einen meiner Universitätskollegen, einen von mir<br />
verfaßten Text über die Heilige Schrift kritisch durchzusehen. Seine Antwort gab mir<br />
zu denken.<br />
„Deine Argumentation kann mich nicht überzeugen,“ schrieb er, „obwohl ich<br />
nicht bestreite, daß sie in einem gewissen Stadium meiner intellektuellen und geistlichen<br />
Entwicklung meine Zweifel erheblich gemindert hätte.“<br />
Er fuhr fort und erklärte mir, daß seine Stellungnahme „einen andauernden Dialog<br />
mit dem Gott, den ich einst kannte“ widerspiegle. Dann fügte er hinzu: „Sollte ich je<br />
wieder zum Glauben kommen, so geschähe dies <strong>als</strong> Jude und nicht <strong>als</strong> Christ.“<br />
Obwohl er nicht in einem christlichen Heim aufgewachsen war, hatte mein Freund<br />
in jungen Jahren Christus angenommen. In seiner fortschreitenden christlichen<br />
Erfahrung während des Studiums war er mit der „Inter Varsity Fellowship“ (IVF) in<br />
Berührung gekommen, einer Organisation zur Unterstützung von Christen, die an<br />
nicht-kirchlichen Universitäten studieren.<br />
Als mein Freund jedoch anfing, sich mit Parallelstellen aus den Evangelien zu<br />
befassen, bereitete ihm die Haltung der IVF Schwierigkeiten, die an der Irrtumslosigkeit<br />
der Schrift festhielt. Zusammen mit einigen Freunden wandte er sich an die<br />
Leitung der Gesellschaft und bat um eine flexiblere Definition des Inspirationsbegriffs,<br />
die den Ergebnissen ihres Schriftstudiums besser gerecht werden könnte.<br />
Die Antwort war ein klares Nein. Irrtumslosigkeit mußte weiterhin ohne jede<br />
Diskussion vorausgesetzt werden. Diese Antwort trug dazu bei, seinen Glauben<br />
schwinden zu lassen, bis nichts mehr davon übrig war.<br />
Wenn ich heute meinem Freund zuhöre, sind seine Zweifel – ja, seine atheistische<br />
Haltung – unverkennbar. Ich spüre aber auch einen Hauch von Sehnsucht nach seiner<br />
früheren Überzeugung. Einmal meinte er sogar, er hätte seinen Glauben nie verloren,<br />
wenn er sein geistliches Leben weitergeführt hätte; aber es hatte nicht sein sollen.<br />
Mir scheint, seine Erfahrung ist vergleichbar mit einer glücklichen Ehe, die in<br />
einer Scheidung endet. Wenn die Liebe stirbt, kann sie nur durch ein Wunder wieder<br />
zum Leben erweckt werden.<br />
39
INSPIRATION<br />
Die Erfahrung meines Freundes steht mir häufig vor Augen, wenn ich unterrichte<br />
und predige. Wir müssen nicht zwischen blindem Glauben und gebildetem Atheismus<br />
wählen; es gibt eine andere Möglichkeit. Das gestand sogar mein Freund zu, <strong>als</strong><br />
er sagte, daß meine Ausführungen zu einer bestimmten Zeit seine Zweifel abgemildert<br />
hätten.<br />
Aber Tatsachen allein bewirken noch keinen Glauben. Sehen ist nicht gleichbedeutend<br />
mit Glauben. Besitzt man nämlich keinen sinnvollen Erklärungsrahmen für<br />
die entdeckten Tatsachen, kann das Sehen den Glauben sogar zerstören. Wer mit<br />
Gebildeten verkehrt, kann meist auch Namen nennen von solchen, die mit wachsender<br />
Bildung ihren Glauben verloren haben.<br />
Gewiß könnte jeder von uns eine Reihe von Leuten aufzählen, die aus Ignoranz<br />
oder Unbeherrschtheit vom Wege abgekommen sind. Doch besonders schmerzlich ist<br />
das Abdriften derer, die scheinbar zu viel gelernt haben. Daraus resultiert teilweise<br />
auch die tiefsitzende Bildungsangst, der man in konservativ-christlichen Kreisen<br />
häufig begegnet. Adventisten sind davon keineswegs ausgenommen. Bemerkenswert<br />
jedoch ist, daß der prophetische Dienst von Ellen White zu einer ungewöhnlichen<br />
soziologischen Situation führte, nämlich zur Bildung einer konservativ-christlichen<br />
Glaubensgemeinschaft, die eine höhere Bildung <strong>als</strong> Bestandteil ihres Missionskonzepts<br />
versteht.<br />
Das Buch Erziehung von Ellen White ist für mich immer wieder eine reichhaltige<br />
Quelle geistiger Inspiration. In ihrem Schrifttum finden sich eindrucksvolle Aussagen,<br />
die zur intellektuellen Weiterentwicklung ermutigen. So macht sie beispielsweise<br />
geltend, daß „Unwissenheit weder die Demut noch die Spiritualität eines<br />
Nachfolgers Christi fördert. Die Wahrheiten des göttlichen Wortes können am besten<br />
von einem denkenden [wörtl.: intellektuellen] Christen erfaßt werden.“ (3 T 160)<br />
An anderer Stelle tadelt sie Prediger, die ihre Fähigkeiten „verrosten“ lassen: „Sie<br />
hätten in geistiger Hinsicht zehnmal mehr leisten können, wenn sie sich darum bemüht<br />
hätten, ihren Intellekt optimal zu fördern. Trotz ihrer hohen Berufung erreichen<br />
sie nur wenig, da sie mit dem einmal Erreichten zufrieden sind. Ihre Bemühungen,<br />
sich Wissen anzueignen, werden ihr geistliches Wachstum in keiner Weise beeinträchtigen,<br />
solange sie beim Studium die richtigen Motive und die geeigneten Ziele<br />
vor Augen haben.“ (TM 194)<br />
Ich erinnere mich gut an meine Kindheitstage, <strong>als</strong> uns mein Vater spannende<br />
Geschichten von „geistigen Riesen“ vorlas, die Christen gewesen waren. Die im<br />
Buch Der große Kampf von Ellen White enthaltene Lebensbeschreibung John Wyklifs<br />
bewegt mich heute noch. Hier wird uns ein Mensch vorgestellt, der „auf der<br />
Universität seiner inbrünstigen Frömmigkeit, seiner hervorragenden Talente und<br />
40
VON ZWEIFLERN UND ÄNGSTLICHEN<br />
seiner gründlichen Gelehrsamkeit wegen bekannt“ geworden war. Ellen White lobt<br />
den „Wissensdrang“, der ihn dazu antrieb, „jeden Zweig der Wissenschaft kennenzulernen,“<br />
einschließlich der „spekulativen Philosophie“ seiner Zeit. „Dank seiner<br />
natürlichen Anlagen und dem Umfang und der Gründlichkeit seines Wissens erwarb<br />
er sich die Achtung von Freund und Feind. Wyklifs Anhänger sahen mit Genugtuung,<br />
daß er unter den tonangebenden Geistern der Nation einen führenden Platz<br />
einnahm, und seinen Feinden war es nicht möglich, die Sache der Erneuerung durch<br />
Bloßstellen irgendeiner Unwissenheit oder Schwäche ihres Verteidigers in Verruf zu<br />
bringen.“ (GK 80)<br />
Diese Vision bewegt mich. Begeistert möchte ich ausrufen: Hätten doch alle<br />
Adventisten noch solche Ideale! Aber immer wenn ich mir höhere Ziele für mich und<br />
meine Kirche stecke, werde ich durch die Studenten meiner Klasse, durch Briefe<br />
früherer Studenten und durch Gemeindeglieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.<br />
Sie geben mir zu verstehen, daß sie das Gehörte erschreckt. Dies erinnert<br />
mich an ein anderes Lieblingszitat von Ellen White, in dem sie vor zu schnellem<br />
Vorangehen warnt. Obwohl sie in diesem Zusammenhang über die Gesundheitsreform<br />
spricht, ist das Prinzip doch breit anwendbar und auch auf Lehrer zu übertragen,<br />
die schneller vorangehen wollen, <strong>als</strong> ihre Studenten folgen können.<br />
„Wir dürfen nicht schneller vorangehen, <strong>als</strong> diejenigen folgen können, die in<br />
ihrem Gewissen und Denken von der Richtigkeit unserer Lehren überzeugt sind. Wir<br />
müssen die Menschen dort abholen, wo sie stehen. Einige von uns haben viele Jahre<br />
gebraucht, um zu unseren gegenwärtigen Ansichten über Gesundheitsreform zu<br />
gelangen ... Gäben wir den Leuten soviel Zeit, wie wir selber benötigten, um unseren<br />
heutigen Erkenntnisstand zu erreichen, würden wir ihnen mit viel Geduld begegnen<br />
und sie Schritt für Schritt voranschreiten lassen, bis auch sie auf dem sicheren Boden<br />
der Gesundheitsreform Fuß gefaßt haben. Aber wir sollten sehr vorsichtig sein und<br />
nicht zu schnell vorgehen, damit wir nicht gezwungen sind, manche Schritte rückgängig<br />
zu machen. Wenn es um Reformen geht, ist es besser, unser Ziel um einen<br />
Schritt zu verfehlen <strong>als</strong> einen Schritt darüber hinauszugehen. Und sollten wir dabei<br />
Fehler machen, dann immer zugunsten der Menschen.“ (3 T 20.21)<br />
Was alle, die nach Reformen streben – Eltern, Lehrer, Pastoren – so beunruhigt,<br />
ist der Umstand, daß Veränderungen dringend nötig sind und dem Wohl der Betroffenen<br />
dienen sollen. Bei der Gesundheitsreform kann es sogar um Leben und Tod<br />
gehen, wenn zu langsam vorangegangen wird. Und doch gilt auch hier die ernüchternde<br />
Botschaft des obigen Zitats: Zu schnelles Vorgehen ist noch gefährlicher.<br />
In der Frage der Inspiration zeigt sich auch bei Adventisten die menschliche<br />
Tendenz, entweder zu schnell oder zu langsam vorzugehen, manchmal sogar gleich-<br />
41
INSPIRATION<br />
zeitig! In den 80er Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, den 20er und 70er Jahren<br />
dieses Jahrhunderts wurde darüber heftig diskutiert (siehe Anhang A). Aus dem<br />
anhaltenden Gärungsprozeß der 70er Jahre ist dieses Buch hervorgegangen.<br />
Ob ich unterrichte, predige oder schreibe: Immer denke ich an unsere begabten<br />
Studenten, die häufig mehr sehen, <strong>als</strong> nur das, was wir in unseren Gemeindepublikationen<br />
ansprechen. Sie haben eine rasche Auffassungsgabe und einen fragenden<br />
Geist – und sie eilen manchmal rascher voran, <strong>als</strong> sie es selbst verkraften können.<br />
Jeder von ihnen ist ein potentieller Wyklif.<br />
Erstaunlicherweise sind die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Inspiration<br />
nicht auf eine bestimmte Gruppe von Studenten begrenzt. Ich habe Zweifler,<br />
Ängstliche, Sehnsüchtige und Überraschte in allen Gruppen angetroffen – bei den<br />
besonders Begabten, den Durchschnittlichen und bei denen, die mit dem Studium zu<br />
kämpfen haben. Für den schlichten Menschen ist es nicht einfacher zu glauben <strong>als</strong><br />
für den Intelligenten. Einfache Menschen lösen nur einfache Fragen; sie sehen eben<br />
nur die einfachen Dinge. Schwierige Fragen treten gar nicht erst an sie heran. Gebildete<br />
Menschen dagegen sehen eine ganze Reihe von Problemen. Aber die von<br />
Gott verliehene Fähigkeit, komplexe Probleme zu erkennen, befähigt sie auch, aufwendigere<br />
Lösungen zu finden. Wenn es um den Glauben geht, sind wir vor Gott alle<br />
gleich.<br />
Einer der größten Feinde des Glaubens ist jedoch die Furcht. Sie hindert uns<br />
daran, die Bibel gründlicher zu studieren; sie macht konservativ und Neuerungen<br />
gegenüber verschlossen.<br />
Der Ausdruck „konservativ“ ist sehr interessant, weil er einen positiven oder<br />
einen negativen Beigeschmack haben kann. Ich freue mich beispielsweise, wenn man<br />
mich einen konservativen Christen nennt. In diesem Zusammenhang steht „konservativ“<br />
für bestimmte Werte und Überzeugungen von Gott, die mir wichtig sind.<br />
Es mag überraschen, daß Ellen White nicht zögerte, das Wort „konservativ“ im<br />
negativen Sinn zu gebrauchen. Im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen<br />
von 1888 warnte sie davor, sich auf vergangenen Lorbeeren auszuruhen: „Doch wo<br />
das geistliche Leben abnimmt, herrscht stets die Neigung, im Suchen nach Erkenntnis<br />
der Wahrheit nachzulassen. Diese Menschen geben sich mit der Erkenntnis zufrieden,<br />
die sie bereits aus dem Worte Gottes empfangen haben, und vernachlässigen<br />
ein weiteres Suchen in der Schrift. Sie erstarren geistlich [wörtl.: sie werden konservativ]<br />
und trachten danach, Aussprachen aus dem Wege zu gehen.“ (2 Sch 281.282)<br />
Der Brief eines ehemaligen Studenten kann zeigen, wie schwierig der Umgang<br />
mit denen ist, die „konservativ sind und Diskussionen ausweichen.“ Sein Brief war<br />
keineswegs böswillig gemeint. Er schrieb mit viel Anteilnahme, wohl auch mit<br />
42
VON ZWEIFLERN UND ÄNGSTLICHEN<br />
Schmerz und Sorge, jedenfalls in einem christlichen Geist. Dieser Brief war für mich<br />
eine ernüchternde Erinnerung an Ellen Whites Mahnung, „wir sollten sehr vorsichtig<br />
sein und nicht zu schnell vorgehen.“<br />
Er fand meinen Unterricht „interessant, aber total verunsichernd“ und fügte hinzu:<br />
„Ich stimme mit dem meisten, was Du gelehrt hast, überein, nicht aber mit dem<br />
Zeitpunkt und der Art und Weise, wie es vermittelt wurde.“ Er führte eine Liste mit<br />
konkreten Beispielen an, nach der ich gelehrt hatte, daß „der Gott des Alten Testaments<br />
hart und grausam ist, während Jesus im Neuen Testament diesen Charakter<br />
nicht aufweist; daß neutestamentliche Schreiber das Alte Testament f<strong>als</strong>ch zitiert<br />
haben; daß Ellen White viele ihrer Schriften von anderen Autoren übernommen hat.“<br />
Sichtlich bewegt schloß er mit den Worten: „Ich schätze Dich außerordentlich und<br />
habe an Deinen Vorlesungen wirklich Gefallen gefunden. Ich lese all Deine Beiträge<br />
in der Zeitschrift Signs of the Times und kann das meiste, was Du lehrst, akzeptieren.<br />
Die Beweise waren sehr überzeugend – aber waren wir damit nicht überfordert?“<br />
Nur einen Tag bevor mich dieser Brief erreichte, rief ein anderer Student am Ende<br />
meines Unterrichts aus (es handelte sich um denselben Kurs, aber einige Jahre später):<br />
„Das ist toller Stoff! Aber etwas stimmt nicht. Wir bekommen das alles zu<br />
hören, aber die Gemeinde nicht. Wie wird es die Gemeinde erfahren?“<br />
In der nächsten Unterrichtsstunde bezog ich mich auf diese Äußerung und las<br />
dann Ausschnitte des Briefes vor, den ich gerade erhalten hatte. Ich machte auf das<br />
Dilemma aufmerksam, dem wir <strong>als</strong> Gemeinde ausgesetzt sind, nämlich die Gefahr,<br />
entweder zu schnell oder zu langsam vorzugehen. Ich erzählte noch zwei andere<br />
spontane Äußerungen, die ich im Unterricht gehört hatte. Die eine lag nur wenige<br />
Monate, die andere einige Jahre zurück.<br />
Im Jahre 1980 machte ein junges Mädchen nach einer meiner Unterrichtsstunden<br />
über das Alte Testament folgende Bemerkung: „Das würden mir meine Eltern nie<br />
glauben, wenn ich es ihnen erzählte. Wann wirst Du das im Adventist Review veröffentlichen?<br />
Meine Eltern glauben alles, was dort steht!“<br />
Später, 1988, <strong>als</strong> ich auf meine Sinai-Golgatha-Serie hinwies, die im Adventist<br />
Review (Dezember 1981) erschienen war, erklärte ein anderer Student: „Ich wünschte,<br />
meine Großeltern würden das lesen. Aber sie lesen nur eine unabhängige adventistische<br />
Zeitschrift.“<br />
Ich konnte nicht umhin, beide Standpunkte zu bedauern. Nur weil ein Artikel im<br />
Adventist Review erscheint, ist er noch lange nicht richtig – oder f<strong>als</strong>ch. Ellen White<br />
hatte recht, <strong>als</strong> sie in ihrem ersten Beitrag über Erziehung im Jahre 1872 schrieb: „Es<br />
gibt nur wenig Menschen, die vernünftig argumentieren und logisch denken, aus dem<br />
einfachen Grund, weil f<strong>als</strong>che Einflüsse ihre geistige Entwicklung gehemmt haben.<br />
43
INSPIRATION<br />
Die Vermutung von Eltern und Lehrern, daß ständiges Studieren den Verstand fördert,<br />
hat sich <strong>als</strong> f<strong>als</strong>ch erwiesen; in manchen Fällen zeigt sich sogar ein gegenteiliger<br />
Effekt.“ (3 T 142.143)<br />
Stundenlanges Studieren, auch wenn wir uns dabei mit der Bibel befassen, ist<br />
keine Garantie dafür, daß wir die Wahrheit wirklich erfassen. Wir müssen immer<br />
wieder nachdenken, gründlich forschen, miteinander diskutieren und um die Führung<br />
Gottes bitten.<br />
Ebenfalls im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um 1888 gab Ellen<br />
White folgenden Rat: „Es ist wichtig, daß wir uns niem<strong>als</strong> gestatten, zur Verteidigung<br />
der Lehren, die wir <strong>als</strong> Grundlagen des Glaubens betrachten, Beweisführungen<br />
heranzuziehen, die nicht stichhaltig sind. Sie mögen ausreichen, einen Gegner zum<br />
Schweigen zu bringen, bereiten aber der Wahrheit keine Ehre. Wir sollten überzeugende<br />
Gründe geltend machen, die nicht nur unsere Gegner zum Schweigen bringen,<br />
sondern die auch der schärfsten und genauesten Prüfung standhalten.“ (2 Sch 283)<br />
Daß es auch in unserer eigenen adventistischen Tradition anfechtbare Argumente<br />
gibt, legt das Schreiben meines ehemaligen Studenten nahe, wenn er beschwörend<br />
sagt: „Bitte denke daran, daß Prediger oft jahrelang versuchen, andere von der<br />
Glaubwürdigkeit der Bibel, von Ellen White sowie der Gemeinde zu überzeugen.<br />
Schließlich sind die Neubekehrten davon überzeugt. Danach aber scheint Dein<br />
Unterricht alle Tatsachen und Beweisführungen niederzureißen, auf denen ihr<br />
Glaube gegründet war.“<br />
Sicher ist das ein wenig übertrieben. Es sei daran erinnert, daß eben jener Student<br />
bestätigte, daß die von mir vorgebrachten Beweise durchaus einleuchtend waren.<br />
Offensichtlich stehen wir vor einer fast unlösbaren Aufgabe. Angesichts der enormen<br />
Unterschiede unter den Gemeindegliedern scheint es manchmal aussichtslos, sie alle<br />
in einer Gemeinde zu vereinen. Aber wir sollten uns nicht entmutigen lassen. Ein<br />
richtiges Verständnis der Lehre von der Gemeinde führt schließlich zu der<br />
Erkenntnis, daß Einheit nur durch Vielfalt erreicht werden kann.<br />
In diesem Bewußtsein hoffe ich, daß das vorliegende Buch einen positiven Beitrag<br />
zum Leben und Wirken der Gemeinde leistet. Ich muß allerdings damit rechnen,<br />
daß es unterschiedlich beurteilt werden wird. Mein Wunsch, es allen und jedem recht<br />
zu machen, wird durch Ellen Whites Aufforderung an Schulen und Gemeinden<br />
bestärkt, den unterschiedlichen Bedürfnissen der Menschen Rechnung zu tragen. Im<br />
Blick auf die Lehrenden meint sie in ihrem Buch Counsels to Parents, Teachers and<br />
Students, daß es für junge Leute nicht ratsam ist, Jahr für Jahr denselben Bibellehrer<br />
zu haben.<br />
44
VON ZWEIFLERN UND ÄNGSTLICHEN<br />
In diesem Zusammenhang erwähnt sie die verschiedenen Darstellungen ein und<br />
derselben Begebenheiten in der Schrift und macht geltend, daß diese unterschiedlichen<br />
Versionen notwendig seien, „weil wir es mit unterschiedlichem menschlichen<br />
Begriffsvermögen zu tun haben. Nicht alle verstehen die Dinge in genau der gleichen<br />
Weise. Manche biblischen Wahrheiten beeindrucken die einen mehr <strong>als</strong> die<br />
anderen.“<br />
Dasselbe kann auch von Rednern gesagt werden. „Die ganze Wahrheit wird<br />
besser von mehreren <strong>als</strong> von einem einzelnen zum Ausdruck gebracht.“ Dann stellt<br />
sie mit Nachdruck fest, wie sehr wir einander brauchen: „So teilt sich <strong>als</strong>o der Herr<br />
nicht einem jeden von uns in derselben Weise mit. Mit Hilfe ungewöhnlicher Erfahrungen<br />
und besonderer Umstände mag er einigen Bibellesern Einblicke in Wahrheiten<br />
vermitteln, die anderen verborgen bleiben. Es ist möglich, daß selbst der<br />
gebildeteste Lehrer weit davon entfernt ist, alles was gelehrt werden sollte, auch<br />
wirklich zu lehren.“ (CT 432.433)<br />
Gott schickt uns Zweifler, Ängstliche, Sehnsüchtige und Überraschte. Er bittet<br />
uns, daß wir uns aller ihrer Bedürfnisse annehmen. Auch das gehört zum Geheimnis<br />
und zur Größe seines Wortes und ist zugleich der Grund dafür, warum die Bibel<br />
unser Leben bis heute so stark prägt. Sie verdient unsere ungeteilte Aufmerksamkeit,<br />
unsere Hochachtung und unsere Wertschätzung. Sie ist das Brot des Lebens für<br />
Gottes hungrige Kinder.<br />
45
Kapitel 2<br />
Über Offenbarung, Inspiration<br />
und Illumination<br />
Vor einiger Zeit hörte ich von einem guten Freund und Kollegen, daß ihm das<br />
Auswendiglernen von Bibeltexten großen Gewinn bringt. Ich nahm mir vor, seinem<br />
Beispiel zu folgen und herauszufinden, ob ich mir trotz zunehmenden Alters einige<br />
wichtige Abschnitte würde einprägen können. Es ist verhältnismäßig leicht, Textabschnitte<br />
ins Gedächtnis zurückzuholen, die ich in meiner Jugend gelernt habe; aber<br />
Neues zu lernen ist weitaus schwieriger. Dabei wird die Mühe reich belohnt, was<br />
mich veranlaßt, andere ebenfalls zum Auswendiglernen zu ermutigen.<br />
Als ich in den 60er Jahren das College besuchte, hatte meine Generation die<br />
Freude am Auswendiglernen verloren. Das Verstehen eines Textes war uns wichtiger.<br />
Hätte ich zwischen beidem zu wählen, würde ich heute noch das Verstehen<br />
vorziehen. Zu wünschen wäre aber eine Kombination beider Fähigkeiten!<br />
Dreißig Jahre früher war die Situation noch ganz anders gewesen. Als mein Vater<br />
dam<strong>als</strong> am Pacific Union College studierte, mußte er 300 Bibelverse in einem Jahr<br />
auswendig lernen. Das ist erstaunlich und unfair zugleich, denn er kann sich heute<br />
noch an diese Texte erinnern – ich aber nicht! Ich gebe mir große Mühe, mich nicht<br />
darüber zu ärgern ...<br />
Jetzt habe ich mir <strong>als</strong>o selber das Auswendiglernen vorgenommen, obwohl es<br />
heute für mich viel schwieriger ist. Zu meiner Überraschung stelle ich fest, daß die<br />
ständige Wiederholung von Texten einen prägenden Einfluß auf mich hat. Zwar hatte<br />
ich erwartet, daß das Erreichen eines gesteckten Zieles eine gewisse Zufriedenheit<br />
bei mir auslöst, aber ich war nicht vorbereitet auf die Woge von Empfindungen, die<br />
zuweilen unversehens über mich kommt und deutliche Auswirkungen zeigt.<br />
Woran liegt es, daß die Heilige Schrift einen so großen Einfluß ausübt? Und was<br />
unterscheidet sie von anderen Büchern, die unser Leben ebenfalls geprägt haben?<br />
Das sind Fragen, denen ich in diesem Kapitel nachgehen möchte. Ich werde dabei<br />
drei Fachausdrücke verwenden, die ich aktualisieren und verständlich machen<br />
möchte. Es sind die Begriffe Offenbarung, Inspiration und Illumination.<br />
Dabei werden uns immer wieder folgende Fragen beschäftigen: Wodurch<br />
unterscheidet sich die Bibel von anderen Büchern? Inwiefern unterscheidet sie sich<br />
nicht von ihnen?<br />
47
INSPIRATION<br />
Für uns hat die Bibel einen beachtlichen Symbolwert. Bezeichnend dafür ist die<br />
Redewendung „Die Bibel und nur die Bibel allein.“ Ihre Bedeutung steht im<br />
Zusammenhang mit dem Inhalt der Schrift. Sie prägt unsere Gewohnheiten, unser<br />
Denken und unsere Gefühlswelt. Das ganze Leben wird dadurch verändert. Wie<br />
kommt das? Eine Untersuchung der Begriffe Offenbarung, Inspiration und Illumination<br />
wird uns helfen, diese Frage zu beantworten.<br />
Offenbarung<br />
Das Wort Offenbarung läßt an eine besondere Mitteilung von Gott denken, eine<br />
Botschaft an seine irdischen Geschöpfe. Wenn wir an Offenbarungen denken, kommen<br />
uns wahrscheinlich zunächst Visionen oder Träume in den Sinn. Diese werden<br />
dann zur Grundlage einer geschriebenen Botschaft, wie das beispielsweise bei den<br />
Büchern Daniel und Offenbarung der Fall ist.<br />
Eine Offenbarung kann aber auch auf andere Weise geschehen; zum Beispiel<br />
durch eine Stimme vom Himmel (Abraham, Jesus), einen Ringkampf (Jakob mit<br />
ausgerenktem Hüftgelenk), deutliche Zeichen (ein nasses bzw. trockenes Fell wie bei<br />
Gideon), in Stein gemeißelte Worte Gottes (Mose) und schließlich durch den<br />
menschgewordenen Gott selbst – Jesus Christus, die höchste Offenbarung. Traditionell<br />
werden all diese Formen <strong>als</strong> spezielle Offenbarung bezeichnet.<br />
Diesem außergewöhnlichen göttlichen Eingreifen in unsere Welt läßt sich das<br />
gegenüberstellen, was einige Theologen allgemeine Offenbarung nennen. Sie denken<br />
dabei an Gottes Schöpfungswerke in der Natur, die in einem gewissen Sinne<br />
ebenfalls Gott offenbaren. Angesichts des Zustandes unserer sündigen Welt erscheint<br />
diese allgemeine Offenbarung allerdings so zweideutig, daß sich viele Theologen<br />
weigern, sie <strong>als</strong> Offenbarung anzuerkennen. Wie dem auch sei, in diesem Kapitel<br />
sprechen wir nur über spezielle Offenbarung.<br />
Eine weitverbreitete Vorstellung besagt, daß die ganze Heilige Schrift durch<br />
spezielle Offenbarung zustande gekommen ist. Obwohl ich diese Auffassung früher<br />
ebenfalls vertreten habe, bin ich inzwischen zu dem Schluß gekommen, daß diese<br />
Auffassung unzutreffend ist. Wir nennen die Schrift zwar „Gottes offenbartes Wort“<br />
– und vor meinem geistigen Auge sehe ich Prediger und Evangelisten, wie sie die<br />
Bibel hochhalten und von Gottes „Offenbarung“ sprechen. In einem sekundären<br />
Sinne ist die Bibel, wie wir sie heute kennen, ja auch wirklich Offenbarung.<br />
Vielleicht erklärt gerade der häufige Gebrauch dieses Wortes, weshalb viele so<br />
selbstverständlich davon ausgehen, daß die gesamte Schrift durch spezielle<br />
Offenbarung entstanden ist.<br />
48
OFFENBARUNG, INSPIRATION UND ILLUMINATION<br />
Nach der Bibel ist es zweifellos richtig, daß „alle Schrift von Gott eingegeben“, <strong>als</strong>o<br />
inspiriert ist. Bevor wir aber auf den Begriff Inspiration eingehen, müssen wir uns<br />
klar darüber sein, was unter Offenbarung zu verstehen ist. Vielleicht ist das der<br />
wichtigste Punkt in diesem Buch: Die Bibel behauptet nicht, daß die ganze Schrift<br />
durch spezielle Offenbarung gegeben wurde.<br />
Wenn ein Prophet sagt: „Das Wort des Herrn geschah zu mir“ oder „Ich sah“, läßt<br />
sich daraus ableiten, daß wir es mit besonderen Offenbarungen zu tun haben. Wenn<br />
dagegen der Verfasser der Königsbücher mitteilt, „was mehr von Salomo zu sagen<br />
ist“, sei in den königlichen Aufzeichnungen zu finden, nämlich „in der Chronik von<br />
Salomo“ (1. Könige 11,41), dann geht es nicht um Offenbarung im engeren Sinn,<br />
sondern um geistgeleitete Forschung und Berichterstattung (siehe unten, Kapitel 12).<br />
Dasselbe gilt, wenn uns der Chronist auf die Schriften von Samuel, Nathan und Gad<br />
hinweist (1. Chronik 29,29) oder wenn Lukas erklärt, er habe das Leben Jesu<br />
sorgfältig erforscht, um einen zuverlässigen Bericht vorlegen zu können (Lukas 1,1-<br />
4).<br />
Die Vorstellung, Lukas habe bei der Abfassung seines Evangeliums einen Packen<br />
Notizzettel verwendet, mag uns befremdlich erscheinen. Vor meinem inneren Auge<br />
steht immer noch das Bild, daß ein Prophet mit himmelwärts gerichtetem Blick seine<br />
Botschaft von Gott empfängt. Dieses Bild mag so lange berechtigt sein, bis wir<br />
versuchen, es auf die ganze Schrift anzuwenden. Bei sorgfältigem Lesen der Bibel<br />
finden wir aber Hinweise darauf, wo tatsächlich eine besondere Offenbarung<br />
gegeben wurde und wo nicht.<br />
Das Buch Luke, a Plagiarist? von George Rice beschreibt anschaulich die beiden<br />
Entstehungsweisen der Bibel. Das traditionelle Modell der Offenbarung ist jenes, das<br />
wir gern auf die gesamte Schrift anwenden. Rice verwendet dafür die Bezeichnung<br />
„prophetisch“. Die andere Methode, die sich auf eigene Nachforschungen gründet,<br />
wird allzu leicht übersehen. Rice nennt sie „das Lukanische Modell“. Zur<br />
Erläuterung verbindet er die einleitenden Worte des Lukasevangeliums (Lukas 1,1-4)<br />
mit einer sorgfältigen Analyse des gesamten Buches.<br />
Die Begriffe besondere Offenbarung und eigene Nachforschung dienen der Unterscheidung<br />
dieser beiden Wege. Ein weniger markantes, aber einleuchtendes Beispiel<br />
für die zweite Methode findet sich im Brief des Paulus an die Gemeinde in<br />
Korinth. Dort sagt er der Gemeinde geradeheraus, daß ein Bericht „durch die Leute<br />
der Chloe“ (1. Korinther 1,11) der Anlaß zu seinem Brief war. Dann faßt er die<br />
leidige Geschichte kurz zusammen. Wenn Paulus seine Informationen von Chloe<br />
erhalten konnte, ist es genauso denkbar, daß auch andere inspirierte Schreiber<br />
Informationen gefunden oder erhalten haben, die nicht mittels spezieller Offenbarung<br />
49
INSPIRATION<br />
zu ihnen gelangten.<br />
Das Mißverständnis, alle inspirierten Botschaften beruhten auf Visionen oder<br />
anderen Formen spezieller Offenbarung, ist tief in der Geschichte der Adventisten<br />
verwurzelt. In einem beeindruckenden Abschnitt aus ihrer Buchreihe Testimonies to<br />
the Church behandelt Ellen White dieses Thema im Zusammenhang mit ihrer<br />
eigenen Tätigkeit. Offenbar versuchten dam<strong>als</strong> gewisse Leute, ihre Probleme mit den<br />
Zeugnissen von Ellen White dadurch zu lösen, daß sie einige auf verbindliche<br />
Visionen zurückführten, während sie andere <strong>als</strong> das unverbindliche Produkt von<br />
Gerüchten hinstellten.<br />
Unter Anspielung auf ihre 45jährige Erfahrung antwortete sie darauf mit deutlichen<br />
Worten: „Kann ich ... jetzt noch in der gleichen Unwissenheit, derselben geistigen<br />
Unsicherheit und geistlichen Blindheit sein wie am Anfang dieser Erfahrung?<br />
Wollen meine Brüder sagen, daß Schw. White ein so schlechter Schüler gewesen ist,<br />
daß ihr diesbezügliches Urteil nicht klarer geworden ist <strong>als</strong> vor ihrem Eintritt in die<br />
Schule Christi, in der sie für dieses besondere Werk erzogen und geschult werden<br />
sollte?“<br />
„Ich möchte meinen Schöpfer nicht mit dem Eingeständnis entehren“, rief sie aus,<br />
„daß alle diese Erkenntnis und alle Entfaltung seiner gewaltigen Macht in meinem<br />
Wirken und in meiner Erfahrung nutzlos gewesen und daß dadurch meine<br />
Urteilskraft nicht entwickelt oder ich für sein Werk nicht brauchbarer geworden sei.“<br />
„Sollte ich nicht bestürzt sein, daß Männer und Frauen den gleichen Weg einschlagen<br />
und die gleichen Schwächen nähren, die andre Menschen gefährdeten und<br />
dem Werke Gottes geschadet haben, obwohl der Herr sie immer wieder gerügt hat?<br />
Viele verzagte Seelen sind durch das Gefühl ihrer Unvollkommenheit bedrückt und<br />
suchen dennoch gewissenhaft das zu tun, was Gott für richtig erklärt hat; ich weiß,<br />
daß der Herr mit Wohlgefallen auf ihre treuen Bemühungen herabschaut. – Soll ich<br />
diesen armen, ängstlichen Menschen nicht ein Wort zu ihrer Ermutigung sagen?“<br />
Ihre Schlußfolgerung macht deutlich, daß sich viele ihrer Aussagen nicht<br />
unmittelbar auf Offenbarungen gründen. „Soll ich nur deshalb schweigen, weil ich<br />
nicht durch ein besonderes Gesicht auf jeden einzelnen Fall hingewiesen worden<br />
bin?“ (2 Sch 268 [geschrieben 1889])<br />
Kurz gesagt: Prophetische Botschaften besitzen uneingeschränkte Autorität, ohne<br />
daß sie in jedem Fall auf eine spezielle, übernatürliche Offenbarung zurückgehen.<br />
Wo immer die Schrift den Anspruch auf solche besonderen Offenbarungen geltend<br />
macht, sollten wir ihn anerkennen. Große Teile der Schrift aber erheben keinen<br />
solchen Anspruch. Daran sollten wir denken, wenn wir Geschichtsbücher, Psalmen,<br />
Sprüche, Evangelien und Briefe studieren.<br />
50
OFFENBARUNG, INSPIRATION UND ILLUMINATION<br />
Göttliche Inspiration? Immer. Spezielle Offenbarung? Manchmal – und ganz<br />
bestimmt dort, wo uns die Bibel das sagt.<br />
Inspiration<br />
Unabhängig davon, wie wir das Wort Inspiration im täglichen Sprachgebrauch<br />
verwenden, hat es eine besondere Bedeutung im Zusammenhang mit der Heiligen<br />
Schrift. Ein Sonnenuntergang kann inspirierend sein, ein Trainer will sein Team zu<br />
einer großartigen Leistung inspirieren, ein Pastor mag eine inspirierende Predigt<br />
halten. Doch all das trägt den Charakter des Gewöhnlichen im Vergleich zu dem,<br />
was Christen darunter verstehen, wenn sie 2. Timotheus 3,16 zitieren: „denn alle<br />
Schrift [ist] von Gott eingegeben“.<br />
Gewiß verstehen nicht alle Christen unter der Inspiration von 2. Timotheus 3,16<br />
ein und dasselbe. Da das griechische Wort theópneustos so viel bedeutet wie „von<br />
Gott eingehaucht“, haben einige daraus eine verbale Inspiration oder gar ein wörtliches<br />
Diktat abgeleitet.<br />
In seinem Buch Theopneustia legt beispielsweise François Louis Gaussen, ein<br />
renommierter Schweizer Protestant des 19. Jahrhunderts, diesen Standpunkt dar.<br />
Seine engagierte Argumentation hat auch bei Adventisten deutliche Spuren hinterlassen.<br />
Einem Schreiben von Willie White an LeRoy Froom aus dem Jahre 1928 zufolge<br />
vertraten Adventisten im allgemeinen die gemäßigte Sicht der „Gedankeninspiration“<br />
(siehe Anhang B). Als jedoch W. W. Prescott, der Rektor des Battle Creek College,<br />
Gaussens Buch Theopneustia in die Hand bekam, nahm er eine extremere Haltung<br />
ein und verteidigte diese Sicht am College. Wie Willie White sagte, „hatte die<br />
Annahme dieser Lehre durch die Studenten des Battle Creek College und viele<br />
andere, einschließlich von S. N. Haskell, zur Folge, daß in unserem Werk immer<br />
mehr Fragen auftauchten und endlose Verwirrung gestiftet wurde.“ (3 SM 454)<br />
Fragen und Verwirrung – das erscheint vielleicht übertrieben, aber was damit gemeint<br />
ist, wird uns schmerzlich bewußt, wenn wir die adventistische Geschichte<br />
näher betrachten.<br />
Anläßlich der Bibelkonferenz von 1919 gewährte Prescott einen Einblick in seine<br />
persönlichen Schwierigkeiten bezüglich der Inspiration. Er räumte ein, daß er stark<br />
verunsichert war, <strong>als</strong> Ellen White ihn um Mithilfe bei der Revision der Belegstellen<br />
im Buch Der Große Kampf bat. Er übernahm schließlich diese Aufgabe, mußte aber<br />
51
INSPIRATION<br />
seine Ansicht über die Inspiration deutlich ändern.<br />
Willie White erwähnt auch, daß Prescotts Darlegungen in Battle Creek S. N. Haskell<br />
stark beeinflußten. Haskells Bible Handbook, das 1919, im Jahr der Bibelkonferenz,<br />
herausgegeben wurde, impliziert zweifellos die Verbalinspiration. In bezug auf<br />
Daniel 10,17.19 sagt Haskell: „Unter Inspiration verstehen wir Gottes Atem, der sich<br />
der Sprachorgane des Propheten bedient.“ Gestützt auf 2. Timotheus 3,16.17 kommt<br />
er zu dem Schluß: „Alle Schrift ist auf diese Weise von Gott eingegeben, damit der<br />
Mensch den Weg des Lebens erkennen kann.“ (Haskell 9)<br />
Bei einem solchen Verständnis gibt es kaum noch einen Unterschied zwischen<br />
Inspiration und besonderer Offenbarung, der Inspirationsprozeß ist praktisch die<br />
Ausdrucksform der speziellen Offenbarung. Oder anders ausgedrückt: Der menschliche<br />
Empfänger ist nichts anderes <strong>als</strong> ein passives Instrument zur Aufnahme und<br />
Weitergabe der göttlichen Worte.<br />
Nun gibt es durchaus Bibelstellen, die eine Art von Diktat nahelegen. Zu dieser<br />
Kategorie scheinen Bileams zögernde Segnungen über Israel (4. Mose 23,24) sowie<br />
die unbeabsichtigte Voraussage des Kaiphas zu gehören, daß „ein Mensch sterbe für<br />
das Volk.“ (Johannes 11, 50) Johannes fügt hinzu: „Das sagte er [Kaiphas] aber nicht<br />
von sich aus, sondern weil er in dem Jahr Hoherpriester war, weissagte er. Denn<br />
Jesus sollte sterben für das Volk.“ (Vers 51) Es wäre jedoch unangebracht, eine<br />
Diktattheorie auf die ganze Schrift anzuwenden.<br />
Daß es unter Adventisten einen deutlichen Gegensatz gab zwischen den Anhängern<br />
der Diktattheorie und Ellen Whites Sicht der Personalinspiration, habe ich vor<br />
einigen Jahren eher zufällig entdeckt. Ausgelöst durch die Dozenten der <strong>Theologische</strong>n<br />
Fakultät des Walla Walla College hatten die Aussagen von Ellen White in Für<br />
die Gemeinde geschrieben, Band 1, mein Verständnis von Inspiration entscheidend<br />
geprägt. Ich war der Meinung, daß ihre Ansichten repräsentativ für die ganze<br />
Gemeinde waren – bis ich eines Besseren belehrt wurde.<br />
Eines Tages, <strong>als</strong> ich gerade dabei war, einige Bücher aus meiner Bibliothek auszusortieren,<br />
fiel mir ein Büchlein von Milton C. Wilcox in die Hände. Fast ein<br />
Vierteljahrhundert lang (1891-1913) war er Herausgeber der Zeitschrift Signs of the<br />
Times. Unter dem Titel Questions and Answers, Band 1, enthält das Buch eine<br />
Neuauflage von Beiträgen, die vorher in der Zeitschrift veröffentlicht worden waren.<br />
Beim Öffnen des Buches stieß ich zufällig auf Frage 4, die sich mit der Inspiration<br />
befaßte. Überrascht von dem, was ich las, schlug ich gleichzeitig Für die Gemeinde<br />
geschrieben, Band 1, auf und fand dort die bekannten Worte von Ellen White.<br />
Um dem Leser die Möglichkeit zu geben, meine Gefühle nachzuempfinden und<br />
52
OFFENBARUNG, INSPIRATION UND ILLUMINATION<br />
selber zu vergleichen, zitiere ich die beiden Abschnitte unter Hervorhebung der<br />
Hauptaussagen in Kursivschrift:<br />
M. C. Wilcox (1911)<br />
„4. Wo finden wir Inspiration?<br />
Was ist inspiriert: der griechische<br />
Originaltext des Neuen Testaments oder die<br />
englische Übersetzung oder beides?<br />
Der Originaltext natürlich; die Worte,<br />
die der Prophet und Apostel gebrauchte.<br />
Nicht die Person war inspiriert, sondern das<br />
von Gott eingeflößte Wort. ‚Alle Schrift ist<br />
[im wörtlichen Sinne] von Gott eingehaucht‘<br />
(2. Timotheus 3,16).“<br />
(Der Text in der eckigen Klammer stammt<br />
von Wilcox selber.)<br />
E. G. White (1886; veröffentlicht 1958)<br />
„Die Bibel wurde von inspirierten Menschen<br />
geschrieben, aber es ist nicht die Art, wie<br />
Gott seine Gedanken ausdrückt, sondern wie<br />
es Menschen tun. Nicht Gott <strong>als</strong> Autor wird<br />
dargestellt. Menschen werden oft sagen, ein<br />
solcher Ausdruck sei nicht göttlich. Aber<br />
Gott hat sich in der Bibel nicht in Worten,<br />
Logik und Rhetorik einem Test unterziehen<br />
wollen. Die Autoren der Bibel waren Gottes<br />
Schreiber, nicht seine Feder. Halte dir doch<br />
die verschiedenen Schreiber vor Augen!<br />
Nicht die Worte der Bibel sind inspiriert,<br />
sondern die Menschen. Die Inspiration<br />
bezieht sich nicht auf die Worte oder<br />
Ausdrücke des Menschen, sondern auf ihn<br />
selbst. Er ist es, der unter dem Einfluß des<br />
Heiliges Geistes mit Gedanken erfüllt wird.<br />
Doch die Worte tragen den Stempel der<br />
jeweiligen Persönlichkeit. Der göttliche<br />
Geist hat sich mitgeteilt. Der göttliche Geist<br />
und Wille verbinden sich mit dem Geist und<br />
Willen des Menschen. Auf diese Weise<br />
werden die Worte des Menschen zum Wort<br />
Gottes.“<br />
(1 FG 20.21)<br />
Viele Schwierigkeiten bei der Auslegung der Schrift können wesentlich leichter<br />
behoben werden, wenn die Person und nicht das Wort <strong>als</strong> inspiriert angesehen wird,<br />
wenn man begreift, daß die Bibel nicht Gottes Denk- und Ausdrucksweise enthält<br />
und er sich in puncto Worte, Logik und Rhetorik nicht zu verantworten hat. Die<br />
Bedeutung dieser wichtigen Erkenntnis wird in den folgenden Kapiteln erklärt.<br />
Der krasse Gegensatz zwischen den Aussagen von Wilcox im Jahre 1911 und<br />
denen von Ellen White im Jahre 1886 überrascht uns vielleicht. Aber es muß berücksichtigt<br />
werden, daß die Sätze von Ellen White erst 1958 veröffentlicht wurden.<br />
Und in Anbetracht der äußerst konservativen Reaktion bei der Erörterung der Inspiration<br />
während der Bibelkonferenz von 1919 ist es nicht verwunderlich, daß Ellen<br />
Whites Argumente für eine Personal- oder Gedankeninspiration kaum Beachtung<br />
53
INSPIRATION<br />
fanden und deshalb jahrzehntelang unveröffentlicht blieben.<br />
Mag auch eine gütige Vorsehung das Manuskript von 1886 zurückgehalten haben,<br />
weil unsere Gemeinschaft dafür nicht reif war, so kam es die Gemeinschaft doch<br />
teuer zu stehen, daß sie die von Ellen White dargelegten Einsichten über Inspiration<br />
nicht besser zu nutzen wußte. Auch wenn Selected Messages erst 1958 veröffentlicht<br />
wurde, stand der Gemeinschaft doch seit 1888 die Einführung zum Buch Der große<br />
Kampf zur Verfügung. Allerdings bedeutet die Tatsache, daß etwas in gedruckter<br />
Form vorliegt, noch lange nicht, daß man ihm die nötige Aufmerksamkeit schenkt.<br />
Schließlich war ja auch das Sabbatgebot der Bibel jahrhundertelang „in gedruckter<br />
Form“ vorhanden – doch wer hat es schon ernst genommen, selbst von denen, die es<br />
zu halten vorgaben?<br />
Was die Inspiration betrifft, so sind wir uns gar nicht bewußt, wie wertvoll und<br />
wichtig die klaren Äußerungen von Ellen White in Wirklichkeit sind. Als ich in den<br />
vergangenen Jahren in Gemeinden, die in dieser Frage zerstritten waren, über<br />
Inspiration sprach, wurde immer wieder – manchmal mit traurigem oder gereiztem<br />
Unterton – die Frage laut: „Weshalb hat es darüber so viel Streit gegeben, wo sich<br />
Ellen White doch klar genug äußerte?“<br />
Angesichts der Haltung von Ellen White stellen sich zwei wichtige Fragen: (1)<br />
Wie haben wir uns Inspiration vorzustellen, wenn wir sagen, daß sie mehr die Person<br />
<strong>als</strong> die Worte betrifft? (2) Wodurch unterscheiden sich die Schriften inspirierter<br />
Schreiber von gewöhnlichen Schriftstücken?<br />
Bezüglich der ersten Frage denke ich an die Erfahrung Jeremias mit dem Wort<br />
Gottes im Sinne eines Modells, das deutlich macht, wie Gott mit den Autoren der<br />
Schrift umzugehen pflegte. Unabhängig davon, ob und wann er gerade eine<br />
besondere Offenbarung erhielt, wurde Jeremia vom Geist getrieben. Ständig brannte<br />
ein Feuer in ihm, das nie verlosch. „Da dachte ich: Ich will nicht mehr an ihn denken<br />
und nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein<br />
brennendes Feuer, in meinen Gebeinen verschlossen, daß ich’s nicht ertragen konnte;<br />
ich wäre schier vergangen.“ (Jeremia 20,9)<br />
Unter einem inspirierten Schreiber verstehen wir einen, der darauf brennt, für<br />
Gott zu sprechen. Und wie empfängt er seine Botschaft? Durch Offenbarungen,<br />
durch Quellenforschung, durch Erfahrung. Vom Geist getrieben, erkennen inspirierte<br />
Schreiber eine Not und fühlen sich zum Reden verpflichtet. Aber sie verwenden ihre<br />
eigenen Worte, ihre eigene Logik und ihre eigene Rhetorik, auch wenn ihre<br />
sprachlichen Fähigkeiten vielleicht mangelhaft sind. Oft spielen Wortschatz,<br />
Grammatik und Logik, so holprig sie sein mögen, „in keinster Weise nicht eine so<br />
große Rolle, oder?“ Dieser absichtliche Patzer soll zeigen, daß eine Botschaft trotz<br />
54
OFFENBARUNG, INSPIRATION UND ILLUMINATION<br />
sprachlicher Unzulänglichkeiten durchaus verstanden werden kann!<br />
So steht Gott den biblischen Schreibern bei und sorgt für ausreichende Klarheit<br />
ihrer Botschaft. Ein Beispiel aus dem Schulalltag kann das veranschaulichen. Seit<br />
langem ist es üblich, Aufsätze nach Inhalt und Form zu bewerten. Mancher intelligente,<br />
aber unachtsame Schüler mag zu seiner Überraschung die Note „sehr gut“<br />
für den (exzellenten) Inhalt, aber nur ein „mangelhaft“ für die (miserable) Form<br />
bekommen.<br />
Ähnlich verhält es sich mit den Schreibern der Bibel. Die Qualität ihrer literarischen<br />
Arbeit mag nach Inhalt und Form sehr unterschiedlich sein, obgleich ich<br />
überzeugt bin, daß Gott nie einen Qualitätsgrad zuläßt, der schlechter <strong>als</strong> „ausreichend“<br />
ist.<br />
Bezeichnenderweise ist der Schüler mit der besten Note nicht immer auch derjenige,<br />
der sich am verständlichsten ausdrücken kann. Die komplizierte<br />
Ausdrucksform und Denkweise des Apostels Paulus kann das Verstehen seiner<br />
Briefe erschweren, während die bodenständige, simple Sprache des Propheten Amos<br />
erheblich besser ankommen mag.<br />
Stellen wir uns vor, wir würden dieselbe Fackel (<strong>als</strong> Symbol für den Heiligen<br />
Geist) auf zwei verschiedene Holzstöße werfen, von denen der eine trocken und der<br />
andere naß ist. Der trockene Holzstoß würde sofort lichterloh brennen, der andere<br />
weit weniger gut und außerdem viel Qualm verursachen. Dabei kann es durchaus<br />
sein, daß ein langsam brennendes Feuer gewünscht ist. So verhält es sich mit den<br />
Schreibern der Bibel. Wir können feststellen, wer von ihnen besonders rasch brennt,<br />
und wer viel Rauch verursacht. In jedem Fall aber sind sie Gottes Botschafter mit<br />
Feuer in ihren Herzen.<br />
Aus den begabtesten Schülern gehen nicht immer die besten Lehrer hervor. Schüler,<br />
die sich im Unterricht abkämpfen mußten, können gute Lehrer werden. Sie<br />
wissen aus Erfahrung, was es bedeutet, mit dem Lehrstoff zurechtkommen zu müssen<br />
und können so anderen eine Hilfe sein. So ist es durchaus vorstellbar, daß ein<br />
brillanter Prophet in einer bestimmten Situation weniger nützlich ist <strong>als</strong> einer mit<br />
durchschnittlicher Begabung. Gott erwählt sich für eine bestimmte Aufgabe einen<br />
geeigneten Boten und entzündet ein Feuer in seinen „Gebeinen“.<br />
Wen diese „Benotung“ von Propheten verunsichert, wer Schuldgefühle hat, weil<br />
er einen Teil der Bibel anderen vorzieht oder bestimmte Teile der Schrift vernachlässigt,<br />
dem kann geholfen werden durch die folgenden Ausführungen von Ellen<br />
White aus der Einleitung zum Buch Der große Kampf. So habe ich es jedenfalls<br />
selber erfahren.<br />
„In verschiedenen Zeitaltern von Menschen geschrieben, die ihrer gesellschaft-<br />
55
INSPIRATION<br />
lichen Stellung, ihrem Beruf, ihren geistigen und geistlichen Fähigkeiten nach sehr<br />
ungleich waren, sind die Bücher der Heiligen Schrift nicht nur besonders<br />
unterschiedlich in ihrem Stil, sondern auch mannigfaltig in der Art des dargebotenen<br />
Stoffes. Die verschiedenen Schreiber bedienen sich verschiedener Ausdrucksweisen;<br />
oft wird die gleiche Wahrheit von dem einen nachdrücklicher betont <strong>als</strong> von dem<br />
andern. Und wo mehrere Schreiber denselben Fall unter verschiedenen Gesichtspunkten<br />
und Beziehungen betrachten, mag der oberflächliche, nachlässige oder<br />
vorurteilsvolle Leser da Ungereimtheiten oder Widersprüche sehen, wo der<br />
nachdenkende, gottesfürchtige Forscher mit klarer Einsicht die zugrundeliegende<br />
Übereinstimmung erblickt.“ (GK 8)<br />
Wenn die Propheten sich in ihren geistigen und geistlichen Fähigkeiten (z. B. in<br />
ihrer Beherrschung der Sprache und in der Qualität ihrer Gottesbeziehung) voneinander<br />
unterscheiden, und wenn einige die Wahrheit eindrucksvoller <strong>als</strong> andere darlegen<br />
– „bewerten“ wir sie dann nicht auch, zumindest unbewußt? Trotz allem bleiben<br />
sie Propheten, die mit Autorität sprechen – auch wenn wir feststellen, daß Paulus<br />
sich klarer ausdrückt <strong>als</strong> Johannes oder umgekehrt.<br />
Wir nähern uns nun der zweiten Frage: Inwiefern unterscheiden sich Schriften<br />
inspirierter Schreiber von gewöhnlichen Schriftstücken? In gewisser Hinsicht überhaupt<br />
nicht, denn bei beiden haben wir es mit menschlichen Worten, menschlicher<br />
Logik und menschlicher Rhetorik zu tun.<br />
Ein guter Freund erzählte mir, daß er einmal einen Abschnitt aus Jesus Sirach,<br />
einem nicht-kanonischen Buch der Apokryphen, zur Familienandacht ausgewählt<br />
habe. Nachdem sein Sohn den Abschnitt vorgelesen hatte, stellte mein Freund die<br />
Frage nach der Verbindlichkeit des gerade gelesenen Textes. War er ihnen aus der<br />
Schrift bekannt?<br />
Das Buch Jesus Sirach ist dem Buch der Sprüche zum Verwechseln ähnlich. Ich<br />
wage zu behaupten, daß viele von uns Mühe hätten, die biblischen von den nichtbiblischen<br />
Sprichwörtern zu unterscheiden, wenn man sie miteinander mischen<br />
würde. In beiden Büchern findet sich menschliche Sprache, Logik und Rhetorik.<br />
Inwiefern sind <strong>als</strong>o die Sprüche anders <strong>als</strong> die Ratschläge des Jesus Sirach?<br />
Vielleicht können wir den Unterschied zwischen den Schriften inspirierter Autoren<br />
und sonstiger Verfasser einsichtiger machen, wenn wir an Fälle von Personenverwechslungen<br />
oder Inkognito-Begegnungen denken. Da ist zum Beispiel die<br />
Geschichte von dem arroganten Zugführer, der einen unansehnlich wirkenden Fahrgast<br />
grob behandelte, um später zu erfahren, daß dieser alte Mann Vorsitzender des<br />
Verwaltungsrates war!<br />
Ich erinnere mich noch gut an die Peinlichkeit – und die daraus resultierende<br />
56
OFFENBARUNG, INSPIRATION UND ILLUMINATION<br />
Verhaltensänderung –, <strong>als</strong> mir bewußt wurde, daß ich den Autor einer kritischen<br />
Stellungnahme zu einem von mir verfaßten Artikel f<strong>als</strong>ch identifiziert hatte.<br />
Zunächst wollte ich seiner Kritik keinerlei Beachtung schenken, empfand sie sogar<br />
<strong>als</strong> erheiternd. Doch <strong>als</strong> ich feststellte, daß ich diesen Autor in Wahrheit sehr schätzte,<br />
änderte sich meine Einstellung völlig.<br />
Wir sollten bedenken, daß der Begriff Inspiration eine besondere Bedeutung hat,<br />
wenn er auf die Schrift angewendet wird. Wir sagen damit, daß diese Bücher von<br />
Gottes Botschaftern verfaßt, von Gottes Nachfolgern weitergegeben und uns, dem<br />
Volk Gottes heute, <strong>als</strong> Gottes Wort ausgehändigt wurden. In diesem ganzen Prozeß<br />
wirkte der Heilige Geist auf eine besondere Weise. Wir können das nicht beweisen,<br />
aber wir bejahen es aufgrund des Zeugnisses derer, die vor uns gelebt haben. Und so,<br />
wie sich meine Haltung völlig änderte, <strong>als</strong> ich erfuhr, wer die von mir unterschätzte<br />
Kritik verfaßt hatte, so verändert sich auch meine Einstellung, wenn ich die Schrift<br />
zur Hand nehme und mir vergegenwärtige, daß dieses Buch durch Inspiration zu uns<br />
gekommen ist.<br />
Die geheimnisvolle Wirkung, die von dem Psalm ausging, den ich auswendig<br />
gelernt hatte, hat mit der Überzeugung zu tun, daß der Heilige Geist diesen Text<br />
inspirierte. Ein Brief kann aus gewöhnlichen Worten bestehen. Aber wenn wir entdecken,<br />
daß ein guter Freund ihn schrieb, beginnt sich manches in uns zu verändern.<br />
Zwei weitere Beobachtungen über inspirierte Schriften sollen hier angefügt werden.<br />
Zum einen bedeutet das Wort „inspiriert“ nicht unbedingt, daß die<br />
entsprechende Botschaft unmittelbar <strong>als</strong> „nützlich“ empfunden wird. Werke von C.<br />
S. Lewis oder Paul Tournier können zuweilen wichtiger für mein Leben sein <strong>als</strong><br />
Teile des 4. Buches Mose, <strong>als</strong> Chronika, Nahum oder der Judasbrief. Das heißt aber<br />
nicht, daß ich Nahum entfernen und ihn durch Lewis ersetzen würde. Dafür ist es zu<br />
spät. Lewis mag Leser von heute mehr inspirieren – aber inspiriert ist er nicht.<br />
Zum anderen bedeutet das Wort „inspiriert“ nicht dasselbe wie unmittelbar<br />
„bedeutungsvoll“. Viele der im Alten wie im Neuen Testament enthaltenen Gesetze<br />
beziehen sich nicht direkt auf unsere Zeit. Sie zu studieren kann dennoch von großem<br />
Nutzen sein, da bestimmte Grundsätze daraus ableitbar sind, die auch für uns gelten.<br />
Das verlangt aber einen Übersetzungsprozeß. Deshalb kann ein Kommentar zu einem<br />
biblischen Buch manchmal hilfreicher sein <strong>als</strong> das betreffende Buch für sich allein<br />
genommen.<br />
Dennoch: Die Bibel ist der Brief eines Freundes, der direkt in unser<br />
Alltagsgeschehen eingreifen kann. Es kann aber auch sein, daß wir einige Texte wie<br />
ein Blatt im Ausgabenheft unseres Urgroßvaters behandeln: faszinierend, wertvoll,<br />
vielleicht sogar lehrreich, aber nicht unmittelbar wichtig. Das heißt aber nicht, daß<br />
57
INSPIRATION<br />
wir es wegwerfen sollten.<br />
Illumination<br />
Wenn wir davon ausgehen, daß „Inspiration“ schlicht besagt, daß der Heilige Geist<br />
bei der Entstehung der Bibel besonders wirksam war, dann bedeutet der Begriff<br />
„Illumination“, daß der Heilige Geist auch im Leben gewöhnlicher Sterblicher<br />
wirksam ist. Wenn jemand imponierend reden oder schreiben kann, hat er zwar<br />
möglicherweise eine Erleuchtung, nicht aber eine Inspiration im engeren Sinn<br />
erfahren. Der Heilige Geist kann großartige Ideen ins menschliche Herz einpflanzen,<br />
doch solche Ideen haben mit Inspiration im biblischen Verständnis noch lange nichts<br />
zu tun. Die Schrift wurde durch Inspiration von Gott vermittelt. Ihre Schreiber<br />
erhielten eine besondere Berufung, auch wenn sich ihre Werke äußerlich nicht von<br />
denen gewöhnlicher Sterblicher unterscheiden. Für alle anderen, denen kein<br />
prophetischer Mantel umgehängt wurde, ist der Begriff „Illumination“ oder „Erleuchtung“<br />
der passende Ausdruck.<br />
Zusammenfassend können wir bezüglich dieser Begriffe sagen, daß Erleuchtung<br />
jeden Menschen jederzeit treffen kann, während das bei Offenbarung und Inspiration<br />
nicht der Fall ist. Die ganze Schrift kam durch Inspiration zustande, aber nicht<br />
unbedingt durch spezielle Offenbarungen – obwohl die gesamte Bibel in einem<br />
gewissen Sinn für uns göttliche Offenbarung ist.<br />
Da aber die Werke einiger inspirierter Boten Gottes nicht in der Schrift enthalten<br />
sind, obwohl auch sie Offenbarungen empfingen, stellt sich uns eine weitere<br />
spannende Frage: Weshalb gehören gewisse Bücher zur Heiligen Schrift und andere<br />
nicht? Das ist eine Sache des Kanons; sie wird im folgenden Kapitel behandelt.<br />
Zunächst aber fassen wir unsere bisherigen Ergebnisse zusammen:<br />
(1) Offenbarung im engeren Sinn bezeichnet ein sichtbares oder hörbares Eingreifen<br />
Gottes (z. B. in einer Vision).<br />
(2) Inspiration ist der vom Heiligen Geist gewirkte innere Drang eines Boten<br />
Gottes, zu reden oder zu schreiben („wie ein brennendes Feuer“).<br />
(3) Illumination ist die Erleuchtung gewöhnlicher Menschen durch den Geist<br />
Gottes.<br />
Im nächsten Kapitel werden wir untersuchen, weshalb einige „seltsame“ Bücher<br />
zur Schrift gehören, einige „gute“ Bücher jedoch nicht.<br />
58
OFFENBARUNG, INSPIRATION UND ILLUMINATION<br />
59
Kapitel 3<br />
Der Kanon:<br />
Welche Bücher gehören in die Bibel?<br />
Ich stelle euch eine heikle Frage“, warne ich meine Studenten. „Angenommen, ein<br />
Archäologenteam im Nahen Osten findet ein altes Manuskript. Experten kommen zu<br />
dem Schluß, daß es sich um einen Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in<br />
Korinth handelt, und zwar um ein anderes Schreiben <strong>als</strong> die beiden uns bekannten<br />
Briefe im Neuen Testament. Die Frage lautet: Würdet ihr diesen zusätzlichen Brief<br />
in eure Bibel aufnehmen?“<br />
„Natürlich“, antworten einige spontan. „Wenn Paulus ihn geschrieben hat, warum<br />
nicht?“ „Langsam!“, melden sich andere, die sich inzwischen Gedanken gemacht<br />
haben. „Daß Paulus der Autor ist, bedeutet doch nicht unbedingt, daß der Brief in die<br />
Bibel gehört. Oder doch?“<br />
Diese Frage löst immer lebhafte Diskussionen über die Heilige Schrift und ihre<br />
Bedeutung für unser Leben aus. „Die Bibel und nur die Bibel allein“ ist ein starker<br />
Leitspruch, der jedoch mit Fragen verknüpft ist, die Christen bedenken sollten:<br />
60<br />
Kanon: Weshalb gerade diese Auswahl von Büchern?<br />
Handschriften: Was hat es zu bedeuten, wenn zwei oder mehrere<br />
Handschriften desselben biblischen Buches nicht übereinstimmen?<br />
Übersetzungen: Sind moderne Übersetzungen zuverlässig?<br />
In den folgenden drei Kapiteln werden wir diesen Fragen nachgehen. Dabei sollten<br />
wir daran denken, daß Gottes Wege sowohl einfach <strong>als</strong> auch komplex sein können.<br />
Manchmal macht er viele Worte, manchmal schweigt er. Wenn wir seinen Willen<br />
erkennen möchten, verlangt uns nach mehr. Aber weniger kann auch angemessen<br />
sein.<br />
Ellen White fand ermutigende Worte für Menschen, die Gott anbeten, ohne ihn<br />
näher zu kennen. „Niem<strong>als</strong> wurde ihnen sein Licht durch menschliche Vermittler<br />
überbracht. Trotzdem werden sie nicht verlorengehen. Zwar kannten sie das<br />
geschriebene Gebot Gottes nicht, sie vernahmen aber seine Stimme in der Natur. Ihre<br />
Werke bekundeten, daß der Heilige Geist ihre Herzen berührt hatte, und Gott<br />
anerkennt sie <strong>als</strong> seine Kinder.“ (LJ 636)<br />
Wir wollen unsere Verantwortung durchaus wahrnehmen und auch vor schwierigen<br />
Fragen nicht zurückschrecken. Dabei ist es hilfreich zu sehen, daß hinter kom-
DER KANON<br />
plizierten Zusammenhängen einfache Grundprinzipien erkennbar sind. Ellen White<br />
beispielsweise faßte das Wesentliche der Botschaft Gottes unter Bezugnahme auf<br />
Johannes 3,16 wie folgt zusammen: „Gäbe es keinen anderen Text in der Bibel, so<br />
könnte dieser allein ein Wegweiser für die Menschen sein.“ (TM 370)<br />
Millionen unserer Brüder und Schwestern in Christus haben Leben und Heilung<br />
im Wort Gottes gefunden. Das sollten wir bedenken, wenn unsere liebgewonnenen,<br />
aber f<strong>als</strong>chen Konzepte über sein Wort in sich zusammenfallen und unser Glaube<br />
dadurch bedroht scheint. Einige Geheimnisse werden wir nie entschlüsseln. Wenn es<br />
aber zutrifft, daß „die Wahrheiten des göttlichen Wortes ... am besten von einem<br />
denkenden Christen erfaßt werden“ können (3 T 160), dann sollten wir uns bemühen,<br />
Fragen bezüglich des Kanons, der Handschriften und der Übersetzungen der Bibel<br />
angemessen zu verstehen und zu beantworten.<br />
Der Kanon<br />
Unser deutsches Wort „Kanon“ kommt von einem griechischen Ausdruck mit<br />
semitischen Wurzeln. Ursprünglich verstand man darunter ein aufrecht gewachsenes<br />
Schilfrohr, das <strong>als</strong> Maß oder Norm benutzt wurde. Auf die Bibel bezogen ist der<br />
Kanon eine festgelegte Sammlung heiliger Schriften, die von einer Gemeinschaft von<br />
Gläubigen <strong>als</strong> Maßstab und Glaubensregel anerkannt wird.<br />
Häufig dient der Kanon auch dazu, eine Glaubensgemeinschaft von einer anderen<br />
zu unterscheiden. So akzeptieren die Samaritaner nur das „Gesetz“ Moses <strong>als</strong> Heilige<br />
Schrift, während die Juden zwei weitere Kategorien dazu zählen, nämlich die<br />
„Propheten“ und die „Schriften“. Christen schließen neben dem Alten Testament das<br />
Neue mit ein. Katholiken gehen noch weiter <strong>als</strong> Protestanten und zählen auch die<br />
Apokryphen zur Bibel. Diese zusätzlichen Bücher werden allerdings <strong>als</strong><br />
„deuterokanonisch“ bezeichnet, was besagt, daß sie eigentlich zu einem „zweiten<br />
Kanon“ gehören. Die folgende Abbildung veranschaulicht diese Unterschiede.<br />
Samaritaner Juden Protestanten Katholiken<br />
Gesetz<br />
Propheten<br />
Schriften<br />
Neues Testament<br />
Apokryphen<br />
61
INSPIRATION<br />
In ihrer Bewertung des Kanons unterscheiden sich die einzelnen Religionsgemeinschaften<br />
voneinander. Die Juden beispielsweise betrachten das Gesetz des Mose<br />
<strong>als</strong> die Autorität; Propheten stufen sie etwas niedriger ein und die Schriften noch<br />
tiefer. Theoretisch sind bei den Protestanten alle Bücher rangmäßig gleichgestellt,<br />
obwohl in der Praxis einige höher geschätzt werden <strong>als</strong> andere, was zu der<br />
Bezeichnung „Kanon im Kanon“ führte. Traditionsgemäß hat die römisch-katholische<br />
Kirche die Autorität der Schrift abgeschwächt, indem sie sich selbst zur verbindlichen<br />
Auslegerin erklärte. Adventisten erkennen den protestantischen Kanon<br />
an. Das bedeutet, daß sie eine größere Anzahl von Büchern in ihrer Bibel haben <strong>als</strong><br />
Samaritaner oder Juden, aber weniger <strong>als</strong> Katholiken.<br />
Wie ist es zu diesen Unterschieden gekommen? Durch Brauch und Gewohnheit,<br />
wobei bestimmte Ereignisse einen starken Einfluß ausübten.<br />
Und woher können wir wissen, welcher Kanon der richtige ist? Die Antwort<br />
darauf ist einfach und kompliziert zugleich. Die schwierigen Aspekte werden wir<br />
weiter unten behandeln. Der einfache Teil kann im Sinne eines Grundprinzips folgendermaßen<br />
zum Ausdruck gebracht werden: Der Gebrauch der heiligen Schriften<br />
in der Gemeinschaft der Gläubigen führt unter dem Einfluß des Heiligen Geistes zur<br />
Entstehung des Kanons. Als Gläubige sind wir überzeugt, daß Gott durch seinen<br />
Geist den gesamten Prozeß überwacht, damit der Einfluß der Schrift in unserem<br />
Leben wirksam werden kann. Halten wir – unter Berücksichtigung des bisher<br />
Gesagten – die wichtigsten Schritte fest:<br />
1. GOTT offenbart sich einem Boten.<br />
2. GOTT inspiriert den Boten, die Botschaft in Wort oder Schrift mit anderen zu<br />
teilen und gegebenenfalls die Offenbarung durch eigene Forschung zu ergänzen.<br />
3. GOTT leitet die Gemeinde an, den Boten <strong>als</strong> beglaubigten Propheten und seine<br />
Worte <strong>als</strong> maßgebende Botschaft anzuerkennen.<br />
4. GOTT leitet die Gemeinschaft der Gläubigen bei ihrer Auswahl einiger (nicht<br />
aller!) dieser verbindlichen Botschaften <strong>als</strong> einer dauerhaften Norm und Richtlinie<br />
(Kanon) für die Gläubigen.<br />
5. GOTT veranlaßt die Gläubigen, sein Wort zu lesen und auszuleben.<br />
Für den Gläubigen überwacht Gott jeden einzelnen Schritt. Selbst wenn dieser<br />
Vorgang sehr menschlich und völlig natürlich erscheint, kann doch der Glaube<br />
überall Gottes Hand erkennen. Wir können das durch den Wind veranschaulichen,<br />
der das Rote Meer für den Durchzug Israels teilte. Zunächst ist Wind etwas ganz<br />
Natürliches. Das war alles, was die Ägypter sahen, <strong>als</strong> sie Israel durchs Meer verfolgten.<br />
Mit den Augen des Glauben aber war eine mächtigere Hand zu erkennen:<br />
„Der HERR ließ das Meer die ganze Nacht durch einen starken Ostwind zurück-<br />
62
DER KANON<br />
weichen und machte +so, das Meer zum trockenen Land, und die Wasser teilten sich<br />
(2. Mose 14,21 ElbÜ). In poetischer Sprache wird hier die Überzeugung von Gottes<br />
persönlichem Eingreifen lebendig zum Ausdruck gebracht. Die Gläubigen sahen Gott<br />
gewissermaßen tief Atem schöpfen und sie sangen: „Beim Schnauben deiner Nase<br />
türmten sich die Wasser, die Strömungen standen wie ein Damm, die Fluten<br />
gerannen im Herzen des Meeres.“ (2. Mose 15,8 ElbÜ)<br />
Wenn wir den Vorgang der Kanonisierung betrachten, sollten wir <strong>als</strong> Gläubige<br />
mehr <strong>als</strong> nur den natürlichen Prozeß erkennen. Können wir darin Gottes „Schnauben“<br />
wahrnehmen, dann um so besser. Wenn ich Adventisten zuhöre, so stelle ich<br />
fest, daß sie meist keine Mühe haben, in den ersten Stufen der Kanonbildung – <strong>als</strong>o<br />
bei der Offenbarung und Inspiration – das Wirken Gottes zu erkennen. Aber ich habe<br />
den Eindruck, daß wir es lieber vermeiden, über die Schritte nachzudenken, die<br />
Gottes Führung innerhalb der Gemeinde betreffen (Schritte 3 und 4).<br />
Hier wird auch die Frage wichtig, die wir am Anfang dieses Kapitels gestellt<br />
haben, weil sie uns dazu veranlaßt, über den ganzen Vorgang der Kanonbildung<br />
nachzudenken. Es ist nicht umsonst zu fragen: „Würdet ihr einen neu entdeckten<br />
Brief von Paulus in eure Bibeln aufnehmen?“ Katholiken haben ja auch die Apokryphen<br />
<strong>als</strong> einen Zusatz in ihren Bibeln. Die Mormonen schließen weitere Bücher<br />
ein. Sie geben sogar eine Ausgabe der Bibel heraus, die auch das Buch Mormon<br />
sowie die Bücher Lehre und Bündnisse und Die köstliche Perle enthält. Würden<br />
Adventisten mit einem neuen Paulusbrief ähnlich vorgehen? Oder mit ausgewählten<br />
Schriften aus der Feder von Ellen White?<br />
Zweifellos könnten wir durch einen Beschluß zusätzliche Briefe oder Bücher in<br />
die Schrift aufnehmen. Ein derartiger Schritt würde uns aber <strong>als</strong> neuartige Gruppe<br />
(Sekte) kennzeichnen, die ihrem protestantischen Erbe abgeschworen hat. Das Bekenntnis<br />
„Die Bibel und nur die Bibel allein“ würde dann eine ganz andere Bedeutung<br />
für uns erhalten. Obwohl wir überzeugt sind, daß Gott auch durch andere inspirierte<br />
Stimmen reden kann, sollten wir es doch nicht zulassen, daß ihnen ein Platz<br />
im biblischen Kanon eingeräumt wird.<br />
In der Einleitung zum Buch Der große Kampf finden sich bedeutsame Aussagen<br />
über den Kanon. Einerseits erwähnt Ellen White, daß Gott uns auf vielerlei Weise<br />
ansprechen kann, nicht nur durch die Schrift; andererseits betont sie, daß die Schrift<br />
eine Sonderstellung und absoluten Vorrang besitzt). Während der gesamten<br />
biblischen Zeit hat der Heilige Geist, „abgesehen von den Offenbarungen, die dem<br />
heiligen Buche hinzugefügt werden sollten“, immer wieder Botschaften gegeben.<br />
Diese Botschaften standen „in keiner Beziehung zur Übermittlung der Heiligen<br />
Schrift.“ Nach der Vollendung des Schriftkanons sollte der Geist dieses Werk<br />
63
INSPIRATION<br />
fortführen. Die diesbezüglichen Verheißungen Jesu gelten „für die Gemeinde Christi<br />
in allen Zeiten.“ (GK 10)<br />
Andere Botschaften? Jawohl. In der Heiligen Schrift? Nein. Der biblische Kanon<br />
ist etwas Besonderes und wurde uns von Gott <strong>als</strong> Norm gegeben, damit wir alle<br />
anderen Stimmen beurteilen können. Betrachten wir die Entwicklungsgeschichte des<br />
Kanons, so stoßen wir auch auf Ungeklärtes und auf Grauzonen. Als Gläubige sind<br />
wir jedoch überzeugt, daß Gott auch der Herr dieses Geschehens war und ist. Nur so<br />
kann sein Wort die gewünschte Wirkung in unserem Leben entfalten.<br />
Ein Blick in die Geschichte des Kanons<br />
Wenn wir unseren protestantischen Kanon mit dem anderer Kirchen und Religionen<br />
vergleichen, greifen wir unwillkürlich auf die Geschichte zurück und erwarten von<br />
ihr eine Erklärung. Dieser Geschichte nachzuspüren ist mühsam und teilweise auch<br />
frustrierend, denn es gibt nur spärliches Beweismaterial, speziell für das Alte<br />
Testament. Einige Schwerpunkte seien jedoch hier erwähnt.<br />
Der alttestamentliche Kanon<br />
Den eindeutigsten Hinweis auf den Kanon finden wir in Lukas 24,44. Im<br />
Zusammenhang mit den ihn selbst betreffenden Weissagungen erwähnt Jesus das Gesetz,<br />
die Propheten und die Psalmen. Damit weist er auf die drei Teile der hebräischen<br />
Bibel hin, wobei die Psalmen das erste und größte Buch des dritten Abschnitts,<br />
der sogenannten Schriften, darstellen. Die meisten Gelehrten sehen in diesem Vers<br />
einen Hinweis darauf, daß der hebräische Kanon zur Zeit Jesu abgeschlossen war.<br />
Nachdem ein Buch geschrieben war, konnten Jahrhunderte vergehen, bis es in den<br />
Kanon aufgenommen wurde. Als sich zum Beispiel die Samaritaner von den Juden<br />
trennten, gehörten offenbar nur die fünf Bücher Moses zum Kanon. Nachdem die<br />
Juden das Angebot der Samaritaner zur Mithilfe beim Wiederaufbau des Tempels<br />
ausgeschlagen hatten (ca. 536-515 v. Chr.; siehe Esra 4), gingen diese ihren eigenen<br />
Weg. Obwohl viele Bücher aus den Propheten und Schriften schon jahrhundertelang<br />
in Gebrauch waren, wurden sie von den Samaritanern nie <strong>als</strong> Heilige Schrift<br />
anerkannt. Die Spaltung fand <strong>als</strong>o statt, <strong>als</strong> diese inspirierten Schriften noch nicht <strong>als</strong><br />
kanonisch betrachtet wurden.<br />
Wie es dazu kam, daß diese Bücher schließlich ihren Platz im Kanon fanden, ist<br />
unklar. Weder in der Schrift noch anderswo finden sich nennenswerte Hinweise auf<br />
diesen Vorgang. Wir wissen lediglich, daß der Kanon zur Zeit Jesu vollständig war:<br />
die hebräische Bibel bestand aus dem Gesetz, den Propheten und den Schriften.<br />
64
DER KANON<br />
Wenn wir von der Änderung einiger Überschriften und der Gesamtgliederung einmal<br />
absehen, entspricht die hebräische Bibel unserem christlichen Alten Testament:<br />
Das Gesetz: die fünf Bücher Moses, auch Pentateuch genannt.<br />
Die Propheten: nach hebräischer Zählung insgesamt acht Bücher, aufgeteilt in<br />
zwei Abschnitte: die Frühen Propheten, bestehend aus Josua, Richter, Samuel und<br />
Könige (Doppelbücher gelten <strong>als</strong> ein Buch), und die Späten Propheten, bestehend<br />
aus Jesaja, Jeremia, Hesekiel sowie der Gruppe der Zwölf Propheten (die<br />
sogenannten „kleinen“ Propheten, die insgesamt <strong>als</strong> ein Buch betrachtet werden).<br />
Die Schriften: die übrigen elf Bücher des Alten Testaments gemäß hebräischer<br />
Zählung, wobei Esra/Nehemia und Chronika jeweils <strong>als</strong> ein Buch gelten. Interessanterweise<br />
gehört das Buch Daniel zu dieser Gruppe, wahrscheinlich wegen seiner<br />
vorwiegend apokalyptischen Ausrichtung, die in ihrer Art von den klassischen<br />
prophetischen Büchern abweicht.<br />
Obwohl die meisten Gelehrten der Meinung sind, daß die hebräische Bibel zur<br />
Zeit Jesu abgeschlossen war, wurden doch einige Bücher bereitwilliger anerkannt <strong>als</strong><br />
andere. Jüdische Quellen berichten über diesbezügliche Dispute unter Rabbinern<br />
gegen Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. Mitunter werden sie mit dem sogenannten<br />
Konzil von Jamnia im Jahre 90 n. Chr. verknüpft, obwohl zweifelhaft ist, ob ein<br />
solches Konzil tatsächlich stattgefunden hat. Jedenfalls ist den schriftlichen<br />
Aufzeichnungen zu entnehmen, daß die Rabbiner nicht über die Zugehörigkeit der<br />
Bücher zum Kanon an sich entschieden, sondern ihre Bedenken über einige Bücher<br />
zum Ausdruck brachten, die bereits darin eingeschlossen waren. So kam<br />
beispielsweise das Buch Prediger unter Beschuß, weil es <strong>als</strong> zu pessimistisch galt;<br />
das Hohelied erschien zu intim, und bei Hesekiel glaubte man Widersprüche zu<br />
erkennen.<br />
Trotz dieser Bedenken war man sich weitgehend einig, den Kanon intakt zu<br />
halten. Als das Hohelied in Frage gestellt wurde, setzte sich ein Rabbi<br />
leidenschaftlich für seine Verteidigung ein, weil er darin das heiligste aller Bücher<br />
sah. Ein anderer Rabbi übernahm die Verteidigung des Buches Hesekiel und machte<br />
geltend, er habe alle vermeintlichen Widersprüche gelöst – was ihn 300 Flaschen Öl<br />
(für die nächtliche „Erleuchtung“?) gekostet habe!<br />
Der neutestamentliche Kanon<br />
Der aus drei Teilen bestehende hebräische Kanon war auch die „Schrift“ für Jesus<br />
und seine Jünger. Schließlich waren sie Juden, und es war ihre einzige Bibel. Das<br />
erklärt, warum die Apostel sich so oft auf Texte aus diesem Buch stützten, wenn sie<br />
die Juden zu überzeugen suchten. „Jesus“, so argumentierten sie, „ist unser jüdischer<br />
65
INSPIRATION<br />
Messias (der Gesalbte). Seht, so steht es hier in der Schrift!“<br />
Die jüdische Gemeinde war geteilter Ansicht darüber, ob Jesus tatsächlich der<br />
verheißene „Gesalbte“ war (sowohl Messias <strong>als</strong> auch Christus bedeuten „Gesalbter“;<br />
Messias ist eine aus dem Hebräischen stammende Bezeichnung, Christus ist vom<br />
Griechischen abgeleitet). Diejenigen, die Jesus <strong>als</strong> Messias verwarfen, blieben Juden.<br />
Diejenigen, die an ihn glaubten, wurden Christen genannt. Während sie die<br />
hebräische Bibel weiterhin <strong>als</strong> verbindlich betrachteten, nahmen die Christen auch<br />
die Worte Jesu <strong>als</strong> Gottes Botschaft an. Später betrachtete man die Aussagen der<br />
Evangelisten und Apostel ebenfalls <strong>als</strong> maßgebend. So entstand im Laufe der Jahre<br />
das Neue Testament. Es bestand schließlich aus 27 zusätzlichen, dem alttestamentlichen<br />
Kanon hinzugefügten Büchern und wurde nur von der jungen Christengemeinde,<br />
nicht aber vom traditionellen Judentum übernommen.<br />
Der ganze Prozeß der Kanonbildung beider Testamente nahm viel Zeit in Anspruch<br />
(trotz spärlicher Belege können wir das mit ziemlicher Sicherheit sagen). Zur<br />
Erhellung der Frage, wie überhaupt ein neutestamentlicher Kanon zustande kam,<br />
liefert uns die Geschichte des Neuen Testaments wertvolle Hinweise. Da gab es<br />
Bücher, die um ihre Aufnahme gewissermaßen „kämpfen“ mußten, wie etwa das<br />
Johannesevangelium, der Hebräerbrief, der 2. Petrusbrief, der 2. und 3. Johannesbrief<br />
und die Offenbarung. Der Nachweis apostolischer Urheberschaft war wohl<br />
ein wichtiger Faktor für die Aufnahme eines Buches in den Kanon.<br />
Wieviel Zeit dafür benötigt wurde, kann daraus ersehen werden, daß das erste<br />
vollständige Verzeichnis der 27 neutestamentlichen Bücher, so wie wir sie heute<br />
kennen, aus dem Jahre 367 n. Chr. stammt. Dam<strong>als</strong> versandte Athanasius, Bischof<br />
von Alexandria, einen Osterbrief, in dem er die Bücher des neutestamentlichen<br />
Kanons aufzählte. Trotz anhaltender Fragen und Debatten, die zuweilen in Teilen der<br />
christlichen Welt aufbrachen, sorgte der Heilige Geist dafür, daß die 27 Bücher<br />
unseres Neuen Testaments ihren angemessenen Platz fanden. Dieser Vorgang beanspruchte<br />
etwa 300 Jahre bis zu seinem Abschluß.<br />
Die Apokryphen<br />
Wenden wir uns nun den Apokryphen zu, jenen zusätzlichen Büchern, die für die<br />
römisch-katholische Kirche ebenfalls verbindlich sind. Sie gewähren uns weitere<br />
Einblicke in den Vorgang der Kanonisierung, obwohl sie nicht zu unserem<br />
protestantischen Kanon gehören.<br />
Die historischen Umstände, die Protestanten und Katholiken zur Annahme voneinander<br />
abweichender Kanons führten, liegen in der frühchristlichen Zeit. Zunächst<br />
ist zu beachten, daß der Begriff Apokryphen eine unglückliche Bezeichnung darstellt,<br />
66
DER KANON<br />
weil man darunter etwas „Unechtes“ oder „Ketzerisches“ verstehen kann (siehe<br />
Anhang C). Ursprünglich aber waren die Schriften, die heute unter diesem Namen<br />
bekannt sind, ganz gewöhnliche jüdische Bücher, die in Stil und Thematik den<br />
Büchern der Schrift ähnelten. So wurden beispielsweise den Büchern Daniel und<br />
Esther zusätzliche Geschichten, Gebete und Predigten beigefügt; die beiden<br />
Makkabäerbücher sind in Stil und Inhalt den Büchern Könige und Chronika vergleichbar;<br />
bei Jesus Sirach handelt es sich um ein Weisheitsbuch wie die Sprüche.<br />
Unabhängig davon, ob man diese Bücher nun <strong>als</strong> kanonisch betrachtet oder nicht,<br />
gewähren sie wertvolle Einblicke in die Geschichte des Judentums während der<br />
sogenannten zwischentestamentlichen Periode, einem Zeitraum, der sich von der Zeit<br />
Esras und Nehemias bis hin zum Neuen Testament erstreckt. Hinzu kommt, daß viele<br />
der frühen Christen diese Schriften <strong>als</strong> Erbauungsbücher schätzten, obwohl die<br />
Verfasser Juden und nicht Christen waren.<br />
Die frühe Geschichte der Apokryphen steht in engem Zusammenhang mit der<br />
jüdischen Zerstreuung oder Diaspora. Dabei handelte es sich um die Ansiedlung<br />
jüdischer Gemeinden außerhalb Palästinas <strong>als</strong> Folge der Zerstörung Jerusalems (586<br />
v. Chr.) sowie des babylonischen Exils. Während ein Bruchteil der Juden mit<br />
Serubbabel (536 v. Chr.) oder später mit Esra (457 v. Chr.) bzw. Nehemia (444 v.<br />
Chr.) nach Palästina zurückkehrte, zogen es die meisten vor, in Babylon zu bleiben.<br />
Andere wanderten in Orte außerhalb Palästinas. Bis zur Zeit Christi hatten sich große<br />
jüdische Gemeinden in den wichtigsten Weltstädten des griechisch-römischen<br />
Reiches gebildet.<br />
Die meisten Juden in der Zerstreuung zogen die griechische Sprache dem Hebräischen<br />
vor, und eine griechische Übersetzung der Bibel, die Septuaginta (LXX)<br />
gewann immer mehr an Bedeutung, bis sie schließlich die hebräische Bibel<br />
verdrängte. In die Septuaginta fanden dann auch jene Bücher Eingang, die wir die<br />
Apokryphen nennen.<br />
Mit der Zeit gaben auch die Christen der Septuaginta den Vorzug vor der<br />
hebräischen Bibel, nicht nur, weil sie die griechische Sprache leichter lesen und verstehen<br />
konnten <strong>als</strong> die hebräische, sondern auch, weil einige der besten christlichen<br />
Belegstellen („Beweistexte“) aus der Septuaginta stammten.<br />
Als christliche Prediger das Bollwerk jüdischer Lehrmeinungen mit Hilfe der<br />
Septuaginta angriffen, bevorzugten Juden, die an ihrer Religion festhalten wollten,<br />
andere griechische Übersetzungen und überließen die Septuaginta den Christen. So<br />
kam es, daß Christen, nicht Juden, die Septuaginta in jenen frühen Jahrhunderten<br />
verbreiteten und bewahrten. Und wie gesagt: die Septuaginta enthielt auch die<br />
Apokryphen. Da Christen darüber hinaus die Buchform (Kodex) der Schriftrolle<br />
67
INSPIRATION<br />
vorzogen, fanden die Apokryphen <strong>als</strong> Bestandteil der Septuaginta leichter Eingang in<br />
die christliche Kirche (eine Schriftrolle enthielt meist nur ein einziges Buch,<br />
während in einem Kodex viele Bücher in einem Band zusammengefaßt waren).<br />
Was die Übernahme der Apokryphen in den christlichen Kanon erleichterte, war<br />
die Tatsache, daß diese Bücher ursprünglich keine Sondergruppe zwischen den<br />
beiden Testamenten bildeten (wie dies später unter dem Einfluß der Reformatoren<br />
der Fall war), sondern eingestreut waren zwischen den alttestamentlichen Büchern<br />
der Septuaginta. Diese Anordnung findet in römisch-katholischen Bibeln bis heute<br />
Verwendung.<br />
Christliche Gelehrte, auch solche der frühen katholischen Tradition, wußten<br />
jedoch, daß diesen Zusatzbüchern nicht derselbe kanonische Stellenwert zukam wie<br />
der hebräischen Bibel. Obwohl Origenes (^ 254) diese Bücher <strong>als</strong> zur Schrift gehörig<br />
betrachtete, war er sich dennoch im klaren darüber, daß seine Ansicht nicht von allen<br />
geteilt wurde. Deshalb beschränkte er sich in seinem wissenschaftlichen Werk auf<br />
die alttestamentlichen Bücher der hebräischen Bibel. Kyrill von Jerusalem (^ 386)<br />
und Hieronymus (^ 420) unterschieden noch schärfer zwischen diesen besonderen<br />
Büchern und dem hebräischen Kanon. Hieronymus wagte sogar öffentlich die<br />
Feststellung, jene Zusatzbücher seien wohl nützlich zur Erbauung, jedoch nicht<br />
brauchbar „zur Bestätigung der Verbindlichkeit kirchlicher Lehre.“ (The<br />
Interpreter’s Dictionary of the Bible [IDB], 1:164)<br />
Trotzdem führte der fortwährende Gebrauch der Apokryphen in der katholischen<br />
Tradition allmählich zu der Bereitschaft, sie <strong>als</strong> kanonisch anzuerkennen. Dies<br />
zwang Hieronymus entgegen seiner eigenen Überzeugung, die Apokryphen in seine<br />
Bibelübersetzung einzuschließen – die lateinische Vulgata, die die offizielle römischkatholische<br />
Bibel werden sollte. Augustinus (^ 430) trug entscheidend zur Stärkung<br />
der kirchlichen Ansicht bei, indem er die Apokryphen <strong>als</strong> kanonisch betrachtete.<br />
Allerdings hat er in seinen späteren Schriften die Unterscheidung zwischen den<br />
Büchern des hebräischen Kanons und den „Zusatzbüchern“ gebilligt (IDB 1:164).<br />
Während des gesamten Mittelalters blieb Augustins positive Haltung gegenüber<br />
den Apokryphen maßgebend, obwohl eine Reihe von Gelehrten weiterhin Hieronymus<br />
recht gab. Die Reformatoren schlugen sich auf die Seite von Hieronymus und<br />
versuchten, die Apokryphen zurückzusetzen. Sie wurden in ihrer Überzeugung bestärkt<br />
durch die Tatsache, daß eine Reihe unannehmbarer römisch-katholischer<br />
Lehren (z. B. Gebete für die Toten) durch die Apokryphen gestützt wurden.<br />
Wyklifs englische Bibelübersetzung enthielt keine Apokryphen. Luther hingegen<br />
schloß die Apokryphen in seine deutsche Bibelübersetzung ein, wies diesen Büchern<br />
jedoch einen eigenen Platz zwischen den Testamenten zu – ein Vorgehen, das in den<br />
68
DER KANON<br />
meisten Bibeln der Reformationszeit übernommen wurde. 1626 erschienen einige<br />
Exemplare der englischen King James Version ohne die Apokryphen. 1827<br />
schließlich gaben die britischen und amerikanischen Bibelgesellschaften bekannt, sie<br />
würden künftig „in ihren gedruckten Exemplaren der englischen Bibel diejenigen<br />
Bücher, oder Teile davon, die gemeinhin Apokryphen genannt werden, nicht weiter<br />
verbreiten.“ (IDB 1:165)<br />
Als Reaktion auf die Bestrebungen der Reformatoren, die Apokryphen rangmäßig<br />
herabzusetzen, wählte die römisch-katholische Kirche den entgegengesetzten Weg<br />
und bestätigte deren vollen kanonischen Status. Das Konzil von Trient erklärte 1546,<br />
daß verflucht sei, wer sich weigere, alle in der Vulgata enthaltenen Bücher <strong>als</strong> heilig<br />
und kanonisch anzuerkennen. Diese Entscheidung wurde durch das Vatikanische<br />
Konzil 1870 gestützt.<br />
Eine abschließende Bemerkung über die Geschichte des Kanons betrifft die<br />
Adventisten. In einem der frühesten adventistischen Traktate mit dem Titel A Word<br />
to the „Little Flock“ (1846) wies James White in Fußnoten auf einige Texte aus den<br />
protestantischen Apokryphen hin, <strong>als</strong> er die Visionen von Ellen White mit<br />
Bibelstellen versah. Möglicherweise benutzte die White-Familie eine Bibel aus der<br />
Zeit vor 1827, die noch die Apokryphen enthielt. Die Ausgabe des Advent Review<br />
and Sabbath Herald vom 5. August 1851 enthielt auf Seite 8 den Hinweis, daß ein<br />
gewisser E. L. Chamberlain im Besitz von 50 Exemplaren einer Taschenbuchausgabe<br />
der Apokryphen sei, die er zum Gegenwert von 25 Cents zum Verkauf anbiete.<br />
Was auch die Gründe für die offensichtliche Anerkennung der Apokryphen durch<br />
die frühen Adventisten gewesen sein mögen, es ist festzuhalten, daß Ellen White und<br />
ihr Mann sich sehr bald dem offiziellen protestantischen Kanon zuwandten und<br />
daran zeitlebens festhielten. Dies entspricht bis heute der adventistischen Haltung.<br />
Zusammenfassung<br />
Den meisten von uns würde es sicher schwer fallen, anhand verschiedener kanonischer<br />
und nicht-kanonischer Bücher selber zu bestimmen, welche wirklich in<br />
den Kanon gehören und welche nicht. Solange wir auf uns selbst gestellt sind, kommen<br />
wir leicht zu f<strong>als</strong>chen Schlußfolgerungen. Zwar führt Gott jeden von uns<br />
persönlich, aber bezüglich des Kanons hat er es vorgezogen, die Gemeinschaft der<br />
Gläubigen <strong>als</strong> Gesamtheit zu leiten. Deshalb hören wir aufmerksam auf die, die uns<br />
vorangegangen sind und die Leitung durch den Geist bestätigt haben. Wir<br />
akzeptieren ihre Entscheidung und ihre Bibel <strong>als</strong> unsere Entscheidung und unsere<br />
Bibel. Das ist dann das Buch, das unser Leben auch heute bestimmt.<br />
69
Kapitel 4<br />
Die Handschriften<br />
... und wenn etwas Wichtiges fehlt?<br />
Ein Grund, weshalb uns die Bibel so nachhaltig beeinflußt, ist unser Vertrautsein<br />
mit ihr. Bei jeder Wiederholung eines Textes prägen sich die Worte tiefer in uns ein.<br />
Der Gebrauch einer bestimmten Bibelausgabe wirkt sich ähnlich aus. Ich benutze<br />
ungern eine neue Bibel statt meiner alten, obwohl sie schon sehr abgegriffen ist. In<br />
der alten Bibel sind meine Lieblingstexte leicht zu finden. Augen und Finger landen<br />
wie von selbst auf der gesuchten Seite und dort bei der richtigen Bibelstelle.<br />
So muß ich auch gegen ein gewisses Mißfallen ankämpfen, wenn ich eine<br />
moderne Übersetzung zur Hand nehme und feststelle, daß Teile meiner Bibel einfach<br />
„fehlen“. Das Fehlende ist zwar meistens in einer Fußnote wiederzufinden, wo es<br />
etwa heißt: „Eine andere alte Überlieferung sagt: ...” Aber warum hat Gott die alten<br />
Handschriften nicht einfach vereinheitlicht, so daß sie alle dasselbe sagen? Es kann<br />
sehr mühevoll sein, sich mit fehlenden Aussagen und Textunterschieden herumzuschlagen.<br />
Mancher wird dadurch sogar regelrecht verunsichert.<br />
Bei der Behandlung von Parallelabschnitten werden wir auf das Stichwort „Abweichungen“<br />
näher eingehen. Die Beschäftigung mit den sogenannten synoptischen<br />
Evangelien oder der Vergleich zwischen den Büchern Samuel/Könige und Chronik<br />
stellt ein geeignetes Übungsfeld dar. Denn dort können wir uns mit Textvorlagen<br />
herumplagen, die voneinander abweichen – bis wir uns endlich mit dem Wort Gottes<br />
abfinden, so wie es ist. Wenn wir meinen, Gott hätte es anders machen sollen, wird<br />
das die Bibel nicht verändern. Dafür ist es zu spät. Wir müssen mit der Bibel leben,<br />
so wie sie ist.<br />
Wenn von Abweichungen in Handschriften oder Parallelabschnitten die Rede ist,<br />
sehe ich mich veranlaßt, scheinbar widersprüchlich zu argumentieren. Auf der einen<br />
Seite möchte ich geltend machen, daß ein einziges Wort außerordentlich wichtig sein<br />
und die gesamte Bedeutung eines Textes verändern kann. Gleichzeitig aber möchte<br />
ich betonen, daß selbst ein erhebliches Maß an menschlichen Unzulänglichkeiten im<br />
Text nicht verhindern kann, daß seine Botschaft klar und deutlich verstanden wird.<br />
Wie lassen sich diese beiden Wahrheiten auf einen Nenner bringen?<br />
Vielleicht läßt sich diese Situation mit den Erwartungen vergleichen, die ich habe,<br />
wenn ich meinen Wagen zur Reparatur in die Werkstatt bringe. Einerseits liegt mir<br />
70
HANDSCHRIFTEN<br />
daran, daß der Mechaniker präzise Arbeit leistet und, wo es notwendig ist, auch<br />
elektronische Geräte einsetzt, um alles so genau wie möglich einzustellen.<br />
Angesichts meiner begrenzten technischen Kenntnisse könnte ich andererseits aber<br />
auch sagen: „Egal was Sie machen – sorgen Sie dafür, daß das Ding wieder läuft!“<br />
Ein fähiger Mechaniker würde im Notfall alle möglichen Ersatzteile auftreiben,<br />
damit „das Ding wieder läuft“ – und ich wäre sehr ärgerlich, wenn er die Reparatur<br />
verweigern würde, nur weil im Augenblick keine Originalteile von Opel zur<br />
Verfügung stehen. Ein guter Mechaniker muß sich den Gegebenheiten anpassen<br />
können.<br />
So verhält es sich auch mit dem Wort Gottes. Bestehen wir unbeirrbar auf<br />
absoluter Genauigkeit, so werden wir womöglich unflexibel und damit unfähig, uns<br />
auf die verschiedenen menschlichen Bedürfnisse einzustellen. Genauigkeit ist<br />
wichtig, aber praktische Durchführbarkeit noch wichtiger. In der Praxis ist manchmal<br />
absolute Genauigkeit erforderlich, manchmal aber genügt auch grobe Annäherung.<br />
Im Zusammenhang mit ihren Äußerungen über die menschlichen Unzulänglichkeiten<br />
der Schrift sagt Ellen White: „Die Bibel ist ganz praktisch zu nehmen.“ (1 FG 20)<br />
Ich kann mir denken, daß ein solcher praktischer Zweck der unterschiedlichen<br />
Darstellungen in Parallelabschnitten darin besteht, uns zu zeigen, daß es sich nicht<br />
lohnt, darüber zu streiten! Ja, ich kann fast Gottes ‘ernstes’ Augenzwinkern sehen,<br />
wenn er zwei Verfassern erlaubt, dieselbe Geschichte auf unterschiedliche Weise zu<br />
erzählen, wenn er einem zerstreuten Abschreiber erlaubt, ein Wort aus einer<br />
Handschrift wegzulassen oder wenn er einem wohlmeinenden Schriftgelehrten nicht<br />
verwehrt, einen zusätzlichen Satz einzufügen.<br />
Natürlich wollen wir die Situation nicht dramatisieren. Aber wir sollten ehrlich<br />
genug sein, die Bibel so zu sehen, wie sie ist. Wir müssen lernen mit ihr zu leben,<br />
und zwar so, wie sie uns von Gott gegeben wurde, nicht so, wie wir sie uns vielleicht<br />
gewünscht hätten.<br />
Um zu verdeutlichen, was Abweichungen in den Handschriften bewirken können,<br />
werden wir drei Beispiele aus der Schrift betrachten und sie ins rechte Licht rücken.<br />
Dabei handelt es sich um die abschließende Doxologie im Vaterunser (Matthäus 6),<br />
um die Geschichte der Ehebrecherin (Johannes 8) und um einen Belegtext für die<br />
Dreieinigkeit, das sogenannte „Johannäische Komma“ (1. Johannes 5). Die ersten<br />
beiden Beispiele sind fester Bestandteil der Lutherbibel, das dritte findet sich nur<br />
noch in einigen älteren Bibelausgaben. Aufgrund des Handschriften-Befundes<br />
werden sie jedoch in vielen heutigen Übersetzungen nur noch <strong>als</strong> Fußnote aufgeführt<br />
oder ganz weggelassen.<br />
71
INSPIRATION<br />
Das Vaterunser<br />
Matthäus 6,9-13<br />
Wer in einem christlichen Heim erzogen wurde, hat sicher das Vaterunser auswendig<br />
gelernt, einschließlich des Schlußsatzes „Denn dein ist das Reich und die Kraft und<br />
die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.“ (Vers 13b) Dieser Satz ist in den ältesten und<br />
besten Bibelhandschriften nicht enthalten; auch bei Lukas fehlt er (Lukas 11,2-4).<br />
Hat Jesus sein Gebet ursprünglich mit dieser Doxologie beendet? Aufgrund der<br />
ältesten Handschriften müssen wir diese Frage verneinen.<br />
Werden wir deshalb unseren Kindern das Vaterunser ohne diesen Satz beibringen?<br />
Wohl kaum. Ist es f<strong>als</strong>ch, diesen Satz anzufügen? Nein – selbst wenn er<br />
ursprünglich nicht zum Vaterunser gehörte. Der Satz ist ja durchaus in Ordnung.<br />
Inhaltlich kann er auf 1. Chronik 29,10.11 zurückgeführt werden, <strong>als</strong>o auf Davids<br />
Weihegebet, <strong>als</strong> das Volk Gaben für den Tempelbau zusammentrug. Irgendwann<br />
muß jemand dieses alttestamentliche Gebet dem Gebet Jesu angefügt haben. Vermutlich<br />
wird es uns für immer erhalten bleiben, auch wenn die Worte nicht zur<br />
selben Zeit gesprochen wurden wie das Vaterunser.<br />
Ist es nun aber f<strong>als</strong>ch, diese Worte wegzulassen? Nein, obwohl es keinem von uns<br />
leichtfallen dürfte. Denn man würde in der Gemeinschaft derer, die das Gebet<br />
kennen, immer aus der Reihe fallen.<br />
Was sollen wir tun? Nicht viel – außer uns daran zu gewöhnen, daß diese Worte<br />
in neueren Übersetzungen in den Fußnoten erscheinen.<br />
Mein Verstand sagt mir, daß jene Worte des Lobpreises nicht zum Vaterunser<br />
gehören. Aber mein Herz wünscht, daß sie dort bleiben. Ich muß einfach lernen,<br />
mich mit dieser Tatsache abzufinden.<br />
72<br />
Die Ehebrecherin<br />
Johannes 7,53-8,11<br />
Die Geschichte der Ehebrecherin gehört zu den bewegendsten Episoden der Heiligen<br />
Schrift. Ränkeschmiedende Priester hatten die Frau beim Vollzug des Ehebruchs<br />
überrascht und sie dann Jesus zur Verurteilung vorgeführt. Die Motive der Pharisäer<br />
waren hinterhältig; sie benutzten diese Frau, um Jesus in eine Falle zu locken.<br />
Das Alte Testament forderte für Ehebruch die Steinigung. Aber Jesus sprach zu<br />
den Anklägern: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“<br />
Da machte sich einer nach dem anderen aus dem Staub. Jesus und die Frau blieben
HANDSCHRIFTEN<br />
allein zurück. Jesus fragte: „Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt?“ Sie<br />
antwortete: „Niemand, Herr.“ Und Jesus sprach: „So verdamme ich dich auch nicht;<br />
geh hin und sündige hinfort nicht mehr.“<br />
Diese Geschichte veranschaulicht eindrucksvoll das Prinzip der Vergebung und<br />
Erneuerung. Um so erstaunlicher erscheint es, daß die Begebenheit in der<br />
ursprünglichen Ausgabe der Revised Standard Version (1946) lediglich in den<br />
Fußnoten erscheint. Glaubten die Übersetzer etwa nicht an Vergebung?<br />
Mit gutem Gewissen können wir die Übersetzer entlasten, wenigstens was ihre<br />
Ansicht über Vergebung anbelangt. Die Entfernung dieses Textabschnitts geht auf<br />
alte Handschriften zurück. Überraschenderweise kann gerade die Haltung, die man<br />
dam<strong>als</strong> zur Vergebung einnahm, zur Klärung des Handschriftenbefundes beitragen.<br />
So können wir auch verstehen, weshalb diese Geschichte in einigen neueren<br />
Übersetzungen nur <strong>als</strong> Fußnote erscheint.<br />
Dabei entdecken wir einige höchst interessante Einzelheiten, die sich wie die<br />
Teile eines Puzzles zusammenfügen. Von besonderem Interesse ist eine bedeutende<br />
Gruppe von Handschriften, die man „Unzialen“ nennt, weil der gesamte Text in<br />
Großbuchstaben geschrieben ist. (Das lateinische Wort uncialis bedeutete<br />
ursprünglich „ein Zoll hoch“ und bezog sich in der Folge auf „hohe“ Lettern, d. h.<br />
Großbuchstaben.) Die ältesten Unzialen datieren aus dem vierten bis sechsten<br />
Jahrhundert n. Chr. und bilden die Grundlage unseres neutestamentlichen Textes.<br />
Die Geschichte der Ehebrecherin erscheint nur in einer einzigen Unzialhandschrift,<br />
und diese wird nicht einmal zu den besten gerechnet. Sechs dieser<br />
Handschriften übergehen den Bericht ohne Erklärung; zwei weitere enthalten an der<br />
Stelle, wo sie erscheinen sollte, eine Lücke. Erst in spätgriechischen und<br />
mittelalterlichen Handschriften findet man diese Geschichte, wobei der Abschnitt<br />
selbst dort oft <strong>als</strong> unsicher bezeichnet wird.<br />
Eine andere textgeschichtliche Eigenart besteht darin, daß diese Episode an<br />
verschiedenen Stellen des Neuen Testaments auftaucht. In einigen Handschriften<br />
erscheint sie am Ende des Johannesevangeliums, in anderen wird sie unmittelbar<br />
nach Lukas 21,38 eingeschoben. Da sich die Geschichte bezüglich Sprache und<br />
Wortschatz vom übrigen Johannesevangelium unterscheidet, glauben die meisten<br />
Gelehrten, daß sie ursprünglich nicht zum Evangelium gehörte. Diese Tatsachen<br />
erklären, weshalb die Übersetzer der Revised Standard Version diese Geschichte den<br />
Fußnoten zugewiesen haben.<br />
Es gibt jedoch noch andere Hinweise, die zu einer erfreulicheren Lösung des<br />
Problems führen. Befragen wir nämlich die Kirchenväter, so finden wir deutliche<br />
Anzeichen dafür, daß ihnen die besagte Geschichte bekannt war. Hieronymus (^<br />
73
INSPIRATION<br />
420) kannte sie, denn er schloß sie in seine lateinische Vulgata-Übersetzung ein.<br />
Sowohl Ambrosius (^ 397) <strong>als</strong> auch Augustinus (^ 430) war die Geschichte vertraut,<br />
denn sie gaben eine Erläuterung dazu. Und wenn die Geschichte auch in den großen<br />
Unzialen fehlt, kann sie doch bis ins frühe zweite Jahrhundert zurückverfolgt<br />
werden. Die „Apostolischen Konstitutionen“ enthalten sie <strong>als</strong> Mahnung an die<br />
Adresse der Bischöfe, nicht zu hart zu urteilen. Dem Kirchenhistoriker Eusebius (^<br />
340) zufolge war es Papias (^ 130), der die Geschichte von „einer Frau, die vor dem<br />
Herrn wegen ihrer vielen Sünden beschuldigt wurde“ berichtete. (Barclay,<br />
Johannesevangelium II, 333)<br />
Somit dürfen wir mit gutem Grund annehmen, daß sich diese Geschichte<br />
tatsächlich zugetragen hat, obwohl ihr „Standort“ innerhalb des Neuen Testaments<br />
nicht gesichert ist. Dagegen bleibt die Frage offen, weshalb sie in den Unzialen nicht<br />
enthalten ist.<br />
Augustinus kann da wohl am besten weiterhelfen, denn er erwähnt, daß die<br />
Geschichte vom Originaltext der Evangelien entfernt wurde, weil „einige einen<br />
schwachen Glauben hatten“ und „um keinen Anstoß zu erregen.“ Offenbar gab es<br />
dam<strong>als</strong> die Ansicht, diese Begebenheit könnte zu einer gewissen Gleichgültigkeit<br />
gegenüber Ehebruch ermutigen. Schließlich kämpfte die christliche Kirche um ihr<br />
Überleben inmitten einer heidnischen Kultur, die sich kaum um sittliche Reinheit<br />
kümmerte. Einige Abschreiber des Neuen Testaments befürchteten offenbar, die<br />
starke Betonung der Vergebung könnte Neubekehrte veranlassen, in ihren alten<br />
Lebensstil zurückzufallen. Deshalb ließen sie die Episode beiseite.<br />
Interessanterweise gelangte sie jedoch in neueren Ausgaben der „RSV“<br />
einschließlich der New Revised Standard Version (1989) aus den Fußnoten wieder in<br />
den Haupttext. Wissenschaftliche Unvoreingenommenheit und gängige Kirchenpraxis<br />
haben sie zu neuem Leben erweckt. Dem können wir nur zustimmen. Wir<br />
würden es natürlich vorziehen, wenn dieser Abschnitt einen festen Platz in der<br />
Schrift hätte und textkritisch besser bezeugt wäre. Die Argumente sind jedoch nicht<br />
so eindeutig. Die Tatsache, daß diese Geschichte der Kirche fast ganz abhanden<br />
gekommen wäre, kann sie uns auf der anderen Seite besonders wertvoll erscheinen<br />
lassen.<br />
Das Johannäische Komma<br />
1. Johannes 5,7.8<br />
Der Ausdruck „Johannäisches Komma“ bezieht sich auf einen Satz in 1. Johannes<br />
5,7.8, der auf der Grundlage einiger älterer Bibelübersetzungen <strong>als</strong> Belegstelle für<br />
74
HANDSCHRIFTEN<br />
die Lehre der Dreieinigkeit verstanden wurde. (Das lateinische Wort comma<br />
bezeichnete zunächst eine Wortgruppe und dann das Satzzeichen, das sie abschließt).<br />
Die Frage ist nicht, ob dieser umstrittene Abschnitt wahr ist, sondern ob er der<br />
Heiligen Schrift zugerechnet werden sollte. Im Text der Pattloch-Bibel (1962) lautet<br />
das „Comma Johanneum“ (in eckigen Klammern und Kursivschrift): „Denn drei sind<br />
es, die Zeugnis geben [im Himmel: der Vater, das Wort und der Heilige Geist; und<br />
diese drei sind eins. Und drei sind, die Zeugnis geben auf Erden]: der Geist und das<br />
Wasser und das Blut, und diese drei beziehen sich auf das Eine.“ (Vers 7.8)<br />
Die Geschichte dieses Satzes ist abenteuerlich und spannend. In der griechischen<br />
Tradition erscheint das „Komma“ nur in zwei Handschriften aus dem 14. Jahrhundert<br />
sowie <strong>als</strong> Randbemerkung (Glosse) aus dem 17. Jahrhundert in einer aus dem 12.<br />
Jahrhundert stammenden Handschrift. Soweit bekannt, wurde es zum erstenmal um<br />
380 n. Chr. in den Schriften von Priszillian, einem lateinischen Autor, erwähnt. Von<br />
dort gelangte es in die lateinischen Bibeln.<br />
Wie kam es, daß ein so schwach belegter Vers Aufnahme in einige Bibelübersetzungen<br />
fand? Hier wird die Geschichte interessant. Bezüglich dieses<br />
„Kommas“ gab es nämlich lauten Protest, <strong>als</strong> Erasmus 1516 seine erste „kritische“<br />
Ausgabe des griechischen Neuen Testaments herausgab. Natürlich kannte Erasmus<br />
das „Komma“ von den lateinischen Manuskripten her. Aber da er es in keiner alten<br />
griechischen Handschrift finden konnte, vermied er die Aufnahme in seinen griechischen<br />
Text.<br />
Die kirchlichen Instanzen waren außer sich. Wie konnte der griechischen Sprache<br />
größere Bedeutung beigemessen werden <strong>als</strong> der lateinischen? Das Neue Testament<br />
war zwar auf Griechisch verfaßt worden, aber das Lateinische galt <strong>als</strong> offizielle<br />
Kirchensprache. Führende Kirchenleute versuchten, Erasmus zu überzeugen, daß<br />
jede griechische Handschrift, deren Text nicht mit den lateinischen Handschriften<br />
übereinstimmte, zu verwerfen sei.<br />
In einem unbesonnenen Augenblick versprach Erasmus seinen Bedrängern, daß<br />
er den fraglichen Text in seine nächste Ausgabe aufnehmen würde, wenn sie ihm<br />
auch nur eine einzige griechische Handschrift vorlegen würden, die das „Komma“<br />
enthielte. Wie groß war die Überraschung, <strong>als</strong> eine derartige Handschrift in Dublin<br />
auftauchte. Nach heutigen Erkenntnissen handelte es sich dabei jedoch um eine<br />
Rückübersetzung vom Lateinischen ins Griechische!<br />
Für Erasmus war das schmerzlich, aber er hielt sein Wort und nahm das „Komma“<br />
in seine dritte Ausgabe des Neuen Testaments (1522) auf. Diese dritte Ausgabe<br />
wurde in der Folge zum „anerkannten Text“ (textus receptus), auf den sich u. a. die<br />
englische King James Version stützte. So kam dieser Vers in unsere Hände.<br />
75
INSPIRATION<br />
Ohne den Inhalt des „Kommas“ auf Wahrheit oder Irrtum beurteilen zu wollen,<br />
können wir feststellen, daß die ursprüngliche Entscheidung von Erasmus, auf die<br />
Aufnahme jenes Textabschnitts ins Neue Testament zu verzichten, vom textkritischen<br />
Standpunkt eindeutig gerechtfertigt war. Aber die kirchliche Tradition setzte<br />
sich durch und sorgte dafür, daß das „Komma“ in Erinnerung blieb. Dennoch stammt<br />
der Textbeleg aus so später Zeit und ist so ungenügend, daß das „Komma“ in einigen<br />
neueren Übersetzungen nicht nur weggelassen, sondern nicht einmal mehr erwähnt<br />
wird.<br />
Wir mögen zwar vom Wahrheitsgehalt des „Kommas“ überzeugt sein, aber darum<br />
geht es hier nicht, denn das „Komma“ gehört einfach nicht zu 1. Johannes 5.<br />
Außerdem braucht die Lehre der Dreieinigkeit nicht durch diesen Text gestützt zu<br />
werden, sie kann genausogut ohne ihn aufrechterhalten werden.<br />
Zusammenfassung<br />
Wir haben drei Beispiele voneinander abweichender Handschriften betrachtet. Es<br />
handelt sich dabei um einen Lobpreis, eine Geschichte über Vergebung sowie einen<br />
Belegtext für die Dreieinigkeit. All diese Abweichungen sind relativ harmlos. Im<br />
Falle der Doxologie fühlen wir uns den Worten eng verbunden, auch wenn wir<br />
wissen, daß sie ursprünglich nicht zum Vaterunser gehörten. Auch die Geschichte<br />
von der Ehebrecherin wird uns erhalten bleiben. Obwohl sie wahrscheinlich nicht<br />
aus dem Johannesevangelium stammt, gibt es doch deutliche Hinweise darauf, daß es<br />
sich um eine wahre Begebenheit aus dem Leben Jesu handelt. Den Text über die<br />
Dreieinigkeit aus 1. Johannes 5 kann man wohl am ehesten weglassen. Aber dank<br />
des Einflusses der King James Version und anderer Übersetzungen überlebte selbst<br />
dieser Vers, wenn er auch von anderen Übersetzern kommentarlos gestrichen wurde.<br />
Die Wirkung, die die Gesamtheit der Abweichungen in den Handschriften ausübt,<br />
macht es verständlich, daß konservativ denkende Christen zu Bibelübersetzungen<br />
neigen, die die umstrittenen Textabschnitte an ihrem Ort belassen. Die Macht der<br />
Gewohnheit wiegt schwer.<br />
Solange wir uns trotz unserer Gewohnheiten neuen Erkenntnissen nicht<br />
verschließen, können wir umstrittene Abschnitte wie die Doxologie im Vaterunser<br />
ruhig beibehalten. Was wir vermeiden wollen, sind mögliche böse Überraschungen:<br />
Sollten wir wirklich zulassen, daß so offensichtliche Eigenheiten im<br />
Überlieferungsprozeß der Bibel unseren Glauben erschüttern? Das muß nicht sein.<br />
Wir wollen uns deshalb im folgenden Kapitel eingehender mit den Übersetzungen<br />
der Bibel befassen.<br />
76
Kapitel 5<br />
Die Übersetzungen:<br />
Kann man sich auf sie verlassen?<br />
Falls du eine andere Übersetzung <strong>als</strong> die King James Version benutzt, könntest du<br />
deinen Glauben verlieren.“<br />
Der Unterricht war beendet. Die Studenten hatten den Raum verlassen – fast alle.<br />
Einer blieb an seinem Tisch sitzen und sah zum Fenster hinaus. Man konnte ihm<br />
ansehen, daß ihn etwas beschäftigte. Wir sprachen miteinander. Da erzählte er mir<br />
von jener Warnung, die ihm von einem Gemeindeglied mitgegeben worden war.<br />
„Ist das wahr?“, fragte er. Er wandte sich ab und sah wieder zum Fenster hinaus.<br />
Angst! Angst davor, daß die Veränderung eines Wortes oder eines Satzes den<br />
kostbarsten Besitz eines Menschen zerstören könnte, nämlich sein Gottvertrauen. Ich<br />
habe diese Angst zu Ohren bekommen und ich habe sie gesehen: in Form von bleichen<br />
Gesichtern und weißen Fingerknöcheln. Dabei ist sie so unnötig! Aber ein<br />
unbekümmertes Achselzucken kann Leuten mit bleichen Gesichtern und weißen<br />
Fingerknöcheln nicht weiterhelfen. Dazu braucht es mehr.<br />
An der Wurzel des Problems, so vermute ich, steht die Angst vor Veränderung,<br />
einer Veränderung, die sich dort abspielt, wo wir es am wenigsten wünschen, nämlich<br />
bei Gott und seinem Wort. Ich halte die ernste Warnung vor anderen Übersetzungen<br />
für unnötig, ja sogar für tragisch, denn sie kann leicht zu einer sich selbst<br />
erfüllenden Voraussage werden. Andererseits zeigt sie aber auch ein gewisses Maß<br />
an gutem Wahrnehmungsvermögen.<br />
Menschen, die vor Übersetzungen zurückschrecken, spüren – vielleicht unbewußt<br />
– daß jede Übersetzung unvermeidlich mit Auslegung und Erklärung verbunden ist,<br />
und somit ein Einfalltor für Veränderungen darstellt. Wer Veränderung verhindern<br />
will, darf deshalb nicht übersetzen.<br />
Für Moslems beispielsweise gibt es keine offizielle Übersetzung des Korans und<br />
sie würden eine solche auch nicht anerkennen. Alle Übersetzungen sind lediglich<br />
inoffiziell, da nur das arabische Original in ihren Augen heilig ist. Ohne Kenntnis<br />
des Arabischen wird man daher den echten Koran niem<strong>als</strong> wirklich verstehen<br />
können.<br />
Aber die Menschen und ihre Sprache ändern sich. Wenn Gottes Wort nicht übersetzt<br />
wird, wie soll es dann das menschliche Herz berühren und verändern? Die<br />
großen Erweckungen der Vergangenheit erhielten ihre Durchschlagskraft nicht<br />
78
ÜBERSETZUNGEN<br />
zuletzt dadurch, daß Gott Boten sandte, die sein Wort gewissenhaft in die Sprache<br />
des Volkes übertrugen.<br />
Der Reformator Wyklif wagte es, Gottes Wort für das gewöhnliche Volk ins<br />
Englische zu übersetzen; und er erklärte: „Niemand ist derart ungelehrig, daß er die<br />
Worte des Evangeliums nicht in sich aufnehmen könnte – auch <strong>als</strong> einfacher<br />
Mensch.“ – „Es ist eine große Hilfe für Christen, wenn sie das Evangelium in der<br />
Sprache erforschen können, in der sie die Worte Christi am besten erfassen.“<br />
(H. Robinson, hg., The Bible in Its Ancient and English Versions 137)<br />
Um das zu verwirklichen, bedarf es einer Übersetzung. Und wenn Übersetzung<br />
Veränderung bedeutet, dann ist das auch in Ordnung. Nur sollte es durch Gottes<br />
Gnade eine Veränderung sein, die nicht zerstört, sondern zum Reich Gottes hinführt.<br />
Die Übersetzung der Bibel in die Landessprache birgt Risiken und unabsehbare<br />
Folgen in sich. Als beispielsweise 1546 die englischen Übersetzungen des Neuen<br />
Testaments von Tyndale und Coverdale erschienen, waren die Behörden in England<br />
derart alarmiert, daß Heinrich VIII das folgende königliche Dekret erließ: „Kein<br />
Mann und keine Frau, welchen Standes oder welcher Position auch immer, dürfen<br />
nach dem letzten Tage des Monats August das Neue Testament von Tyndale oder<br />
Coverdale erhalten, besitzen, an sich nehmen oder aufbewahren.“ Mit Tränen in den<br />
Augen und vor einem weinenden Parlament beklagte der König, „das Buch werde in<br />
jeder Bierstube und jeder Schenke disputiert, mit Reimen versehen, gesungen und<br />
lautstark diskutiert.“ (H. Robinson 180)<br />
Tränen gab es aber auch in den Augen derer, denen die Bibel in ihrer<br />
Muttersprache weggenommen wurde. Tiefe Traurigkeit geht aus einer<br />
handschriftlichen Notiz hervor, die ein Schafhirte auf dem Vorsatzblatt eines<br />
weltlichen Buches, der Geschichte der Erfindungen von Polydor Vergil, anbrachte:<br />
„Als Hüter von Herrn Letymers Schafen kaufte ich mir dieses Buch, nachdem das<br />
Testament verboten wurde, damit Hirten es nicht lesen können. Ich bitte Gott, er<br />
möge diese Blindheit heilen. Geschrieben von Robert Williams, Schafhirte auf den<br />
Hügeln von Seynbury, 1546.“ (H. Robinson 180)<br />
Menschen, die sich danach sehnen, Gottes Wort in ihrer eigenen Sprache lesen zu<br />
können, befürchten keinen Glaubensverlust, wenn sie eine neue Übersetzung zur<br />
Hand nehmen. Sie möchten, daß ihr Glaube gestärkt und ihr Hunger nach dem Wort<br />
Gottes gestillt wird. Für sie ist eine neue Übersetzung eine Quelle des Lebens.<br />
Weshalb sollten wir dann Angst haben? Woher stammt jene seltsame<br />
Befürchtung, eine neue Übersetzung könnte unseren Glauben zerstören? Wenn wir<br />
wirklich meinen, unser geistliches Leben hinge von einem oder mehreren bestimmten<br />
Versen dieser oder jener Übersetzung ab, dann allerdings sind wir in Gefahr.<br />
79
INSPIRATION<br />
Bevor wir uns aber entschließen, auf alle angeblich so gefährlichen Übersetzungen<br />
zu verzichten, sollten wir unser Augenmerk auf die Gefährlichkeit unserer eigenen<br />
Vorbehalte richten. Sie sind ein sehr altes Phänomen und tauchen im Laufe der<br />
Geschichte immer wieder auf. Warnungen vor neuen Übersetzungen kommen fast<br />
immer von religiösen Amtsträgern oder langjährigen Gemeindegliedern, die die<br />
Bibel seit Jahren kennen, und nicht von neubekehrten Christen, die das Wort Gottes<br />
zum ersten Mal in ihrer Muttersprache lesen wollen.<br />
Offenbar scheint das Problem darin zu liegen, daß Menschen zufrieden sind mit<br />
dem, was sie bereits wissen. Sobald eine Veränderung droht, wird<br />
Katastrophenwarnung gegeben, um am Bestehenden festhalten zu können. Ein kurzer<br />
historischer Rückblick kann uns helfen, unsere Zeit und unsere Befürchtungen mit<br />
dem nötigen Abstand zu betrachten.<br />
Übersetzungen: Eine Geschichte des Widerstands<br />
gegen Veränderungen<br />
Wenn wir uns der Veränderung von Gottes Wort widersetzen, befinden wir uns in<br />
guter Gesellschaft. Mose ermahnte Israel, sie sollten zu den Geboten Gottes nichts<br />
hinzufügen und auch nichts davon wegnehmen (5. Mose 4,2; 12,32). Jesus erklärte,<br />
weder der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz werde vergehen, bis<br />
daß es alles geschehe (Matthäus 5,18). Und auch das Buch der Offenbarung<br />
verurteilt jeden, der es wagt, den Worten der Weissagung etwas hinzuzufügen oder<br />
etwas davon zu entfernen (Offenbarung 22,18.19). Das sind ernste Warnungen.<br />
Wie verhält es sich aber mit Übersetzungen? Die Verfasser des Neuen Testaments<br />
fühlten sich im Umgang mit den Übersetzungen des Alten Testaments sehr frei. Als<br />
Matthäus auf Jesaja 7,14 Bezug nahm, um zu beweisen, daß Jesus von einer Jungfrau<br />
geboren wurde, benutzte er die Septuaginta. Ebenso zitierte der Verfasser des<br />
Hebräerbriefs aus ihr Psalm 8,5.6 <strong>als</strong> Beweis für die Menschwerdung Jesu. Die<br />
Septuaginta lieferte jeweils den gewünschten Wortlaut.<br />
Die relative Freiheit der neutestamentlichen Verfasser, Texte zu übersetzen und<br />
anzupassen, steht im Gegensatz zu der starren Haltung gegenüber<br />
Bibelübersetzungen, die in jüdischen und christlichen Kreisen häufig zu beobachten<br />
war. Ein kurzer geschichtlicher Überblick zeigt, daß die große Verehrung der King<br />
James Version – oder der Lutherbibel – und der damit einhergehende Widerstand,<br />
etwas daran zu verändern, eine Haltung darstellt, die typisch ist für das menschliche<br />
Verhalten schlechthin. Ob dies schädlich oder nützlich ist, spielt zunächst keine<br />
Rolle; es ist jedenfalls typisch. Sehen wir uns einige Beispiele an.<br />
80
ÜBERSETZUNGEN<br />
Josephus und die hebräische Bibel<br />
Obwohl es um den Originaltext der hebräischen Bibel und nicht um eine<br />
Übersetzung ging, vertrat der jüdische Geschichtsschreiber Josephus (^ um 100 n.<br />
Chr.) einen Standpunkt gegenüber dem Text der hebräischen Bibel, der eine<br />
Übersetzung schwerlich zugelassen hätte. In seiner Verteidigungsschrift gegen<br />
Apion, einen Herausforderer des jüdischen Glaubens, umriß Josephus das Besondere<br />
der Heiligen Schrift mit folgenden Worten: „Ein Beweis für das Vertrauen, das wir<br />
jenen volkstümlichen Schriften entgegenbringen, ergibt sich übrigens aus folgender<br />
Tatsache. In den vielen Jahrhunderten, die seit Abfassung der erwähnten Bücher<br />
verstrichen sind, hat noch niemand sich erdreistet, Zusätze im Text anzubringen oder<br />
Verstümmelungen und sonstige Änderungen daran vorzunehmen.“ (Des Flavius<br />
Josephus kleinere Schriften 96)<br />
Der Brief von Aristeas und die Septuaginta<br />
Der Brief von Aristeas, etwa 200 n. Chr. verfaßt, beschreibt die Entstehung der<br />
griechischen Septuaginta und verteidigt ihre Zuverlässigkeit. Er berichtet, wie der<br />
ägyptische Herrscher Ptolemäus Philadelphus von den jüdischen Behörden in<br />
Jerusalem ein Exemplar der hebräischen Bibel in griechischer Übersetzung erbat, das<br />
für die geplante Bibliothek in Alexandria bestimmt war.<br />
Der König nahm eine Gruppe von 72 Gelehrten aus Jerusalem <strong>als</strong> Gäste auf, und<br />
diese befaßten sich nun intensiv mit der Übersetzung der hebräischen Bibel. Aristeas<br />
schildert, wie sie die Resultate ihrer Bemühungen miteinander verglichen und so<br />
lange daran feilten, bis sie sich auf einen gemeinsamen Wortlaut einigen konnten. In<br />
späteren Darstellungen wurde diese Begebenheit stark übertrieben: Man behauptete<br />
sogar, die Gelehrten hätten völlig unabhängig voneinander in Gruppen von je zwei<br />
Personen gearbeitet und dabei 36 identische Übersetzungen hervorgebracht!<br />
Während die Beschreibung des Übersetzungsvorgangs durch Aristeas durchaus<br />
realistisch ist, kann dies von der Einstellung gegenüber dem vollendeten Werk nicht<br />
gesagt werden. Beachten wir die negative Einstellung gegenüber Veränderungen:<br />
„Nachdem man die Bücher verlesen hatte, erhoben sich die Priester und Ältesten der<br />
Übersetzer, die jüdische Gemeinde sowie die Führer des Volkes und sagten, daß<br />
diese vorzügliche, heilige und genaue Übersetzung künftig unverändert bleiben solle.<br />
Und <strong>als</strong> die ganze Versammlung damit einverstanden war, bat man darum, gemäß<br />
bestehender Sitte einen Fluch auszusprechen über jeden, der etwas ändern würde,<br />
indem er irgend etwas hinzufügt, irgendeines der geschriebenen Worte verändert<br />
oder irgend etwas wegläßt. Dies geschah in weiser Voraussicht, um sicherzustellen,<br />
81
INSPIRATION<br />
daß das Buch für alle Zeiten unverändert erhalten bliebe.“ (Charles, hg., The<br />
Apocrypha and Pseudepigrapha of the Old Testament, 2:121, Zeilen 310.311)<br />
Diese Ehrfurcht vor der Septuaginta fand ihre Fortsetzung in christlichen Kreisen.<br />
In den frühen Jahrhunderten galt die Septuaginta bei Christen allgemein <strong>als</strong><br />
inspiriert.<br />
Die lateinische Vulgata: Zurück zum Hebräischen<br />
Eines der spannendsten Kapitel in der Geschichte der Bibel, das Vollblut-<br />
Protestanten möglicherweise nur schwer verstehen können, ist die Entstehung der<br />
lateinischen Vulgata-Übersetzung. Man hielt eine „allgemeine Ausgabe“ (editio<br />
vulgata) für nötig, um die vielen altlateinischen Übersetzungen, die unter den<br />
lateinisch-sprechenden Kirchen verbreitet waren, zu ersetzen.<br />
Im Jahre 382 bat Papst Damasus den anerkannten Gelehrten und<br />
Sprachwissenschaftler Hieronymus, die altlateinische Bibelübersetzung auf der Basis<br />
des griechischen Textes einer gründlichen Revision zu unterziehen. Nach<br />
Fertigstellung der Evangelien bearbeitete er den Rest des Neuen Testaments und<br />
begann dann mit dem Alten Testament.<br />
Die altlateinischen Übersetzungen stützten sich weitgehend auf die griechische<br />
Septuaginta. Aber Hieronymus nahm seine Aufgabe so ernst, daß er sich nach<br />
Palästina begab und die hebräische Sprache erlernte. Je mehr er sich aber dort mit<br />
Juden unterhielt, desto ärgerlicher und verlegener wurde er. Viele seiner Argumente,<br />
die sich auf die Septuaginta stützten, wurden nämlich schlichtweg abgelehnt, weil<br />
die Juden die Septuaginta nicht <strong>als</strong> Bibel anerkannten.<br />
Infolge seines Studiums der hebräischen Sprache und seiner Dispute mit den<br />
Juden kam Hieronymus schließlich zu zwei wichtigen Erkenntnissen: Er wehrte sich<br />
gegen die Aufnahme der Apokryphen in die Bibel, und er wählte den hebräischen<br />
Text anstelle der Septuaginta <strong>als</strong> Grundlage für seine Übersetzung des Alten<br />
Testaments.<br />
Wie wir bereits bei der Besprechung des Kanons gesehen haben, sprach sich<br />
Hieronymus gegen die Aufnahme der Apokryphen in das Alte Testament aus. Da<br />
aber die Septuaginta die Apokryphen enthielt, während sie in der hebräischen Bibel<br />
fehlten, lief seine Argumentation darauf hinaus, der hebräischen Bibel <strong>als</strong> dem<br />
christlichen Alten Testament den Vorzug zu geben. Damit konnte sich Hieronymus<br />
jedoch in seiner eigenen katholischen Tradition nicht durchsetzen; erst sehr viel<br />
später schlossen sich die Reformatoren seiner Auffassung an. In ihren Bemühungen,<br />
einen Schriftkanon ohne die Apokryphen zu schaffen, bezogen sich Luther und seine<br />
Mitstreiter auf Hieronymus.<br />
82
ÜBERSETZUNGEN<br />
Weil Hieronymus den hebräischen Text <strong>als</strong> Basis für seine Übersetzung des Alten<br />
Testaments verwendete, wurde ihm – wahrscheinlich zu Unrecht – der Vorwurf<br />
gemacht, er lehne die Septuaginta vollständig ab. Aus wissenschaftlicher Sicht war<br />
sein Standpunkt zwar korrekt, aber das brachte ihm in kirchlichen Kreisen keine<br />
Freunde ein. Nach und nach erhielt die Vulgata zwar den ihr gebührenden Respekt;<br />
zu Lebzeiten des Übersetzers aber war das noch nicht der Fall. So lange er lebte,<br />
mußte sich der arme Hieronymus für seine Bemühungen viele Anfeindungen gefallen<br />
lassen.<br />
Andererseits war er an der schlechten Behandlung nicht ganz unschuldig, war er<br />
doch alles andere <strong>als</strong> zurückhaltend, wenn er seine Meinung verteidigte und seine<br />
Kritiker angriff. Er war auf den Sturm der Entrüstung von seiten der Kirche<br />
vorbereitet, <strong>als</strong> er beschloß, sich zugunsten des hebräischen Textes von der<br />
Septuaginta abzuwenden. „Mit offenen Augen“, schrieb er in seinem Vorwort zu<br />
Jesaja, „strecke ich meine Hand in die Flamme.“ (zitiert nach Kelly, Jerome: His<br />
Life, Writings and Controversies 159)<br />
Die Kritiker von Hieronymus hielten außerdem seinen Umgang mit den<br />
altlateinischen Versionen für unannehmbar. Als er mit seiner neuen Übersetzung der<br />
Evangelien die Entrüstung hervorrief, die er vorausgesehen hatte, verfaßte er in<br />
seiner Wut ein Schreiben, in dem er seine Widersacher „zweibeinige Esel“ nannte,<br />
die verschmutzte Bäche dem reinen Quellwasser des griechischen Origin<strong>als</strong><br />
vorzögen. Sie seien so dumm, sagte er, daß sie nicht einmal merkten, daß er ja nicht<br />
des Herrn Worte korrigiert habe, sondern nur die fehlerhaften lateinischen<br />
Handschriften. Um sie zum Schweigen zu bringen, werde er eine Trompete an ihrem<br />
Ohr ertönen lassen, denn eine Leier werde Esel kaum beeindrucken (Kelly 89). Im<br />
Vorwort zu einem Buch, in dem er seine Vorliebe für den hebräischen Text<br />
verteidigte, nannte er seine Kritiker „schmutzige Schweine, die grunzend auf Perlen<br />
treten.“ (Kelly 157)<br />
So kämpfte Hieronymus gegen die konservativen Verteidiger traditioneller Texte<br />
wie der Septuaginta und der altlateinischen Übersetzung, die sich für das Vertraute<br />
einsetzten, <strong>als</strong> sei es das Ursprüngliche. Und genau das trennte sie von Hieronymus.<br />
Die Reformation: Rückkehr zu biblischen<br />
und modernen Sprachen<br />
Die protestantischen Reformatoren haben hinsichtlich des Schrifttextes zweierlei<br />
erreicht: (1) die Rückkehr zu den Urtext-Sprachen (Griechisch für das Neue und<br />
Hebräisch für das Alte Testament), ohne sich weiterhin auf die lateinische Vulgata<br />
zu stützen, und (2) die Übersetzung der Bibel in die Volkssprache. Wegen dieser<br />
83
INSPIRATION<br />
beiden beachtenswerten Ergebnisse wurden sie scharf angegriffen.<br />
So wie sich die Verteidiger des Status quo zur Zeit von Hieronymus für die<br />
Septuaginta und die altlateinische Version stark machten, so setzten sie sich in<br />
Luthers Tagen für die lateinische Vulgata ein. Hieronymus hatte ganze Arbeit<br />
geleistet; seine Vulgata hatte einen Durchbruch erlebt. Die Reformatoren konnten<br />
feststellen, daß sie so stark verankert war wie die Septuaginta Jahrhunderte zuvor.<br />
Ein gutes Beispiel für die Verehrung der lateinischen Bibel sind die heftigen<br />
Reaktionen im Zusammenhang mit dem „Johannäischen Komma“ (1. Johannes<br />
5,7.8), wie wir bei der Besprechung der Handschriften in Kapitel 4 gesehen haben.<br />
Erasmus löste einen Sturm der Entrüstung aus, <strong>als</strong> er das „Komma“ aus seiner<br />
kritischen Ausgabe des griechischen Neuen Testaments entfernte. Ihm wurde<br />
unmißverständlich deutlich gemacht, daß die lateinische Vulgata Vorrang habe, egal<br />
was in alten griechischen Handschriften zu finden sei.<br />
Sogar bei der Veröffentlichung von Texten in den Origin<strong>als</strong>prachen fanden die<br />
Herausgeber Wege, um die Bedeutung des Lateinischen hervorzuheben. Als Beispiel<br />
sei die erste Ausgabe der hebräischen Bibel aus christlicher Hand genannt, die in der<br />
sogenannten Complutensis erschien, einer monumentalen mehrsprachigen Ausgabe<br />
der Bibel, die in Spanien gedruckt wurde (1514-1517). Darin wurde das Alte<br />
Testament in parallelen Spalten wiedergegeben, die den hebräischen Text, die<br />
griechische Septuaginta und die lateinische Vulgata enthielten. Der Herausgeber<br />
erklärte, daß die Vulgata die wichtigste Stelle innehabe – in der Mitte zwischen dem<br />
hebräischen und dem griechischen Text – so wie Jesus zwischen den beiden<br />
Schächern gekreuzigt worden war (Price, The Ancestry of Our English Bible 36).<br />
Die lateinische Sprache dominierte nicht nur in Gelehrtenkreisen, sie hemmte<br />
auch die Verbreitung der Heiligen Schrift in der Volkssprache. Obwohl breite<br />
Volksschichten in ganz Europa eine Bibel in ihrer eigenen Sprache verlangten,<br />
bekämpften kirchliche Instanzen leidenschaftlich die Verbreitung neuer<br />
Übersetzungen.<br />
Für seine Bemühungen, das Neue Testament in die englische Sprache zu<br />
übertragen (1525), wurde Tyndale auf dem europäischen Kontinent aufgespürt,<br />
erdrosselt und verbrannt. Seine letzten Worte hallen durch die Zeiten: „Herr, öffne<br />
dem König von England die Augen!“<br />
Das Schicksal Tyndales ist leider typisch für die Übersetzer der englischen Bibel<br />
im frühen 16. Jahrhundert. Wie ein Autor bemerkt, starb von allen Gelehrten, die die<br />
Bibel in jener Zeit ins Englische übersetzten, nur einer eines natürlichen Todes.<br />
(H. Robinson 182)<br />
Das erklärte Ziel der Reformatoren, Gottes Wort in die Hände des Volkes zu<br />
84
ÜBERSETZUNGEN<br />
legen, war für die Befürworter der lateinischen Bibel ein Schlag ins Gesicht. Tyndale<br />
brachte die Meinung der Reformatoren deutlich zum Ausdruck: „Aus Erfahrung<br />
wußte ich, daß es unmöglich ist, ein Volk von Laien in der Wahrheit zu festigen, es<br />
sei denn, die Schrift werde ihnen in ihrer Muttersprache in klarer Weise vorgelegt, so<br />
daß sie Gedankengang, Gliederung und Bedeutung des Textes erfassen können.“<br />
(H. Robinson 156)<br />
Das Ausmaß der offiziellen Unterstützung der lateinischen Vulgata ist aus den<br />
Beschlüssen der Englischen Provinzi<strong>als</strong>ynode von 1542 ersichtlich. Dam<strong>als</strong> kamen<br />
die Bischöfe überein, die anerkannte „Große Bibel“ zu überarbeiten, und zwar<br />
„gemäß jener Bibel [der Vulgata], die üblicherweise in der Englischen Kirche<br />
gelesen wird.“ (H. Robinson 179) Bischof Gardiner von Winchester gab eine Liste<br />
mit 99 lateinischen Worten heraus, die in der Originalform beibehalten werden<br />
sollten – „zur Aufrechterhaltung ihrer echten und ursprünglichen Bedeutung, sowie<br />
wegen der ihnen innewohnenden Erhabenheit“ – oder die „nur mit geringster<br />
Veränderung ins Englische zu übertragen“ seien. Die sorgfältig ausgewählte Liste<br />
schloß unter anderem folgende Worte ein: Ecclesia, Poenitentia, Pontifex,<br />
Sacramentum, Mysterium, Episcopus, Gratia, Charitas (H. Robinson 179).<br />
Dieses Projekt gelangte jedoch nie zur Durchführung, vermutlich deshalb, weil<br />
sich auch in offiziellen Kreisen patriotische, gegen die Vulgata gerichtete Tendenzen<br />
bemerkbar machten. Aus der Regierungszeit Eduards VI. (1537-1553) stammt ein<br />
Fragment (erstm<strong>als</strong> 1843 publiziert) aus der Feder von Sir John Cheke, einem<br />
Professor für griechische Sprache in Cambridge. Es enthält eine Liste von Vokabeln,<br />
die dem Lateinischen entlehnt sind und durch ursprünglich englische Begriffe<br />
ausgetauscht werden sollten. So sollte beispielsweise das Wort resurrection<br />
(Auferstehung) durch uprising, und regeneration (Wiedergeburt) durch gainbirth<br />
ersetzt werden.<br />
Die autorisierte King James Version von 1611 schlug einen Mittelweg zwischen<br />
beiden Extremen ein, neigte jedoch mehr zu der konservativen Seite. Im Jahre 1525<br />
wagte Tyndale die Verwendung des Wortes love (Liebe) in 1. Korinther 13. Die<br />
King James Übersetzer zogen dagegen das vom Lateinischen stammende Wort<br />
charity (Güte, Nächstenliebe) vor. Mehrere Jahrhunderte vergingen, bis das Wort<br />
„Liebe“ wieder in dieses bekannte Kapitel aufgenommen wurde.<br />
Die King James Version und die<br />
New King James Version<br />
Die Verteidiger des Status quo sind unermüdlich aktiv. Ob es sich um die<br />
Verwendung der Septuaginta in den Tagen von Hieronymus, der Vulgata zur Zeit der<br />
85
INSPIRATION<br />
Reformation oder der King James Version (KJV) in unseren Tagen handelt – meist<br />
sind tief religiöse Menschen geneigt, das Gewohnte dem Ursprünglichen oder<br />
Modernen vorzuziehen. Diese Haltung ist verständlich, aber zugleich bedauerlich, da<br />
sie mehr der Gefühlsregung und der Gewohnheit <strong>als</strong> sachlicher Überlegung<br />
entspringt.<br />
Eine moderne Entwicklung unter konservativen Christen ist besonders<br />
bemerkenswert, nämlich die Veröffentlichung der New King James Version (NKJV).<br />
Das dieser Version zugrundeliegende Prinzip verdeutlicht, wie dem gewohnten<br />
Wortlaut Vorrang gegenüber dem Originaltext eingeräumt wird; denn die Übersetzer<br />
einigten sich, daß der aus dem Jahre 1611 stammende Text der KJV allen früheren<br />
Handschriften vorzuziehen sei.<br />
Obwohl dabei manchmal raffiniert und spitzfindig vorgegangen wurde (wie wir<br />
noch sehen werden), verdeutlicht die bei der NKJV angewandte Methode das<br />
Spannungsverhältnis zwischen Originaltext und vertrauter Fassung. Einerseits<br />
betonen evangelikale Kreise, daß nur die Autographen, d. h. die von den Verfassern<br />
eigenhändig niedergeschriebenen Urschriften, frei von Irrtümern seien und daß man<br />
deshalb so nahe wie möglich am Original bleiben solle. Wenn es aber darum geht,<br />
die vertrauten Formulierungen der KJV in die NKJV hinüberzuretten, tritt dieses<br />
Anliegen in den Hintergrund.<br />
Meines Wissens ist die NKJV die einzige bedeutende englische<br />
Bibelübersetzung, die sich im Text den alten Handschriften völlig verschloß. Die aus<br />
alten Quellen stammenden Textvarianten finden nur in den Fußnoten Beachtung.<br />
Genau genommen stützt sich die NKJV <strong>als</strong>o auf den griechischen Text, der der alten<br />
KJV zugrundelag (vor allem auf die dritte Ausgabe der Erasmus-Bibel, den<br />
sogenannten textus receptus oder anerkannten Text) und benutzt ihn so, <strong>als</strong> handle es<br />
sich dabei um eine Original-Handschrift.<br />
Um das Vorgehen der Übersetzer und die Konsequenz daraus besser verstehen zu<br />
können, müssen wir die beiden methodischen Möglichkeiten kennen, die jedem<br />
Übersetzer oder Herausgeber einer „kritischen“ Textausgabe zur Verfügung stehen.<br />
Fachtechnisch kann er nämlich wählen, ob er einen Basistext oder einen Auswahltext<br />
herausgeben möchte.<br />
Bei einem Basistext stützt sich die Neuausgabe auf eine bestimmte Handschrift.<br />
Der Herausgeber verändert diesen Basistext nicht, sondern übernimmt ihn, wie er ist.<br />
Alle Abweichungen von anderen Handschriften – einschließlich Streichungen,<br />
Zusätze oder Textumstellungen – werden in den Fußnoten erwähnt. Solche Texte<br />
erfordern ein hohes Maß an Sachkenntnis von seiten der Leser, da sie (und nicht die<br />
Herausgeber) bestimmen, ob irgendeine der in den Fußnoten erwähnten<br />
86
ÜBERSETZUNGEN<br />
Abweichungen bedeutsamer ist <strong>als</strong> der Basistext selbst. Oft wird ein Basistext für<br />
eine kritische Ausgabe ausgewählt, wenn ein Einzelmanuskript von hoher Qualität<br />
zur Verfügung steht. Der “kritische” hebräische Standardtext, die von den<br />
Bibelgesellschaften publizierte Biblia Hebraica Stuttgartensia, kam auf diese Weise<br />
zustande. Ihr Basistext ist das Leningrader Manuskript B 19a aus dem Jahr 1009 n.<br />
Chr. Sämtliche Abweichungen von anderen Quellen erscheinen <strong>als</strong> „kritischer<br />
Apparat “ in den Fußnoten.<br />
Bei einem Auswahltext dagegen wird kein Einzelmanuskript in seiner Gesamtheit<br />
<strong>als</strong> Haupttext gedruckt. Stattdessen erstellen die Herausgeber einen eigenen Text auf<br />
der Grundlage der besten Varianten der jeweils besten Handschriften. Im Falle von<br />
Abweichungen bewerten die Herausgeber die verschiedenen Möglichkeiten und<br />
wählen dann, aufgrund ihrer eigenen Beurteilung, die beste Lesart aus. So<br />
formulieren sie schließlich einen einzigen, eklektischen Text, den sie aus zahlreichen<br />
verschiedenen Handschriften zusammengesetzt haben, nicht aus einer einzigen. Die<br />
Fußnoten enthalten dann die von den Herausgebern nicht berücksichtigten<br />
Textalternativen, so daß andere Experten die Situation selbst einschätzen und ihre<br />
eigene Wahl treffen können. Das bedeutet, daß sowohl Experten <strong>als</strong> auch Neulinge<br />
aus einem guten eklektischen Text Nutzen ziehen können. Letztere müssen sich<br />
allerdings ganz auf das Urteil der Herausgeber verlassen.<br />
Die „kritischen“ Standardausgaben des griechischen Neuen Testaments sind<br />
eklektische Texte; dasselbe gilt für die große Mehrzahl moderner<br />
Bibelübersetzungen, sowohl konservativer <strong>als</strong> auch liberaler Provenienz. Die<br />
eklektische Methode wurde auch von Erasmus bei seiner dritten Ausgabe des<br />
griechischen Neuen Testaments gewählt, die später zum textus receptus werden<br />
sollte. Somit liegt auch sie der KJV zugrunde.<br />
Dagegen erlaubte die Entscheidung, den textus receptus <strong>als</strong> Basistext zu benutzen,<br />
den Übersetzern der NKJV, alle problematischen Textstellen stehen zu lassen. Mag<br />
diese Übersetzung sprachlich gesehen auch modern anmuten, so brauchen doch die<br />
Leser der NKJV dabei nie den Verlust vertrauter Formulierungen oder Verse zu<br />
befürchten. Alles, was in der KJV steht, befindet sich auch in der NKJV. Die drei in<br />
unserem Kapitel über Handschriften besprochenen Beispiele wurden alle an ihrem<br />
Ort belassen: der Lobpreis Gottes <strong>als</strong> Abschluß des Vaterunser (Matthäus 6), die<br />
Geschichte der Ehebrecherin (Johannes 8) und das „Johannäische Komma“ (1.<br />
Johannes 5).<br />
Mit solch einem Vorgehen sind verständlicherweise all jene einverstanden, die<br />
den vertrauten Status quo gerne aufrechterhalten möchten. Im Endeffekt bedeutet das<br />
jedoch ein Einverständnis mit dem von den King James Übersetzern erzielten<br />
87
INSPIRATION<br />
Resultat, während die zu diesem Resultat führende Methode gleichzeitig verworfen<br />
wird. Die King James Übersetzer stellten nämlich einen eklektischen Text<br />
zusammen, indem sie die besten Textvarianten unter den jeweils besten<br />
Handschriften auswählten. Dabei standen ihnen aber nur relativ wenige und späte<br />
Handschriften zur Verfügung. Um so erstaunlicher ist es, daß dieser frühe<br />
eklektische Text zum Basistext erhoben wurde, der dann meist „wörtlich“ verstanden<br />
wird, <strong>als</strong> handle es sich dabei um die Bibel in ihrer Urfassung selbst.<br />
Ich zweifle keinen Augenblick daran, daß der Herr die New King James Version<br />
dazu benutzen kann, Menschen zum Reich Gottes zu führen. Aber mir mißfällt das<br />
Prinzip, auf dem diese Übersetzung beruht. Letztlich handeln die NKJV-Übersetzer<br />
so, <strong>als</strong> sei die Bibel erst im Jahre 1611 entstanden und nicht viele Jahrhunderte<br />
früher; und sie lassen deutlich erkennen, daß ihnen der gewohnte Text wichtiger ist<br />
<strong>als</strong> die Originalfassung.<br />
88<br />
Mit verschiedenen Übersetzungen leben<br />
Man mag einwenden, es sei nicht wünschenswert, Neubekehrte, Kinder oder ältere<br />
Gläubige mit Textvarianten und verschiedenen Übersetzungen zu belasten. Wer wird<br />
ihnen aber beistehen, wenn sie unsanft erwachen? Ich ziehe einen allmählichen<br />
Lernprozeß vor, der realitätsbezogen, aber auch mit dem nötigen Zuspruch<br />
verbunden ist. Ich möchte verhindern, daß meine Glaubensgeschwister irgendwann<br />
eine böse Überraschung erleben. Ich möchte auch nicht, daß sie ängstlich werden.<br />
Viele konservative Christen befürchten, daß ein Irrtum, eine ungeklärte Frage<br />
oder eine unterschiedliche Übersetzung den Glauben zerstören könnte. Adventisten<br />
sind in diesem Punkt vielleicht noch verletzlicher, da unser einzigartiges lehrmäßiges<br />
Erbe mit Hilfe der King James Version zustande kam. Falls wir einen adventistischen<br />
Schlüsseltext wie z. B. Daniel 8,14 in einer modernen Übersetzung nicht mehr<br />
wiedererkennen, werden wir dann unter dem Einfluß einer solchen Übersetzung<br />
unseren Glauben verlieren?<br />
Ich habe diese Befürchtung mehr <strong>als</strong> einmal gehört. Es gab eine Zeit, in der ich<br />
selbst etwas davon verspürte. Ich habe sie unter meinen Studenten vorgefunden und<br />
vielleicht am ausgeprägtesten bei der „alten Garde“, die den wohlbekannten „klaren<br />
Ton“ der Posaune so sehr zu schätzen weiß.<br />
Es ist wichtig, daß wir die richtigen Leute zum richtigen Zeitpunkt an unserer<br />
Seite haben. In entscheidenden Augenblicken müssen fromme und erfahrene<br />
Menschen zur Stelle sein, nicht um die Gefahren neuer Übersetzungen<br />
heraufzubeschwören, sondern um uns zu vergewissern, daß auch neue Übersetzungen<br />
eine Glaubenshilfe darstellen. Nach Jahren intensiver Arbeit mit vielen Studenten,
ÜBERSETZUNGEN<br />
die ihrerseits gewarnt worden waren und deshalb um ihren Glauben bangten, weiß<br />
ich, daß sie gefestigte Christen brauchen, die sich mit diesen „Problemen“ befaßt<br />
haben, ohne ihren Glauben zu verlieren.<br />
Innerhalb der adventistischen Tradition hat Ellen White diese Aufgabe für mich<br />
erfüllt. Obwohl sie oft genug zur Unterstützung einer engen Denk- und Lebensweise<br />
herangezogen wird, hat mich mein eigenes Studium ihres Schrifttums überzeugt, daß<br />
sie eine bemerkenswert praktisch orientierte und weitherzige Frau war, die ein feines<br />
Gespür für die Eigenheiten der Heiligen Schrift besaß. Indem sie mir half, meine<br />
Angst in Bezug auf die Schrift zu überwinden, ermöglichte sie es der Schrift,<br />
ihrerseits mein Leben zu prägen und meinen Horizont zu erweitern. Dieser Vorgang<br />
spielt sich noch immer in mir ab, und ich bin sehr dankbar dafür.<br />
Zusammenfassung: Das Ursprüngliche,<br />
das Vertraute, das Wirkungsvolle<br />
Drei Dinge sind wichtig, wenn wir von Bibelübersetzungen sprechen.<br />
Erstens möchten wir so deutlich wie möglich die authentischen, originalen Worte<br />
der Botschafter Gottes hören. Das bedeutet, daß wir auf die frühen Handschriften<br />
zurückgreifen und so nahe wie möglich an das Original herankommen wollen. Die<br />
Ehrerbietung der Moslems für den arabischen Koran und die Bevorzugung der<br />
„irrtumslosen“ Urschrift durch die Evangelikalen enthalten einen wahren Kern.<br />
Zweitens möchten wir uns das erhalten, was uns innerlich berührt hat und uns<br />
durch viele Erfahrungen wichtig geworden ist. Die klassischen Passagen der King<br />
James Version bzw. der Lutherübersetzung – einschließlich der Doxologie im<br />
Vaterunser – bleiben uns erhalten und bereichern uns. Unsere Kinder, die von<br />
modernen Übersetzungen überhäuft werden, werden wahrscheinlich nie erleben<br />
können, welchen starken Einfluß das Auswendiglernen vertrauter Bibelworte<br />
ausüben kann.<br />
Drittens soll das Wort Gottes auch wirkungsvoll sein. Hier kommen nun die<br />
neuen Übersetzungen zum Zuge. Wyklifs Worte sind heute noch gültig: „Es ist eine<br />
große Hilfe für Christen, wenn sie das Evangelium in der Sprache erforschen<br />
können, in der sie Christi Worte am besten erfassen.“ (zitiert in H. Robinson 137)<br />
Ändert sich die Sprache, müssen die Menschen das Wort Gottes in der Sprache<br />
hören, die sie verstehen können.<br />
Unabhängig davon, welche Übersetzung wir verwenden, hat Ellen White recht,<br />
wenn sie mit Nachdruck betont: „Brüder, haltet fest an der Bibel, wie sie<br />
niedergeschrieben ist [ob in Hebräisch, Griechisch (Septuaginta), Lateinisch<br />
89
INSPIRATION<br />
(Vulgata), Englisch (KJV, NKJV; New English Bible, etc.) oder in Deutsch (Luther,<br />
Elberfelder, Gute Nachricht, etc.)] und gebt eure Kritik an ihrer Zuverlässigkeit auf.<br />
Gehorcht dem Wort, und keiner von euch wird verlorengehen.“ (1 FG 17)<br />
90
Kapitel 6<br />
Göttliche Botschaft – irdisches Gefäß<br />
Das einzige, was die Archäologie je bewiesen hat, sind die vielen Irrtümer in der<br />
Bibel.“<br />
„Wenn es irgendwelche Fehler in der Bibel gibt, könnten es genauso gut tausend<br />
sein. Sollte man darin eine einzige Unwahrheit entdecken, so wäre klar, daß dieses<br />
Buch nicht von dem Gott der Wahrheit kommt.“<br />
„Der Schatz war irdischen Gefäßen anvertraut worden, aber nichtsdestoweniger<br />
ist er vom Himmel. Das Zeugnis wird mit Hilfe unvollkommener, menschlicher<br />
Worte mitgeteilt und ist dennoch das Zeugnis Gottes. Das gehorsame, gläubige<br />
Gotteskind sieht darin die Herrlichkeit einer göttlichen Macht voller Gnade und<br />
Wahrheit.“<br />
Von wem stammen diese Aussagen?<br />
Das erste Zitat über „die vielen Irrtümer in der Bibel“ stammt von einem<br />
bekannten Bibelwissenschaftler (sein Name bleibt hier am besten ungenannt), der<br />
sich mit diesen Worten an Theologiestudenten einer amerikanischen Universität<br />
wandte.<br />
Das zweite Zitat mit der Behauptung, ein biblischer Fehler wiege so schwer wie<br />
tausend, findet sich in einer Zeitschrift von John Wesley, dem englischen Reformator<br />
und Gründer der Methodistenbewegung (Curnock, hg., The Journal of the Rev. John<br />
Wesley 6:117).<br />
Die dritte Aussage, die erklärt, daß das Wort Gottes menschliche Schwachheit<br />
und göttliche Macht miteinander verbindet, ist der Einleitung zum Buch Der große<br />
Kampf von Ellen White entnommen.<br />
Wie schwer fällt es uns, die Überspitzungen der beiden erstgenannten Zitate zu<br />
vermeiden und zu einem echten „Inkarnationsmodell“ der Inspiration zu finden, wie<br />
dies in der dritten Aussage nahegelegt wird?! Es dürfte schwierig, sogar sehr<br />
schwierig sein, weil die beiden extremeren Ansichten sich gewissermaßen<br />
gegenseitig aufschaukeln. Der Professor beispielsweise, der sich so abfällig äußerte,<br />
war in einem frommen christlichen Heim aufgewachsen, wo die zweite Ansicht<br />
vertreten wurde. Aber wie ein Pendel, das zur entgegengesetzten Seite ausschlägt,<br />
entrüsten sich gottesfürchtige Christen über seine aggressiven Behauptungen<br />
bezüglich der vielen “Irrtümer“ in der Bibel so sehr, daß sie ihm nicht mehr zuhören.<br />
Daher sind sie auch nicht in der Lage, die Gründe zu sehen, die ihn zu zu einer<br />
91
INSPIRATION<br />
solchen Aussage veranlaßt haben.<br />
Dieses Kapitel verfolgt einen doppelten Zweck. Erstens soll die Bedeutung eines<br />
„Inkarnationsmodells“ der Schrift erläutert werden, wonach menschliche und<br />
göttliche Einflüsse zusammenwirken. Zweitens sollen einige Gründe angeführt<br />
werden, warum es so schwierig ist, zu einer solchen Haltung zu kommen und daran<br />
festzuhalten.<br />
Die Bedeutung eines „Inkarnationsmodells“<br />
der Heiligen Schrift<br />
Ein Inkarnationsmodell der Schrift beleuchtet zwei Hauptaspekte, nämlich die<br />
Eigenschaften des biblischen Textes und die Notwendigkeit menschlicher Erfahrung<br />
mit Gott. In der Sprache von Ellen White betrifft der erste Aspekt das „irdische<br />
Gefäß“, der zweite den darin enthaltenen „Schatz“, die „Herrlichkeit göttlicher<br />
Macht“.<br />
Was die menschliche Seite betrifft, so muß jede Lehre über die Schrift auf dem<br />
beruhen, was wir in der Bibel tatsächlich vorfinden, und nicht auf dem, was wir zu<br />
finden hoffen. Wenn unsere Theorie realistisch ist, sich <strong>als</strong>o auf die Fakten stützt, die<br />
wir in der Schrift vorfinden, werden wir beim Lesen der Bibel auch keine<br />
unangenehmen Überraschungen erleben.<br />
Eine realistische Sicht wird sich nicht nur auf den „Schatz“ und die „Herrlichkeit<br />
göttlicher Macht“ konzentrieren, sondern genauso das „irdische Gefäß“ und die<br />
„unvollkommenen, menschlichen Worte“ einschließen. Gerade tiefgläubige<br />
Menschen laufen Gefahr, den letztgenannten Gesichtspunkt zu übersehen. Man kann<br />
sich beispielsweise das Entsetzen Wesleys bei dem Gedanken vorstellen, er könnte<br />
in der Bibel auf zu viel Menschliches stoßen.<br />
Was die göttliche Seite betrifft, so muß jede Lehre über die Schrift dem göttlichen<br />
Wort erlauben, das Verlangen des Menschen nach einer Begegnung mit Gott zu<br />
stillen. Die ganze Bibel ist vom göttlichen Einfluß durchdrungen. Für den Gläubigen<br />
ist sie das Wort Gottes, nicht das Wort von Menschen. Wer das göttliche Element<br />
nicht wahrnimmt und nur das „irdische Gefäß“ und die „unvollkommenen,<br />
menschlichen Worte“ sieht, verpaßt „die Herrlichkeit der göttlichen Macht voller<br />
Gnade und Wahrheit.“<br />
Die Geschichte beweist, daß es schon immer schwierig war, eine ausgewogene<br />
Sicht der Bibel zu gewinnen, bei der menschliche und göttliche Aspekte<br />
gleichermaßen zur Geltung kommen. Weshalb? Dieser Frage wollen wir uns im<br />
folgenden zuwenden.<br />
92
GÖTTLICHE BOTSCHAFT, IRDISCHES GEFÄSS<br />
Die Herausforderung, Menschliches und<br />
Göttliches zu vereinen<br />
Seit dem späten 19. Jahrhundert befaßte sich die wissenschaftliche Theologie<br />
vorwiegend mit dem breiten Spektrum menschlicher Faktoren, die zur heutigen<br />
Gestalt der Bibel beigetragen haben. Allzu oft ließ man dabei die Einsichten derer<br />
außer acht, die vor allem die göttliche Komponente des Wortes Gottes betonen.<br />
In jüngerer Zeit jedoch haben führende Wissenschaftler ein größeres Interesse an<br />
dem bekundet, was Fundamentalisten bewegt. Obwohl man von gegenseitiger<br />
Wertschätzung noch weit entfernt ist, handelt es sich doch um ein ernsthaftes<br />
Interesse der Wissenschaftler. Andeutungsweise sind sogar Spuren aufrichtiger<br />
Sympathie erkennbar.<br />
In ihrem Buch The Bible Tells Them So, einer kritischen Analyse<br />
fundamentalistischer Denkweise, läßt Kathleen Boone eine gewisse Veränderung in<br />
der Haltung der Gelehrten erkennen. Sie zitiert zunächst James Barr, einen<br />
prominenten christlichen Theologen, der nicht gerade zimperlich mit dem<br />
Fundamentalismus umgegangen war: „Die Leute möchten gerne glauben, daß es<br />
irgendwo ein Buch gibt, das absolut wahr und genau ist, und sollte es solch ein Buch<br />
wirklich geben, so wird dies in unserer Gesellschaft wahrscheinlich die Bibel sein.“<br />
(zitiert in Boone, The Bible Tells Them So 108)<br />
Wie Boone zeigt, läßt Barr durchblicken, daß „unser Wunsch nach Gewißheiten<br />
und Büchern, die absolute Wahrheit enthalten, von manchen <strong>als</strong> unkritisch<br />
bezeichnet und <strong>als</strong> Zeichen intellektueller Schwäche und Leichtgläubigkeit gewertet<br />
wird. Ein solcher Wunsch wird deshalb dem Bereich des Naiven zugeordnet und mit<br />
ängstlichen und ungeschulten Leuten in Verbindung gebracht.“ (Boone 108)<br />
Boone selbst zitiert dann aber verständnisvoll den zeitgenössischen<br />
Literaturkritiker Frank Kermode, der behauptet, es gäbe einen Glauben, der uns alle<br />
vereint, von den Verfassern der Evangelien bis hin zu denen, die „unliebsame<br />
Textstellen wegdiskutieren oder komplizierte Denkmodelle entwerfen, um<br />
Widersprüche und Unvereinbarkeiten auf einer höheren Ebene doch noch<br />
miteinander in Einklang zu bringen.“ Nach Kermode besteht der eine verbindende<br />
Glaube in der „Überzeugung, man werde eines Tages erkennen, daß irgendwie und<br />
auf geheimnisvolle Weise alles in einem inneren Zusammenhang steht.“ (zitiert in<br />
Boone 108)<br />
Das Unbehagen, mit dem wir auf diesem gemeinsamen Boden stehen, wird von<br />
Boone durch die Feststellung zum Ausdruck gebracht, Kermode habe uns „einen<br />
93
INSPIRATION<br />
Spiegel vorgehalten, in dem wir unser eigenes Bild wiedererkennen sowie das<br />
einiger entfernter Verwandter, zu denen wir uns aber lieber nicht bekennen<br />
möchten.“ Boone ist aber bereit, diese geistige Verwandtschaft zu akzeptieren und<br />
sieht eine „starke verwandtschaftliche Beziehung“ zu fundamentalistischen<br />
Bibelauslegern sowie zu gewöhnlichen Bibellesern (Boone 108).<br />
Solche Augenblicke von Offenheit und Nachdenklichkeit, so kurz und flüchtig sie<br />
in unserer selbstsicheren säkularen Welt auch sein mögen, erscheinen mir recht<br />
bedeutsam. Sie tauchen oft so unerwartet auf, wie beispielsweise bei meinem Freund<br />
an der Universität, den ich in Kapitel 1 erwähnt habe, oder bei dem modernen<br />
atheistischen Juden namens Abraham Gordon aus Chaim Potoks Buch The Promise,<br />
der in einem unbedachten Moment sagte: „Manchmal wünschte ich mir, es gäbe<br />
wirklich einen persönlichen Gott!“ (Potok, The Promise 298)<br />
Ich denke auch an meine Sitznachbarin auf einem Flug von Europa nach Amerika,<br />
eine gebildete schottische Dame, verheiratet mit einem frommen katholischen<br />
Anwalt, die früher zu den Presbyterianern gehört hatte, nun aber Agnostikerin war.<br />
Wir unterhielten uns über Religion. „Es beeindruckt mich, daß Sie einen so<br />
einfachen Glauben haben,“ meinte sie im Gespräch und fügte rasch hinzu: „Ich<br />
meine das <strong>als</strong> Kompliment“ – wußte sie doch, daß man eine solche Bemerkung<br />
normalerweise nicht <strong>als</strong> Kompliment auffaßt. „Ich wünschte, Sie könnten mit<br />
meinem Mann sprechen,“ sagte sie, „er ist nämlich auch gläubig.“<br />
Ein solcher, gelegentlicher Anflug von Nachdenklichkeit bedeutet natürlich noch<br />
lange kein wirkliches Bemühen der Gelehrten, das Potential eines biblischen<br />
Inkarnationsmodells, das menschliche und göttliche Elemente vereint, ernsthaft zu<br />
prüfen. Können wir sehen und glauben, d. h. das menschliche Element erkennen und<br />
gleichzeitig an den göttlichen Einfluß glauben? Oder müssen wir zwischen diesen<br />
beiden Alternativen wählen?<br />
Ich bin überzeugt, daß es möglich ist, die menschliche Komponente klar zu<br />
erkennen und trotzdem an das göttliche Wirken zu glauben. Aber das ist eine<br />
gewaltige Herausforderung. Der folgende Abschnitt soll deutlich machen, weshalb<br />
das so schwierig ist.<br />
94<br />
Menschliche Reaktion auf göttliche Autorität<br />
An der Wurzel des Problems steht meiner Ansicht nach die Frage, in welchem<br />
Verhältnis der Mensch zur Autorität steht. Nach meinem Verständnis – und das<br />
beruht im Wesentlichen auf den späteren Aussagen von Ellen White zu diesem<br />
Thema – werden Geschöpfe in einer vollkommenen Welt ständig durch das Wissen<br />
um die Güte Gottes überzeugt. Sie werden nicht durch die Androhung von Gottes
GÖTTLICHE BOTSCHAFT, IRDISCHES GEFÄSS<br />
Macht und durch seine übermächtige Autorität gezwungen. Mit anderen Worten,<br />
Motivation kommt von innen und auf natürliche Weise zustande, nicht durch äußeren<br />
Druck. Diese Sicht wird durch einen wichtigen Abschnitt aus dem Buch Das bessere<br />
Leben gestützt: „Im Himmel [wird] nichts unter gesetzlichem Zwang getan. Als<br />
Satan sich gegen Gott auflehnte, wurde den Engeln zum ersten Mal bewußt, daß es<br />
überhaupt ein Gesetz gab. Vorher hatten sie sich darüber keine Gedanken gemacht,<br />
denn sie dienen Gott nicht wie Knechte, sondern wie Söhne. Sie leben in völliger<br />
Übereinstimmung mit ihrem Schöpfer und gehorchen ihm gern. Die Liebe zu Gott<br />
macht ihnen ihren Dienst zur Freude.“ (BL 102)<br />
Seit dem Aufkommen der Sünde sind die Menschen jedoch geneigt, die Autorität<br />
Gottes <strong>als</strong> absolut, zwingend und willkürlich anzusehen. Aufgrund meiner eigenen<br />
Beobachtungen komme ich zu dem Schluß, daß wir Menschen dazu neigen, jede<br />
Autorität in diesem Sinne zu bewerten. In diesem Zusammenhang verwenden wir<br />
dann gern den Ausdruck autoritär. Wenn wir jemanden <strong>als</strong> autoritär bezeichnen,<br />
wollen wir damit sagen, daß die entsprechende Person keine Ratschläge wünscht,<br />
daß sie selbstherrlich handelt und ihre Autorität voll ausspielt, um die eigene<br />
Position durchzusetzen.<br />
In einem autoritären System gehorchen wir, weil wir die herrschende Instanz <strong>als</strong><br />
Machtfaktor sehen, nicht weil wir ihren Forderungen zustimmen. In einer solchen<br />
Struktur kann die Macht der Autorität auf zweierlei Weise untergraben werden: (1)<br />
dadurch, daß die herrschende Instanz selbst Fehler und Schwächen aufweist, und (2)<br />
dadurch, daß die Untergebenen sich die Freiheit herausnehmen, die gestellten<br />
Forderungen zu beurteilen, zu kritisieren oder einfach zu ignorieren. In einem durch<br />
und durch autoritären Gefüge liefern solche Freiheiten bereits den Beweis für das<br />
Versagen der herrschenden Instanz. Mit anderen Worten, wenn eine autoritäre<br />
Person Freiheit zuläßt, anstatt Gehorsam zu fordern, ist das bereits ein Zeichen<br />
verhängnisvoller Schwäche. Sollte nämlich in einem auf Angst beruhenden<br />
Machtsystem die Furcht verschwinden, wird zwangsläufig auch der Gehorsam<br />
verweigert werden.<br />
Unsere Haltung gegenüber Autoritäten können wir testen, indem wir<br />
beispielsweise an unsere Haltung zu Geschwindigkeitsbeschränkungen und<br />
Steuererklärungen denken. Halten wir uns an die Verkehrvorschriften aus Gründen<br />
der Sicherheit oder weil wir Strafzettel oder den Verlust des Führerscheins fürchten?<br />
Bezahlen wir Steuern, weil wir unser Land lieben und die staatlichen<br />
Dienstleistungen schätzen oder weil wir Bußgeldern und Gefängnisstrafen entgehen<br />
möchten? Und wann haben wir das letzte Mal von Leuten gehört, die aus Liebe zu<br />
ihrem Vaterland, ihrem Staat oder ihrer Stadt mehr Steuern bezahlt haben <strong>als</strong><br />
95
INSPIRATION<br />
unbedingt nötig?<br />
Obwohl wir Gesetze durchaus <strong>als</strong> gut und wichtig einschätzen, verhalten wir uns<br />
oft so, <strong>als</strong> seien sie willkürlich. Und alles, was uns willkürlich erscheint, kann uns<br />
l eicht i r r i t i e r e n o d e r ve r ä r ge r n – u n d d a s gi l t n i c h t n u r f ü r<br />
Geschwindigkeitsbeschränkungen und Steuerbescheide. Wenn Eltern oder Lehrer<br />
ihre Autorität willkürlich einsetzen, müssen sie mit einer ähnlichen Reaktion<br />
rechnen.<br />
Ellen White sagte einmal zu Erziehern: „Willkür in Wort und Tat stachelt die<br />
schlimmsten Leidenschaften des menschlichen Herzens auf.“ (2 Sch 373) Wenn ich<br />
mir meine eigenen Neigungen im Hinblick auf Menschen oder Institutionen vor<br />
Augen halte, weiß ich genau, was sie meint.<br />
Im politischen Bereich führt Willkürherrschaft zu blinder Verehrung – um dann<br />
in gewalttätige Auflehnung umzuschlagen. In demokratischen Staaten erscheinen uns<br />
politische Führer im allgemeinen <strong>als</strong> menschlicher und umgänglicher. Wir sind ihren<br />
Schwächen gegenüber nachsichtiger und meinen, daß sie eher bereit sind, sich von<br />
anderen beraten zu lassen. Insgesamt basiert unser Autoritätsverständnis auf Güte<br />
und nicht auf Macht. Wir verleihen Politikern Macht, weil wir sie für gute Menschen<br />
halten, die die Macht nicht an sich reißen und uns dann sagen, was gut ist. Und weil<br />
wir unsere Meinung über die politischen Führer ändern können, neigen wir weniger<br />
dazu, sie zu vergöttern oder offen gegen sie zu revoltieren. So vermeiden wir die<br />
starken Schwankungen zwischen absolutem Gehorsam und totaler Anarchie, wie sie<br />
in manchen Teilen unserer Welt vorherrschen.<br />
Im Hinblick auf die Schrift sehe ich auffällige Parallelen zwischen extremen<br />
Ansichten über biblische Autorität und Ansichten über Autorität im allgemeinen.<br />
Man sieht die Heilige Schrift entweder <strong>als</strong> das absolute und vollkommene Wort<br />
Gottes an oder lediglich <strong>als</strong> ein Buch von Menschen ohne irgendeine höhere<br />
Autorität. Sobald wir dem menschlichen Element einen gewissen Platz einräumen,<br />
führt dies zu einer Gefährdung ihrer göttlichen Autorität.<br />
Wird die Bibel <strong>als</strong> autoritäres Buch angesehen, kann ihr Einfluß durch dieselben<br />
beiden Faktoren geschwächt werden, wie das bei jeder Autorität der Fall ist, nämlich<br />
(1) durch das Vorhandensein von Fehlern und Irrtümern und (2) durch den<br />
Freiheitsanspruch der Menschen, die selber bestimmen wollen, inwieweit sie den<br />
biblischen Forderungen entsprechen oder nicht. Wir werden noch sehen, wie diese<br />
beiden Möglichkeiten, die Autorität der Schrift zu untergraben, den Vertretern<br />
extremer Ansichten in die Hände spielen. Außerdem werden wir uns bemühen,<br />
biblische Autorität so zu definieren, daß weder die Unvollkommenheiten des<br />
„irdischen Gefäßes“ noch unsere Freiheit im Umgang damit ihren Einfluß in unserem<br />
96
GÖTTLICHE BOTSCHAFT, IRDISCHES GEFÄSS<br />
Leben schwächen.<br />
Einige Beispiele und Erläuterungen können uns zu einem besseren Verständnis<br />
verhelfen, wie der autoritäre Alles-oder-Nichts-Anspruch unser Leben und Denken<br />
beeinflußt.<br />
Einer meiner Kollegen erzählte ein Erlebnis aus dem Unterricht in einem anderen<br />
Kulturkreis, das die autoritätsbezogene Alles-oder-Nichts-Haltung treffend illustriert.<br />
Er unterrichtete eine Gruppe von Predigern, die sich <strong>als</strong> hochmotivierte und fähige<br />
Studenten erwiesen und bei Prüfungen meist einen Punktestand von fast 90%<br />
erreichten.<br />
Als einmal ein Test zurückgegeben wurde, hörte man ein unzufriedenes<br />
Gemurmel, das sich auf eine der Fragen bezog. Die Hälfte der Studenten hatte diese<br />
Frage nicht beantworten können. Als mein Kollege erkannte, daß die Frage nicht<br />
eindeutig genug formuliert war, gab er der Klasse bekannt, er werde diese Frage aus<br />
dem Test entfernen und bei der Benotung nicht berücksichtigen. In Nordamerika gilt<br />
dies <strong>als</strong> faires Vorgehen – ein Lehrer hätte auch nichts zu lachen, wenn er sich<br />
anders verhielte.<br />
In dieser nicht-westlichen Kultur, die stärker autoritär geprägt war, wußten die<br />
Studenten die Anpassungsfähigkeit des Lehrers aber nicht zu schätzen. Am nächsten<br />
Tag brachten drei Studenten dem Übersetzer ihre Bedenken zum Ausdruck. „Unser<br />
Lehrer wird seine Autorität untergraben, wenn er das noch einmal macht.“ Es<br />
gehörte zum Wesen ihrer Kultur, daß Lehrer (und vermutlich Autoritätspersonen<br />
ganz allgemein) immer recht haben, auch wenn sie im Unrecht sind!<br />
Innerhalb eines Systems, das auf Güte und nicht auf Macht gegründet ist, nutzen<br />
Studenten ihre Freiheit, die gelegentlichen Fehler ihres Lehrers zu korrigieren.<br />
Solange es dabei um sporadische Fehler geht, wird das Vertrauen der Studenten in<br />
ihren Lehrer und seine guten Absichten verstärkt. (Allerdings führen auch in einem<br />
solchen System zu viele Fehler zu einem Vertrauensverlust.) Studenten in einem<br />
autoritären Umfeld werden dagegen lieber mit dem stillen Verdacht leben, der Lehrer<br />
könnte einen Irrtum begangen haben, <strong>als</strong> mit einem öffentlichen Eingeständnis seines<br />
Irrtums. Wenn ein Lehrer in seinem Unterricht eigene Schwächen eingesteht,<br />
untergräbt er damit seine Autorität. Wie können ihm die Studenten dann noch<br />
Vertrauen entgegenbringen?<br />
Ich erinnere mich an den Einwand eines aufgebrachten Studenten während der<br />
Nachbesprechung einer Klausur. Als wir die Prüfungsfragen miteinander<br />
durchgingen, kamen wir zu einer Frage, die nahezu von allen Kursteilnehmern<br />
beanstandet wurde. Ich bat um ein Handzeichen, und es stellte sich heraus, daß diese<br />
Frage von fast allen f<strong>als</strong>ch oder gar nicht beantwortet worden war. Ich gab sofort<br />
97
INSPIRATION<br />
nach und nahm diese Frage aus der Bewertung heraus. Aber ein Student in der ersten<br />
Reihe machte aus seiner Unzufriedenheit kein Hehl. Schließlich fragte ich ihn,<br />
worüber er sich aufrege. Ich hatte ja bereits zugegeben, daß die Frage schlecht war,<br />
und hatte sie aus der Bewertung herausgenommen.<br />
„Das ist es ja gerade,“ sagte er. „Du bist der Lehrer. Von Dir erwartet man keine<br />
Fehler!“ Für ihn hatten Respektpersonen immer recht, auch wenn sie Fehler begehen.<br />
Während ich <strong>als</strong> Austauschlehrer am Seminar Marienhöhe in Deutschland tätig war,<br />
wurden mir immer wieder die Unterschiede in den Kulturen und Persönlichkeiten<br />
bewußt. In Amerika fragten die Studenten: „Was hat das mit meinem Leben zu tun?“<br />
In Deutschland lautete die Frage: „Wohin gehört das in meiner Gliederung?“<br />
Amerikaner schätzen den Zweck höher <strong>als</strong> die Ordnung. Für die Deutschen bildet<br />
Ordnung die Grundlage von Sinn und Zweck.<br />
In diesem Zusammenhang denke ich an ein Gespräch, das ich mit Dr. Walter<br />
Harrelson, dem Dekan der <strong>Theologische</strong>n Fakultät der Vanderbilt Universität, führte.<br />
Als ich mich nach den dortigen Studienmöglichkeiten erkundigte, bat ich ihn um eine<br />
Beurteilung europäischer und amerikanischer Studenten in bezug auf ihre<br />
Vorbildung und ihre Leistungen.<br />
„Europäische Studenten bringen eine erstaunliche Fähigkeit mit, ein Fachgebiet<br />
zu beherrschen,“ sagte er. „Im allgemeinen haben sie jedoch ein weniger<br />
ausgeprägtes Gefühl für Relevanz und praktische Anwendbarkeit. Demgegenüber<br />
neigen amerikanische Studenten bezüglich der Stoffbeherrschung zu größerer<br />
Nachlässigkeit. Aber sie spüren schnell, was relevant und von praktischer Bedeutung<br />
ist. Deshalb,“ fügte Dr. Harrelson lächelnd hinzu, „bemühen wir uns, bei den<br />
Amerikanern die Schraube fester anzuziehen und sie bei den Europäern etwas zu<br />
lockern!“<br />
Während ich in Deutschland lebte, führte ich viele angeregte und manchmal<br />
erheiternde Diskussionen mit meinen deutschen Freunden über die Unterschiede<br />
zwischen Amerikanern und Deutschen. Und da ich auch ungefähr drei Jahre in<br />
Schottland verbracht hatte, ließ ich mich öfter zu Vergleichen zwischen Briten,<br />
Deutschen und Amerikanern hinreißen. Meistens konnte ich mich mit meinen<br />
deutschen Freunden problemlos auf die typischen Eigenschaften einigen: Die Briten<br />
sind höflich und zurückhaltend, die Deutschen sind gründlich und energisch, die<br />
Amerikaner sind so pragmatisch, daß es an Nachlässigkeit grenzt, und so herzlich,<br />
daß sie fast schon unehrlich erscheinen.<br />
Wenn wir die Einstellungen zur Bibel untersuchen, ist es zunächst einmal<br />
bemerkenswert, daß die radikale Bibelkritik in Deutschland entstanden ist.<br />
Gleichzeitig sind einige der standhaftesten Verteidiger der Bibel ebenfalls deutscher<br />
98
GÖTTLICHE BOTSCHAFT, IRDISCHES GEFÄSS<br />
Herkunft. Nicht nur die Reformation, sondern auch die bekanntesten pietistischen<br />
Bewegungen nahmen in Deutschland ihren Anfang. Man kann behaupten, daß die<br />
Deutschen stets gründliche Arbeit leisten. Die „Alles-oder-Nichts“-Haltung ist in<br />
mehrfacher Hinsicht typisch für sie.<br />
Ich habe gehört, wie erfahrene britische und deutsche Professoren die Stärken und<br />
Schwächen der Universitätssysteme beider Länder in bezug auf Theologie und<br />
biblische Studien einschätzten. In einem Gespräch bat ich einen führenden deutschen<br />
Bibelgelehrten, dam<strong>als</strong> Gastprofessor an einer amerikanischen Universität, um seine<br />
Beurteilung des britischen Lehrsystems. Ich dachte dam<strong>als</strong> gerade darüber nach,<br />
meine Studien an der Universität von Edinburgh fortzusetzen.<br />
„Ah,“ rief er aus, „die Briten sind immer 60 Jahre hinter der Zeit zurück. Das<br />
fortschrittlichste Land ist Deutschland. Aber,“ fügte er etwas vorsichtiger hinzu,<br />
„wenn Sie an dem interessiert sind, was Bestand hat und die Zeiten überdauert, dann<br />
ist Großbritannien der richtige Ort für Sie. Was heute in Deutschland Geltung hat, so<br />
faszinierend es auch sein mag, wird wahrscheinlich in kurzer Zeit obsolet sein.“<br />
Ich wählte Edinburgh. Dort war ich belustigt, aber nicht überrascht, schottische<br />
Professoren sagen zu hören: „Die Theologie wurde in Deutschland geboren und in<br />
Schottland korrigiert.“<br />
Wegen des internationalen Charakters der Adventgemeinde beeinflussen diese<br />
länderspezifischen Unterschiede direkt unsere Haltung zur Bibel. Unter deutschen<br />
Adventisten fand ich zum Beispiel wenig Begeisterung für ein Inkarnationsmodell<br />
der Inspiration. Sie konnten damit nicht viel anfangen. Es schien logischer, die<br />
Schrift entweder <strong>als</strong> ganz menschlich (im Sinne ihrer radikalen Kritiker) oder aber<br />
<strong>als</strong> ganz göttlich (im Sinne ihrer standhaften Verteidiger) zu betrachten.<br />
Meiner Meinung nach kann die eher pragmatische Haltung von Ellen White in<br />
einem solchen Umfeld nur schwer Gehör finden. Ein deutscher Bruder meinte<br />
offenherzig, der Herr habe die Adventgemeinde gerade in Amerika entstehen lassen,<br />
weil Amerikaner einfach anpassungsfähiger seien für die unterschiedlichen<br />
Bedürfnisse des Weltfeldes.<br />
Amerikanische adventistische Theologen können nach meiner Ansicht einen<br />
wichtigen Beitrag leisten, indem sie ein echtes Inkarnationsmodell der Inspiration<br />
entwickeln, das die beiden dogmatischen Extreme vermeidet.<br />
Doch gerade wenn wir es mit einseitigen Positionen zu tun haben und dem einem<br />
Extrem wirkungsvoll entgegentreten wollen, sehen wir uns mitunter gezwungen, das<br />
genaue Gegenteil zu vertreten. Das trifft in gewisser Weise auch auf die beiden<br />
Abschnitte zu, die auf den ersten Seiten des Buches Für die Gemeinde geschrieben<br />
(Band 1) zusammengestellt wurden.<br />
99
INSPIRATION<br />
Ein Student lenkte meine Aufmerksamkeit auf den unterschiedlichen Charakter<br />
dieser beiden Abschnitte. Ich hatte nicht bemerkt, daß der erste Teil (S. 15-18) das<br />
göttliche Element der Schrift und der zweite (S. 19-21) das menschliche Element<br />
hervorhebt. Seither habe ich beobachtet, daß meine Studenten, je nach Temperament,<br />
Ausbildung und Persönlichkeit dem einen oder anderen Abschnitt den Vorzug geben.<br />
Zuweilen haben sie sogar mit dem weniger bevorzugten Teil gewisse<br />
Schwierigkeiten.<br />
Im ersten Teil finden wir folgende Aussagen bezüglich der göttlichen Autorität des<br />
Wortes:<br />
„Ich nehme die Bibel schlicht <strong>als</strong> das, was sie ist: das inspirierte Wort.“<br />
„Brüder, beteiligt euch niem<strong>als</strong> daran, die Bibel zu kritisieren.“<br />
„Brüder, haltet fest an der Bibel, wie sie niedergeschrieben ist, und gebt eure<br />
Kritik an ihrer Zuverlässigkeit auf. Gehorcht dem Wort, und keiner von euch wird<br />
verlorengehen.“<br />
Im zweiten Teil finden wir Schlüsselsätze, die die menschliche Komponente der<br />
Schrift in den Vordergrund stellen:<br />
„Nicht immer finden wir in der Schrift vollkommene Ordnung oder offenbare<br />
Einheit.“<br />
„Alles aber, was menschlich ist, ist auch unvollkommen.“<br />
„Die Bibel wurde von inspirierten Menschen geschrieben, aber es ist nicht die<br />
Art, wie Gott seine Gedanken ausdrückt, sondern wie Menschen es tun.“<br />
„Gott hat sich in der Bibel nicht in Worten, Logik und Rhetorik einem Test<br />
unterziehen wollen.“<br />
„Nicht die Worte der Bibel sind inspiriert, sondern die Menschen.“<br />
Der erste Teil betont unmißverständlich die göttliche Autorität der Bibel. Er<br />
wendet sich an diejenigen, die befürchten, ihre Welt könnte zusammenbrechen, weil<br />
jemand die Schrift „kritisiert“ hat. Deshalb finden wir hier eine nachdrückliche<br />
Verteidigung der biblischen Autorität.<br />
Der zweite Teil zeigt, daß ungeachtet aller Fragen, die die menschliche Seite der<br />
Schrift betreffen, ihre Autorität unangetastet bleibt. Die hier gestellten Fragen<br />
ermöglichen es uns, in der Schrift gewisse menschliche „Unzulänglichkeiten“ zu<br />
erkennen. Was diesen zweiten Abschnitt auszeichnet und zu einem Meisterstück<br />
macht, ist Ellen Whites Fähigkeit, eine realistische Einschätzung mit einer positiven<br />
und ermutigenden Haltung zu verbinden.<br />
Eine geistlich gesunde Kirche wird Vertretern beider Seiten Gehör schenken:<br />
denen, die die göttliche Seite der Schrift betonen und anderen, die ihre menschliche<br />
Seite sehen. Unterschiedliche Betonungen werden nicht ausbleiben, solange jeder zu<br />
100
GÖTTLICHE BOTSCHAFT, IRDISCHES GEFÄSS<br />
erklären versucht, weshalb seine Perspektive die angemessenere ist. So sollte es auch<br />
sein – solange uns allen dabei bewußt ist, daß unsere eigene Auffassung nicht<br />
unbedingt für die gesamte Weltkirche ausreichen muß. Manchmal versuchen<br />
kirchliche Verantwortungsträger die Diskussion zu beenden und die berechtigte<br />
Vielfalt von Meinungen, die es in jeder Gruppe von Menschen gibt, zu unterbinden.<br />
Ich vermute, daß Leute, die ihre Sicht der Bibel anderen in autoritärer Weise<br />
aufdrängen möchten, ein ähnlich einseitiges Verständnis von Autorität im<br />
allgemeinen haben.<br />
Aus der Geschichte der Adventgemeinde kann G. I. Butler <strong>als</strong> Beispiel dafür<br />
herangezogen werden. Er war eine starke Persönlichkeit und erwies der Gemeinde<br />
während seiner langen Amtszeit wertvolle Dienste. Aber seine Ansichten über<br />
Autorität brachten ihn wiederholt in Schwierigkeiten. Drei Beispiele seien dafür<br />
genannt: (1) seine Ansicht über James und Ellen White, (2) die Einschätzung seiner<br />
eigenen Autorität, <strong>als</strong> er sich in leitender Stellung befand, und (3) seine Sicht der<br />
Heiligen Schrift. In allen drei Beispielen zeigt sich das gleiche Verständnis von<br />
Autorität.<br />
Als Präsident der Generalkonferenz veröffentlichte Butler 1873 ein Traktat über<br />
Leiterschaft, in dem er James und Ellen White <strong>als</strong> unanfechtbare Führer der<br />
Adventisten rühmte. In kirchenpolitischen Fragen sollte dem Urteil von James White<br />
Vorrang eingeräumt und seine Anweisungen sollten so befolgt werden, „<strong>als</strong> wären es<br />
unsere eigenen“ (zitiert in Schwarz, Light Bearers to the Remnant 267.268)<br />
Obwohl die Generalkonferenz Butlers Vorstellungen übernahm, waren die Whites<br />
nicht damit einverstanden. In Reaktion auf ein tadelndes Wort von Ellen White<br />
veröffentlichte Butler ein beachtenswertes Bekenntnis im Review and Herald, in dem<br />
er seinen Fehler zugab. Außerdem brachte er bei der Generalkonferenz einen Antrag<br />
ein, der die frühere Zustimmung zu seinem Traktat rückgängig machen sollte. Kurz<br />
gesagt: Als eine von ihm anerkannte Autorität ihn aufforderte, weniger autoritär sein,<br />
gehorchte er ihr ohne langes Zögern!<br />
Doch Butler ließ trotz seines „Bekenntnisses“ weiterhin autoritäre Züge erkennen.<br />
Ellen White sandte 1885 ein erstaunlich freimütiges Schreiben an G. I. Butler und<br />
S. N. Haskell, in dem sie die beiden dringend bat, den ihnen unterstellten<br />
Mitarbeitern mehr Freiheit zu gewähren. „Ich habe mich in dieser Angelegenheit<br />
schon oft an euch gewandt,“ schrieb sie, „aber ich sehe keine Änderung eures<br />
Verhaltens. ... Gebt anderen verantwortungsvolle Aufgaben, die Planung und<br />
Urteilskraft erfordern. Erzieht sie nicht dazu, sich auf euer Urteil zu verlassen. Junge<br />
Menschen müssen zu eigenständigen Denkern erzogen werden.“ (TM 302.303)<br />
Nach Ellen White wurde die Gemeinde durch Butlers autoritären Führungsstil<br />
101
INSPIRATION<br />
notwendiger Talente beraubt. „Wir haben Männer unter uns, die weitsichtig, weise<br />
und zuverlässig sein könnten, und die es nicht sind, weil sie dazu erzogen wurden,<br />
die Pläne anderer Menschen auszuführen.“ (TM 303)<br />
Auch im Umgang mit der Schrift zeigte Butler dieselbe unnachgiebige Haltung.<br />
Unmittelbar vor der Generalkonferenz von 1888 sandte er ein Rundschreiben an<br />
seine Mitarbeiter, in dem er behauptete, Adventisten hätten sich „nie auf eine<br />
biblische Auslegung festgelegt, die sie später zurücknehmen mußten.“ (zitiert in<br />
Knight, Angry Saints 15) Verständlicherweise war Butler schockiert, <strong>als</strong> A. T. Jones<br />
und E. J. Waggoner eine neue Auslegung von Galater 3 vorschlugen.<br />
Für Butler war jede rechtmäßig eingesetzte Autorität praktisch eine absolute<br />
Autorität. Die drei oben erwähnten Beispiele haben einen gemeinsamen Nenner: Die<br />
fraglose, unbedingte Anerkennung von Autorität. Das war ursprünglich auch seine<br />
Haltung gegenüber der Autorität der Whites. Als er selbst in leitender Position war,<br />
erwartete er unbedingten Gehorsam. Und in bezug auf die Bibel schien er den<br />
Standpunkt zu vertreten, daß nicht nur die Schrift unfehlbar sei, sondern auch die<br />
traditionelle adventistische Auslegung. Er hatte deshalb allen Grund, verblüfft zu<br />
sein, <strong>als</strong> Ellen White ausrief: „Gott und der Himmel sind allein unfehlbar!“ (CWE<br />
37)<br />
Diese autoritäre Ausrichtung wirkt dem Inkarnationsmodell der Schrift entgegen.<br />
Wenn die menschliche Seite allzu deutlich hervortritt, wenn die Vielfältigkeit der<br />
Schrift den Anschein erweckt, die biblischen Forderungen seien unklar und der<br />
Mensch könne sich frei aussuchen, ob er gehorchen will oder nicht, dann steht die<br />
Autorität der Bibel auf dem Spiel. Das ist eine ernüchternde Aussicht.<br />
Unser nächstes Kapitel ist deshalb von entscheidender Bedeutung. Es behandelt<br />
das Zusammenwirken des menschlichen Verstandes mit der göttlichen Offenbarung<br />
und betont die Wichtigkeit beider. Es gilt, den menschlichen Verstand mit der<br />
göttlichen Offenbarung so zu integrieren, daß beide Faktoren in der Schrift ernst<br />
genommen werden. Auch wenn das nicht einfach ist, müssen wir doch anerkennen,<br />
daß uns der himmlische Schatz in irdischen Gefäßen vermittelt wird. Auf<br />
geheimnisvolle Weise vereint Gottes Wort das menschliche mit dem göttlichen<br />
Element. Wir dürfen unserer natürlichen Neigung zu der einen oder anderen<br />
(Extrem-)Position nicht erlauben, die entscheidende Bedeutung beider Faktoren zu<br />
übersehen.<br />
102
Kapitel 7<br />
Gottes Wort:<br />
Beispielsammlung oder Regelwerk?<br />
Ein Gespräch im Anschluß an einen Gottesdienst bietet die passende Einführung<br />
zu diesem Kapitel.<br />
Ein Mann kam auf mich zu und sagte: „Wie ich höre, wird die <strong>Theologische</strong><br />
Fakultät des Walla Walla College bald damit beginnen, Frauen zum Predigtamt<br />
einzusegnen.“ Er hatte dies einem Artikel über Frauenordination entnommen, der in<br />
der Zeitschrift ehemaliger Studenten des Walla Walla College erschienen war.<br />
Aufgrund von Interviews mit Lehrern der <strong>Theologische</strong>n Abteilung brachte der<br />
Artikel die Ansicht des Lehrkörpers zum Ausdruck, daß Frauen ordiniert werden<br />
sollten. Jeder der Befragten hatte jedoch hinzugefügt: „...wenn die Gemeinschaft<br />
dazu bereit ist.“<br />
„Ordination gehört nicht in den Verantwortungsbereich der <strong>Theologische</strong>n<br />
Fakultät,“ erwiderte ich. „Aber wir sind tatsächlich der Meinung, unsere<br />
Gemeinschaft sollte in dieser Richtung vorangehen, wenigstens hier in<br />
Nordamerika.“<br />
„Aber was macht ihr mit dem Rat von Paulus,“ fragte er, „daß Frauen schweigen<br />
und nicht über den Mann Herr sein sollen?“ (1. Timotheus 2,11-15)<br />
„Dieser Ratschlag muß im Licht der damaligen kulturellen Situation gesehen<br />
werden und stellt kein zeitloses Prinzip dar.“<br />
„Aber Paulus stützt seine Aussage auf die Tatsache, daß Adam vor Eva erschaffen<br />
wurde.“<br />
„Das war die Logik von Paulus, aber nicht notwendigerweise Gottes Logik,“<br />
sagte ich und erinnerte ihn an Ellen Whites Aussage: „Gott hat sich in der Bibel<br />
nicht in Worten, Logik und Rhetorik einem Test unterziehen wollen.“ (1 FG 21)<br />
„War denn Paulus nicht inspiriert?“<br />
„Natürlich war er das. Aber auch inspirierte Schreiber richteten sich stets an ihre<br />
eigene Kultur – und Kulturen ändern sich.“<br />
„Aber Gott verändert sich nicht.“<br />
Ich dachte, es sei nun Zeit, auf einige alttestamentliche Beispiele zurückzugreifen<br />
und so fragte ich ihn nach den Gesetzen über die Sklaverei (2. Mose 21,1-6).<br />
„Ich sehe nichts Verwerfliches darin.“<br />
103
INSPIRATION<br />
„Und Polygamie?“ fragte ich. „Was sollen wir mit dem Gesetz in 2. Mose 21,7-11<br />
machen, das besagt, ein Mann solle seiner ersten Frau volle eheliche Rechte<br />
gewähren, falls er eine zweite Frau heiratet? Ist das heute noch anwendbar?“<br />
„Abgesehen von Ältesten und Diakonen finde ich nichts in der Bibel, was einem<br />
Mann verbietet, mehr <strong>als</strong> eine Frau zu haben.“<br />
Etwas zermürbt von seinen selbstsicheren Antworten, entschloß ich mich zu<br />
einem weiteren Versuch: „Wie steht es mit der Blutrache? Glaubst du, daß ein Mann<br />
den gewaltsamen Tod eines nahen Verwandten rächen sollte?“ (4. Mose 35,9-28)<br />
„Wenn es die Blutrache heute gäbe,“ war die rasche Antwort, „würde uns die<br />
Erhaltung von Gesetz und Ordnung viel weniger Mühe machen.“<br />
Meines Wissens hielt dieser Bruder keine Sklaven, hatte nur eine Frau und praktizierte<br />
keine Blutrache. Und doch fühlte er sich zu der Ansicht verpflichtet, ein einmal<br />
von Gott gegebenes Gesetz müsse ewig bestehen. Für ihn war die Bibel<br />
eindeutig ein Regelwerk.<br />
In unserer heutigen Kultur ist ein Regelwerk so etwas wie ein<br />
Präzisionsinstrument. Will sich ein Bauunternehmer normgerecht verhalten, so muß<br />
er sich nach der entsprechenden Bauordnung richten. Mindestanforderungen werden<br />
klar formuliert, Spezifikationen exakt beschrieben. Der Bauunternehmer hat zwar die<br />
Möglichkeit, im Haus mehr Isoliermaterial zu verwenden oder mehr Zugänge zu<br />
schaffen <strong>als</strong> es die Vorschrift verlangt, aber nicht weniger.<br />
Bezeichnenderweise verlangt ein Regelwerk vor allem Anwendung, weniger<br />
Auslegung; exakte Erfüllung ist wichtiger <strong>als</strong> gründliches Nachdenken. Man erwartet<br />
in erster Linie die gezielte Frage des Inspektors: „Sind alle Vorschriften erfüllt?“ Die<br />
Antwort besteht dann aus einem klaren Ja oder Nein; die Regelerfüllung ist eindeutig<br />
definiert und konkret meßbar.<br />
Trifft das auch auf die Schrift zu? In gewisser Weise, ja. Aber ich glaube, es gibt<br />
einen besseren Ansatz für den Umgang mit der Bibel <strong>als</strong> Ganzes. Zwei Kernsätze<br />
sollen Ausgangspunkt für unsere weitere Diskussion sein:<br />
1. Während die Schrift zweifellos gewisse Elemente eines Regelwerks (codebook)<br />
enthält, ähnelt sie im ganzen gesehen eher einer Beispielsammlung (casebook).<br />
2. Gläubigen Menschen widerstrebt es, die Bibel <strong>als</strong> Beispielsammlung zu sehen,<br />
weil sie befürchten, dadurch die Autorität der Schrift zu untergraben.<br />
Wir wollen diese Behauptungen nacheinander betrachten und uns fragen, welche<br />
Bedeutung sie heute für unsere Gemeinde haben.<br />
104
Die Schrift: Mehr Beispielsammlung <strong>als</strong> Regelwerk<br />
GOTTES WORT<br />
Ich verdanke die Idee, die Bibel sei so etwas wie eine Beispielsammlung, einem<br />
meiner Studenten. Der Begriff entstand spontan im Rahmen einer<br />
Unterrichtsdiskussion über das biblische Gesetz. Ich bin mehr und mehr davon<br />
überzeugt, daß uns der casebook/codebook-Vergleich helfen kann, das Wesen der<br />
Heiligen Schrift besser zu verstehen.<br />
Während ein Regelwerk im Bereich des Rechts, im Handel und in der<br />
Technologie Verwendung findet, ist die Beispielsammlung ein brauchbares<br />
Instrument in der Verhaltensforschung und bei den Sozialwissenschaften. Es kann<br />
auch Daten liefern, die für Gerichtsurteile maßgebend sind. Aber anstatt eine<br />
bestimmte Verhaltensweise vorzuschreiben, wie dies bei einem Regelwerk der Fall<br />
ist, beschreibt die Beispielsammlung Fälle, in denen verschiedene Verhaltensweisen<br />
unter verschiedenen Umständen anzutreffen sind. Kein Fall kann <strong>als</strong> definitive<br />
Anweisung oder unbedingte Vorschrift für andersgeartete Fälle gelten. Aber jeder<br />
Fall ist so dargestellt, daß er demjenigen hilft, der sich in einer ähnlichen Situation<br />
befindet.<br />
In diesem Kapitel will ich anhand von Beispielen zeigen, weshalb bei der<br />
Erklärung vieler Bibelstellen das Fallbeispiel-Modell dem Regelwerk-Konzept<br />
vorzuziehen ist. Diesem Thema sind darüber hinaus zwei weitere Kapitel gewidmet:<br />
Kapitel 8 enthält eine systematische Darstellung und Begründung des Fallbeispiel-<br />
Modells vor allem im Hinblick auf Vorschriften und Gesetze. Kapitel 9 befaßt sich<br />
mit einem ausgewählten Abschnitt des Neuen Testaments (Apostelgeschichte 15), bei<br />
dem die Fallbeispiel-Methode zur Erklärung von Ereignissen geeignet erscheint, die<br />
Altes und Neues Testament miteinander verbinden.<br />
In diesen Beispielen werden uns Situationen begegnen, die mit veränderten Zeiten<br />
und Gegebenheiten zu tun haben. Dabei scheint das Fallbeispiel-Konzept den<br />
richtigen Rahmen zu bieten, um die ganze Bandbreite biblischer Aussagen zu<br />
verstehen.<br />
Gesetzestexte<br />
Die Beispiele, die ich in meinem Gespräch nach dem Gottesdienst erwähnt hatte –<br />
Sklaverei, Polygamie und Blutrache – beschreiben Gebräuche, die durch<br />
alttestamentliche Gesetzesvorschriften gestützt werden, die jedoch in unserem<br />
Jahrhundert von den meisten Christen der westlichen Welt abgelehnt werden.<br />
Schauen wir aber nach einem spezifischen biblischen Gebot, das diese Gebräuche<br />
für nicht mehr gültig erklärt, so werden wir enttäuscht. Theoretisch betrachtet hatte<br />
105
INSPIRATION<br />
der Bruder, der mich nach dem Gottesdienst ansprach, durchaus recht. Nirgends<br />
verurteilt die Bibel definitiv die Sklaverei, die Polygamie und die Blutrache.<br />
Da wir die biblischen Gesetze im nächsten Kapitel genauer betrachten werden, soll<br />
ein weiteres Beispiel an dieser Stelle genügen. Es zeigt, wie die Bibel selbst eine Art<br />
Fallbeispiel-Konzept anwendet, bei dem ein biblisches Gesetz durch veränderte<br />
Gegebenheiten aufgehoben wird.<br />
Dieses Beispiel betrifft die Beziehung eines Mannes zu seiner Schwägerin. Im<br />
Katalog verbotener geschlechtlicher Beziehungen wird in 3. Mose 18,16 die<br />
eindeutige Forderung erhoben, ein Mann solle mit der Frau seines Bruders nicht<br />
geschlechtlich verkehren. Auf dieses Gesetz stützte sich Johannes der Täufer, <strong>als</strong> er<br />
Herodes Antipas zurechtwies (Matthäus 14,3.4).<br />
Sollte jedoch ein Mann ohne männliche Nachkommen sterben, wird in 5. Mose<br />
25,5-10 seinem Bruder sogar geboten, seine Schwägerin zu heiraten, um so den<br />
Namen seines Bruders zu erhalten. Dieses Gesetz der sogenannten Levirats- oder<br />
Schwagerehe war die Grundlage der an Jesus gerichteten Fangfrage der Sadduzäer:<br />
„Nun in der Auferstehung: wessen Frau wird sie sein, von diesen sieben? Sie haben<br />
sie ja alle gehabt.“ (Matthäus 22,28)<br />
Wenn auch die Umstände, die eine Leviratsehe <strong>als</strong> Ausnahme kennzeichnen, klar<br />
formuliert waren, läßt sich doch die berechtigte Frage stellen: Ist eines dieser Gebote<br />
oder sind beide Gebote in unserer Zeit noch gültig? Ungeachtet der Antwort scheint<br />
die Fallbeispiel-Hypothese gegenüber dem Regelwerk-Modell den besseren Ansatz<br />
darzustellen, um die Unterschiede zwischen den beiden Vorschriften zu erklären.<br />
Sprichwörter<br />
Einen scheinbaren Widerspruch zwischen zwei Sprichwörtern finden wir in Sprüche<br />
26,4.5. Der erste Spruch ruft zu einer bestimmten Verhaltensweise auf, der zweite<br />
fordert genau das Gegenteil.<br />
„Antworte dem Toren nicht nach seiner<br />
Torheit, daß du ihm nicht gleich<br />
werdest.“ (Vers 4)<br />
„Antworte aber dem Toren nach seiner<br />
Torheit, daß er sich nicht weise dünke.“<br />
(Vers 5)<br />
Es gab Rabbiner im ersten Jahrhundert, die mit solchen scheinbaren<br />
Widersprüchen ihre Schwierigkeiten hatten und sogar meinten, das Buch Sprüche<br />
sollte nicht zum Kanon gehören. Ein wenig Nachdenken führt uns jedoch zu der<br />
Einsicht, daß die einzelnen Sprüche zwar allgemein wahr sind, aber nicht universell<br />
gelten, <strong>als</strong>o nicht in jeder Situation anwendbar sind. Auch aus dem Bereich<br />
landläufiger Sprichwörter lassen sich leicht zwei finden, denen man ohne weiteres<br />
106
GOTTES WORT<br />
zustimmen kann, die aber genau entgegengesetzte Aussagen haben: „Viele Köche<br />
verderben den Brei“ und „Viele Hände machen der Arbeit schnell ein Ende.“<br />
Wie kann man feststellen, welches Sprichwort gilt? Natürlich wird das vom Zustand<br />
der Küche abhängen. Jeder Koch kann sich Situationen vorstellen, in denen das eine<br />
Sprichwort zutreffender ist <strong>als</strong> das andere.<br />
Was die zitierten biblischen Sprüche angeht, können wir uns Situationen<br />
vorstellen, in denen man einem Toren antworten sollte, und solche, in denen<br />
Schweigen die bessere Wahl ist – vorausgesetzt, daß man es tatsächlich mit Toren zu<br />
tun hat.<br />
Wie kann ein Regelwerk mit dieser Problematik fertig werden? Eigentlich<br />
überhaupt nicht. Wenn es mehrere Möglichkeiten für die Anwendung einer Regel<br />
gibt, ist eine Beispielsammlung von größerem Nutzen.<br />
Prophetenworte<br />
Welche Antwort sollte ein Prophet auf die Frage geben: „Soll Gottes Volk einem<br />
heidnischen Eindringling Widerstand leisten oder sich ergeben?“<br />
Als in der Zeit von König Hiskia die Assyrer Jerusalem bedrohten, rief Jesaja zum<br />
Widerstand auf und verhieß dem Reich Juda den Sieg (Jesaja 37,5-7).<br />
Rund 100 Jahre später, <strong>als</strong> Jerusalem zur Zeit König Zedekias von den<br />
Babyloniern bedroht wurde, gab der Prophet Jeremia den gegenteiligen Rat: „Wer<br />
sich aber hinausbegibt und überläuft zu den Chaldäern, die euch belagern, der soll am<br />
Leben bleiben und soll sein Leben <strong>als</strong> Beute behalten.“ (Jeremia 21,9) Verständlich,<br />
daß Jeremia des Hochverrats bezichtigt wurde.<br />
Wir können nicht im einzelnen beurteilen, was Gott dazu bewogen hat, seinem<br />
Volk unter Hiskia Gnade zu erweisen, sie ihm unter Zedekia jedoch zu entziehen,<br />
obgleich der Ruf Hiskias bestimmt besser war <strong>als</strong> der von Zedekia. Sicherlich aber<br />
erwarten wir, daß Gott sein Eingreifen den Umständen anpaßt. Und da die Reaktion<br />
eines Propheten von verschiedenen Faktoren abhängt, kann uns auch hier die<br />
Vorstellung einer Beispielsammlung eher weiterhelfen <strong>als</strong> die von einem Regelwerk.<br />
Jesusworte<br />
Wir fragen Jesus: „Welche Ausrüstung benötigen wir, um in Deinem Namen wirken<br />
zu können?“ Jesus antwortet in Lukas 22,35.36: „Als ich euch ausgesandt habe ohne<br />
Geldbeutel, ohne Tasche und ohne Schuhe, habt ihr da je Mangel gehabt? Sie<br />
sprachen: Niem<strong>als</strong>. Da sprach er zu ihnen: Aber nun, wer einen Geldbeutel hat, der<br />
nehme ihn, desgleichen auch die Tasche, und wer’s nicht hat, verkaufe seinen Mantel<br />
und kaufe ein Schwert.“<br />
107
INSPIRATION<br />
Könnte ein Regelwerk uns genau vorschreiben, was wir zu einer bestimmten Zeit<br />
mit auf den Weg zu nehmen haben? Jesu Antwort fordert geradezu den Denkansatz<br />
der Beispielsammlung.<br />
Biographien<br />
Eine Frage an Daniel und Esther: „Ist es nötig, in einer bedrohlichen Situation offen<br />
zu seiner Glaubensüberzeugung zu stehen?“<br />
Daniel würde antworten: „Ich habe dem obersten Kämmerer gesagt, daß wir die<br />
Speise des Königs nicht essen können. Meine Freunde Schadrach, Meschach und<br />
Abed-Nego weigerten sich, ihre Knie vor dem Standbild des Königs zu beugen und<br />
wurden in den Feuerofen geworfen. Aber sie blieben standhaft. Als später König<br />
Darius seinen Untergebenen verbot, von irgend jemandem etwas zu erbitten außer<br />
vom König selbst, betete ich trotzdem dreimal täglich vor meinem offenen Fenster.<br />
Für meine Standhaftigkeit wurde ich in die Löwengrube geworfen. Aber der Herr<br />
beschützte mich.“<br />
Esther dagegen würde antworten: „Als der König Ahasveros eine neue Königin<br />
suchte, gehorchte ich meinem Cousin Mardochai und gab mich nicht <strong>als</strong> Jüdin zu<br />
erkennen. Ich wurde so wie alle anderen jungen Mädchen behandelt, bis der König<br />
mich <strong>als</strong> Königin erwählte. Selbst da gab ich meine Identität nicht preis. Erst <strong>als</strong> die<br />
Existenz meines Volkes ernsthaft bedroht war, wagte ich mein Leben und gab mich<br />
<strong>als</strong> Jüdin zu erkennen.“<br />
Wenn uns Daniel zum offenen Bekenntnis auffordert und Esther eher zum<br />
taktischen Schweigen, können wir daraus schließen, daß auch hier eine<br />
Beispielsammlung eher weiterhilft <strong>als</strong> ein Regelwerk.<br />
Eine Frage an Esra und Nehemia: „Ist es ratsam, heidnische Nachbarn um Schutz<br />
und finanzielle Unterstützung für eine Reise nach Jerusalem zu bitten?“<br />
Im Jahre 457 v. Chr. antwortete Esra mit einem klaren Nein (Esra 8,21-23).<br />
Ellen White sagt dazu: „Gerade dies hielten Esra und seine Begleiter für eine<br />
Möglichkeit, den Namen Gottes vor den Heiden zu verherrlichen. Der Glaube an die<br />
Macht des lebendigen Gottes würde neuen Auftrieb erhalten, wenn die Israeliten<br />
selbst bedingungsloses Vertrauen in ihren göttlichen Führer zeigten. Sie beschlossen<br />
deshalb, ihre Hoffnung völlig auf den Herrn zu setzen und keine soldatische<br />
Schutztruppe zu erbitten. Den Heiden wollten sie keinen Anlaß geben, menschlicher<br />
Stärke den Ruhm zuzuschreiben, der Gott allein gebührte. Sie durften nicht zulassen,<br />
daß in den Köpfen ihrer heidnischen Freunde der geringste Zweifel aufkam, ob ihr<br />
Vertrauen auf Gott <strong>als</strong> sein Volk aufrichtig sei. Stärke würden sie nicht erlangen<br />
durch Reichtum oder durch die Macht und den Einfluß von Götzenanbetern, sondern<br />
108
GOTTES WORT<br />
allein durch die Hilfe Gottes.“ (PK 430.431)<br />
Im Jahre 444 v. Chr. antwortete Nehemia dagegen mit Ja (Nehemia 2,7-9).<br />
Ellen White kommentiert: „Nehemias Bitte an den König war so freundlich<br />
aufgenommen worden, daß er Mut faßte, um weitere Unterstützung zu bitten. Um<br />
seiner Mission Ansehen und Vollmacht zu verleihen und auch während der Reise<br />
geschützt zu sein, beantragte und erhielt er ein militärisches Geleit. Er verschaffte<br />
sich königliche Briefe an die Statthalter der Provinzen jenseits des Euphrat, <strong>als</strong> des<br />
Gebietes, das er auf seinem Weg nach Judäa durchqueren mußte. Ferner erhielt er ein<br />
Schreiben an den Aufseher der königlichen Forste auf dem Libanongebirge, das<br />
diesen anwies, ihm das benötigte Bauholz zu liefern. ...<br />
Nehemia verließ sich nicht auf den Zufall. Die ihm fehlenden Mittel erbat er von<br />
denen, die sie liefern konnten. Und der Herr ist immer noch willens, die Herzen derer,<br />
die im Besitz seiner Güter sind, zugunsten der Wahrheit zu bewegen. Wer für ihn<br />
arbeitet, soll sich der Hilfen bedienen, zu denen er Menschen veranlaßt. Diese Gaben<br />
können Wege eröffnen, auf denen das Licht der Wahrheit in viele Länder gelangen<br />
kann, in denen noch Finsternis herrscht. Die Spender glauben vielleicht nicht an<br />
Christus und sind mit seinem Wort nicht bekannt, doch ihre Gaben sollten deshalb<br />
nicht zurückgewiesen werden.“ (PK 444.445)<br />
Christen, die für die Vorgänge in ihrer Umwelt aufgeschlossen sind, können sich<br />
leicht Situationen vorstellen, in denen es angezeigt erscheint, Esras Beispiel zu<br />
folgen. Andere Situationen sprechen dagegen eher für Nehemias Verhalten. Die<br />
biblische Beispielsammlung schließt sowohl Esra wie Nehemia ein, und wir können<br />
von beiden lernen.<br />
Apostelworte<br />
Eine Frage an den Apostel Paulus: „Was hältst du vom Heiraten in dieser letzten<br />
Zeit?“<br />
„Das kommt darauf an,“ antwortet er den Korinthern. „Es ist besser, ledig zu<br />
bleiben. Bist du aber schon verheiratet, dann sind beide Partner verpflichtet, sich<br />
gegenseitig die ehelichen Rechte zu gewähren.“ (siehe 1. Korinther 7,1-7)<br />
„Den Ledigen und Witwen sage ich: Es ist gut für sie, wenn sie blieben wie ich.<br />
Wenn sie sich aber nicht enthalten können, sollen sie heiraten, denn es ist besser zu<br />
heiraten, <strong>als</strong> sich in Begierde zu verzehren.“ (Verse 8.9)<br />
„Bist du mit einem Ungläubigen verheiratet, so bleibe ihm treu. Wenn der<br />
ungläubige Partner aber die Trennung wünscht, laß es geschehen. In einem solchen<br />
Fall ist die gläubige Person nicht gebunden.“ (siehe Verse 12-16)<br />
109
INSPIRATION<br />
Diese Ratschläge passen besser zu einer Beispielsammlung <strong>als</strong> zu einem<br />
Regelwerk.<br />
Zusammenfassung<br />
Einige dieser Beispiele nennen die Umstände, die zu ganz unterschiedlichem<br />
Verhalten in bestimmten Situationen geführt haben. Besonders die Gesetzestexte<br />
beschreiben genau, wann sie im einzelnen anzuwenden sind. Aber auch Paulus<br />
Anweisungen zum Heiraten sind klar definiert, auch wenn sie die persönliche<br />
Entscheidung nicht ersetzen können.<br />
In vielen anderen Fällen nennt die Bibel keine Ursachen und Gründe für die<br />
scheinbar gegensätzlichen Handlungen und Reaktionen. Da das inspirierte Wort den<br />
Gläubigen mehr <strong>als</strong> eine akzeptable Möglichkeit eröffnete, waren sie gezwungen,<br />
ihren Weg selber zu suchen, ohne einen klaren Befehl oder eine besondere<br />
Offenbarung des Herrn vorweisen zu können.<br />
Das bedeutet ein hohes Maß an Eigenverantwortung für jeden einzelnen<br />
Menschen. Es ist durchaus möglich, das F<strong>als</strong>che zu wählen und vor unserer Pflicht<br />
davonzulaufen ! zu unserem eigenen Schaden und zur Unehre Gottes. Dies ist eine<br />
ernüchternde Erkenntnis.<br />
Wir sollten aber bedenken, daß die Gläubigen in jedem der genannten Fälle in der<br />
Lage waren, die beiden Seiten eines scheinbaren „Widerspruchs“ so miteinander zu<br />
verbinden, daß sie Gott angemessen gehorchten. Einem Toren zu antworten oder<br />
nicht, von Ungläubigen Hilfe zu erbitten oder nicht, öffentlich Zeugnis abzulegen<br />
oder nicht – das sind ernste Fragen des Gehorsams gegenüber Gott. Jede Alternative<br />
kann, den Umständen entsprechend, <strong>als</strong> gehorsames Handeln verstanden werden. Die<br />
Schwierigkeit besteht darin, daß wir kein Regelwerk zur Verfügung haben, das uns<br />
die richtige Antwort im voraus gibt. Statt dessen besitzen wir eine Beispielsammlung,<br />
die uns verschiedene Möglichkeiten aufzeigt. Letztlich haben wir unsere Wahl selber<br />
zu treffen. Gott wird es nicht für uns tun.<br />
Genau an diesem Punkt aber fühlen sich viele gläubige Christen verunsichert. Die<br />
Schrift nur <strong>als</strong> Beispielsammlung zu bezeichnen, ist ihnen zu unverbindlich. Das<br />
könnte einer gefährlichen Einladung gleichkommen, zu viel Verantwortung zu<br />
übernehmen, was zu Fehlentscheidungen führen könnte, die Gott und sein Wort<br />
entehren.<br />
Im Zusammenhang mit der zweiten These vom Anfang dieses Kapitels wollen wir<br />
nun untersuchen, warum viele Christen es ablehnen, die Schrift <strong>als</strong> Beispielsammlung<br />
zu sehen.<br />
110
GOTTES WORT<br />
Vorbehalte gegen die Bibel<br />
<strong>als</strong> Beispielsammlung<br />
Tiefgläubige Menschen respektieren Gottes Autorität und die seines Wortes. So ist es<br />
vielleicht verständlich, daß Gläubige es im allgemeinen gern vermeiden, privat oder<br />
öffentlich einzugestehen, daß ein bestimmtes Gebot oder Beispiel aus der Schrift für<br />
sie nicht gilt. Der Gedanke, daß dabei der menschliche Wille über den göttlichen<br />
Willen gestellt werden könnte, ist alles andere <strong>als</strong> angenehm für den, dem Gehorsam<br />
wirklich am Herzen liegt. Es gibt ja genug Beispiele von leichtfertigen Christen, die<br />
sich ihrer Verantwortung unter dem Vorwand entziehen, die Zeiten hätten sich eben<br />
geändert.<br />
Aber selbst wenn die oben genannten Beispiele überzeugend erscheinen, neigen<br />
ernsthaft Glaubende immer wieder dazu, Gottes Wort <strong>als</strong> eine eindeutigere Richtlinie<br />
darzustellen, <strong>als</strong> das für die aktuellen Lebensumstände wirklich zutrifft. Verschiedene<br />
Zitate aus offiziellen und inoffiziellen adventistischen Quellen spiegeln diese<br />
Befürchtungen, Wünsche und Erwartungen wider, die wir mit der Bibel verbinden.<br />
Sie alle können unsere Eigenverantwortung vor Gott trüben und das wahre Wesen<br />
unserer Entscheidungen verdecken.<br />
Die Angst, daß wir uns zu sehr auf unser Denken verlassen, kommt in der<br />
folgenden Aussage zum Ausdruck: „Was richtig oder f<strong>als</strong>ch ist, können wir weder an<br />
unseren Gefühlen noch am Verhalten der Mehrheit messen. Wir benötigen eine<br />
außerhalb von uns liegende Autorität, die uns sagt, was Wahrheit ist.“ (Joe Crews,<br />
Inside Report, Band 4, Nr. 5, [o. J.])<br />
Eine Annonce für diverse Broschüren von Ellen White zeigt die große Verehrung,<br />
die viele den inspirierten Schriften entgegenbringen. Das Inserat kennzeichnet sie <strong>als</strong><br />
„vom Heiligen Geist inspiriert und deshalb bezüglich ihrer Botschaft fehlerfrei.“ (Our<br />
Firm Foundation, Juli 1989, 10) Der Ausdruck fehlerfrei (faultless) deutet auf eine<br />
überirdische Qualität, die keiner menschlichen Auslegung und Anwendung bedarf.<br />
Unser Wunsch nach völliger Übereinstimmung läßt uns leicht übersehen, daß<br />
bestimmte göttliche Gebote zeitbedingt waren und daß Gottes Handeln an seinen<br />
Kindern mit dramatischen Veränderungen verbunden ist. Die folgende Aussage bringt<br />
das Bedürfnis nach widerspruchsfreier Übereinstimmung zum Ausdruck: „Aber die<br />
Bibel selbst bietet eine Fülle von Beweisen, daß fortschreitendes Licht niem<strong>als</strong> der<br />
111
INSPIRATION<br />
früheren Erleuchtung widerspricht. Was zu Abrahams Zeit Wahrheit war, wurde in<br />
den Tagen Christi nicht zum Irrtum.“ (Robertson, Einige Klarstellungen über Ellen<br />
G. White und ihr Werk 69)<br />
Insgesamt stimmt die Bibel zweifellos mit sich selbst überein; Ellen White spricht<br />
von einer „grundlegenden Harmonie“. Aber unser Verlangen nach Übereinstimmung<br />
sollte uns nicht zu einer groben Vereinfachung der Tatsachen führen. Wenn wir nicht<br />
den Ansatz der Beispielsammlung benutzen, um die scheinbaren Widersprüche zu<br />
erklären, wie können wir dann verstehen, daß Gott Abraham befahl, seinen Sohn<br />
Isaak zu opfern – um nur ein besonders hervorstechendes Beispiel zu nennen?<br />
Im Zusammenhang mit der Verwendung der Bücher von Ellen White <strong>als</strong><br />
Kommentar zur Bibel zeigt uns dieselbe Quelle, wie ausgesprochen ungern wir<br />
zugeben, daß inspirierte Schriften von ihren Lesern ausgelegt werden müssen und daß<br />
dies tatsächlich auch geschieht. Es wird <strong>als</strong> fragwürdig bezeichnet, wenn sich jemand<br />
„die Freiheit nimmt, die Schrift selbständig auszulegen.“ Weshalb ist das gefährlich?<br />
Weil dann „unsere eigene Autorität mit der Gabe der Weissagung in Konkurrenz<br />
tritt.“ (Robertson, The White Truth 64)<br />
Sehen wir den beiden Gefahren, die unsere Gemeinschaft bedrohen, offen ins<br />
Auge! In der Tat gibt es einige, die dazu neigen, die göttliche Autorität zu mißachten.<br />
Sie nehmen das Heft in die eigene Hand und achten nicht auf Gottes Wort. Noch weit<br />
größer ist aber die Zahl von Gemeindegliedern, die gerne eine andere Autorität für<br />
sich denken lassen – die Eltern, den Pastor, die Gemeinde, einen Kommentar, Ellen<br />
White oder auch die Bibel.<br />
Wenn die Bibel mit einem solchen Autoritätsverständnis betrachtet wird und man<br />
davon ausgeht, daß selbständiges Denken nicht nötig ist, so führt das zu einem höchst<br />
paradoxen Zustand: Im Namen Gottes vertrauen wir letztlich auf menschliche Kraft!<br />
Im Anschluß an die Generalkonferenz-Sitzung von 1888 in Minneapolis sprach<br />
sich Ellen White wiederholt dafür aus, daß die Gläubigen lernen sollten, selbständig<br />
zu denken. „Hütet euch davor, Wahrheit zu verwerfen. Die große Gefahr für unser<br />
Volk hat darin bestanden, daß es sich auf Menschen verließ und Fleisch zu seinem<br />
Arm machte. Menschen, die es sich nicht zur Gewohnheit gemacht haben, die Bibel<br />
für sich selbst zu erforschen oder ihr Zeugnis abzuwägen, vertrauen leitenden<br />
Persönlichkeiten und übernehmen deren Entscheidungen. Das hat zur Folge, daß viele<br />
gerade die Botschaften verwerfen, die Gott seinem Volk sendet, die aber die leitenden<br />
Brüder nicht anerkennen wollen.“ (TM 106,107)<br />
Wir sollten versuchen, zu einer praktischen Lösung zu kommen. Wenn wir die<br />
Schrift <strong>als</strong> Beispielsammlung verstehen, bekennen wir uns dazu, daß Gott sein Volk<br />
112
GOTTES WORT<br />
in der Vergangenheit auf vielen verschiedenen Wegen geführt hat. Aber das bedeutet<br />
nicht, daß er unsere konkreten Entscheidungen für uns trifft.<br />
Wie können wir dann wissen, ob wir einem Toren antworten sollen oder nicht<br />
(Sprüche)? Ob wir öffentlich bekennen (Daniel) oder lieber schweigen sollen<br />
(Esther)? Ob wir Vorbereitungen treffen und Hilfe erbitten (Nehemia) oder der<br />
Fürsorge Gottes vertrauen sollen (Esra)? Ob wir heiraten oder ledig bleiben sollen<br />
(Paulus)?<br />
Die Antwort ist kurz, aber auch schmerzhaft: Es genügt nicht, die Schrift zu<br />
kennen; wir müssen Gott kennen. In diesem Zusammenhang möchte ich darlegen, wie<br />
durch meine Sicht der Bibel <strong>als</strong> Beispielsammlung meine religiöse Erfahrung<br />
bereichert wurde. Je nach Standpunkt ist die Dreiecksbeziehung zwischen Gott,<br />
seinem Wort und mir selbst einfacher und leichter, aber auch komplexer und<br />
schwieriger geworden. Jedenfalls empfinde ich den ganzen Prozeß <strong>als</strong> eine<br />
Herausforderung, bei dem es keine Langeweile im Umgang mit der Bibel gibt.<br />
Die biblische Beispielsammlung und das geistliche Leben<br />
Ich kann mich nicht entsinnen, wann ich die überraschende Entdeckung machte, daß<br />
meine religiöse Erfahrung eng mit einem Regelwerk- und Kontrollisten-Konzept<br />
verbunden war. Adventisten, die im Schrifttum von Ellen White bewandert sind,<br />
kennen die drei großen Bereiche, für die ein Christ zu sorgen hat: Gebet,<br />
Bibelstudium und Glaubenszeugnis. Ich entdeckte bei mir, daß ich diesen drei<br />
Forderungen zwar nachkam, aber nicht um ihrer selbst willen, sondern im Grunde nur<br />
um Gott zufriedenzustellen.<br />
In meiner Vorstellung war Gott so etwas wie ein übergroßer Pfadfinderleiter, der<br />
eine Checkliste bei sich trägt. Tag für Tag trug er darin ein, ob ich gebetet, die Bibel<br />
studiert und Zeugnis abgelegt hatte. Mein geistliches Leben bestand vornehmlich aus<br />
Pflichterfüllung, aber seine wahre Bedeutung blieb mir verborgen. Immer sah ich mit<br />
einem Auge auf die Uhr und fühlte mich schuldig, wenn mein Pensum nicht erfüllt<br />
war.<br />
Als ich jedoch die Schrift intensiver studierte, wurde mir klar, daß ich mit diesem<br />
Kontrollisten-Denken weder meinen Mitmenschen noch Gott nahekommen konnte.<br />
Die Menschen, ihre Lebensumstände und ihre Bedürfnisse waren so unterschiedlich.<br />
Wie konnte ich sie zu Gott führen? Ohne mir dessen bewußt zu sein, fing ich an,<br />
Menschen und Situationen meiner Welt mit solchen der biblischen Welt in Beziehung<br />
zu setzen. Indem ich die verschiedenen „Fälle“ in meinem Leben mit entsprechenden<br />
„Fällen“ der Schrift in Verbindung brachte, kam ein ernsthafter Dialog mit Gott<br />
113
INSPIRATION<br />
zustande.<br />
Aus meiner heutigen Sicht haben mir diese Gespräche mit Gott gezeigt, daß meine<br />
Entscheidungen nicht allein meine eigenen, sondern auch Gottes Entscheidungen<br />
sind. Nicht in dem Sinne, daß er für mich das Denken übernimmt oder die letzte<br />
Entscheidung für mich trifft. Aber der Austausch mit ihm bringt mich seinem Reich<br />
näher und erhöht die Wahrscheinlichkeit, daß meine Entscheidungen aus Liebe und<br />
nicht aus Selbstsucht gefällt werden.<br />
Das Gebet kann das eigene Denken nicht ersetzen, aber es fördert den<br />
Denkprozeß. Ein Christ gebraucht seinen Verstand mehr, nicht weniger.<br />
Versuchen wir einmal, uns das, was beim Beten geschieht, anschaulich<br />
vorzustellen. Freunde, die ich diesbezüglich um ihre Meinung bat, haben eine ganze<br />
Reihe interessanter Überlegungen entwickelt. Hier einige Beispiele:<br />
a. Das Radio: Wir sind die Empfänger göttlicher Signale. In diesem Modell sind<br />
wir passiv, während Gott aktiv ist.<br />
b. Der Fluglotse: Gott ist im Kontrollturm. Wir müssen Kontakt zu ihm halten,<br />
wenn wir sicher landen wollen; aber er zwingt uns nicht dazu. Wir entscheiden, ob<br />
wir seine Weisungen befolgen oder nicht. Dieses Modell ist interaktiv und erfordert<br />
erhebliche Verantwortung.<br />
c. Der Filter: Der Umgang mit Gott wirkt wie ein Filter in einem fließenden<br />
Gewässer. Führen wir ein gesundes Gebetsleben, ist das Wasser, das durch den Filter<br />
geflossen ist, sauber. Bei mangelhaftem Gebetsleben fließt der Strom zwar weiter,<br />
aber der Filter ist funktionsuntüchtig und das hindurchgeflossene Wasser unrein.<br />
Die letzten beiden Beispiele finde ich besonders hilfreich. Der Fluglotsen-<br />
Vergleich lehrt mich, hinzuhören und zu gehorchen. Die Filter-Analogie macht<br />
deutlich, daß das Leben auch ohne Gebet weitergeht – aber wie ein unreines<br />
Gewässer.<br />
Im Gegensatz zu meiner früheren Regelwerk- und Checklisten-Sicht betrachte ich<br />
Bibelstudium und Gebet heute nicht mehr <strong>als</strong> Mittel, um Gott zufriedenzustellen. Die<br />
Unterhaltung mit Gott, während ich sein Wort lese, bildet das Herzstück meiner<br />
Beziehung zu meiner Umwelt. So ist es für mich ganz natürlich geworden, meinen<br />
Glauben zu bezeugen; denn nachdem ich die Freude erfahren habe, die durch die<br />
Gemeinschaft mit Gott und seinem Wort entsteht, ist es für mich unvorstellbar,<br />
meinen Glauben nicht mitzuteilen.<br />
Diese Sicht der Dinge hat nachhaltige Konsequenzen. Beispielsweise kann ich<br />
nicht länger „Sünde“ (Singular) mit „Sünden“ (Plural) gleichsetzen, das heißt mit<br />
begangenen oder unterlassenen Einzeltaten. „Sünde“ ist nämlich eine von Gott<br />
getrennte Lebensweise.<br />
114
GOTTES WORT<br />
Diese Definition der Sünde hat zur Folge, daß der Frage von „Sündlosigkeit“ oder<br />
„sündloser Vollkommenheit“ eine geringere Bedeutung zukommt <strong>als</strong> vorher, denn<br />
nun ist ja unsere Beziehung zu Gott durch unsere „Abhängigkeit“ von ihm bestimmt.<br />
Jesus wird zum vollkommenen Vorbild für uns, weil wir von ihm lernen, wie wir mit<br />
unserem himmlischen Vater verbunden sein können. Sein Leben war gekennzeichnet<br />
durch ständige Zwiesprache mit dem Vater über alles, was in seinem Leben geschah.<br />
So kann es auch bei uns sein.<br />
Zusammenfassend möchte ich betonen, daß es für uns Christen völlig in Ordnung<br />
ist, wenn wir bezüglich unserer Lebensführung eigene Entscheidungen treffen. Die<br />
Heilige Schrift will uns das Denken nicht abnehmen – und Gott auch nicht. Fromme,<br />
konservative Christen neigen dazu, die Offenbarung für sich selbst sprechen zu<br />
lassen. Sie befürchten, der Verstand könnte die Autorität der Offenbarung zerstören.<br />
Sehen wir die Bibel <strong>als</strong> Beispielsammlung, haben wir die Möglichkeit, ja wir sind<br />
sogar dazu gezwungen, anzuerkennen, daß Offenbarung und Verstand<br />
zusammenwirken müssen. Offenbarung befaßt sich immer mit konkreten Situationen<br />
und Fällen. Der mit dem Heiligen Geist verbundene Verstand erkennt, welche dieser<br />
Fälle uns bei unseren täglichen Entscheidungen am besten weiterhelfen können.<br />
Eine entscheidende Frage bleibt jedoch offen und wird uns im nächsten Kapitel<br />
beschäftigen: Wenn wir die Heilige Schrift im ganzen <strong>als</strong> Beispielsammlung<br />
betrachten, welche Teile der Bibel sind dann <strong>als</strong> Regelwerk überhaupt noch über die<br />
Zeiten hinweg gültig?<br />
Die Bibel enthält absolut Gültiges und das muß klar benannt werden. Erst dann<br />
können wir wissen, wie wir in unterschiedlichen Situationen unsere<br />
Beispielsammlung zu verstehen haben.<br />
115
GOTTES WORT<br />
117
Kapitel 8<br />
Gottes Gesetz:<br />
Eins ! Zwei ! Zehn ! Viele<br />
Trinkst du aus religiösen Gründen keinen Kaffee?“ – „Was hat vegetarische<br />
Lebensweise mit Religion zu tun?“ Was sollte ich darauf antworten?<br />
Um das Interesse zu steigern, möchte ich zwei weitere Fragen anfügen (diesmal<br />
meine eigenen): „Hältst du den Sabbat aus religiösen Gründen?“ – „Verweigerst du<br />
den Wehrdienst ebenfalls aus religiösen Gründen?“<br />
Die letzte Frage ist besonders interessant, weil alle westlichen Kulturkreise<br />
einerseits das Töten verurteilen (Mord), es andererseits aber verlangen (Militär). In<br />
einem Land, das die Todesstrafe kennt, kann jemand theoretisch zum Tode verurteilt<br />
werden, weil er entweder getötet hat oder sich weigerte zu töten, je nach den<br />
Umständen.<br />
Was bedeutet es, aus „religiösen Gründen“ zu handeln? Sehen wir uns einige<br />
Möglichkeiten an.<br />
118<br />
Religiöse Einstellungen zu Gottes Gesetz<br />
Der Begriff Religion impliziert eine starke Bindung an eine letzte Realität oder<br />
Gottheit. Führen wir „religiöse Gründe“ für unsere Handlungsweise an, so berufen<br />
wir uns auf etwas, das verpflichtender ist <strong>als</strong> rein vernunftgemäße oder allgemein<br />
menschliche Anliegen. Ein Atheist kann Koffein aus gesundheitlichen Gründen<br />
meiden (ärztliche Verordnung), die vegetarische Lebensweise aus humanitären<br />
Gründen vertreten (Tierliebe), und er kann sich aus staatsbürgerlichen Gründen<br />
(gesetzliche Vorschrift) weigern zu töten oder sich verpflichten zu töten. Und wenn<br />
er in Israel wäre, würde der Atheist angesichts der bestehenden „Sabbatgesetze“ aus<br />
zivilrechtlichen Überlegungen am Samstag nicht arbeiten, obwohl die entsprechenden<br />
Gesetze ursprünglich religiös motiviert waren.<br />
Alle diese Gründe mögen überzeugend und stichhaltig sein, aber sie sind nicht<br />
annähernd so überzeugend wie die Berufung auf „religiöse Gründe“. Die Religion<br />
berührt eben einen ganz anderen Bereich und spricht viel tiefere Schichten des<br />
menschlichen Empfindens an.<br />
Wenn mich jemand fragt, ob ich etwas aus „religiösen Gründen“ tue, zögere ich<br />
fast immer und gebe schließlich eine Ja/Nein-Antwort, weil diese Frage an sich
GOTTES GESETZ<br />
bereits ein Religionsverständnis voraussetzt, das sich von meinem unterscheidet.<br />
Dieser Frage scheint nämlich die Annahme zugrunde zu liegen, daß bestimmte<br />
Handlungen unmittelbar mit Religion zu tun haben, während sich der Rest des Lebens<br />
auf der weltlichen Ebene abspielt. Kurz, „religiöse Gründe“ setzen – wenigstens nach<br />
allgemeinem Verständnis – ein Regelwerk-Modell voraus.<br />
Betrachtet man die Bibel jedoch <strong>als</strong> Beispielsammlung, die auf ewig gültigen<br />
Prinzipien beruht, wird jede Tat aus „religiösen Gründen“ begangen. Wenn wir uns<br />
dem großen Gesetz der Liebe verpflichtet fühlen, gewinnen wir eine ganzheitliche<br />
Sicht, bei der die Religion das gesamte Leben durchdringt.<br />
In seiner Einleitung zu einer neueren Sammlung wissenschaftlicher Abhandlungen<br />
über das biblische Gesetz (Thinking Biblical Law) bemerkt Dale Patrick, daß dieses<br />
Thema heutzutage kaum von großem Interesse sei, nicht einmal für<br />
Theologiestudenten. Aus der Sicht von Patrick bilden traditionsbewußte Juden und<br />
konservativ-protestantische Christen die Ausnahme, indem sie nach wie vor am<br />
biblischen Gesetz aktiv interessiert sind, da sie es <strong>als</strong> göttliche Offenbarung<br />
betrachten. Für die letztgenannte Gruppe bedeutet göttliches Gesetz „sowohl<br />
seligmachende Lehre <strong>als</strong> auch Unterweisung im Gehorsam.“<br />
Nach Patrick ist das geringe Interesse am Studium des Gesetzes zum Teil auf die<br />
„modernen kritischen Theologen“ zurückzuführen, die „sich einer lehrmäßigen<br />
Anwendung des Schrifttextes aktiv entgegenstellen,“ durch die ein Interesse am<br />
Gesetz entstehen könnte. „Eine kritische Betrachtungsweise beleuchtet das<br />
Geschriebene aus geschichtlicher und menschlicher Sicht. Wenn in Frage gestellt<br />
wird, daß Mose das Gesetz ursprünglich von Gott offenbart wurde, so wird der<br />
Anspruch des Gesetzes auf den Leser erheblich abschwächt. Es ist schwer vorstellbar,<br />
daß sich jemand mit vollem Einsatz in ein sorgfältiges und mühsames Studium einer<br />
Gesetzessammlung vertiefen möchte, die aller Wahrscheinlichkeit nach lediglich aus<br />
einem kuriosen und überholten Sittenkodex sowie aus alten Tabus besteht.“ (Patrick<br />
1)<br />
Wer die Bibel lediglich <strong>als</strong> ein von Menschen verfaßtes Buch betrachtet, wird<br />
leicht biblische Gesetze übergehen, die ihm „kurios und überholt“ erscheinen. Wenn<br />
wir dagegen in der Schrift Gottes Wort sehen, werden wir die Dinge ganz anders<br />
einschätzen. Wenn wir zu dem Schluß kommen, ein Gesetz sei für uns nicht länger<br />
bindend, müssen wir gute Gründe dafür anführen; sonst wird die Autorität der Schrift<br />
untergraben.<br />
Anders ausgedrückt: Wir müssen eine konsequente Schriftauslegung entwickeln,<br />
die allen biblischen Gesetzen gerecht wird. Auch wenn wir der Meinung sind, ein<br />
bestimmtes Gesetz sei in unseren Tagen nicht länger anwendbar, kann es uns helfen,<br />
119
INSPIRATION<br />
dieses Gesetz in seinem ursprünglichen Zusammenhang zu betrachten, damit wir<br />
besser verstehen, wie Gott mit uns Menschen umgeht.<br />
Adventisten befinden sich in einer hervorragenden Ausgangsposition, wenn es darum<br />
geht, eine überzeugende und konsequente Stellung zum Gesetz zu entwickeln. Mögen<br />
auch Theorie und Praxis nicht immer übereinstimmen, so wage ich doch zu<br />
behaupten, daß Adventisten gerade durch ihr Gesetzesverständnis einen einzigartigen<br />
Beitrag zum christlichen Glauben leisten können. Deshalb könnte dieses Kapitel das<br />
wichtigste in diesem Buch sein.<br />
Zusammenfassend wollen wir uns nun den verschiedenen Möglichkeiten<br />
zuwenden, wie sich gläubige Menschen – aus „religiösen Gründen“ – dem biblischen<br />
Gesetz gegenüber verhalten.<br />
Biblisches Gesetz <strong>als</strong> gültiges Regelwerk<br />
Das beste Beispiel für eine solche Einstellung ist die Lebensweise orthodoxer Juden.<br />
Ausgehend von der mosaischen Gesetzgebung in den fünf Büchern Mose haben sie<br />
einen Gesetzeskodex entwickelt, den sie aus „religiösen Gründen“ befolgen. Weil<br />
diese orthodoxe Sicht so konsequent ist, kann sie gut <strong>als</strong> Anschauungsmittel<br />
verwendet werden. Wir werden noch darauf zurückkommen.<br />
Biblisches Gesetz <strong>als</strong> gültiges Regelwerk,<br />
modifiziert im Neuen Testament<br />
Konservative Protestanten einschließlich vieler Adventisten sind Befürworter dieser<br />
Auffassung. Oberflächlich betrachtet erscheint diese Sicht auch flexibler <strong>als</strong> die<br />
orthodoxe, da sie für gewisse göttliche Gesetze eine zeitlich begrenzte Anwendung<br />
erlaubt. Dieser Vorteil ist aber nur scheinbar, denn durch die Streichung einiger<br />
alttestamentlicher Gesetze („ans Kreuz genagelt“) und die Hinzufügung neuer<br />
Gesetze (zum Beispiel aus der Bergpredigt) entsteht ein neues Regelwerk, das dem<br />
orthodoxen Konzept weitgehend entspricht, nur mit unterschiedlichen Gesetzen.<br />
Ferner wird der anfängliche Vorteil der Flexibilität mehr oder weniger aufgehoben<br />
durch den Verlust an Folgerichtigkeit: Wie kann man wissen, ob ein Gesetz weiterhin<br />
gilt oder nur eine zeitlich begrenzte Gültigkeit besaß?<br />
Viele konservative Christen, auch Adventisten, nehmen stillschweigend an, das<br />
biblische Gesetz sei <strong>als</strong> Regelwerk zu betrachten. Sie halten sich aus „religiösen<br />
Gründen“ an klar definierte Gebote und Verbote. Adventisten, die das Fleisch<br />
unreiner Tiere konsequent meiden, sonst aber äußerst unbekümmert in ihren<br />
Eßgewohnheiten sind, bieten ein gutes Beispiel für eine solche Denkweise. Wir<br />
120
GOTTES GESETZ<br />
werden auf dieses Beispiel noch zurückkommen, und zwar im Zusammenhang mit der<br />
jüdisch-orthodoxen Sicht.<br />
Protestanten haben sich im allgemeinen darauf beschränkt, das Regelwerk auf<br />
persönliche und kirchliche Situationen anzuwenden. In den letzten Jahren aber ist ein<br />
stärkeres Interesse zu beobachten, das biblische Gesetz auch auf staatliche Belange<br />
auszudehnen. Dieses „Bedürfnis nach Theonomie“, wie es in Christianity Today<br />
einmal genannt wurde, versucht „die Bibel in ein Regelwerk oder einen<br />
Gesetzentwurf für eine neue Sozialordnung zu verwandeln.“ (21. April 1989, 40)<br />
Für den, der die religiöse Freiheit hochhalten möchte, bedeutet die Ausweitung<br />
des biblischen Gesetzes auf die staatliche Gesetzgebung eine unheilvolle Erinnerung<br />
an das puritanische Amerika und läßt das Gespenst der religiösen Verfolgung<br />
lebendig werden. Die Vorstellung, biblische Gesetze seien auch für die heutige<br />
Gesellschaft und Kultur verbindlich, hörte mit den Puritanern nicht auf.<br />
Auf dem Schutzumschlag eines 1943 erschienenen Buches mit dem Titel Digest<br />
of the Divine Law war beispielsweise zu lesen: „Während die Zehn Gebote <strong>als</strong><br />
höchste moralische Norm überall anerkannt sind, gibt es andere von Gott gegebene<br />
Gesetze, die verbindliche Normen enthalten über Reichtum, Geld- und Steuerwesen,<br />
Zinsen, Schulden und alle anderen Belange unseres moralischen, sozialen und<br />
wirtschaftlichen Lebens in Familie und Privatsphäre. Wir sind an diese Gesetze<br />
gebunden, so wie wir auch an die Zehn Gebote gebunden sind.“ (Rand, Digest of the<br />
Divine Law)<br />
Der Autor teilt die biblischen Gesetze in vier Kategorien ein (Gebote, Satzungen,<br />
Rechte und Verordnungen) und erklärt eine davon (die Verordnungen) <strong>als</strong> nicht mehr<br />
gültig, da „Jesus Christus die Anforderungen erfüllte.“ (Rand, S. x)<br />
Obwohl uns die adventistische Eschatologie (Lehre von den letzten Dingen) davor<br />
bewahrt hat, Gesetze der Bibel auch auf den zivilen Bereich zu übertragen, neigen wir<br />
doch noch immer dazu, die Gebote wie ein von Jesus und den Aposteln modifiziertes<br />
Regelwerk zu behandeln. Unser geistiges Erbe ermöglicht uns jedoch eine<br />
konsequentere Alternative: Wir können die Gesetze <strong>als</strong> eine Beispielsammlung<br />
betrachten, die auf ewig gültigen Prinzipien beruht.<br />
Bevor wir diese Möglichkeit eingehender untersuchen, wollen wir uns einer<br />
anderen, unter Protestanten verbreiteten Sicht zuwenden: dem Dispensationalismus.<br />
Biblisches Gesetz <strong>als</strong> eine Reihe von Regelwerken<br />
Während Vertreter der „Theonomie“ erklären, daß große Teile des alttestamentlichen<br />
Gesetzes für Christen immer noch bindend seien, nehmen Dispensationalisten die<br />
entgegengesetzte Haltung ein. Sie behaupten, nichts davon sei bindend. Trotzdem ist<br />
121
INSPIRATION<br />
es für sie wichtig, ja vielleicht sogar entscheidend, im Sinne eines Regelwerks zu<br />
denken. Dabei gehen sie von verschiedenen Regelwerken aus, anstatt nur von einem<br />
einzigen.<br />
Dispensationalisten teilen die Weltgeschichte in sieben Zeitalter oder<br />
„Dispensationen“ auf, von denen jede eine in sich geschlossene Sammlung von<br />
göttlichen Gesetzen besitzt, die aber jeweils nur für einen bestimmten Zeitabschnitt<br />
Geltung haben. Folglich sind sie der Meinung, daß die am Sinai gegebenen Gesetze<br />
für Christen, die im gegenwärtigen Zeitalter der Gnade leben, bedeutungslos sind.<br />
Diese Gesetze werden allerdings während des Tausendjährigen Reiches am Ende der<br />
Zeiten wieder gültig sein. Es gibt Dispensationalisten, die folgerichtig die Auffassung<br />
vertreten, daß dann sogar die alten Tieropfer wieder eingeführt werden.<br />
Seit seinen Anfängen im 19. Jahrhundert hat sich der Dispensationalismus zu einer<br />
echten Herausforderung traditioneller christlicher Bibelauslegung entwickelt. Populär<br />
gemacht und systematisch entwickelt wurde diese Lehre mit Hilfe der<br />
Randbemerkungen und Kommentare der Scofield-Bibel; weltweite Verbreitung fand<br />
sie durch die lebhaften Endzeitbeschreibungen in den Büchern von Hal Lindsey<br />
(beispielsweise Alter Planet Erde wohin?, Es gibt eine Antwort, Die Feuerflut und<br />
Satan kämpft um die Welt).<br />
Den Dispensationalisten muß zugute gehalten werden, daß sie die Vielfalt der<br />
biblischen Gesetze erkannt haben. Ihr Sieben-Zeitalter-Konzept ist zweifellos<br />
problematisch. Aber sie sind sich bewußt, daß es schwierig ist, aus der Bibel ein<br />
einziges Regelwerk zu erstellen, nach dem Christen ihr Leben einrichten sollten.<br />
Anstatt unterschiedliche Regelwerke vorauszusetzen, sind Adventisten in der<br />
Lage, die Vielfalt der Schrift mit Hilfe eines einheitlichen Systems zu erklären. Wir<br />
wollen kurz auf die wichtigsten Aspekte eingehen und sie dann in diesem Kapitel<br />
weiterentwickeln.<br />
122<br />
Biblisches Gesetz <strong>als</strong> Beispielsammlung,<br />
die auf ewigen Prinzipien beruht<br />
Die meisten Adventisten, die mit der „Entscheidungsserie“ von Ellen White vertraut<br />
sind, werden diese Sichtweise wenigstens in ihren Grundzügen von dort kennen.<br />
In meiner fünfteiligen Serie „From Sinai to Golgotha,“ die im Dezember 1981 im<br />
Adventist Review erschien, versuchte ich zu zeigen, daß Ellen White selber eine<br />
theologische Entwicklung durchlaufen hat, die von einem einfachen Regelwerk-<br />
Modell zu einem Verständnis der Bibel <strong>als</strong> Beispielsammlung mit ewigen Prinzipien<br />
führte, die auf ewigen Prinzipien beruht. Diese Sichtweise gründet sich allein auf die<br />
Bibel, wir müssen nur die entsprechenden Bausteine zusammentragen.
GOTTES GESETZ<br />
Dieser Ansatz stellt das gesamte biblische Gesetz <strong>als</strong> Kommentar und Anwendung<br />
des einen großen Gesetzes der Liebe dar, das die absolute Grundlage von Gottes<br />
Wesen und Herrschaft bildet. Dieses eine Gesetz besteht aus zwei Teilen: (1) Liebe<br />
zu Gott und (2) Liebe zum Menschen. Diese beiden Teile können weiter aufgegliedert<br />
werden in zehn Gebote. Das Eine, die Zwei und die Zehn bilden zusammen eine<br />
„Gesetzespyramide“, die die ewigen Prinzipien des Reiches Gottes enthält. Alle<br />
übrigen biblischen Gesetze sind orts- und zeitbezogene Anwendungen dieser<br />
Grundprinzipien.<br />
Der entscheidende Vorteil der Gesetzespyramide besteht darin, ein einfaches und<br />
stabiles Grundgerüst zu liefern, das durchaus flexibel und für komplexe Situationen<br />
geeignet ist. Denn obwohl man sich mit dem Einen, den Zweien und den Zehn<br />
hochgeistig auseinandersetzen kann, sind sie auf der anderen Seite sehr einfach und<br />
klar. Daraus resultiert, daß die Bedürfnisse von einfachen Menschen genauso<br />
befriedigt werden wie die der ausgesprochen Intellektuellen. Und das ist entscheidend<br />
für eine Kirche mit einer weltweiten Mission.<br />
Eine graphische Darstellung der Gesetzespyramide ist auf der folgenden Seite zu<br />
finden. Am Ende dieses Kapitels werden im Exkurs A die entsprechenden<br />
Bibelstellen, im Exkurs B einige wichtige Aussagen von Ellen White zitiert.<br />
Begründung der Gesetzespyramide<br />
Obwohl im Alten Testament die grundlegenden Aspekte bereits enthalten sind (5.<br />
Mose 6,4.5; 3. Mose 19,18), ist es doch das Neue Testament, das die<br />
Gesetzespyramide in den Mittelpunkt rückt. Wir gehen dabei aus von Jesu prägnanter<br />
Zusammenfassung des Alten Testaments: „Alles nun, was ihr wollt, daß euch die<br />
Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.“<br />
(Matthäus 7,12) Dasselbe Grundprinzip vertritt Paulus in Römer 13,8-10: „Seid<br />
niemand etwas schuldig, außer, daß ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern<br />
liebt, der hat das Gesetz erfüllt. Denn was da gesagt ist: ‚Du sollst nicht ehebrechen;<br />
du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren‘, und was da<br />
sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefaßt: ‚Du sollst deinen<br />
Nächsten lieben wie dich selbst.‘ Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun<br />
die Liebe des Gesetzes Erfüllung.“<br />
Offensichtlich verbindet Paulus die Zehn Gebote mit dem Einen. Jesus spricht<br />
vom Mittelteil der Pyramide, das heißt von den zwei Geboten, <strong>als</strong> er die Frage der<br />
Pharisäer nach dem „höchsten Gebot“ beantwortet: „‚Du sollst den Herrn, deinen<br />
Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt.‘ Dies ist<br />
123
INSPIRATION<br />
das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: ‚Du sollst deinen<br />
Nächsten lieben wie dich selbst.‘ In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz<br />
und die Propheten.“ (Matthäus 22,37-40)<br />
124
GOTTES GESETZ<br />
Die Gesetzespyramide:<br />
Die Wiederherstellung und Anwendung der Liebe<br />
HINWENDUNG ZU GOTT: WIEDERHERSTELLUNG DES IDEALS<br />
Äußerliche Gebote werden verinnerlicht und deshalb immer weniger benötigt, je mehr das Gesetz ins<br />
Herz geschrieben ist: „Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren und sagen:<br />
‚Erkenne den Herrn’, sondern sie sollen mich alle erkennen” (Jeremia 31,34).<br />
ABWENDUNG VON GOTT: ANWENDUNG DES IDEALS<br />
Äußerliche Gebote werden benötigt und immer genauer festgelegt, je mehr das „innere” Gesetz aus dem<br />
verhärteten Herzen verschwindet: „Mose hat euch erlaubt, euch zu scheiden von euren Frauen eures<br />
Herzens Härte wegen; von Anfang an aber ist’s nicht so gewesen” (Matthäus 19,8).<br />
125
INSPIRATION<br />
Mit der Gesetzespyramide verbindet sich ein Grundprinzip: Einige der göttlichen<br />
Gesetze sind wichtiger <strong>als</strong> andere. Gewissenhaften Gläubigen fällt es oft schwer,<br />
dieses Prinzip zu akzeptieren, denn es scheint den menschlichen Verstand über die<br />
Gebote zu stellen, die uns Gott aus „religiösen Gründen“ zu halten befohlen hat.<br />
Das Prinzip, daß einige Gesetze wichtiger sind <strong>als</strong> andere, wird jedoch von der<br />
Schrift gestützt. Jesus machte das klar, <strong>als</strong> er „das Recht, die Barmherzigkeit und den<br />
Glauben“ <strong>als</strong> „das Wichtigste im Gesetz“ bezeichnete, wichtiger <strong>als</strong> das Verzehnten<br />
von „Minze, Dill und Kümmel“ (Matthäus 23,23). Trotzdem sollten wir das weniger<br />
Wichtige nicht verwerfen: „Dies sollte man tun und jenes nicht lassen.“ Ob wichtig<br />
oder weniger wichtig – Pflicht bleibt Pflicht.<br />
Nun können wir uns sicher Ausnahmesituationen vorstellen, in denen zumindest<br />
zeitweise geringere Pflichten von größeren verdrängt werden. Aber dieses<br />
Randproblem erledigt sich wahrscheinlich von selbst, wenn wir zunächst zwei<br />
wichtigere Fragen beantwortet haben: (1) Wie läßt sich die Spannung lösen, wenn<br />
zwei Verpflichtungen oder Gesetze miteinander in Konflikt geraten? (2) Wie können<br />
wir wissen, wann sich die Zeiten geändert haben, so daß ein bestimmtes Gesetz seine<br />
Gültigkeit verliert? Wir werden jeden dieser Problemkreise gesondert angehen.<br />
Zeigt uns die Bibel, wie wir uns verhalten sollen, wenn zwei Verpflichtungen (oder<br />
Gesetze) scheinbar miteinander kollidieren? Sollte ich beispielsweise am Sabbat<br />
arbeiten, um leidenden Menschen Erleichterung zu verschaffen? Oder um meinen<br />
Arbeitsplatz zu erhalten? Darf ich meinen Eltern Kummer bereiten, um Gott zu<br />
ehren? Sollte ich lügen, um das Leben eines Mitmenschen zu retten oder um<br />
jemanden daran zu hindern, einen Mord zu begehen?<br />
Auf einfache, aber vielleicht auch schmerzliche Weise kann uns das Bild der<br />
Gesetzespyramide weiterhelfen. Wenn zwei geringere Gesetze in Widerspruch<br />
zueinander geraten, wenden wir uns der nächst höheren Stufe zu. In einer Welt der<br />
Sünde ist auf jeder Stufe eine Konfliktsituation unterhalb des einen großen Gebotes<br />
denkbar. Sollen wir zum Beispiel Gott oder unseren Eltern gehorchen (erstes kontra<br />
fünftes Gebot)? Sollen wir Leben erhalten oder die Wahrheit sagen (sechstes kontra<br />
neuntes Gebot)? Nur wenn wir die Zehn im Licht der Zwei und im Licht des Einen<br />
sorgsam und unter Gebet gegeneinander abwägen, werden wir eine Antwort finden.<br />
In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, daß ein sorgfältiges Studium der<br />
Schrift mehr helfen kann, <strong>als</strong> uns vielleicht bewußt ist. Zwei Faktoren sind dabei<br />
wichtig: (1) die genaue Bedeutung des Buchstabens des Gesetzes in seinem<br />
ursprünglichen Zusammenhang und (2) das eigentliche Motiv des Gesetzes, das ihm<br />
zugrunde liegt und seinen wahren Sinn und Zweck enthüllt.<br />
126
Buchstabe und Geist des Gesetzes<br />
GOTTES GESETZ<br />
Um biblische Gesetze richtig zu verstehen, haben wir uns zunächst eingehend mit<br />
dem Buchstaben des Gesetzes in seinem ursprünglichen Zusammenhang zu befassen.<br />
Das bedeutet, wir müssen den Text ganz wörtlich nehmen. Ein genaues Lesen des<br />
Textes zeigt beispielsweise, daß sich das Verbot zu töten auf Mord bezieht (2. Mose<br />
21,12-14; 4. Mose 35,9-28). Es schließt weder eine staatlich verhängte Todesstrafe<br />
(2. Mose 21,15-17), noch das Töten von Menschen zur Landesverteidigung (5. Mose<br />
20,10-18) oder in Notwehr (2. Mose 22,1.2) aus.<br />
Ähnlich verhält es sich mit dem Gebot, kein f<strong>als</strong>ch Zeugnis zu reden. In der<br />
buchstäblichen Bedeutung untersagt das Gebot, die Unwahrheit zu reden mit dem<br />
Ziel, unschuldige Menschen zu verletzen. Ein Bibelwort drückt die Strafe für f<strong>als</strong>ches<br />
Zeugnis folgendermaßen aus: „So sollt ihr mit ihm tun, wie er gedachte, seinem<br />
Bruder zu tun.“ (5. Mose 19,19) Das läßt verschiedene Begebenheiten in einem<br />
anderen Licht erscheinen, wie zum Beispiel die irreführenden Worte der hebräischen<br />
Hebammen an Pharao (2. Mose 1,19), Samuels Beschönigung der Wahrheit Saul<br />
gegenüber (1. Samuel 16,1-3) und die Art und Weise, wie David Huschai gegen<br />
Absalom einsetzte (2. Samuel 16 und 17).<br />
Es genügt aber nicht, den Text buchstäblich und wörtlich zu nehmen. Wir müssen<br />
ebenso seine eigentliche Bedeutung erfassen. Das verlangt, daß wir über den bloßen<br />
Gesetzestext hinausgehen, um seinen tieferen Sinn zu verstehen. So wird die Sünde<br />
des Tötens dadurch erweitert, daß sie zornige Worte einschließt (Matthäus 5,21.22).<br />
Ehebruch schließt lüsterne Gedanken ein (Verse 27.28), und f<strong>als</strong>ches Zeugnis meint<br />
auch die Wahrheit, die mißbraucht wird, um anderen zu schaden. In den Worten von<br />
Ellen White: „Selbst das vorsätzliche Vertuschen der Wahrheit, woraus anderen<br />
Schaden erwachsen kann, ist Übertretung des neunten Gebotes.“ (PP 284)<br />
Wenn wir wahrhaftig bleiben oder anderen nicht schaden wollen, kann dies unter<br />
Umständen bedeuten, daß wir den Buchstaben des göttlichen Gesetzes mißachten.<br />
Aber eines ist klar: Gott fordert uns nie auf, sein Gesetz zu brechen. Jede unserer<br />
Taten muß sich auf Gehorsam gründen und in Übereinstimmung mit seinem Gesetz<br />
befinden. Das trifft selbst dann zu, wenn wir aufgefordert würden zu töten.<br />
An dieser Stelle könnte man fragen: Ist das nicht Situationsethik? Wenn darunter<br />
eine Art Entschuldigung für die Sünde verstanden wird, dann sicherlich nicht! Gott<br />
fordert uns nie auf zu sündigen; er erlaubt es uns auch nicht. Stets verlangt er Gehorsam.<br />
Wenn wir glauben, wir könnten uns der Gesetzespyramide bedienen, um Sünde<br />
zu rechtfertigen und nach unseren eigenen Vorstellungen zu handeln, haben wir sie<br />
völlig mißverstanden.<br />
127
INSPIRATION<br />
Zugegeben, was hier beschrieben wurde, ist eine Sicht des Gesetzes, die ein hohes<br />
Maß an geistiger und geistlicher Reife voraussetzt. Von Kindern und Neubekehrten<br />
können wir nicht erwarten, daß sie sich auf dieser Stufe schon zurechtfinden. Aus<br />
diesem Grund hat Gott auch konkrete Regeln und genaue Weisungen gegeben – ein<br />
Regelwerk, wenn man so will. Und die Gemeinde <strong>als</strong> Leib Christi, der sich für<br />
Gläubige jeder Art und Prägung verantwortlich weiß, sollte – gewissermaßen <strong>als</strong><br />
Starthilfe – immer eine Reihe von praktikablen Regeln bereithalten.<br />
Die ursprünglichen Gründe für die Anpassung des Gesetzes an die jeweilige<br />
Situation der Menschen finden ihre Parallele in der Gemeinde heute. Ein Blick auf<br />
die damaligen Umstände kann uns helfen, die Gesetzespyramide richtig anzuwenden.<br />
Denn es waren die veränderten Lebensumstände und Bedürfnisse der Menschen, die<br />
zur Anpassung des Gesetzes und zur Entstehung der Gesetzespyramide führten.<br />
128<br />
Ursprung und Anwendung der Gesetzespyramide<br />
Die aus dem Einen, den Zweien und den Zehn gebildete Pyramide stellt die ewig<br />
gültigen Prinzipien des Reiches Gottes dar, die je nach Bedarf zunehmend detailliert<br />
und konkret auf Gottes Welt angewendet werden. Die Zehn sind offensichtlich eine<br />
Anpassung von Gottes Gesetz an eine sündige Welt. Was hätten unsere ersten Eltern<br />
wohl gedacht, wenn Gott ihnen gesagt hätte: „Du sollst deinen Vater und deine<br />
Mutter ehren“, oder „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib“? Vor Einbruch<br />
der Sünde wären sie bestimmt verwirrt gewesen über ein Gebot, das ihnen untersagt<br />
zu töten, zu stehlen und f<strong>als</strong>ch Zeugnis zu reden.<br />
Eine vollkommene Welt bedarf keines geschriebenen Gesetzes. Mündige<br />
Geschöpfe in einem vollkommenen Umfeld verstehen das eine große Gesetz der<br />
Liebe mit all seinen Implikationen, obwohl es nirgends aufgeschrieben ist. Darauf<br />
bezieht sich Ellen White, wenn sie die himmlischen Verhältnisse vor dem Einbruch<br />
der Sünde beschreibt: „Als Satan sich gegen Gott auflehnte, wurde den Engeln zum<br />
ersten Mal bewußt, daß es überhaupt ein Gesetz gab. Vorher hatten sie sich darüber<br />
keine Gedanken gemacht ...“ (BL 102)<br />
Jeremia stellt in der Verheißung eines neuen Bundes die Rückkehr zu einer<br />
„gesetzesfreien“ Welt in Aussicht. Dann nämlich, wenn Gott sein Gesetz in Herz und<br />
Sinn schreibt, „wird keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren und sagen:<br />
‚Erkenne den Herrn‘, sondern sie sollen mich alle erkennen, beide, klein und groß.“<br />
(Jeremia 31,34)<br />
Eine vollkommene Welt ist nur „gesetzesfrei“ in dem Sinn, daß dort kein<br />
schriftlich fixiertes Gesetz notwendig ist. Alles und jeder ist so vom Gesetz der Liebe<br />
erfüllt, daß stets nur das Richtige getan wird. Ähnlich verhält es sich mit einer
GOTTES GESETZ<br />
gewandten Stenotypistin, mit Pianisten, Piloten oder Tennisspielern: Das „Gesetz“ ist<br />
ihnen in Geist, Herz und Finger geschrieben. Das war Gottes Ziel und ist es bis heute<br />
geblieben. Der engagierte Christ kann von dieser inneren Prägung bereits in diesem<br />
Leben etwas verspüren, wenn er den Geist Gottes an sich wirken läßt. Dieser<br />
Vorgang spielt sich allerdings nicht spontan ab. Dazu braucht es Zeit.<br />
Beachten wir demgegenüber den Einfluß der Sünde. Selbstsucht drückt allem<br />
menschlichen Tun und Streben ihr Siegel auf. Unser Denken ist verzerrt. Und mit der<br />
Zeit können wir uns auch auf unsere Beweggründe nicht mehr verlassen; ja es<br />
verkümmert sogar die nötige Einsicht, die uns befähigt, richtige Entscheidungen zu<br />
treffen.<br />
Aus biblischer Sicht ging es dem Menschengeschlecht nach dem Sündenfall in<br />
jeder Beziehung immer schlechter. Zur Zeit Abrahams diente sogar dessen eigene<br />
Familie „anderen Göttern“ (Josua 24,2). Weshalb ließ Gott das zu? Im Blick auf das<br />
Buch Hiob kann man sich vorstellen, daß Gott Satan die Möglichkeit einräumte, die<br />
Welt nach dem Prinzip der Selbstsucht zu regieren. Satan leistete gute Arbeit – und<br />
bewies letztlich doch nur die Richtigkeit von Gottes Einstellung zur Selbstsucht.<br />
Aus der Art und Weise, wie Gott auf die Bedürfnisse der Menschen einging,<br />
lassen sich gewisse Rückschlüsse ziehen auf Sinn und Funktion des Gesetzes. Wir<br />
sollten aufhorchen, wenn Ellen White beschreibt, wie Gott nach und nach sein Gesetz<br />
dem menschlichen Bedürfnis anpaßte: „Hätten die Menschen Gottes Gesetz so<br />
gehalten, wie es Adam nach seinem Fall gegeben worden war, wie Noah es bewahrt<br />
und Abraham es beobachtet hatte, wäre es nicht notwendig gewesen, die<br />
Beschneidung zu verordnen. Und hätten Abrahams Nachkommen den Bund gehalten,<br />
dessen Zeichen die Beschneidung war, hätten sie weder zum Götzendienst verführt<br />
werden können noch die Knechtschaft in Ägypten erdulden müssen. Sie würden<br />
Gottes Gesetz im Herzen behalten haben. Es brauchte nicht vom Sinai verkündet oder<br />
auf steinerne Tafeln geschrieben zu werden. Hätten sie die Grundsätze der Zehn<br />
Gebote ausgelebt, würde es keiner zusätzlichen Anweisungen an Mose bedurft<br />
haben.“ (PP 342)<br />
Wie aus diesem Zitat hervorgeht, wurden die Zehn Gebote erst später verordnet,<br />
zumindest in der uns überlieferten Form. Aber auch sie genügten nicht. Nach<br />
Hunderten von Jahren heidnischen Einflusses war Israel nicht in der Lage, das Eine,<br />
die Zwei und die Zehn wirklich zu erfassen. Ellen White schreibt dazu: „Das durch<br />
Sklaverei und Heidentum abgestumpfte und erniedrigte Volk war nicht darauf<br />
vorbereitet, die Tragweite der Zehn Gebote ganz zu erfassen. Damit sie nun die<br />
Verpflichtungen des Dekalogs besser verstünden und auch erfüllten, wurden ihnen<br />
zusätzliche Vorschriften gegeben, die die Grundsätze der Zehn Gebote<br />
129
INSPIRATION<br />
veranschaulichten und zeitgemäß erklärten.“ (PP 284.285)<br />
Es ist bemerkenswert, daß Israel diese Gesetze nicht <strong>als</strong> belastend empfand. Wenn<br />
Ellen White feststellt, die mosaischen Gesetze „entstammten keinem willkürlich<br />
ausgeübten Herrschaftsanspruch, sondern dienten dem Wohle Israels“ (PP 286), so<br />
bringt sie damit zum Ausdruck, wie sehr man das Gesetz des Alten Testaments<br />
dam<strong>als</strong> zu schätzen wußte. Ehrfurchtsvoll bezeugt Mose: „Und wo ist so ein großes<br />
Volk, das so gerechte Ordnungen und Gebote hat wie dies ganze Gesetz, das ich euch<br />
heute vorlege?“ (5. Mose 4,8) Im Alten Testament ist Gottes Gesetz gute Nachricht,<br />
keine schlechte; es ist eine positive Lebenshilfe, kein Verdammungsinstrument.<br />
Für die frühen Wachstumsphasen ist ein Regelwerk wichtig und nützlich. Bleiben<br />
wir jedoch auf dieser Stufe stehen, indem wir ein noch umfangreicheres Regelwerk<br />
erstellen und versuchen, alle göttlichen Gebote, die je gegeben wurden, zu beachten,<br />
sie sogar aus ihrem ursprünglichen geschichtlichen Zusammenhang lösen, dann<br />
riskieren wir, ausgebrannt, zornig und verzweifelt zu werden. Nach Aussage von<br />
Petrus wird das Gesetz dann zu einer Bürde, die „weder unsre Väter noch wir haben<br />
tragen können“ (Apostelgeschichte 15,10). Es ist zu vermuten, daß die Haß/Liebe-<br />
Beziehung gegenüber dem Gesetz, wie sie von Paulus in Römer 7 beschrieben wird,<br />
auf ähnlichen Ursachen beruht. Wenn wir unser Gesetzesverständnis nur auf Paulus<br />
gründen und vom Rest der Schrift absehen, wird uns das Gesetz allzu leicht <strong>als</strong><br />
schlechte Nachricht erscheinen, <strong>als</strong> Verdammungsinstrument, vor dem uns nur die<br />
Gnade, die Gute Nachricht, bewahren kann.<br />
Sowohl Paulus <strong>als</strong> auch Petrus hatten Schwierigkeiten im Umgang mit dem<br />
Gesetz, weil die Juden ständig versuchten, es in ein starres Regelwerk zu verwandeln.<br />
Aufgrund des mittelalterlichen Katholizismus mußte sich auch Luther mit ähnlichen<br />
Problemen auseinandersetzen. Und heute befinden sich Adventisten mitten in einer<br />
solchen Auseinandersetzung, da sie die Ratschläge von Ellen White ebenfalls zu<br />
einem Regelwerk gemacht haben, zu einer Last, die „weder unsere Väter noch wir<br />
haben tragen können.“<br />
Wird andererseits das Gesetz <strong>als</strong> Beispielsammlung aufgefaßt, so werden wir<br />
wieder in die Lage versetzt, das Gesetz in seiner ursprünglichen, wohlmeinenden und<br />
praktischen Absicht zu verstehen. Wir werden dann nicht versuchen, jedem einzelnen<br />
Gebot, das Gott gab, ewige Gültigkeit beizumessen. Wir sollten hier einen zentralen<br />
Gedanken unterstreichen: die in dem Einen, den Zweien und den Zehn verankerten<br />
positiven Grundsätze sind absolut und dauerhaft, während dies von den einzelnen<br />
Anwendungsbestimmungen nicht gesagt werden kann.<br />
Eine Aussage Jesu ist hier besonders wichtig. In Matthäus 19,3-9 (vgl. Markus<br />
10,1-12) nimmt er Stellung zum Thema Ehescheidung und beantwortet damit eine<br />
130
GOTTES GESETZ<br />
Frage der Pharisäer. Meines Wissens handelt es sich dabei um die einzige Bibelstelle,<br />
die das Prinzip der Akkommodation oder Anpassung, das wir erörtert haben, deutlich<br />
zum Ausdruck bringt. Jesus weist darauf hin, daß Scheidung ursprünglich nicht zu<br />
Gottes Plan gehörte. Gott hatte vorgesehen, daß Mann und Frau für immer eins sein<br />
sollten. Die Sünde aber machte das Gesetz der Ehescheidung erforderlich. „Mose hat<br />
euch erlaubt, euch zu scheiden von euren Frauen eures Herzens Härte wegen; von<br />
Anfang an aber ist’s nicht so gewesen.“ (Matthäus 19,8)<br />
War das Scheidungsgesetz schlecht? Nein. Angesichts der Sünde war es gut.<br />
Dasselbe könnte von einer Reihe anderer Gesetze gesagt werde. Sie waren gut in dem<br />
sündigen Umfeld, für das sie gemacht wurden. Ich würde hier auch die Gesetze über<br />
Sklaverei, Polygamie und Blutrache einschließen. Wenn wir diese Gesetze in ihrem<br />
ursprünglichen Zusammenhang betrachten (Buchstabe des Gesetzes) und uns um<br />
Verständnis bemühen, wie dabei – bezogen auf Ort und Zeit – ewige Prinzipien zur<br />
Anwendung kamen (Geist des Gesetzes), werden wir Erkenntnisse über ähnlich<br />
schwierige Situationen gewinnen können, vor denen wir heute stehen.<br />
Aber dieses Wissen allein reicht nicht aus. Die Gesetzespyramide kann uns nur<br />
dann helfen, Gottes Willen zu erfüllen, wenn wir durch das Gebet in engem Kontakt<br />
mit Gott stehen. Bibelstudium und Gebet gehören zusammen. Sonst wird unser<br />
trotziges, sündiges Herz durch f<strong>als</strong>che Gedanken und Motive irregeleitet.<br />
An dieser Stelle sei ein offenes Wort erlaubt. Mir ist bewußt, daß die in diesem<br />
Kapitel geschilderte Sicht des Gesetzes von vielen <strong>als</strong> gefährlich empfunden wird. In<br />
Anbetracht dessen hätte ich kaum den Mut aufgebracht, meine Überlegungen zu<br />
Papier zu bringen, wäre ich nicht durch Ellen White, besonders ihre Aussagen in<br />
Patriarchen und Propheten, darin bestärkt worden. Von ihr stammen nicht nur die<br />
entscheidenden Ideen, sondern auch die nötige „gesellschaftliche Unterstützung“ und<br />
die „Plausibilitätsstrukturen“. Sie ermöglichten es mir, Bedeutung und Folgen der<br />
Gesetzespyramide darzustellen.<br />
Allerdings würde ich ihr und unserer Gemeinschaft nicht gerecht werden ohne<br />
einen Hinweis auf den entscheidenden Faktor, auf dem ein angemessener Gebrauch<br />
der Gesetzespyramide beruht. Wie bereits gesagt, genügt es nicht, die Fakten zu<br />
kennen, auch nicht die aus der Schrift. Wir müssen Gott kennen, wenn wir die Schrift<br />
richtig verstehen und anwenden wollen. Beachten wir, was Ellen White dazu sagt:<br />
„Menschen, die nicht täglich in der Schule Christi lernen und die nicht viel Zeit in<br />
ernstem Gebet zubringen, sind nicht befähigt, das Werk Gottes in irgendeinem seiner<br />
Zweige zu betreiben; wenn sie es trotzdem tun, wird sie die menschliche Verderbtheit<br />
überwältigen, und ihr Herz wird sich in Eitelkeit überheben.“ (TM 169)<br />
Das ist das „tägliche Sterben des eigenen Ich“ der traditionellen methodistischen<br />
131
INSPIRATION<br />
Frömmigkeit. Das ist die beständige Notwendigkeit, „mit Christus gekreuzigt“ zu sein<br />
(Galater 2,19), täglich – bis er wiederkommt. Seien wir offen: Ohne Christus ist die<br />
Fallbeispiel-Theorie vom Gesetz gefährlich, wenn auch vielleicht weniger gefährlich<br />
<strong>als</strong> der Regelwerk-Ansatz ohne Christus. Für beide Theorien aber gilt, daß wir uns bei<br />
jedem Versuch zu gehorchen, ohne mit ihm in lebendiger Verbindung zu stehen, einer<br />
großen Gefahr aussetzen.<br />
Läßt sich mit Hilfe der Bibel erkennen, ob sich die Zeiten geändert haben, so daß<br />
gewisse von Gott gegebene Gesetze nicht länger gültig sind? „Wer Vater oder Mutter<br />
flucht, der soll des Todes sterben.“ (2. Mose 21,17) „Die Zauberinnen sollst du nicht<br />
am Leben lassen.“ (2. Mose 22,17) „Wer den Göttern opfert und nicht dem Herrn<br />
allein, der soll dem Bann verfallen.“ (2.Mose 22,19) Du darfst aus deines Nächsten<br />
Weinberg Trauben essen soviel du willst, solange du sie nicht in einem Gefäß<br />
wegträgst (5. Mose 23,25). Ein frisch Verheirateter darf mit seiner Frau ein Jahr lang<br />
zu Hause bleiben (5. Mose 24,5). Beschneidung. Blutrache. Sklaverei ...<br />
Wer entscheidet, wann und wodurch solche Gesetze aufgehoben werden? Eins ist<br />
klar: Wir können uns nicht auf ein „So spricht der Herr“ stützen, um das Ende eines<br />
jeden Gesetzes zu bestimmen. Manchmal können wir das Neue Testament<br />
heranziehen, was für Jesus und die Jünger nicht möglich war; sie hatten nur das Alte<br />
Testament. Wenn wir auch geltend machen, daß viele alttestamentliche Gesetze durch<br />
das Kreuz aufgehoben wurden, finden wir im Neuen Testament doch keinen<br />
eindeutigen Hinweis darauf, welche Gesetze „ans Kreuz geschlagen“ wurden. Das<br />
Neue Testament zeigt vielmehr, daß sich sogar die Apostel ausgiebig und gründlich<br />
mit dieser Frage auseinandergesetzt haben (siehe die Diskussion über<br />
Apostelgeschichte 15 in Kapitel 9).<br />
Adventisten können in diesem Zusammenhang auf die Schriften von Ellen White<br />
verweisen. Aber dadurch wird das Problem nur verlagert: Wie konnte sie wissen,<br />
welche Gesetze noch Geltung haben und welche nicht?<br />
Durch Visionen? Das wäre ein gefährliches Argument. Haben wir nicht gesagt,<br />
daß Visionen nur mittels der Schrift zu beurteilen sind? „Hin zur Weisung und hin<br />
zur Offenbarung! Werden sie das nicht sagen, so wird ihnen kein Morgenrot<br />
scheinen.“ (Jesaja 8,20) Den Spieß umzudrehen und zu behaupten, eine spätere<br />
Offenbarung könne eine biblische letztgültig auslegen, würde einen bedenklichen<br />
Präzedenzfall bilden.<br />
Verstehen wir die Bibel dagegen <strong>als</strong> Beispielsammlung, dann können wir uns auf<br />
bleibende Grundsätze stützen, die <strong>als</strong> Prüfstein für unser tägliches Verhalten, unsere<br />
Regeln und Normen dienen. Jeder „Fall“ aus der Schrift trägt dann zu einem besseren<br />
Verständnis der unverrückbaren Grundsätze bei, denn wir lernen, wie Gott diese<br />
132
GOTTES GESETZ<br />
Prinzipien in unterschiedlichen Situationen angewendet hat.<br />
Die ständige Sorgfalt sowie das tägliche Gebet, die dafür erforderlich sind, mögen<br />
einigen zu anstrengend sein. Manche schlagen vielleicht bestürzt die Hände über dem<br />
Kopf zusammen, wenden sich lieber wieder der alten Regelwerk-Haltung zu und<br />
behaupten, daß alle Gesetze in gleicher Weise unter allen Umständen gültig sind.<br />
Solch ein Vorgehen führt aber zu einem ähnlich verzweifelten Ausruf wie dem aus<br />
der Rede des Petrus vor dem Jerusalemer Apostelkonzil: „Warum versucht ihr denn<br />
nun Gott dadurch, daß ihr ein Joch auf den Nacken der Jünger legt, das weder unsre<br />
Väter noch wir haben tragen können?“ (Apostelgeschichte 15,10)<br />
Petrus und das Apostelkonzil tendierten zum Modell der Beispielsammlung und<br />
erkannten, daß bestimmte Gesetze und Anwendungen kommen und gehen können, je<br />
nach Zeit und Situation. Soll dieses Vorgehen dem christlichen Glauben gemäß sein,<br />
so erfordert das gründliches Studium, Diskussion und Gebet. Ich glaube nicht, daß<br />
wir uns der harten Wahrheit entziehen können, die Ellen White so umreißt: „Heftige<br />
Diskussionen um die Bibel haben zum Studium der Schrift geführt und kostbare<br />
Juwelen der Wahrheit zutage gefördert. Es flossen viele Tränen, und es wurde viel<br />
gebetet, damit der Herr sein Wort unserem Verständnis öffnen möge.“ (1 FG 20)<br />
Zeiten ändern sich – auch schon im Alten Bund<br />
Das Problem der Veränderung von Zeit und Gesetz ist nicht leicht zu lösen. Wir<br />
haben aber die Möglichkeit, die biblischen Tatsachen wahrzunehmen, die uns zeigen,<br />
daß sich Gesetze und Bräuche im Laufe der Zeit tatsächlich ändern, sogar schon im<br />
Rahmen des Alten Testaments. Drei Beispiele aus 5. Mose 23 sollen das illustrieren:<br />
1. Eunuchen ausgeschlossen ...<br />
„Kein Entmannter oder Verschnittener soll<br />
in die Gemeinde des Herrn kommen.“<br />
(5. Mose 23,2)<br />
... und eingeschlossen<br />
„Und der Verschnittene soll nicht sagen:<br />
Siehe, ich bin ein dürrer Baum. Denn so spricht<br />
der Herr: Den Verschnittenen, die meine Sabbate<br />
halten und erwählen, was mir wohlgefällt, und an<br />
meinem Bund festhalten, denen will ich in<br />
meinem Hause und in meinen Mauern ein<br />
Denkmal und einen Namen geben; das ist besser<br />
<strong>als</strong> Söhne und Töchter. Einen ewigen Namen<br />
will ich ihnen geben, der nicht vergehen soll.“<br />
(Jesaja 56,3-5)<br />
Es gibt Hinweise darauf, daß die Kanaaniter junge Männer im Rahmen von<br />
Fruchtbarkeitsriten kastriert haben. Ursprünglich war das biblische Verbot zweifellos<br />
eine Schutzmaßnahme, die Israel vor gefährlichen und irreführenden Kulthandlungen<br />
133
INSPIRATION<br />
bewahren sollte. Als die Bedrohung aufhörte, war das Gesetz nicht länger nötig. So<br />
kam es zu der wunderbaren Verheißung von Jesaja.<br />
2. Außereheliche Nachkommen<br />
ausgeschlossen ...<br />
„Einer, dessen Eltern nicht verheiratet waren,<br />
muß der Versammlung ebenfalls fernbleiben.<br />
Auch seine Nachkommen dürfen nicht dabei<br />
sein, selbst zehn Generationen später nicht.“<br />
(5. Mose 23,3 HfA)<br />
... und eingeschlossen<br />
„Jeftah, ein Gileaditer, war ein streitbarer Mann,<br />
aber der Sohn einer Hure ... Jeftah sprach zu den<br />
Ältesten von Gilead: Wenn ihr mich wieder holt,<br />
um gegen die Ammoniter zu kämpfen, und der<br />
Herr sie mir in die Hand gibt, soll ich dann euer<br />
Haupt sein? Und die Ältesten von Gilead<br />
sprachen zu Jeftah: Der Herr sei Ohrenzeuge<br />
zwischen uns ... Da kam der Geist des Herrn auf<br />
Jeftah ...“ (Richter 11,1.9.10.29)<br />
Welche Gründe es auch gegeben haben mag, außereheliche Nachkommen aus der<br />
Gemeinschaft auszuschließen, so wurden sie bei der Ernennung Jeftahs zum Richter<br />
doch übergangen. Ursprünglich bezweckte das Gesetz zweifellos, einer zur<br />
Ausschweifung neigenden Gesellschaft einen gewissen moralischen Halt zu geben.<br />
Die Bibel selbst aber weist darauf hin, daß dieses spezielle Gesetz nicht Bestandteil<br />
eines starren Regelwerkes war.<br />
3. Moabiter ausgeschlossen ...<br />
„Die Ammoniter und Moabiter sollen nicht<br />
in die Gemeinde des Herrn kommen, auch nicht<br />
ihre Nachkommen bis ins zehnte Glied; sie<br />
sollen nie hineinkommen.“ (5. Mose 23,4)<br />
„Zu dieser Zeit sah ich auch Juden, die sich<br />
Frauen genommen hatten aus Aschdod, Ammon<br />
und Moab ... Und ich schalt sie und fluchte<br />
ihnen und schlug einige Männer und packte sie<br />
bei den Haaren und beschwor sie bei Gott: Ihr<br />
sollt eure Töchter nicht ihren Söhnen geben noch<br />
ihre Töchter für eure Söhne oder euch selbst<br />
nehmen.“ (Nehemia 13, 23.25)<br />
... und eingeschlossen<br />
„Dazu habe ich mir auch Rut, die<br />
Moabiterin, die Frau Machlons, zum Weibe<br />
g e n o mme n , d a ß ich d en Namen d es<br />
Verstorbenen erhalte auf seinem Erbteil ... So<br />
nahm Boas die Rut, daß sie seine Frau wurde.<br />
Und <strong>als</strong> er zu ihr einging, gab ihr der Herr, daß<br />
sie schwanger ward, und sie gebar einen Sohn ...<br />
sie nannten ihn Obed. Der ist der Vater Isais,<br />
welcher Davids Vater ist.“ (Rut 4,10.13.17)<br />
„Salmon zeugte Boas mit der Rahab. Boas<br />
zeugte Obed mit der Rut. Obed zeugte Isai. Isai<br />
zeugte den König David ... Jakob zeugte Josef,<br />
den Mann der Maria, von der geboren ist Jesus,<br />
der da heißt Christus.“ (Matthäus 1,5.6.16)<br />
Gemäß biblischer Darstellung wurde das Gesetz gegen die Moabiter von Mose<br />
erstm<strong>als</strong> proklamiert, zur Zeit der Richter (im Falle der Rut) unbeachtet gelassen,<br />
nach dem Exil von Esra und von Nehemia wieder herangezogen und dann im<br />
Zusammenhang mit dem Stammbaum Jesu erneut übergangen.<br />
Ohne Zweifel wurde das Gesetz ursprünglich gegeben, um den reinen Glauben<br />
134
GOTTES GESETZ<br />
angesichts der Bedrohungen durch die umliegenden heidnischen Völker zu bewahren.<br />
Aus den Tagen von Esra und Nehemia wissen wir aufgrund außerbiblischer Quellen<br />
(Papyri aus Elephantine), daß Juden in Ägypten einen Tempel errichtet hatten, in dem<br />
man Jahwe, dem Gott Israels <strong>als</strong> weibliches Pendant eine Gemahlin zugesellte. Vor<br />
dem Hintergrund einer solchen Angleichung an heidnische Kultpraktiken ist es<br />
verständlich, daß Esra und Nehemia den Gesetzen, die eine klare Unterscheidung<br />
zwischen Israel und seinen heidnischen Nachbarn bezweckten, wieder Geltung<br />
verschaffen wollten.<br />
In jedem dieser drei Fälle erfolgte die Veränderung innerhalb des Alten<br />
Testaments, nicht erst zur Zeit des Kreuzes. Gemäß traditioneller Regelwerk-<br />
Vorstellung sind wir geneigt, alle alttestamentlichen Gesetze bis zum Kreuz<br />
fortzuführen und exakt mit dem Tod Christi auslaufen zu lassen. Sicherlich gab das<br />
Kreuz gewissen Gesetzen ein anderes Gewicht. Aber es hatte nichts mit den<br />
Ausnahmen zu tun, wie sie bei Eunuchen, außerehelichen Nachkommen und den<br />
Moabitern angewendet wurden.<br />
Kurz gesagt: Das Gesetz wird offensichtlich schon im Alten Testament im Sinne<br />
einer Beispielsammlung behandelt. Dieses Denkmuster wird im Neuen Testament<br />
lediglich fortgesetzt.<br />
Ich habe Studenten und Gemeindeglieder beobachtet, die sich mit der Frage<br />
herumschlugen, wie sie sich dem biblischen Gesetz gegenüber verhalten sollten.<br />
Dabei habe ich immer wieder festgestellt, daß sie vor allem eines befürchteten:<br />
Sobald offen gesagt wird, daß es Ausnahmen gibt, scheint dadurch das gesamte<br />
Gesetzessystem gefährdet. Hier begegnet uns wieder der Domino-Effekt, der<br />
rutschige Abhang und der Warnruf: Wehret den Anfängen! Immer wieder treffen wir<br />
auf diese Ängste.<br />
Um derartige Befürchtungen zu zerstreuen, möchte ich zunächst darauf hinweisen,<br />
daß die dauerhaften und absoluten Bestandteile der Gesetzespyramide (das Eine, die<br />
Zwei und die Zehn) einen starken Schutzwall gegen Kompromisse und Zerfall bilden.<br />
In einem gewissen Sinn haben wir hier tatsächlich ein Regelwerk vor uns, und zwar<br />
auf einer fundamentalen Ebene. Das Eine, die Zwei und die Zehn stellen positive und<br />
dauerhafte Grundsätze dar, die weit über den zeitbedingten und weniger bedeutsamen<br />
Anwendungsbestimmungen stehen.<br />
Wer fürchtet, sogar der Sabbat könnte in Frage gestellt werden, sollte bedenken,<br />
daß der Sabbat zu den Zehn gehört, nicht zu den zeitlich und kulturell bedingten<br />
Zusatzgeboten. Nur eine sabbathaltende Gruppe kann die Gesetzespyramide in ihrer<br />
vollen Konsequenz erfassen und ausleben. Als Adventisten haben wir hier eine<br />
Gelegenheit, die wir nicht verpassen sollten. Wir haben die Verantwortung, unsere<br />
135
INSPIRATION<br />
Erkenntnis anderen mitzuteilen und dürfen uns nicht davor drücken.<br />
Ferner sollten wir erkennen, daß ein Modell, das auf ewigen Prinzipien beruht,<br />
unsere Beweggründe radikal verändert. Anstatt aus „religiösen Gründen“ eine<br />
gewisse Anzahl konkreter und überschaubarer Forderungen zu erfüllen, während wir<br />
unser Leben ansonsten nach unseren eigenen Vorstellungen führen, haben wir nun<br />
unser ganzes Sein dem einen großen Gebot unterstellt. Und auch das ist aus<br />
„religiösen Gründen“geschehen! Diese freiwillige Verpflichtung verwandelt nämlich<br />
jede Tat in eine Tat des Gehorsams aus „religiösen Gründen“.<br />
Diese ganzheitliche Sicht kann bedeuten, daß Gott uns vielleicht auffordert, einem<br />
Gebot, das er früher einmal gegeben hat, keine Beachtung mehr zu schenken. Das<br />
wäre dann aber durchaus im Einklang mit dem, was er sonst von uns erwartet. In all<br />
unserem Tun würden wir Gott und seinem Gesetz Gehorsam leisten.<br />
Es fällt uns schwer, das zu akzeptieren, weil wir von Natur aus eher zum<br />
Regelwerk-Konzept neigen. Vielleicht wird uns manches klarer werden, wenn wir<br />
einmal die adventistische und die jüdisch-orthodoxe Sicht bezüglich der Ernährung<br />
miteinander vergleichen.<br />
Zwei Einstellungen zur Ernährung<br />
Vor einigen Jahren fuhr ich mit meinem Hebräischkurs nach Portland, Oregon, um<br />
verschiedene Synagogen aufzusuchen. Im Anschluß an den orthodoxen Gottesdienst<br />
am Sabbatmorgen trafen sich der Synagogenvorsteher und mein Kurs, um Meinungen<br />
auszutauschen und Fragen zu beantworten. Er war sichtlich stolz auf sein jüdisches<br />
Erbe und wies besonders auf seine Familie hin, die sich strikt an die Gesetze einer<br />
koscheren Ernährung hielt. „Bei der jüdischen Studentenverbindung der Universität<br />
von Washington,“ sagte er, „ist mein Sohn der einzige, der koscher lebt. Und bei uns<br />
daheim,“ ergänzte er, „verfügen wir über sechs verschiedene Services, drei für den<br />
täglichen Gebrauch und drei für festliche Anlässe. Jeweils ein Service besteht aus<br />
Geschirr, das ausschließlich für fleischhaltige Speisen bestimmt ist, eines, das nur für<br />
die mit Milch vermischen Speisen da ist, und ein drittes, in dem weder Fleisch noch<br />
Milch enthalten ist.<br />
Da unterbrach ihn einer der Studenten und platze heraus: „Warum eigentlich nicht<br />
vegetarisch leben? Das wäre doch viel einfacher!“ Das hörte sich ungefähr so an, <strong>als</strong><br />
würde man einem Adventisten sagen: „Warum nicht den Sonntag halten? Das wäre<br />
doch viel einfacher!“<br />
Der Leiter der Synagoge starrte ihn an und war einen Augenblick sprachlos. Dann<br />
entgegnete er etwas arrogant: „Die Mischna [eine Sammlung traditioneller jüdischer<br />
136
GOTTES GESETZ<br />
Gesetze] enthält 613 Gebote, und bestimmt lautet eines davon: ‚Du sollst Fleisch<br />
essen!‘“<br />
137
INSPIRATION<br />
Offenbar beeindruckte ihn eine vegetarische Lebensweise überhaupt nicht,<br />
ebensowenig der Gedanke an ihre Zweckmäßigkeit. Die sechs Services waren im<br />
göttlichen Gesetz begründet, und deshalb mußte man gehorchen. Welches Gesetz?<br />
„Du sollst das Böcklein nicht kochen in seiner Mutter Milch.“ (2. Mose 23,19; 5.<br />
Mose 14,21) Die unterschiedlichen Services beruhen auf jüdischer Gesetzestradition,<br />
wonach es verboten ist, Fleisch und Milchprodukte zusammen zu essen, einer<br />
Tradition, die eben mit jenem biblischen Gesetz zusammenhängt.<br />
Bevor wir fragen, ob dieses Gesetz tatsächlich heute noch gültig ist, möchten wir<br />
vielleicht wissen, wie dieses Gebot überhaupt zustande kam. So aber denkt der<br />
orthodoxe Jude nicht. Wenn Gott gesprochen hat, muß das Volk gehorchen.<br />
Adventisten führen häufig verstandesmäßige, gesundheitsbezogene Gründe ins<br />
Feld, wenn es um die weiterhin gültigen Gesetze geht. Warum soll man unreine Tiere<br />
nicht essen (3. Mose 11; 5. Mose 14)? Weil sie Aasfresser sind, was sie für<br />
Krankheitserreger anfälliger macht. Weshalb soll das Blut von Tieren nicht genossen<br />
werden (3. Mose 17,10-16)? Weil das Blut Verunreinigungen enthält.<br />
Solche verstandesmäßigen Erklärungen mögen Gott dazu bewogen haben, diese<br />
Gebote zu erlassen, aber er hielt es nicht für nötig, Israel die Gründe dafür zu nennen.<br />
Gesundheitliche Aspekte werden von der Bibel nicht genannt, um die mosaische<br />
Gesetzgebung zu begründen. Was Israel anbelangt, so waren die ursprünglichen<br />
Verbote durchaus religiöser Natur. Sie sollten heilig sein, wie auch Gott heilig ist.<br />
Gott hatte gesprochen. Weitere Erklärungen waren nicht nötig. Das ist typisch für<br />
einen autoritätsgläubigen Kulturkreis und bei einem Volk ehemaliger Sklaven kaum<br />
anders zu erwarten.<br />
Ebensowenig erklärt die Schrift, weshalb ein Böcklein nicht in der Milch seiner<br />
Mutter gekocht werden durfte. Bis zur Auffindung alter palästinensischer Texte,<br />
denen zu entnehmen ist, daß der Brauch möglicherweise mit kananäischen<br />
Fruchtbarkeitsriten verbunden war, hatten wir keine schlüssige Erklärung, die einen<br />
modernen Menschen hätte befriedigen können. Heute verstehen wir, daß die mit dem<br />
Ritus verknüpfte Fruchtbarkeitssymbolik der eigentliche Grund für das Verbot<br />
gewesen sein dürfte. Man könnte daraus schließen, daß das Gesetz in jener Kultur<br />
bedeutsam war, nicht aber in unserer Zeit. Dieser Gedankengang ähnelt dem in<br />
Apostelgeschichte 15, wo die Beschneidung nur für Judenchristen, nicht aber für<br />
Heidenchristen Bedeutung hat.<br />
Für einen frommen orthodoxen Juden hingegen (den Synagogenvorsteher zum<br />
Beispiel) kann weder Zweckmäßigkeit noch Kulturabhängigkeit das Geringste an<br />
seiner Haltung ändern. Gott hat gesprochen. Damit ist die Sache erledigt. Alle<br />
göttlichen Gesetze bilden ein absolutes und bleibendes Regelwerk.<br />
138
GOTTES GESETZ<br />
Die jüdisch-orthodoxe Tradition erhöht die Bedeutung dieses Regelwerks noch durch<br />
den Anspruch, die mündliche jüdische Tradition sei am Berg Sinai entstanden, <strong>als</strong>o<br />
zur gleichen Zeit wie die Zehn Gebote. Historisch gesehen wurde die mündliche<br />
Tradition aber erst zwischen dem zweiten und fünften Jahrhundert n. Chr. in der<br />
Mischna festgeschrieben. Dennoch besitzen für den orthodoxen Juden alle von Gott<br />
gegebenen Gesetze den gleichen, bleibenden Wert.<br />
Die Mischna enthält auch die traditionelle jüdische Auslegung des Gesetzes über<br />
die Trennung von Fleisch und Milch (Traktat Hullin 8,4). In seiner Einführung zur<br />
englischen Standardausgabe der Mischna beschreibt Herbert Danby, wie der<br />
traditionsbewußte Jude alle mosaischen Gesetze <strong>als</strong> Teil einer einzigen göttlichen<br />
Offenbarung versteht: „Sie alle gehören zum inspirierten Wort Gottes. Die<br />
gewissenhafte Einhaltung der Gesetze über Quasten und Gebetsriemen ist genauso<br />
eine Erfüllung des Willens Gottes wie der Verzicht auf Götzendienst und Mord. Da<br />
das gesamte geschriebene Gesetz <strong>als</strong> Gottes Wille für Israel betrachtet wurde, waren<br />
jüdische Lehrer nicht berechtigt, die relative Wichtigkeit dieser oder jener Anordnung<br />
selbst zu bestimmen. Deshalb erhält das mündlich überlieferte Gesetz Gebräuche und<br />
Entscheidungen aufrecht, die sich aus den unbedeutendsten wie aus den wichtigsten<br />
Gesetzesvorschriften ergaben, die Israel am Sinai erhalten hatte.“ (The Mishnah xvii)<br />
Wahrscheinlich betrachten die meisten Adventisten das Verbot, unreine Tiere zu<br />
essen, <strong>als</strong> dauerhafte religiöse Anordnung. Mit anderen Worten, sie schließen es<br />
zusammen mit den Zehn Geboten in ihr Regelwerk ein – gewissermaßen <strong>als</strong> elftes<br />
Gebot. Obwohl wir vielleicht sagen, daß dem Verbot gesundheitliche Überlegungen<br />
zugrunde liegen, zeigt unsere Handlungsweise doch eine gewisse Zwiespältigkeit:<br />
Denn einerseits führt uns unser Regelwerk-Denken dazu, die Beschriftung von<br />
Lebensmitteln auf den Gehalt an tierischen Fetten zu überprüfen, wobei wir andere<br />
Zutaten übersehen, die vom rein gesundheitlichen Standpunkt aus gefährlicher sind.<br />
Andererseits fühlen sich die meisten Adventisten dem Fallbeispiel-Denken doch<br />
insoweit verbunden, daß sie eine Gastgeberin nicht fragen würden, ob ihre<br />
Backwaren mit Schweineschmalz oder Pflanzenfett hergestellt wurden. Wir würden<br />
zwar nach dem Schinken im Sandwich fragen, aber nicht nach dem Schweineschmalz.<br />
Ist das nicht unser praktisches Verhalten? Auf der unteren „unsichtbaren“ Stufe<br />
handeln wir pragmatisch und befolgen den Rat des Paulus: „Eßt alles, was euch<br />
vorgesetzt wird, und forscht nicht nach, damit ihr das Gewissen nicht beschwert.“<br />
(1. Korinther 10,27)<br />
Vergleichen wir diese teilweise flexible Haltung mit der eines prominenten<br />
jüdischen Theologen, der eine unserer adventistischen Universitäten besuchte. Das<br />
139
INSPIRATION<br />
Personal scheute keinen Aufwand, ihm koschere Speisen anzubieten. Man fand das<br />
geeignete Geschirr, reinigte es sogar in einem Dampfkochtopf, um potentielle<br />
Verunreinigungen zu vermeiden. Dann servierte man ihm gute koschere Kost –<br />
zumindest war man dieser Überzeugung.<br />
Der Gast sah auf die Speisen und erkundigte sich dann nach der Soße. Niemand<br />
konnte seine Frage beantworten. „Bringen Sie mir die Dose,“ sagte er. Man brachte<br />
sie und er las sorgfältig die Beschriftung. „Aha,“ sagte er endlich, „das dachte ich mir<br />
doch. Ich kann das nicht essen!“ Und die ganze Mahlzeit wurde weggeworfen. Er<br />
hielt sein Regelwerk-Konzept konsequent aufrecht. Keinerlei Ausnahmen. Niem<strong>als</strong>!<br />
Sehen wir uns nun die adventistische Haltung an. Wenn die wirkliche Begründung<br />
des Verbots die Gesundheit ist, dann geht es ganz einfach um eine Erweiterung des<br />
sechsten Gebotes: „Du sollst nicht töten.“ Damit vollzieht sich ein erster praktischer<br />
Schritt, der zu der Erkenntnis verhilft, wie wir dieses Gebot halten sollen, besonders<br />
wenn man sich in einer Wüste befindet, wo Nahrung nicht richtig gekocht werden<br />
kann. Positiv ausgedrückt würde <strong>als</strong>o das sechste Gebot etwa besagen: „Tue dein<br />
möglichstes, Leben zu fördern und zu erhalten. Und was Ernährung betrifft, so iß nur<br />
die beste verfügbare Speise.“<br />
Gestützt auf die Bibel <strong>als</strong> Beispielsammlung, die auf ewigen Prinzipien beruht,<br />
würde ich, falls notwendig, mit Schweineschmalz zubereitete Vollkorn-Kekse<br />
manchem anderen vorziehen: z. B. verdorbenen Möhren, einem nicht<br />
durchgebratenen Beefsteak, und möglicherweise auch einem Stück Pekannuß-Torte.<br />
Verdorbene Möhren würde sicher jeder von seinem Speisezettel streichen; die<br />
Tatsache, daß ich schon immer vegetarisch gelebt habe, würde ein Beefsteak für mich<br />
ausschließen, auch wenn es durchgebraten ist; die Pekannuß-Torte, die bei fast jedem<br />
adventistischen „Potluck“ angeboten wird, wäre zwar annehmbar, aber vielleicht<br />
nicht die beste verfügbare Speise.<br />
Als einem Adventisten der vierten Generation würde es mir nicht leicht fallen,<br />
bewußt etwas zu essen, was mit Schweineschmalz zubereitet wurde, und vom<br />
gesundheitlichen Standpunkt aus sind pflanzliche Fette sicher vorzuziehen. Aber was<br />
würde ich tatsächlich essen, wenn meine Lebensweise nicht an ein Regelwerk,<br />
sondern an Prinzipien gebunden ist?<br />
Manche befürchten, die Adventisten würden losrennen und sich mit allen<br />
möglichen unreinen Fleischarten vollstopfen. Sollte das tatsächlich geschehen, so<br />
wäre es der beste Beweis dafür, daß wir uns nicht an Prinzipien orientieren. Bei<br />
unserem heutigen Erkenntnisstand würde uns eine an Grundsätzen orientierte Haltung<br />
eher noch in unserer vegetarischen Lebensweise bestärken und zu gesünderen<br />
Menschen machen. Das würde Gott gefallen, und wir könnten sicher länger und<br />
140
GOTTES GESETZ<br />
glücklicher leben. Darum geht es ja letztlich beim Gesetz.<br />
Aber es würde noch andere Veränderungen in der adventistischen Lebensweise<br />
geben. Anstatt das Kino völlig zu meiden, aber dafür zu Hause wahllos jeden<br />
Fernsehfilm anzusehen, hätten wir uns viel sorgfältiger zu überlegen, was wir uns<br />
überhaupt ansehen wollen. Anstatt Schach, Dame- und Kartenspiel zu verbieten, sich<br />
gleichzeitig aber nächtelang mit Monopoly zu beschäftigen, würden wir unsere Spielund<br />
Freizeitgewohnheiten grundsätzlich überdenken. Anstatt unseren Nichtkämpfer-<br />
Status bei der Armee hervorzuheben, während wir gleichzeitig unseren Mitmenschen<br />
durch üble Nachrede schaden, würden wir viel empfindsamer werden für Worte und<br />
Taten, die Leben zerstören.<br />
Kurz, wir würden nicht länger Minze, Dill und Kümmel verzehnten und dabei die<br />
wichtigen Grundsätze, auf denen das Gesetz beruht, vernachlässigen.<br />
Zusammenfassung<br />
Was heißt es <strong>als</strong>o, die Bibel <strong>als</strong> eine Beispielsammlung zu verstehen, die auf ewig<br />
gültigen Prinzipien beruht? Fassen wir die wichtigsten Aspekte zusammen, die wir in<br />
diesem Kapitel erarbeitet haben:<br />
1. Die Verpflichtung gegenüber dem einen großen Gesetz aufopfernder Liebe<br />
bewirkt, daß jede Tat moralisch und religiös motiviert ist. Christen, die ihr Leben<br />
ganzheitlich führen, können keine Liste von Taten erstellen, die sie aus „religiösen<br />
Gründen“ vollbringen, während ihr restliches Leben davon unberührt bleibt.<br />
2. Das biblische Konzept der Gesetzespyramide bedeutet, daß einige Gesetze<br />
wichtiger sind <strong>als</strong> andere, wobei das eine große Gebot aufopfernder Liebe alle anderen<br />
Gebote übertrifft. In einer sündigen Welt können sich – auf jeder Stufe unterhalb<br />
des einen großen Gebotes – Konflikte zwischen einzelnen Geboten ergeben. Solche<br />
Konflikte lassen sich unter Berufung auf ein höher eingestuftes Gebot lösen.<br />
3. Die ewigen und absoluten Prinzipien sind in dem Einen, den Zweien und den<br />
Zehn enthalten. Alle anderen Gesetze sind Anwendungen dieser Prinzipien oder<br />
dienen <strong>als</strong> Hilfsmittel, die zu ihnen hinführen. Je nach zeitlichen und kulturellen<br />
Umständen sind sie Veränderungen unterworfen.<br />
Einige Aspekte bedürfen in diesem Zusammenhang unserer besonderen<br />
Aufmerksamkeit:<br />
a. Reine und unreine Tiere: Handelt es sich dabei um einen ersten Schritt im<br />
Rahmen des sechsten Gebots: „Du sollst nicht töten“?<br />
b. Der Zehnte: Ist das ein erster Schritt im Rahmen des ersten Gebots: „Du sollst<br />
keine anderen Götter haben neben mir“?<br />
141
INSPIRATION<br />
c. Die Todesstrafe: Das Alte Testament stellt die Übertretung eines jeden der Zehn<br />
Gebote außer dem zehnten Gebot („Du sollst nicht begehren“) unter Todesstrafe.<br />
Obwohl die Bestrafung im Dekalog selbst nicht erwähnt wird, sollten wir uns doch<br />
fragen, ob Gott dieses Vorgehen nicht gewählt hat, um den Ernst seiner Gebote zu<br />
betonen. Sollte das der Fall sein, welche Bedeutung hat das dann für unsere moderne<br />
Kultur?<br />
d. Religiöse Riten, Feste und Opfer: Zweifellos vermitteln uns die alttestamentlichen<br />
Bräuche etwas über Gott. Sollten wir sie nicht ernster nehmen und in ihnen ein<br />
Mittel sehen, um unser Verständnis für die ersten vier Gebote des Dekalogs zu erweitern?<br />
4. Manche potentiellen Konflikte zwischen einzelnen Geboten können ausgeglichen<br />
werden, zum einen durch die Frage nach dem buchstäblichen Sinn (indem wir<br />
uns mit Umfeld und Anwendung des Gesetzes zur Zeit seiner Entstehung<br />
auseinandersetzen) und zum anderen durch die Suche nach dem Geist des Gesetzes<br />
(indem wir die Motivation und Prinzipien, die ihm zugrunde liegen, beachten).<br />
Motive für bestimmte Taten haben eine große Bedeutung. So ist unbeabsichtigtes<br />
Töten weder dem Buchstaben noch dem Geist nach eine Übertretung des sechsten<br />
Gebots. Andererseits macht das Neue Testament deutlich, daß Haß eine<br />
Gesetzesübertretung ist, auch wenn dabei niemand getötet wurde.<br />
5. Gebet und ständige Verbindung mit Gott sind für eine sinnvolle Anwendung der<br />
Gesetzespyramide unerläßlich. Es genügt nicht, die biblischen Gesetze oder ihren<br />
historischen Kontext zu kennen, so wertvoll diese Erkenntnis auch sein mag. Der<br />
Christ muß Gott kennen. In einer vollkommenen Welt ist kein geschriebenes Gesetz<br />
notwendig, weil das Gesetz Gottes dem Herzen eingeprägt ist. Auf dem Weg zur<br />
vollkommenen Gemeinschaft mit unserem Herrn, können wir Gott nur gehorchen,<br />
wenn wir ihn bitten, unser Leben, unsere Gedanken und unsere Motive zu reinigen.<br />
Richtige Handhabung der Beispielsammlung, die auf ewigen Prinzipien beruht, ist<br />
nur dann möglich, wenn wir mit dem großen Gesetzgeber selbst verbunden sind.<br />
142
Exkurs A<br />
Die biblische Basis für die Gesetzespyramide<br />
GOTTES GESETZ<br />
Während die Grundelemente der Gesetzespyramide bereits im Alten Testament<br />
vorhanden sind, macht das Neue Testament präzise Aussagen darüber und stellt uns<br />
die Gesetzespyramide in geeigneter Perspektive vor Augen. Die folgenden Bibeltexte<br />
tragen zum Verständnis des Einen, der Zwei und der Zehn bei, die universelle und<br />
dauerhafte Bestandteile der Schrift darstellen.<br />
3. Mose 19,18: „Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder<br />
deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der Herr.“<br />
5. Mose 6,4.5: „Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der HERR allein. Und du<br />
sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und<br />
mit all deiner Kraft.“<br />
Matthäus 7,12: „Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut<br />
ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.“ Siehe auch Matthäus 19,16-21 und<br />
Matthäus 22,35-40<br />
Markus 10,17-21: „Und <strong>als</strong> er sich auf den Weg machte, lief einer herbei, kniete<br />
vor ihm nieder und fragte ihn: Guter Meister, was soll ich tun, damit ich das ewige<br />
Leben ererbe? Aber Jesus sprach zu ihm: Was nennst du mich gut? Niemand ist gut<br />
<strong>als</strong> Gott allein. Du kennst die Gebote: ‚Du sollst nicht töten; du sollst nicht<br />
ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht f<strong>als</strong>ch Zeugnis reden; du sollst<br />
niemanden berauben; ehre Vater und Mutter.‘ Er aber sprach zu ihm: Meister, das<br />
habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf. Und Jesus sah ihn an und gewann ihn<br />
lieb und sprach zu ihm: Eines fehlt dir. Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib’s<br />
den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir<br />
nach!.“<br />
Markus 12,28-31: „Und es trat zu ihm einer von den Schriftgelehrten, der ihnen<br />
zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Und <strong>als</strong> er sah, daß er ihnen gut<br />
geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen? Jesus aber<br />
antwortete ihm: Das höchste Gebot ist das: ‚Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der<br />
Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von<br />
ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften.‘ Das andre ist dies:<br />
‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‘ Es ist kein anderes Gebot größer<br />
<strong>als</strong> diese.“ Siehe auch Lukas 10,25-28 und Lukas 18,18-22.<br />
Johannes 13,34.35: „Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinander<br />
liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habt. Daran wird<br />
jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.“<br />
143
INSPIRATION<br />
Siehe<br />
auch Johannes 14,15.21 sowie Johannes 15,10.12.17.<br />
Römer 13,8-10: „Seid niemand etwas schuldig, außer, daß ihr euch untereinander<br />
liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. Denn was da gesagt ist:<br />
‚Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst<br />
nicht begehren‘, und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort<br />
zusammengefaßt: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‘ Die Liebe tut<br />
dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.“<br />
Galater 5,13.14: „Ihr aber, liebe Brüder, seid zur Freiheit berufen. Allein seht zu,<br />
daß ihr durch die Freiheit nicht dem Fleisch Raum gebt; sondern durch die Liebe<br />
diene einer dem andern. Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, in dem:<br />
‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!‘“ Siehe auch 1. Korinther 13.<br />
Jakobus 2,8-12: „Wenn ihr das königliche Gesetz erfüllt nach der Schrift: ‚Liebe<br />
deinen Nächsten wie dich selbst‘, so tut ihr recht; wenn ihr aber die Person anseht, tut<br />
ihr Sünde und werdet überführt vom Gesetz <strong>als</strong> Übertreter. Denn wenn jemand das<br />
ganze Gesetz hält und sündigt gegen ein einziges Gebot, der ist am ganzen Gesetz<br />
schuldig. Denn der gesagt hat: ‚Du sollst nicht ehebrechen‘, der hat auch gesagt: ‚Du<br />
sollst nicht töten.‘ Wenn du nun nicht die Ehe brichst, tötest aber, bist du ein<br />
Übertreter des Gesetzes. Redet so und handelt so wie Leute, die durchs Gesetz der<br />
Freiheit gerichtet werden sollen.“<br />
1. Johannes 3,10-18: „Daran wird offenbar, welche die Kinder Gottes und welche<br />
die Kinder des Teufels sind: Wer nicht recht tut, der ist nicht von Gott, und wer nicht<br />
seinen Bruder lieb hat. Denn das ist die Botschaft, die ihr gehört habt von Anfang an,<br />
daß wir uns untereinander lieben sollen, nicht wie Kain, der von dem Bösen stammte<br />
und seinen Bruder umbrachte. Und warum brachte er ihn um? Weil seine Werke böse<br />
waren und die seines Bruders gerecht. Wundert euch nicht, meine Brüder, wenn euch<br />
die Welt haßt. Wir wissen, daß wir aus dem Tod in das Leben gekommen sind; denn<br />
wir lieben die Brüder. Wer nicht liebt, der bleibt im Tod. Wer seinen Bruder haßt, der<br />
ist ein Totschläger, und ihr wißt, daß kein Totschläger das ewige Leben bleibend in<br />
sich hat. Daran haben wir die Liebe erkannt, daß er sein Leben für uns gelassen hat;<br />
und wir sollen auch das Leben für die Brüder lassen. Wenn aber jemand dieser Welt<br />
Güter hat und sieht seinen Bruder darben und schließt sein Herz vor ihm zu, wie<br />
bleibt denn die Liebe Gottes in ihm? Meine Kinder, laßt uns nicht lieben mit Worten<br />
noch mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit.“<br />
1. Johannes 3,23: „Und das ist sein Gebot, daß wir glauben an den Namen seines<br />
Sohnes Jesus Christus und lieben uns untereinander, wie er uns das Gebot gegeben<br />
hat.“ Siehe auch 1. Johannes 2,3-11;1. Johannes 4,7-12.16-21; 1. Johannes 5,1-3 und<br />
2. Johannes 5.6<br />
144
GOTTES GESETZ<br />
145
INSPIRATION<br />
Exkurs B<br />
Ellen G. White über das Wesen des Gesetzes<br />
Bevor es im Himmel Sünde gab, waren sich die Engel keines Gesetzes bewußt:<br />
„Beachten wir aber, daß im Himmel nichts unter gesetzlichem Zwang getan wird. Als<br />
Satan sich gegen Gott auflehnte, wurde den Engeln zum ersten Mal bewußt, daß es<br />
überhaupt ein Gesetz gab. Vorher hatten sie sich darüber keine Gedanken gemacht,<br />
denn sie dienen Gott nicht wie Knechte, sondern wie Söhne. Sie leben in völliger<br />
Übereinstimmung mit ihrem Schöpfer und gehorchen ihm gern. Die Liebe zu Gott<br />
macht ihnen ihren Dienst zur Freude. So kann auch jeder von uns, der Christus, die<br />
Hoffnung der Herrlichkeit, in sein Herz aufgenommen hat, sagen: Deinen Willen,<br />
mein Gott, tue ich gern, und dein Gesetz hab ich in meinem Herzen.“ (BL 102)<br />
Bevor die Sünde auf die Erde kam, war das Gesetz dem menschlichen Herzen<br />
eingeprägt: „Adam und Eva besaßen bei ihrer Erschaffung Kenntnis vom Gesetz<br />
Gottes. Sie waren mit seinen Forderungen wohl vertraut; es war ihnen ins Herz<br />
geschrieben. Als der Mensch durch Übertretung in Sünde fiel, wurde das Gesetz nicht<br />
geändert, aber ein Heilsplan für ihn geschaffen, um ihn zum Gehorsam<br />
zurückzuführen.“ (PP 341)<br />
Als die Menschheit von Gott abfiel, wurde das Gesetz den menschlichen<br />
Bedürfnissen angepaßt: „Hätten die Menschen Gottes Gesetz so gehalten, wie es<br />
Adam nach seinem Fall gegeben worden war, wie Noah es bewahrt und Abraham es<br />
beobachtet hatte, wäre es nicht notwendig gewesen, die Beschneidung zu verordnen.<br />
Und hätten Abrahams Nachkommen den Bund gehalten, dessen Zeichen die<br />
Beschneidung war, hätten sie weder zum Götzendienst verführt werden können noch<br />
die Knechtschaft in Ägypten erdulden müssen. Sie würden Gottes Gesetz im Herzen<br />
behalten haben. Es brauchte nicht vom Sinai verkündet oder auf steinerne Tafeln<br />
geschrieben zu werden. Hätten sie die Grundsätze der Zehn Gebote ausgelebt, würde<br />
es keiner zusätzlichen Anweisung an Mose bedurft haben.“ (PP 342)<br />
Der Dekalog beruhte auf dem Grundsatz der Liebe: „Die in den Zehn Geboten<br />
aufgestellten Forderungen sind allen Menschen zur Unterweisung und Lebensführung<br />
gegeben. Es sind zehn Regeln, die kurz, umfassend, aber gebieterisch die Pflichten<br />
gegen Gott und den Nächsten enthalten und deren wesentliche Grundlage die Liebe<br />
ist: ‚Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von<br />
allen Kräften und von ganzem Gemüte und deinen Nächsten wie dich selbst‘ [Lukas<br />
10,27]. Hier werden diese Grundsätze einzeln aufgeführt und auf die jeweilige<br />
Beschaffenheit und Lage des Menschen angewandt.“ (PP 279)<br />
146
GOTTES GESETZ<br />
Zusätzliche Gesetze warfen ein Licht auf die Prinzipien des Dekalogs: „Das durch<br />
Sklaverei und Heidentum abgestumpfte und erniedrigte Volk war nicht darauf<br />
vorbereitet, die Tragweite der Zehn Gebote ganz zu erfassen. Damit sie nun die<br />
Verpflichtungen des Dekalogs besser verstünden und auch erfüllten, wurden ihnen<br />
zusätzliche Vorschriften gegeben, die die Grundsätze der Zehn Gebote<br />
veranschaulichten und zeitgemäß erklärten.“ (PP 284.285)<br />
Alle Gesetze wurden zum Wohle des Menschen gegeben: „Der Sinn all dieser<br />
Anordnungen wurde ihnen genannt: Sie entstammten keinem willkürlich ausgbten<br />
Herrschaftsanspruch, sondern dienten dem Wohle Israels.“ (PP 286)<br />
Das Gesetz wird wieder verinnerlicht: „Dasselbe Gesetz, in Steintafeln<br />
eingegraben, schreibt der Heilige Geist in die Herzen.“ (PP 351)<br />
147
TEIL III<br />
ILLUSTRATIONEN<br />
Die Probleme sind die Lösungen
Einleitung<br />
Ein Leser, der das Manuskript dieses Buches sah, meinte, ihm gefalle die erste<br />
Hälfte, aber nicht die zweite – die Theorie sei in Ordnung, bis man dann auf die<br />
praktischen Konsequenzen stoße! Tatsächlich möchte ich davor warnen, die<br />
„Illustrationen“ in Teil III zu lesen, ohne sich zuvor mit den „Dokumenten“ in Teil<br />
I und der „Theorie“ in Teil II vertraut gemacht zu haben. Und wenn jemand das<br />
getan hat und ihm dann Teil III immer noch bedenklich erscheint, schlage ich vor,<br />
die Teile I und II noch einmal zu studieren. Ich will erklären, weshalb.<br />
Da nicht jeder Mensch eine ausgesprochene Schönheit ist, werden viele von uns<br />
auch Freunde haben, die keine besonders gutaussehenden Leute sind. Der<br />
unbeteiligte Beobachter würde sie vielleicht sogar <strong>als</strong> unansehnlich bezeichnen.<br />
Wenn sich aber die Freundschaft mit der Zeit vertieft, scheint das Unansehnliche zu<br />
schwinden, um Teil einer neuen Schönheit zu werden.<br />
Dasselbe kann geschehen, wenn ein Haus zu unserem Heim wird. Zunächst mag<br />
das Gebäude alles andere <strong>als</strong> schön sein; wenn wir uns aber darin eingelebt haben,<br />
wird es zu unserem Heim. Allmählich bekommen auch die weniger ansprechenden<br />
Merkmale eine neue, eigene Schönheit und wachsen uns sogar ans Herz.<br />
Mit dem dritten Teil dieses Buches verhält es sich ähnlich. Einige der<br />
Illustrationen mögen uns wenig passend erscheinen. Und doch weiß ich aus eigener<br />
Erfahrung, daß sie mit der Zeit in neuer, tieferer Schönheit erstrahlen können.<br />
Mehr <strong>als</strong> alles andere wünsche ich mir, daß sich die Bibel von einem perfekten<br />
Buch im Regal zu einem praktischen Buch in der Hand entwickelt, zu dem<br />
vielgelesenen Brief eines guten Freundes. Solch eine Wandlung ist jedoch nicht<br />
leicht zu vollziehen, wie es auch einem Jungen nicht leicht fällt, eines Tages<br />
feststellen zu müssen, daß sein Vater bei weitem nicht der stärkste Mann der Stadt<br />
ist. Doch genau diese Entdeckung kann den notwendigen ersten Schritt bedeuten, um<br />
den idealen Vater zu finden.<br />
Je länger ich mich mit dem Thema Inspiration befasse, desto stärker werde ich<br />
davon beeindruckt, daß unser adventistisches Erbe uns in die glückliche Lage<br />
versetzt, Inspiration von einem praktischen Standpunkt aus darzustellen. Damit<br />
können wir eine klare Alternative schaffen zu dem theoretischen Modell, das das<br />
abendländische Denken seit der Aufklärung geprägt hat.<br />
Von Anfang an haben wir die Botschaft gehört, daß wir uns untereinander lieben<br />
sollen (1. Johannes 3,1). Das ist nicht die Sprache der Wissenschaft oder der<br />
151
Philosophie, sondern die Sprache der Erfahrung und Beziehung, die Sprache der<br />
Familie. Von Philosophie und Wissenschaft können wir vieles lernen. Sie zeigen,<br />
wie sich Menschen nach bestem Vermögen bemüht haben, die Welt zu verstehen und<br />
zu beschreiben. Aber es liegt nicht in ihrer Kraft, das gefühlsmäßige Bedürfnis nach<br />
Liebe oder unser psychologisches Verlangen nach Stabilität zu befriedigen.<br />
Zu dem ersten Aspekt äußert sich Ellen White wie folgt: „Wir bedürfen einer<br />
warmen Hand, die wir ergreifen, eines Herzens voller Zärtlichkeit, dem wir vertrauen<br />
können; und gerade so hat sich Gott in seinem Worte offenbart.“ (E 123) Ist zu<br />
erwarten, daß uns je durch die brillante Logik der Philosophie oder die<br />
Präzisionsinstrumente der Wissenschaft diese Erfahrungen zuteil werden können? Es<br />
wäre unfair, sie überhaupt danach zu fragen.<br />
Was unser Verlangen nach Stabilität anbelangt, so ist die Wissenschaft heute<br />
nicht mehr <strong>als</strong> absolut unfehlbarer Garant für die Wahrheit einzuschätzen. Kritisch<br />
betrachtet verändern sich Philosophie und Wissenschaft so sehr, daß die Herausgeber<br />
bei ihren Publikationen Mühe haben, aktuell zu bleiben. Wissenschaftliche<br />
Lehrbücher sind oft schon bei ihrer Veröffentlichung veraltet. Es ist höchste Zeit,<br />
ernsthaft zu überlegen, ob die Wissenschaft wirklich ein Recht darauf hat, die Bibel<br />
zu beurteilen. Zugleich sollten wir fragen, ob es richtig ist, daß wir uns auf<br />
wissenschaftliche Argumente stützen, um den göttlichen Ursprung der Schrift zu<br />
„beweisen“. Was heute in der Wissenschaft gültig ist, kann morgen schon überholt<br />
sein. Wenn der Glaube an Gott und sein Wort an bestimmte wissenschaftliche<br />
Vorstellungen gebunden ist, geraten Christen bei der Entdeckung, daß sich auch die<br />
Wissenschaft irren kann, in Gefahr, daß ihr Glaube ebenfalls auf die schiefe Bahn<br />
gerät. Wie wahr ist der Ausspruch von Ellen White: „Gott und der Himmel sind<br />
allein unfehlbar.“ (CWE 37)<br />
Bei unserem ausgeprägten Bedürfnis, die Schrift zu verteidigen, haben wir uns<br />
von den logischen und theoretischen Thesen der Aufklärung leiten lassen. Darüber<br />
haben wir die erfahrungsgemäßen und praktischen Belange der Schrift<br />
vernachlässigt, haben statt dessen den kalten Verstand walten lassen und uns auf<br />
logische und wissenschaftliche Beweise gestützt. So aber konnte die Bibel ihre<br />
eigentliche Botschaft nicht vermitteln.<br />
Lassen wir dagegen die Bibel für sich selber sprechen, so tritt die Theorie hinter<br />
die Praxis zurück und Erfahrung und Beziehung rücken in den Mittelpunkt. So<br />
gesehen ist die Bibel eher der Brief eines Freundes und nicht so sehr eine<br />
philosophische Abhandlung oder ein wissenschaftlicher Bericht. Rigorose Logik und<br />
sorgfältige Testmethoden, die uns von der modernen Philosophie und Wissenschaft<br />
in die Hand gegeben werden, können uns bei der Suche nach Wahrheit behilflich<br />
sein, aber sie sind letztlich kein Prüfstein für die Schrift, auch nicht für unsere<br />
Beziehung zu Gott. In ihrem Buch Erziehung schildert Ellen White, wie erhebend es<br />
für uns sein kann, wenn die Heilige Schrift unseren Horizont weitet und uns mehr<br />
von Gottes Güte erkennen läßt: „Diese Erfahrung ist der höchste Beweis für den
EINLEITUNG ZU TEIL III<br />
göttlichen Ursprung der Bibel.“ (E 159)<br />
Wenn <strong>als</strong>o die Erfahrung so wichtig ist, gewinnt eine andere Aussage von Ellen<br />
White noch mehr an Bedeutung: „Die Bibel wurde nicht in einer großartigen<br />
übermenschlichen Sprache offenbart. Um jeden zu erreichen, wurde Jesus Mensch.<br />
Die Bibel mußte <strong>als</strong>o in der Sprache des Menschen geschrieben werden. Alles aber,<br />
was menschlich ist, ist auch unvollkommen. Dasselbe Wort kann verschiedene<br />
Bedeutungen haben. Eine bestimmte Idee läßt sich nicht nur durch ein einziges Wort<br />
ausdrücken. Die Bibel ist ganz praktisch zu nehmen.“ (1 FG 20) Kurz gesagt, die<br />
Bibel steht mit beiden Füßen in der Welt; in gewissem Sinn ist sie auch<br />
„unvollkommen“.<br />
Verständlicherweise haben sich orthodoxe Bibelverteidiger davor gescheut, die<br />
Schrift <strong>als</strong> „unvollkommen“ zu bezeichnen, denn genau mit diesem Argument hatten<br />
ja die Kritiker der Aufklärung die Bibel <strong>als</strong> Heilige Schrift verworfen. Im weiterem<br />
Verlauf war dann zu erkennen, daß beide Seiten von der Voraussetzung ausgingen,<br />
die Schrift könne nicht von Gott stammen, wenn sie nicht im absoluten Sinne<br />
vollkommen ist.<br />
Auf der einen Seite haben Kritiker auf scheinbare Unvollkommenheiten<br />
hingewiesen und daraus geschlossen, daß die Bibel nicht von Gott sein kann. Andere<br />
sind noch einen Schritt weitergegangen und haben auch die Existenz Gottes<br />
geleugnet. Auf der anderen Seite standen die frommen Verteidiger des Glaubens.<br />
Mehr <strong>als</strong> die Kritiker wußten sie, wie wichtig Gott für uns ist; deshalb fürchteten sie<br />
die Auswirkungen der angeblichen Erkenntnisse der Kritiker. Daher haben sie die<br />
traditionelle Sicht der „absoluten Vollkommenheit“ auch weiterhin verteidigt. Beide,<br />
Kritiker wie Verteidiger, gingen letztendlich von derselben Voraussetzung aus: Die<br />
Bibel mußte vollkommen sein – oder sie war nicht von Gott.<br />
Das in diesem Buch vertretene Modell macht deutlich, daß in der Bibel eine<br />
praktische, nicht eine absolute Vollkommenheit zum Ausdruck kommt. Diese Sicht<br />
läßt sich viel leichter mit der Bibel in Einklang bringen, vor allem wenn wir sie <strong>als</strong><br />
einen „Freundesbrief“ und nicht <strong>als</strong> eine philosophische Abhandlung oder einen<br />
wissenschaftlichen Bericht betrachten.<br />
In Reaktion auf eine Kirche, die sich berechtigt fühlte, die Wahrheit durch<br />
Verlautbarungen von oben herab zu verkünden, anstatt sie zu beweisen, ging es der<br />
Aufklärung darum, in jedem Lebensbereich „Wahrheit“ eindeutig zu beweisen – aber<br />
ohne Gott. Ihre optimistische Einschätzung des menschlichen Verstandes und der<br />
menschlichen Fähigkeiten hielt sich bis ins 20. Jahrhundert. Erst die schreckliche<br />
Katastrophe des Ersten Weltkriegs beendete diesen Optimismus und führte zu einem<br />
realistischeren Denken.<br />
153
INSPIRATION<br />
Aber die konservativen Verteidiger des Glaubens blieben weiterhin bei ihrem<br />
traditionell autoritären Denkansatz. Doch anstatt nun einfach den absoluten<br />
Charakter der Schrift zu behaupten, fühlten sie sich durch die Aufklärung zu der<br />
Aussage gedrängt, die Schrift befinde sich auch im Sinne der modernen<br />
Wissenschaft in voller Übereinstimmung mit den Tatsachen. So kam es<br />
bemerkenswerterweise dazu, daß gläubige Menschen versuchten, die<br />
Unverletzlichkeit des göttlichen Elementes der Schrift mit Hilfe menschlicher<br />
Argumente und wissenschaftlicher Beweisführung zu belegen.<br />
Sobald wir uns aber auf den Boden der Aufklärung begeben und ihren Regeln<br />
entsprechend vorgehen, konzentrieren wir uns automatisch auf theoretische Belange<br />
und laufen Gefahr, die praktische Bedeutung der Bibel zu übersehen. Ausgerechnet<br />
solche Schritte, die notwendig sind, um die Menschen dort zu erreichen, wo sie<br />
stehen, passen nicht in das traditionelle theoretische Modell der biblischen Einheit.<br />
Mißt man sie mit den Maßstäben eines solchen Modells, erscheinen sie<br />
widersprüchlich. Weil aber gerade diese Aspekte in der Lage sind, unterschiedlichen<br />
menschlichen Bedürfnissen unter verschiedenen Umständen zu dienen, passen sie<br />
bestens in ein praktisches Modell, das auf ein einziges Motivationsziel ausgerichtet<br />
ist. Und das besteht darin, möglichst viele verschiedenartige Menschen für Gottes<br />
Gesetz der Liebe zu gewinnen. Das, was von dem einen Gesichtspunkt aus <strong>als</strong><br />
Problem erscheint, erweist sich von einem anderen Gesichtspunkt aus <strong>als</strong> Lösung.<br />
Anstatt Schwierigkeiten zu meiden oder vorzugeben, sie existierten überhaupt nicht,<br />
betrachten wir sie genauer und entdecken, wie gut sie zu einem praktischen<br />
Denkansatz passen. Die Schrift korrigiert ständig unsere Theorie. Wir fühlen uns<br />
nicht mehr an eine vorgefaßte Meinung gebunden, wie Gott sich hätte offenbaren<br />
sollen, sondern die Bibel spricht für sich selbst.<br />
Die Schwierigkeit unserer Aufgabe sollte allerdings nicht unterschätzt werden;<br />
denn bis wir erläutert haben, wie und weshalb unser Modell so sehr von der<br />
traditionellen Sicht abweicht, wird die Verständigung mit denen, die den alten<br />
Ansatz anwenden, nicht einfacher. Es ist jedoch bemerkenswert und ermutigend, daß<br />
adventistische Christen überall das ausleben, was in diesem Buch <strong>als</strong> einfaches und<br />
praktisches Denkmuster dargestellt ist. Wir haben immer behauptet, daß das eine<br />
große Gebot, die zwei großen sowie die Zehn Gebote, die anderen biblischen Gebote<br />
rangmäßig und durch ihre bleibende Gültigkeit überragen. Sie bilden die<br />
maßgeblichen Grundelemente. Obwohl gelegentlich lautstark betont wird, die<br />
Autorität des göttlichen Wortes werde aufgehoben, wenn wir nicht jede unserer<br />
Aktivitäten mit einem „So spricht der Herr“ begründen können, haben Christen doch<br />
mit der Zeit die Polygamie, die Blutrache und die Sklaverei abgeschafft, und zwar<br />
154
EINLEITUNG ZU TEIL III<br />
ohne ein deutliches „So spricht der Herr.“ Im Neuen Testament haben die ersten<br />
Christen auch die Beschneidung abgeschafft, die ja zuvor durch ein klares „So<br />
spricht der Herr“ geboten war (1. Mose 17,9-14). Durch den Heiligen Geist waren sie<br />
zu der Erkenntnis gelangt, daß die Beschneidung im Lichte höherer Grundsätze zu<br />
werten und nicht universell anzuwenden sei (siehe dazu Kapitel 9).<br />
Die Gefahr einer wild wuchernden Rationalisierung wird durch das stabile<br />
Gefüge der Gesetzespyramide eingedämmt. Dadurch, daß Adventisten die Gültigkeit<br />
des Dekalogs einschließlich des Sabbatgebots verkündet haben, konnten sie die<br />
widersprüchliche Haltung vermeiden, die in der protestantischen Welt im<br />
allgemeinen zu beobachten ist. Ohne den Sabbat, der die Zehn Gebote<br />
gewissermaßen verankert, sind Protestanten dem „Rutschbahn-Effekt“ zum Opfer<br />
gefallen und bei einem rationalen Modernismus gelandet. Die Reaktion darauf ist ein<br />
autoritär-fundamentalistischer Gegenschlag. Die überlegene Einfachheit der<br />
Gesetzespyramide, die von Anfang an der adventistischen Grundbotschaft entsprach,<br />
ermöglicht es uns, besser zu erkennen, was in der Schrift von bleibendem Bestand<br />
und was örtlich und zeitlich angepaßt ist. Durch Gottes Gnade können wir einen<br />
praktischen Umgang mit der Bibel aufrechterhalten und uns so auf einem Mittelweg<br />
zwischen modernistischen und fundamentalistischen Extremen bewegen.<br />
Dieses Buch beschreibt weitgehend den Weg zu einer christlichen<br />
Lebensführung, den Adventisten schon immer gegangen sind, auch wenn sie davor<br />
zurückschreckten, sich in schriftlicher Form dazu zu bekennen. Wenn irgend etwas<br />
daran ungewöhnlich ist, dann ist es die Offenheit, mit der die „Illustrationen“<br />
dargelegt werden. Die Bibel ist für die Menschen eine Kraftquelle, weil sie zeigt, wie<br />
sich Gott verschiedener menschlicher Stimmen bedient, um die verschiedenen<br />
menschlichen Bedürfnisse zu erfüllen. Weshalb sollten wir nicht ehrlich sein und uns<br />
gerade zu den Merkmalen der Schrift bekennen, die sie so wirkungsvoll machen, die<br />
wir aber am liebsten verschweigen würden, weil wir uns von den Kritikern der<br />
Aufklärung einschüchtern lassen?<br />
Ich habe erlebt, daß der hier beschriebene Denkansatz eine gute gemeinsame<br />
Basis bildet, um ungleiche Gruppierungen in unserer Gemeinschaft<br />
zusammenzuführen. Diese Sicht spricht sowohl „Liberale“ <strong>als</strong> auch „Konservative“<br />
an, weil sie das menschliche Element der Schrift berücksichtigt, das die „Liberalen“<br />
betonen, aber zugleich Gottes Gegenwart und Wirken in einem festen Rahmen<br />
anerkennt, was den „Konservativen“ wichtig ist. Wenn beide Ansprüche befriedigt<br />
sind, wird unsere Kirche enorm gestärkt und besser in der Lage sein, ihre weltweite<br />
Mission zu erfüllen; denn dann wird sie ihren Glauben gegenüber Griechen und<br />
Nichtgriechen, Weisen und Nichtweisen wirksam bezeugen (Römer 1,14).<br />
155
INSPIRATION<br />
Dann werden wir „allen alles“ werden, damit wir „auf alle Weise“ einige retten<br />
(1. Korinther 9,22). Das muß aber in einem göttlich legitimierten Rahmen vor sich<br />
gehen, der vor faulen Kompromissen schützt.<br />
Aufmerksame Adventisten werden durch das Schrifttum von Ellen White in der<br />
Erkenntnis bestärkt, daß wir es hier mit einer Theorie zu tun haben, die mit der<br />
Praxis übereinstimmt und die uns hilft, unsere Beziehung zu Gott, zur Welt und zur<br />
Schrift ernst zu nehmen und ihnen dabei ehrlich zu begegnen.<br />
In Teil III werden uns zahlreiche „menschliche“ Eigenheiten der Bibel begegnen,<br />
die von Gott geschickt benutzt wurden, um der menschlichen Familie seinen Willen<br />
zu bezeugen. Ließen sich menschliche Schwachheiten nicht zur Ehre Gottes<br />
einsetzen, so hätte er bestimmt andere, wirksamere Mittel gewählt. Aber er hat sich<br />
entschlossen, menschliche Schwachheit <strong>als</strong> Brücke zwischen dem Allmächtigen und<br />
seiner gefallenen Schöpfung zu benutzen. Um es mit den Worten von Ellen White zu<br />
sagen: „Der Herr gab sein Wort genauso, wie es zu uns kommen sollte.“ (1 FG 21)<br />
Während ich mich mit den verschiedenen Merkmalen der Schrift befaßte,<br />
entdeckte ich immer mehr Gründe dafür, daß diese scheinbaren Mängel in<br />
Wirklichkeit eine ideale Anpassung an menschliche Bedürfnisse darstellen. Ich habe<br />
auch festgestellt, daß bestimmte Merkmale des biblischen Textes, die mich<br />
begeistern, für meine Studenten manchmal beängstigend sind, besonders wenn sie<br />
zum ersten Mal damit konfrontiert werden. Wir sind <strong>als</strong>o gut beraten, vorsichtig zu<br />
sein und uns genügend Zeit einzuräumen. Die Überzeugung, die einer theoretischen<br />
Sicht der Inspiration zugrunde liegt, kann so tief verwurzelt sein, daß die Umstellung<br />
auf eine praktische Sicht sehr schwierig ist. Ausschlaggebend ist dabei weniger der<br />
Intellekt <strong>als</strong> vielmehr die starke Verankerung vorgefaßter Ideen.<br />
Ich möchte noch eine Grundregel erwähnen, die unsere Wortwahl betrifft: Als ich<br />
beim Schreiben an diesem Punkt angelangt war, gab ich meinem Computer den<br />
Befehl, die abgeschlossenen Kapitel bezüglich der Verwendung dreier Ausdrücke zu<br />
überprüfen. Es handelt sich um die Worte „Irrtum“, „Fehler“ und „Widerspruch“. Ich<br />
wollte sie aus meinem Vokabular entfernen, wenn es um die Heilige Schrift geht –<br />
mit einer einzigen Ausnahme: Ich verwende sie, um zu erklären, weshalb ich sie<br />
nicht verwende.<br />
In meinem Vorwort habe ich auf die Problematik solcher Worte hingewiesen. Es<br />
sind unfreundliche Begriffe, die sich nicht leichtfertig auf Menschen anwenden<br />
lassen, die wir lieben. Worte sind seltsame Geschöpfe; wir sollten vorsichtig damit<br />
umgehen. In England beispielsweise gilt das Wort homely einer Frau gegenüber <strong>als</strong><br />
Kompliment („häuslich“). In Amerika hat das Wort dagegen eine abwertende<br />
Bedeutung („hausbacken“). Ein Mann mag häßlich und eine Frau hager sein; wenn<br />
156
EINLEITUNG ZU TEIL III<br />
wir sie aber lieben, werden wir sie eher <strong>als</strong> robust bzw. schlank bezeichnen.<br />
In manchen Fällen kann ein Charakterzug positiv oder negativ gewertet werden,<br />
je nach der vorgefaßten Meinung. Menschen, die wir mögen, stehen „mutig für ihre<br />
Überzeugung“ ein, während solche, die wir nicht leiden können, „stur und<br />
unbeugsam“ sind. Am anderen Ende der Temperamentskala bezeichnen wir einen<br />
Freund <strong>als</strong> „anpassungsfähig“, einen Feind dagegen <strong>als</strong> Menschen „ohne Rückgrat“.<br />
Laßt uns deshalb sanfte, freundliche Worte wählen, wenn wir von der Bibel<br />
reden. Beim Vergleich von Paralleltexten werden wir „Unterschiede“ feststellen. In<br />
einigen Fällen sind diese Abweichungen entscheidend für die Botschaft der<br />
einzelnen Verfasser. Billigen wir ihnen zu, daß sie ihre Worte mit einer bestimmten<br />
Absicht gewählt haben – und handeln wir ebenso!<br />
In diesem Zusammenhang ist der Rat angebracht, den Ellen White einst einem<br />
angriffslustigen Prediger gab: „Jede Predigt, die du hältst, jeder Artikel, den du<br />
schreibst, mag völlig der Wahrheit entsprechen; aber jeder einzelne Tropfen Galle<br />
darin wird für den Hörer oder Leser Gift sein. Wegen eines Gifttropfens wird man<br />
alle deine guten und passenden Worte verwerfen. Ein anderer wird das Gift in sich<br />
aufnehmen, weil ihm solche harten Worte gefallen; er folgt deinem Beispiel und<br />
fängt an zu reden, wie du redest. So wird das Übel vervielfacht.“ (6 T 123)<br />
Diskussionen über die Inspiration der Bibel haben sich im Laufe der Geschichte<br />
der Christenheit <strong>als</strong> brisant und entzweiend erwiesen. Sollten wir dieses Thema<br />
deshalb lieber vermeiden, um keine schlafenden Hunde zu wecken?<br />
Die Schwierigkeit besteht darin, daß schlafende Hunde von selbst aufwachen –<br />
und nicht immer nur auf Befehl. Wir leben in einer Welt, in der viele, die in der<br />
Bibel lesen, sie nicht <strong>als</strong> das Wort Gottes betrachten. Warum sollten wir oder unsere<br />
Kinder so lange warten, bis wir durch Menschen, die eine negative Einstellung zur<br />
Bibel haben, verunsichert werden?<br />
Einfach die Augen zu verschließen ist keine Lösung. Wenn unsere Auffassung<br />
über die Inspiration revidiert werden muß, dann sollten wir uns an die Arbeit<br />
machen. Mit den Worten von Ellen White: „Wir sollten uns nie erlauben, Argumente<br />
zu verwenden, die nicht völlig stichhaltig sind.“ (CWE 40)<br />
In Teil II habe ich versucht, einen Rahmen abzustecken, in den sich die<br />
Illustrationen von Teil III harmonisch einfügen. Ich kenne mich und meine<br />
Adventgemeinde gut genug, um zu wissen, daß Gläubige keine neuen Erkenntnisse<br />
aufnehmen, wenn sie nicht einigermaßen davon überzeugt sind, daß diese sich in ihr<br />
etabliertes Glaubensgebäude integrieren lassen. Die in Teil III verwendeten<br />
Illustrationen haben mich zu den Erklärungen in Teil II veranlaßt. Beide Teile<br />
hängen eng zusammen, weil wir einerseits versuchen, die Fakten in die Theorie<br />
157
INSPIRATION<br />
einzuordnen und andererseits Begründungen suchen, die „völlig stichhaltig“ sind und<br />
zugleich die Bedürfnisse, die wir <strong>als</strong> Christen haben, erfüllen.<br />
Wir können keine überzeugenden Argumente entwickeln, wenn wir uns nicht mit<br />
den Tatsachen auseinandersetzen. Jedesmal, wenn wir Gottes Wort zur Hand<br />
nehmen, sind wir mit dem Thema Inspiration und den entsprechenden Fakten befaßt.<br />
Und weil wir diesem Problemkreis nicht ausweichen können, wollen wir alles<br />
daransetzen, uns vorsichtig, fair und konstruktiv zu verhalten.<br />
Falls uns in den folgenden Kapiteln Überraschungen begegnen, wollen wir nach<br />
den Gründen dafür suchen. Wenn der Eindruck entsteht, daß die Aussagen in Teil III<br />
nicht stimmig sind, sollte man sich noch einmal mit Teil I und den Vorschlägen in<br />
Teil II befassen. Bei meinen Studenten haben sich die in Teil I wiedergegebenen<br />
Schriftstücke, nämlich Für die Gemeinde geschrieben, Band 1, Seite 15-23, und die<br />
Einführung zum Buch Der große Kampf <strong>als</strong> besonders hilfreich erwiesen. Anhand<br />
dieser Abschnitte wird deutlich, wie sich eine realistische Sicht mit einer<br />
Grundhaltung verbindet, die den Glauben stärkt. Hinzu kommt, daß sorgfältig<br />
gewählte Formulierungen helfen können, die Verschmelzung der menschlichen und<br />
der göttlichen Seite der Bibel besser wahrzunehmen und wertzuschätzen.<br />
Für eine Veränderung von Gottes Wort ist es zu spät; es wurde nun einmal so<br />
abgefaßt. Wir werden deshalb viel besser fahren, wenn wir uns unter dieses Wort<br />
stellen und bereit sind, Gottes Vorgehensweise – und nicht unsere eigene<br />
Vorstellung davon – <strong>als</strong> die beste zu akzeptieren. Ich werde <strong>als</strong>o nicht versuchen zu<br />
zeigen, wie die Schrift sein sollte, sondern vielmehr beschreiben und illustrieren, wie<br />
sie in Wirklichkeit ist. Dabei werde ich auf verschiedene Möglichkeiten hinweisen,<br />
wie sich die einzelnen Teile so zusammenfügen lassen, daß in uns ein tieferes<br />
Verständnis entsteht für die Art und Weise, wie Gott mit uns Menschen geredet hat.<br />
158
Kapitel 9<br />
Das Gesetz<br />
Übersicht: Das Jerusalemer Apostelkonzil verdeutlicht zwei wesentliche<br />
Vorgänge: (1) Die frühchristliche Gemeinde hatte mit dem Problem zu ringen, wie<br />
man mit den alten göttlichen Geboten umgehen sollte, die „ausgedient“ hatten, und<br />
welche neuen Gebote hinzuzufügen seien. (2) Die apostolische Gemeinde gelangte<br />
schließlich zu der Überzeugung, daß der beste Weg zur Einheit darin bestand, eine<br />
gewisse Vielfalt zuzulassen.<br />
Schlüsseltexte<br />
Apostelgeschichte 15,28.29 (Beschneidung und Götzenopferfleisch): „Denn es<br />
gefällt dem heiligen Geist und uns, euch weiter keine Last aufzuerlegen <strong>als</strong> nur diese<br />
notwendigen Dinge: daß ihr euch enthaltet vom Götzenopfer und vom Blut und vom<br />
Erstickten und von Unzucht. Wenn ihr euch davor bewahrt, tut ihr recht.“<br />
Apostelgeschichte 16,3-5 (Beschneidung): „Diesen wollte Paulus mit sich ziehen<br />
lassen, und er nahm ihn und beschnitt ihn wegen der Juden, die in jener Gegend<br />
waren; denn sie wußten alle, daß sein Vater ein Grieche war. Als sie aber durch die<br />
Städte zogen, übergaben sie ihnen die Beschlüsse, die von den Aposteln und Ältesten<br />
in Jerusalem gefaßt worden waren, damit sie sich daran hielten. Da wurden die<br />
Gemeinden im Glauben gefestigt und nahmen täglich zu an Zahl.“<br />
1. Korinther 10,23-29 (Götzenopferfleisch): „Alles ist erlaubt, aber nicht alles<br />
dient zum Guten. Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf. Niemand suche das<br />
Seine, sondern was dem andern dient. Alles, was auf dem Fleischmarkt verkauft<br />
wird, das eßt, und forscht nicht nach, damit ihr das Gewissen nicht beschwert. Denn<br />
,die Erde ist des Herrn und was darinnen ist‘ (Psalm 24,1). Wenn euch einer der<br />
Ungläubigen einlädt und ihr wollt hingehen, so eßt alles, was euch vorgesetzt wird,<br />
und forscht nicht nach, damit ihr das Gewissen nicht beschwert. Wenn aber jemand<br />
zu euch sagen würde: Das ist Opferfleisch, so eßt nicht davon, um dessentwillen, der<br />
es euch gesagt hat, und damit ihr das Gewissen nicht beschwert. Ich rede aber nicht<br />
von deinem eigenen Gewissen, sondern von dem des andern. Denn warum sollte ich<br />
das Gewissen eines andern über meine Freiheit urteilen lassen?“<br />
159
INSPIRATION<br />
Andere Zeiten, andere Gesetze<br />
Das Apostelkonzil in Jerusalem war zustandegekommen, weil sich infolge der<br />
raschen Ausbreitung der jungen Christengemeinde Spannungen ergeben hatten.<br />
Neubekehrte, die aus dem Heidentum gekommen waren, konnten nicht einsehen,<br />
weshalb die jüdische Sitte der Beschneidung auch für sie gelten sollte. Gott hatte die<br />
Beschneidung den Kindern Abrahams verordnet. Mußten gläubige Menschen zuerst<br />
Juden werden, bevor sie Christen sein konnten?<br />
Wenn wir Apostelgeschichte 15 im biblischen Gesamtzusammenhang betrachten,<br />
ergeben sich vier Schlußfolgerungen, die alle mit der Frage zu tun haben, ob die<br />
Bibel <strong>als</strong> Regelbuch oder <strong>als</strong> Beispielsammlung zu verstehen ist.<br />
1. Ein alttestamentliches Gesetz wurde – wenigstens für einen Teil der<br />
Christengemeinde – <strong>als</strong> nicht mehr verbindlich erklärt: Eine Beschneidung war für<br />
Christen heidnischer Herkunft nicht mehr nötig. Diese Entscheidung der Konferenz<br />
ist in vier Punkten zusammengefaßt und wird zweimal in Apostelgeschichte 15<br />
beschrieben (Verse 20 und 29). In beiden Forderungskatalogen fehlt die<br />
Beschneidung, was <strong>als</strong> Hinweis dafür anzusehen ist, daß die jüdischen Vertreter<br />
eines Regelwerk-Denkens die Konferenzteilnehmer nicht überzeugen konnten.<br />
Diese Entscheidung ist deshalb besonders beachtenswert, weil das Alte Testament<br />
nirgends andeutet, daß die Beschneidung einmal abgeschafft werden könnte. Die<br />
Gemeinde entschied, daß die Beschneidung für Heidenchristen nicht mehr<br />
erforderlich ist. Offenbar beschäftigte sich die Gemeinde mit einem kulturbedingten<br />
Problem, und zwar so, daß sie sich auf die Ebenen des Gesetzes stützte, die über<br />
kulturelle Belange hinausgehen, nämlich das Eine, die Zwei und die Zehn.<br />
Ein direktes „So spricht der Herr“ aus der Schrift (d. h. aus dem Alten Testament)<br />
hielt man nicht für nötig, um die Beschneidung abzuschaffen. Trotzdem waren die<br />
Konferenzteilnehmer überzeugt, daß der Herr geredet hatte. „Es gefällt dem Heiligen<br />
Geist und uns,“ schrieben sie in ihrem offiziellen Bericht an die Gemeinden<br />
(Apostelgeschichte 15,28). Falls diese Delegierten der „Generalkonferenz“ an<br />
Jesaja 8,20 dachten (was Adventisten in einer solchen Situation bestimmt tun<br />
würden), nämlich an die Worte: „Hin zur Weisung und zur Offenbarung! Werden sie<br />
das nicht sagen, so wird ihnen kein Morgenrot scheinen“ – dann meinten sie mit<br />
„Weisung“ beziehungsweise „Offenbarung“ nicht zusätzliche Gebote, die an Zeit<br />
und Kultur gebunden waren, sondern das Eine, die Zwei und die Zehn.<br />
2. Die Versammlung führte ein neues Gesetz bzw. eine Vorschrift ein, die im Alten<br />
Testament nirgends erwähnt wird: die Enthaltung vom Götzenopfer. Enthaltung von<br />
Blut und von Ersticktem war schon im Alten Testament geboten. Das griechische<br />
160
DAS GESETZ<br />
Wort, das mit „Unzucht“ übersetzt wird, hatte weitreichendere Bedeutung <strong>als</strong> der<br />
Begriff „Ehebruch“ des siebenten Gebots. Wenn wir allerdings das siebente Gebot<br />
dem Geist nach verstehen, erfährt es eine inhaltliche Erweiterung und schließt<br />
„Unzucht“ mit ein.<br />
Aber die Frage nach Nahrung, die den Götzen geweiht wurde, wird im Alten<br />
Testament nicht behandelt. Diese Hinzufügung eines neuen Gesetzes deutet darauf<br />
hin, daß sich die Gemeinde frei fühlte, aktuelle Fragen aufzugreifen, die sich aus der<br />
vorherrschenden griechisch-römischen Kultur ergaben. Die ursprünglichen,<br />
alttestamentlichen Gesetze bezogen sich auf die kananäische Kultur, die stark an<br />
Fruchtbarkeitsriten gebunden war (siehe Beispiele aus Kapitel 8). Im griechischrömischen<br />
Einflußbereich war die Auseinandersetzung um die den Götzen geweihte<br />
Nahrung – besonders in Verbindung mit dem Kaiserkult – zu einem so wichtigen<br />
Problem geworden, daß das Apostelkonzil es für nötig hielt, dazu Stellung zu<br />
nehmen.<br />
3. Obwohl die Apostelversammlung zu dem Schluß kam, daß die Beschneidung<br />
nicht länger erforderlich sei, ließ Paulus seinen Mitarbeiter Timotheus aus<br />
pragmatischen Gründen beschneiden (Apostelgeschichte 16,3). In Zeiten des<br />
Übergangs wird die Gemeinde oft eine sowohl/<strong>als</strong> auch-Haltung einnehmen müssen,<br />
indem sie alte Bräuche in einigen Fällen beibehält, gleichzeitig aber neue mit großer<br />
Vorsicht einführt. Die Mutter von Timotheus war Jüdin, sein Vater Grieche. Paulus<br />
handelte in diesem Fall lieber konservativ und verzichtete darauf, die Freiheit, die<br />
Timotheus zustand, durchzusetzen.<br />
4. Wenigstens eine kulturell bedingte Vorschrift aus Apostelgeschichte 15 – die<br />
das Götzenopferfleisch betraf – war bereits nahe daran aufgehoben zu werden,<br />
während die Brüder noch darüber berieten; zumindest wurde sie einige Zeit nach<br />
dem Beschluß des Konzils nicht mehr überall konsequent beachtet. In 1. Korinther 8<br />
und 10 vertritt Paulus die Ansicht, man solle sich über Nahrung, die den Götzen<br />
geweiht wurde, keine Gedanken machen – es sei denn, man esse mit jemandem, für<br />
den dies ein Problem darstellt.<br />
Obwohl in Apostelgeschichte 15 nichts über die Diskussion berichtet wird, die<br />
dazu führte, die den Götzen geweihte Nahrung zu verbieten, ist anzunehmen, daß die<br />
Entscheidung einen Kompromiß darstellte. Trifft das zu, so begann unmittelbar nach<br />
der Abstimmung ein Prozeß der Auflösung, wie dies meist bei Kompromissen der<br />
Fall ist. Aus Apostelgeschichte 16,4 ist zu entnehmen, daß Paulus die<br />
Entscheidungen des Jerusalemer Apostelkonzils bei seinen Besuchen in den<br />
verschiedenen Gemeinden aktiv unterstützte. Das ist um so erstaunlicher, <strong>als</strong> diese<br />
Feststellung unmittelbar auf den Hinweis folgt, er habe Timotheus beschnitten. Die<br />
161
INSPIRATION<br />
Apostelgeschichte sagt auch nichts darüber aus, daß Paulus irgendwelche<br />
Schwierigkeiten mit der Entscheidung der Apostelversammlung bezüglich des<br />
Götzenopferfleisches gehabt hätte. Dennoch scheint seine Haltung in 1. Korinther 8<br />
und 10 dem Beschluß der Apostelversammlung zu widersprechen.<br />
Auch wenn einige Konferenzteilnehmer vielleicht der Meinung waren, sie hätten<br />
ein neues Regelwerk beschlossen, behandelte Paulus die Entscheidungen <strong>als</strong> eine Art<br />
Beispielsammlung. Seine Schlußfolgerung in 1. Korinther 10 zeigt in klassischer<br />
Weise, daß er aus der Sicht einer Beispielsammlung argumentierte, die auf ewigen<br />
Prinzipien beruht. „Ob ihr nun eßt oder trinkt oder was ihr auch tut, das tut alles zu<br />
Gottes Ehre. Erregt keinen Anstoß, weder bei den Juden noch bei den Griechen noch<br />
bei der Gemeinde Gottes, so wie auch ich jedermann in allem zu Gefallen lebe und<br />
suche nicht, was mir, sondern was vielen dient.“ (Verse 31-33)<br />
Paulus hätte seine Verpflichtung gegenüber dem einen großen Gesetz nicht besser<br />
zum Ausdruck bringen können. Seine Grundeinstellung zum Gesetz führte ihn dazu,<br />
sich genau zu überlegen, wie er sowohl Juden <strong>als</strong> auch Griechen am besten dienen<br />
könnte. Dabei entschied er sich im Falle der Beschneidung zu einem dem<br />
Apostelkonzil gegenüber konservativen Verhalten, in Sachen Götzenopferfleisch zu<br />
einer liberaleren Haltung.<br />
Diese Vielfalt diente dazu, die Einheit der heranwachsenden Gemeinde zu<br />
fördern.<br />
Fragen zum Nachdenken<br />
1. Inwiefern kann Apostelgeschichte 15 der Gemeinde heute bei ihrer Entscheidung<br />
helfen, welche Gesetze gültig sind und welche nicht?<br />
2. Wie läßt sich die Haltung von Paulus in bezug auf das Götzenopferfleisch, wie sie<br />
im 1. Korintherbrief zur Sprache kommt, rechtfertigen? Dort sagt er, es handle<br />
sich eigentlich um ein nicht existierendes Problem, obwohl das Apostelkonzil das<br />
Götzenopferfleisch <strong>als</strong> Problem sah und auch so behandelte.<br />
3. Inwiefern können uns Apostelgeschichte 15 und die damit verbundenen Texte<br />
dabei helfen herauszufinden, wann wir abweichende Meinungen ertragen sollten,<br />
weil zur Erhaltung der Einheit eine gewisse Vielfalt notwendig ist?<br />
162
Kapitel 10<br />
Lieder und Gebete<br />
Übersicht: Wenn wir davon überzeugt sind, daß Gott die Menschen und nicht die<br />
Worte inspiriert, können wir inspirierten Verfassern „Problemgebete“ leichter<br />
zugestehen: Gebete des Hasses, der Unschuldsbeteuerung, der Gottverlassenheit. Die<br />
Wahrheiten, die in diesen Gebeten enthalten sind, bestehen nicht so sehr in den<br />
ausgedrückten Gefühlen, sondern vielmehr in der Offenheit und dem Vertrauen, das<br />
Gott entgegengebracht wird.<br />
Schlüsseltexte<br />
Psalm 137,7-9 (Haß): „Herr, vergiß den Söhnen Edom nicht, was sie sagten am<br />
Tage Jerusalems: ‚Reißt nieder, reißt nieder bis auf den Grund!‘ Tochter Babel, du<br />
Verwüsterin, wohl dem, der dir vergilt, was du uns angetan hast! Wohl dem, der<br />
deine jungen Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert!“<br />
Matthäus 5,43.44: „Ihr habt gehört, daß gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten<br />
lieben« und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet<br />
für die, die euch verfolgen.“<br />
Lukas 23,34: „Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was<br />
sie tun! Und sie verteilten seine Kleider und warfen das Los darum.“<br />
1. Johannes 3,14.15: „Wir wissen, daß wir aus dem Tod in das Leben gekommen<br />
sind; denn wir lieben die Brüder. Wer nicht liebt, der bleibt im Tod.“<br />
Psalm 17,1-5 (Unschuldsbeteuerung): „Höre, Herr, die gerechte Sache, horche<br />
auf mein Schreien, nimm zu Ohren mein Gebet von Lippen ohne Trug! Von Deinem<br />
Angesicht gehe mein Recht aus! Deine Augen mögen Aufrichtigkeit sehen. Du hast<br />
mein Herz geprüft, hast mich des Nachts durchforscht; du hast mich geläutert –<br />
nichts findest du. Ich habe überlegt: nichts wird meinem Mund entschlüpfen. Beim<br />
Treiben der Menschen habe ich mich nach dem Wort deiner Lippen gehütet vor den<br />
Wegen des Gewalttätigen. Meine Schritte hielten sich in deinen Spuren, meine Tritte<br />
haben nicht gewankt.“<br />
Lukas 18,9-14 ElbÜ: „Er sprach aber auch zu einigen, die auf sich selbst<br />
vertrauten, daß sie gerecht seien, und die übrigen verachteten, dieses Gleichnis:<br />
Zwei Menschen gingen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer<br />
163
INSPIRATION<br />
und der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst so:<br />
Gott, ich danke dir, daß ich nicht bin wie die übrigen der Menschen: Räuber,<br />
Ungerechte, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der<br />
Woche, ich verzehnte alles, was ich erwerbe. Der Zöllner aber stand weitab und<br />
wollte sogar die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine<br />
Brust und sprach: Gott, sei mir, dem Sünder, gnädig! Ich sage euch: Dieser ging<br />
gerechtfertigt hinab in sein Haus im Gegensatz zu jenem; denn jeder, der sich<br />
selbst erhöht, wird erniedrigt werden; wer aber sich selbst erniedrigt, wird erhöht<br />
werden.“<br />
1. Johannes 1,9.10 ElbÜ: „Wenn wir unsere Sünden bekennen, ist er treu und<br />
gerecht, daß er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von jeder Ungerechtigkeit.<br />
Wenn wir sagen, daß wir nicht gesündigt haben, machen wir ihn zum Lügner, und<br />
sein Wort ist nicht in uns.“<br />
Psalm 22,2.3 (Gottverlassenheit): „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich<br />
verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. Mein Gott, des Tages rufe ich,<br />
doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.“<br />
Jakobus 1,5-8: „wenn es aber jemandem unter euch an Weisheit mangelt, so bitte<br />
er Gott, der jedermann gern gibt und niemanden schilt; so wird sie ihm gegeben<br />
werden. Er bitte aber im Glauben und zweifle nicht; denn wer zweifelt, der<br />
gleicht einer Meereswoge, die vom Winde getrieben und bewegt wird. Ein<br />
solcher Mensch denke nicht, daß er etwas von dem Herrn empfangen werde. Ein<br />
Zweifler ist unbeständig auf allen seinen Wegen.“<br />
164<br />
Von Haß, Unschuld und Gottverlassenheit<br />
Wahre christliche Frömmigkeit fordert von uns, die Feinde zu lieben, unsere Sünden<br />
zu bekennen und ein Leben im Glauben an Gott zu führen. Wohin aber sollen wir<br />
uns wenden, wenn ein Feind uns mit Vernichtung droht, zumal wenn wir wirklich<br />
unschuldig sind? Und wer fühlt sich angesichts einer solch dramatischen Bedrohung<br />
nicht trostlos und gottverlassen?<br />
Wir können uns den Psalmen zuwenden. Sie bestehen nicht aus Gebeten<br />
vollkommener Menschen, sondern aus Gebeten von Leidensgenossen. Die Psalmen<br />
bezeugen, daß Gott ein Ohr für unsere Anliegen hat, unabhängig von unseren<br />
Gefühlen und Gemütsregungen. Er hört uns immer, auch wenn wir uns verlassen<br />
fühlen.<br />
Manche meiner Studenten wollen das Gebet der Gottverlassenheit allein auf Jesus<br />
beziehen. Doch lange bevor Jesus dieses Gebet zitierte, wurde es von einem
LIEDER UND GEBETE<br />
Menschen der alttestamentlichen Zeit gesprochen.<br />
Gott hat uns Gebete von zornigen, verzweifelten und einsamen Menschen<br />
übermitteln lassen, damit wir wissen, daß wir noch hoffen dürfen. Wie tragisch wäre<br />
es, hätte er uns nur vollkommene Gebete vollkommener Menschen überliefert! Nein,<br />
Gebete müssen nicht vollkommen sein. Sie dürfen ungeschliffen und von tiefen<br />
menschlichen Gefühlsregungen durchdrungen sein. Sonst könnte jemand auf den<br />
Gedanken kommen, wir müßten uns zuerst von unseren Sünden reinigen und dürften<br />
erst dann zu Gott kommen. Das aber wäre Werkgerechtigkeit. Die Psalmen fordern<br />
uns auf, zu ihm zu kommen, so wie wir sind. Er ist es, der uns heilt.<br />
Ich sehne mich nach einem Herzen, das Feinde lieben kann. Ich möchte schuldlos<br />
sein, aber auch die Verkehrtheit meiner Sünde bekennen. Und Gottverlassenheit? Die<br />
würde ich gern für immer hinter mir lassen! Die Psalmen öffnen mir den Weg für die<br />
ersten Schritte hin zu ihm, der all meine Gebete hört.<br />
Spricht Gott aber auch durch gewalttätige Männer, die sich für unschuldig und<br />
gottverlassen halten? Ich glaube schon. Dieser Schluß ist aber nur möglich, wenn ich<br />
mir zweierlei vor Augen halte: (1) „Nicht die Worte der Bibel sind inspiriert,<br />
sondern die Menschen.“ (1 FG 21) (2) Die biblischen Bücher wurden von Menschen<br />
verfaßt, „die ihrer gesellschaftlichen Stellung, ihrem Beruf, ihren geistigen und<br />
geistlichen Fähigkeiten nach sehr ungleich waren.“ (GK 8)<br />
Manche Botschafter Gottes sind uns weit voraus und setzen hohe Ziele, die wir<br />
nur allzu gern erreichen würden. Andere Gottesboten stehen dicht an unserer Seite<br />
und lassen ihren Klagen und ihrer Wut freien Lauf. Gemeinsam mit uns schreien sie<br />
zu einem scheinbar schweigenden Gott. Ich bin für solche Begleiter dankbar. Sie<br />
geben mir Hoffnung auf dem Weg zum Reich Gottes, den wir zusammen gehen.<br />
Fragen zum Nachdenken<br />
1. Inwiefern können uns die Psalmen ermutigen, unserem Ziel näherzukommen und<br />
uns nicht mit unserem gegenwärtigen Zustand zu begnügen?<br />
2. Kann es in irgendeiner Situation „richtig“ sein, Feinde zu hassen? Gottes Feinde?<br />
3. Welche Wahrheiten über Gott können uns gewalttätige und gottverlassene<br />
Psalmschreiber vermitteln?<br />
4. Wie können wir – angesichts Jesu Lob für den „schuldigen“ Zöllner und seiner<br />
Verurteilung des „unschuldigen“ Pharisäers – ohne eigene Schuldgefühle<br />
Situationen erkennen, in denen wir wirklich unschuldig sind und ungerecht<br />
behandelt werden?<br />
165
Kapitel 11<br />
Worte der Weisen<br />
Übersicht: Die Äußerungen der Weisen (in den Büchern Hiob, Sprüche und<br />
Prediger) enthalten Lebenserfahrungen, die von Verfassern unterschiedlichen<br />
Charakters zum Ausdruck gebracht wurden. Im optimistisch geprägten Buch der<br />
Sprüche führt harte Arbeit zu Ruhe, Gewinn und Reichtum. Für das pessimistische<br />
Buch des Predigers ist harte Arbeit „eitel“ und bringt nur wenig Erfolg in der Welt.<br />
Im Buch Hiob stehen beide Gesichtspunkte in einem dramatischen Spannungsfeld.<br />
Schlüsseltexte<br />
Sprüche 2,21.22 (Gerechtigkeit und Ordnung): „... denn die Gerechten werden im<br />
Lande wohnen und die Frommen darin bleiben, aber die Gottlosen werden aus dem<br />
Land ausgerottet und die Treulosen daraus vertilgt.“<br />
Prediger 7,15-17 (Ungerechtigkeit und Eitelkeit): „Dies alles hab ich gesehen in<br />
den Tagen meines eitlen Lebens: Da ist ein Gerechter, der geht zugrunde in seiner<br />
Gerechtigkeit, und da ist ein Gottloser, der lebt lange in seiner Bosheit. Sei nicht<br />
allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest. Sei nicht<br />
allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht sterbest vor deiner Zeit.“<br />
Hiob 9,20-22 (Ungerechtigkeit): „Wäre ich gerecht, so müßte mich doch mein<br />
Mund verdammen; wäre ich unschuldig, so würde er mich doch schuldig sprechen.<br />
Ich bin unschuldig! Ich möchte nicht mehr leben; ich verachte mein Leben. Es ist<br />
eins, darum sage ich: Er bringt den Frommen um wie den Gottlosen.“<br />
Der Optimist und der Pessimist<br />
Ein unbeteiligter Zuschauer könnte den Eindruck gewinnen, christliche Predigten<br />
seien vorwiegend den Sprüchen entnommen, während das Alltagsgeschehen eher<br />
dem Buch Prediger entspricht! Bei Hiob sind beide Gesichtspunkte in dramatischer<br />
Spannung zusammengefügt.<br />
Beide Ansichten lassen sich durchaus vertreten; beide finden sich in unserem<br />
Freundes- und Bekanntenkreis. Manche wissen mit Bestimmtheit, daß harte Arbeit<br />
die Lösung für all unsere Alltagprobleme bedeutet. Sie sind stets davon überzeugt,<br />
daß dies eine gute Woche und ein gutes Jahr für sie ist. Geht einmal etwas schief, so<br />
167
INSPIRATION<br />
muß man nur die Ursache dafür finden und sie beheben. Für andere jedoch hat nichts<br />
in der Welt einen tiefen Sinn. Ständig befürchten sie, daß alles zerfällt und dem Ende<br />
zustrebt.<br />
Während das Buch Hiob offensichtlich eine Synthese zwischen beiden<br />
Anschauungen herstellen will, ist das in den Sprüchen und beim Prediger nicht der<br />
Fall. Diese Bücher vertreten jeweils nur eine der beiden Seiten. Das eine stellt die<br />
Sicht eines jungen, erfolgreichen Königs dar, das andere die eines älteren<br />
enttäuschten Staatsmannes.<br />
Der Herr hielt es für richtig, uns an beide Perspektiven heranzuführen. Der<br />
Prediger sorgt dafür, daß Optimisten über deprimierte und entfremdete Menschen<br />
nicht einfach rücksichtslos hinweggehen. Die Sprüche erinnern Niedergeschlagene<br />
und Entfremdete daran, daß harte Arbeit wieder aufrichten und gute Ergebnisse<br />
zeitigen kann. Weder in den Sprüchen noch beim Prediger finden sich Anzeichen<br />
einer „Offenbarung“ im engeren Sinn. Es gibt da keine Propheten, die sagen: „Das<br />
Wort des Herrn geschah zu mir.“ Aber wer glaubt, daß die Heilige Schrift auf<br />
spezieller Eingebung (Inspiration) beruht, wird sich der Ansicht nicht verschließen,<br />
daß hier der Heilige Geist einen Menschen inspirierte, um seine Einsichten dem<br />
Volke Gottes mitzuteilen.<br />
Wenden wir uns nun Hiob zu. Wir stellen fest, daß die Spannung zwischen den<br />
beiden Grundanschauungen zum Kern des Buches gehört. Hiobs berühmte Freunde<br />
nehmen eine Haltung ein, die der in den Sprüchen entspricht. Man kann annehmen,<br />
daß auch Hiob eine ähnliche Ansicht vertreten hätte, wären nicht jene<br />
geheimnisvollen Unglücksfälle plötzlich über sein Leben hereingebrochen. Hiob<br />
setzt sich verzweifelt mit seinen Freunden, seinen Lebensumständen und mit Gott<br />
auseinander.<br />
Ironischerweise klingt das, was Hiobs Freunde sagen, meist sehr gut – auch in der<br />
Gemeinde. Am Ende läßt sie der Herr aber wissen, daß sie nicht die Wahrheit gesagt<br />
haben und daß sie Hiob bitten sollen, für sie einzutreten (Hiob 42,7-9).<br />
Auf der anderen Seite platzt Hiob mit scheinbar unverantwortlichen Aussagen<br />
über Gott heraus: „So merkt doch endlich, daß Gott mir unrecht getan hat und mich<br />
mit seinem Jagdnetz umgeben hat. Siehe, ich schreie ‚Gewalt!‘ und werde doch nicht<br />
gehört; ich rufe, aber kein Recht ist da.“ (Hiob 19,6.7)<br />
Das sind keine frommen Worte für die Gemeinde. Wir wissen ja auch, daß der<br />
schwer geplagte Hiob am Ende bereute (Hiob 42,6). Aber was besagt das, wenn Gott<br />
den Freunden Hiobs zweimal erklärt: „Ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein<br />
Knecht Hiob“ (Hiob 42,7.8)?<br />
168
WORTE DER WEISEN<br />
In unserer menschlichen Erfahrung sind Optimismus und Pessimismus miteinander<br />
verbunden. Wenn wir die genannten Bücher lesen, kann uns der Geist leiten, sie<br />
richtig anzuwenden, sowohl in unserem eigenen Leben <strong>als</strong> auch im<br />
Erfahrungsbereich derer, denen wir gern helfen möchten.<br />
Fragen zum Nachdenken<br />
1. Wie kann uns das Fallbeispiel-Modell der Bibel helfen, die Aussagen in den<br />
Sprüchen und im Prediger auf unsere eigene Lebenssituation anzuwenden?<br />
2. Da der eher düstere Ausblick des Predigerbuches für die christliche Predigt und<br />
Unterweisung wenig geeignet erscheint, worin liegt dann seine Bedeutung für das<br />
Leben der christlichen Gemeinde sowie des einzelnen Christen?<br />
3. Könnte sich der unkomplizierte Optimismus der Sprüche <strong>als</strong> Vorteil und auch <strong>als</strong><br />
Nachteil im Leben der christlichen Gemeinde erweisen?<br />
4. In welchem Sinn sprach Hiob, trotz seiner harten Worte über Gott, die<br />
„Wahrheit“ über Gott?<br />
169
Kapitel 12<br />
Im Archiv<br />
Übersicht: Inspirierte Schreiber, die eine Botschaft weiterzugeben haben, zögern<br />
nicht, die erhaltene Offenbarung durch Nachforschungen zu vertiefen – ob in<br />
Archiven, Bibliotheken, persönlichen Briefen oder anderen Quellen. In jedem Fall<br />
werden die Schriften anderer zur Übermittlung der eigenen Botschaft herangezogen.<br />
Schlüsseltexte<br />
1. Könige 11,41: „Was mehr von Salomo zu sagen ist und alles, was er getan hat,<br />
und seine Weisheit, das steht geschrieben in der Chronik von Salomo.“ (eigene<br />
Hervorhebung)<br />
1. Chronik 29,29.30: „Die Geschichte aber des Königs David, die frühere und die<br />
spätere, siehe, die steht geschrieben in der Geschichte Samuels, des Sehers, und in<br />
der Geschichte des Propheten Nathan und in der Geschichte Gads, des Sehers, dazu<br />
auch seine Regierung und seine tapferen Taten sowie die Geschehnisse, die über ihn<br />
und Israel und über die Königreiche in allen Landen dahingegangen sind.“ (eigene<br />
Hervorhebung)<br />
2. Chronik 9,29: „Was aber mehr von Salomo zu sagen ist, das Frühere und das<br />
Spätere, siehe, das steht geschrieben in der Geschichte des Propheten Nathan, sowie<br />
in den Prophezeiungen Ahijas von Silo und in den Geschichten des Sehers Jedo<br />
gegen Jerobeam, den Sohn Nebats.“ (eigene Hervorhebung)<br />
Lukas 1,1-4: „Viele haben es schon unternommen, Bericht zu geben von den<br />
Geschichten, die unter uns geschehen sind, wie uns das überliefert haben, die es von<br />
Anfang an selbst gesehen haben und Diener des Worts gewesen sind. So habe auch<br />
ich’s für gut gehalten, nachdem ich alles von Anfang an sorgfältig erkundet habe, es<br />
für dich, hochgeehrter Theophilus, in guter Ordnung aufzuschreiben, damit du den<br />
sicheren Grund der Lehre erfahrest, in der du unterrichtet bist.“ (eigene<br />
Hervorhebung)<br />
1. Korinther 1,11.12: „Denn es ist mir bekannt geworden über euch, liebe Brüder,<br />
durch die Leute der Chloe, daß Streit unter euch ist. Ich meine aber dies, daß unter<br />
euch der eine sagt: Ich gehöre zu Paulus, der andere: Ich zu Apollos, der dritte: Ich<br />
zu Kephas, der vierte: Ich zu Christus.“<br />
171
INSPIRATION<br />
Quellenforschung<br />
Manchmal empfangen inspirierte Schreiber Visionen; manchmal reden sie aus<br />
eigener Erfahrung. Dann wieder stellen sie eine Botschaft zusammen, indem sie<br />
Worte und Schriften anderer Autoren verwenden.<br />
Die oben zitierten Abschnitte weisen deutlich auf andere Quellen hin. Haben wir<br />
das Prinzip, daß ein inspirierter Verfasser Quellenmaterial verwenden darf, erst<br />
einmal bejaht, wird es uns nicht überraschen, Quellen auch dort angedeutet zu<br />
finden, wo sie nicht ausdrücklich hervorgehoben werden. Forscher haben ein großes<br />
Geschick entwickelt, die von ihnen vermuteten Quellen zu identifizieren. In vielen<br />
Fällen mögen sie sogar recht haben. Um aber das Prinzip zu stützen, daß<br />
Quellenmaterial tatsächlich benutzt wird, reichen die obengenannten Bibeltexte aus.<br />
Der oder die anonymen Verfasser der Bücher Könige und Chronik hatten<br />
offensichtlich Zugang zu wertvollem Material: Dokumenten aus königlichen<br />
Archiven, prophetischen Schriften sowie Aufzeichnungen von Geschlechtsregistern.<br />
Lukas berichtet, er habe Unterlagen gesammelt und zusammengestellt, um die<br />
Geschichte Jesu so weiterzugeben, wie es ihm nötig erschien. Wir können uns<br />
vorstellen, daß er in einer Bibliothek arbeitete, umgeben von zahlreichen<br />
Notizblättern. Unter Gebet plante und ordnete er seine Aufzeichnungen über das<br />
Leben Jesu.<br />
Auch informelle Quellen können nützlich sein. Paulus sagt, daß ein Bericht von<br />
den Leuten der Chloe – ob mündlich oder schriftlich ist nicht klar – ihn dazu geführt<br />
habe, seinen Brief an die Korinther zu schreiben.<br />
Offenbar ist nicht alles, was wir in der Bibel finden, das Resultat unmittelbarer<br />
oder spezieller Offenbarung. Woher stammt dieser Gedanke überhaupt? Er läßt sich<br />
mit Hilfe der Schrift nicht erhärten. Wichtig ist, daß der Geist wachend über der<br />
Botschaft steht. Mit den Worten von Ellen White: „Was zu reden oder zu schreiben<br />
war, zu dieser Auswahl hat er die Gedanken geleitet.“ (GK 9) Der in diesem Satz<br />
verwendete Begriff „Auswahl“ könnte sich <strong>als</strong> bedeutender erweisen, <strong>als</strong> wir<br />
zunächst annehmen mögen.<br />
Fragen zum Nachdenken<br />
1. Sollten wir in der Schrift das, was durch unmittelbare oder spezielle Offenbarung<br />
zustande gekommen ist, höher einstufen <strong>als</strong> das, was mit Hilfe von<br />
Quellenforschung erarbeitet wurde?<br />
172
IM ARCHIV<br />
2. Ist es notwendig (oder auch nur möglich), in der Schrift zwischen dem, was durch<br />
besondere Offenbarung und dem, was durch Quellenforschung vermittelt wurde,<br />
zu unterscheiden?<br />
3. Wenn Lukas sagt, daß keines der anderen Evangelien der Geschichte des Lebens<br />
Jesu völlig gerecht wird, was bedeutet das für unsere persönliche Vorliebe? Ist es<br />
angemessen, daß wir einem Evangelium den Vorzug geben? Wodurch kann uns<br />
eines der Evangelien attraktiver erscheinen <strong>als</strong> ein anderes?<br />
173
Kapitel 13<br />
Im Studierzimmer<br />
Übersicht: Bei der Erstellung von Schriftdokumenten wirkten Sekretäre und<br />
Assistenten mit inspirierten Verfassern eng zusammen.<br />
Schlüsseltexte<br />
Jeremia 36,4: „Da rief Jeremia Baruch, den Sohn Nerijas. Und Baruch schrieb<br />
auf eine Schriftrolle alle Worte des Herrn, die er zu Jeremia geredet hatte, wie<br />
Jeremia sie ihm sagte.“ (eigene Hervorhebung)<br />
Jeremia 36,17.18: „Und sie fragten den Baruch: Sage uns, wie hast du alle diese<br />
Worte aufgeschrieben? Baruch sprach zu ihnen: Jeremia hat mir alle diese Worte<br />
vorgesagt, und ich schrieb sie mit Tinte auf die Schriftrolle.“ (eigene Hervorhebung)<br />
Römer 16,22: „Ich, Tertius, der ich diesen Brief geschrieben habe, grüße euch in<br />
dem Herrn.“ (eigene Hervorhebung)<br />
1. Korinther 16,21: „Hier mein, des Paulus, eigenhändiger Gruß.“ (eigene<br />
Hervorhebung)<br />
Galater 6,11: „Seht, mit wie großen Buchstaben ich euch schreibe mit eigener<br />
Hand!“ (eigene Hervorhebung)<br />
Sekretäre, Schreiber und Assistenten<br />
Diese Verse enthalten die deutlichsten biblischen Hinweise dafür, daß Sekretäre und<br />
Assistenten mit inspirierten Verfassern zusammengearbeitet haben. Wird aufgrund<br />
der biblischen Aussagen erst einmal das Prinzip erkannt, liegt die Vermutung nahe,<br />
daß weitere, ungenannte Sekretäre bei der Erstellung anderer biblischer Bücher<br />
mitgewirkt haben.<br />
Gott veranlaßt alles Nötige, damit seine Botschaft die Empfänger erreicht. Wenn<br />
das bedeutet, daß eine inspirierte Person einen Sekretär braucht, dann soll er ihn<br />
haben.<br />
Ähnlich mag es gewesen sein, <strong>als</strong> Mose vor Gottes beharrlichem Auftrag<br />
zurückschreckte, nach Ägypten zu gehen, um Israel zu befreien. „Mein Herr, sende,<br />
wen du senden willst,“ rief Mose (2. Mose 4, 13). Gottes Antwort, wie wir sie der<br />
Schrift entnehmen können, ist faszinierend: „Da wurde der Herr sehr zornig über<br />
175
INSPIRATION<br />
Mose und sprach: Weiß ich denn nicht, daß dein Bruder Aaron aus dem Stamm Levi<br />
beredt ist? Und siehe, er wird dir entgegenkommen, und wenn er dich sieht, wird er<br />
sich von Herzen freuen. Du sollst zu ihm reden und die Worte in seinen Mund legen.<br />
Und ich will mit deinem und seinem Munde sein und euch lehren, was ihr tun sollt.<br />
Und er soll für dich zum Volk reden; er soll dein Mund sein, und du sollst für ihn<br />
Gott sein.“ (2. Mose 4,14-16)<br />
Nach den fünf Mosebüchern war Mose seinem Bruder Aaron weit überlegen.<br />
Doch wir haben hier eine Verheißung vor uns, die besagt, daß Gott gewillt ist, beide<br />
Menschen in ihrer Aufgabe zu unterstützen.<br />
Als Baruch, der Sekretär Jeremias, gefragt wurde, wer denn nun wirklich der<br />
Verfasser der Schriftrolle sei, zeigten die Leute ein deutliches Interesse daran, die<br />
genaue Herkunft der darin enthaltenen Worte zu erfahren. Stammten sie vom<br />
auserwählten Propheten selbst oder von seinem Assistenten? Mit dieser Frage wird<br />
schon angedeutet, weshalb Propheten über ihre Sekretäre nie viel verlauten ließen.<br />
Möglicherweise war man schon in biblischer Zeit nicht davon überzeugt, daß es für<br />
einen Propheten ratsam ist, sich einen Sekretär zu halten.<br />
Die drei Stellen aus den Paulusbriefen deuten an, daß ein und derselbe inspirierte<br />
Verfasser auf unterschiedliche Weise von seinen Sekretären Gebrauch machen kann.<br />
Tertius nahm sich die Freiheit, seinen eigenen Namen samt Gruß an den Schluß des<br />
Römerbriefes zu setzen. Wir wissen nicht, wer Paulus beim Galaterbrief oder bei den<br />
Korintherbriefen unterstützt hat. Es ist aber denkbar, daß Paulus den Galaterbrief<br />
eigenhändig geschrieben hat und daß sein Kommentar in Kapitel 6, Vers 11 bedeutet,<br />
daß dies eine Ausnahme war.<br />
Was den Sekretär betrifft, der bei der Abfassung des 1. Korintherbriefes half, darf<br />
eines <strong>als</strong> sicher gelten: Er registrierte jedes Wort mit größter Sorgfalt. Das<br />
Selbstgespräch des Apostels im ersten Kapitel zeigt nicht nur, wie Inspiration vor<br />
sich gehen kann, sondern bezeugt auch, wie umsichtig der Assistent in diesem Fall<br />
zu Werke ging. Im Anschluß an seine Beschreibung von Mißständen und Spaltungen<br />
in der Gemeinde Korinth gibt Paulus seinen Gefühlen freien Lauf, wenn er ausruft:<br />
„Ich danke Gott, daß ich niemanden unter euch getauft habe,“ und fügt dann, sich<br />
eines Besseren besinnend, hinzu: „...außer Krispus und Gajus,“ und weiter geht es in<br />
seinem Argument: „damit nicht jemand sagen kann, ihr wäret auf meinen Namen<br />
getauft!“ Dann kommt ihm nochm<strong>als</strong> etwas in den Sinn: „Ich habe aber auch<br />
Stephanas und sein Haus getauft,“ – so läßt er fast entschuldigend verlauten. Wir<br />
spüren seine Verlegenheit, wenn er fortfährt: „sonst weiß ich nicht, ob ich noch<br />
jemand getauft habe.“ Dann kommt er zurück auf sein Anliegen und setzt<br />
leidenschaftlich hinzu:<br />
176
IM STUDIERZIMMER<br />
177
INSPIRATION<br />
„Denn Christus hat mich nicht gesandt zu taufen, sondern das Evangelium zu<br />
predigen ...“ (1. Korinther 1,14-17)<br />
Sowohl der Schreiber wie auch der Heilige Geist fanden es in Ordnung, die<br />
Gedanken der schrittweisen Rückbesinnung mit einzuschließen. Wenn Paulus hier<br />
auch etwas verlegen anmutet, so fühle ich mich doch gerade wegen seines so<br />
menschlichen Verhaltens zu ihm hingezogen, und ich schätze ihn um so mehr <strong>als</strong><br />
einen leidenschaftlichen Nachfolger des Herrn.<br />
Inspirierte Verfasser betrachten <strong>als</strong>o Assistenten und Sekretäre <strong>als</strong> nützliche<br />
Helfer. Wieviel Arbeit sie auch im „Studierzimmer“ verrichtet haben mögen; wir<br />
dürfen auf alle Fälle darauf vertrauen, daß der Heilige Geist zugegen war und diese<br />
Menschen geführt und beschützt hat, so wie seinerzeit Aaron und Mose.<br />
Fragen zum Nachdenken<br />
1. Muß unser Glaube, daß der Heilige Geist die Sekretäre leitete, größer sein <strong>als</strong> der<br />
Glaube, daß er inspirierte Verfasser leitete?<br />
2. Aus welchem Grund würden wir es lieber sehen, daß ein Prophet oder Apostel<br />
seine Botschaft selbst und spontan niederschreibt, anstatt sich auf<br />
Nachforschungen und Quellenmaterial zu stützen?<br />
3. Aus traditionellen jüdischen und christlichen Quellen geht hervor, mit welch<br />
nachhaltigem Interesse man versuchte, die wirklichen Autoren der Bibelbücher zu<br />
identifizieren. Ist eine solche Information lediglich interessant, oder ist sie<br />
notwendig, um dadurch die Verbindlichkeit eines Buches zu sichern?<br />
178
IM STUDIERZIMMER
Kapitel 14<br />
Bei den Verlegern<br />
Übersicht: Die Worte der Boten Gottes bedeuten viel für diejenigen, an die sie<br />
gerichtet sind; in späteren Jahren manchmal sogar mehr <strong>als</strong> zu Lebzeiten der<br />
Verfasser. Um die Erinnerung für die Nachwelt wachzuhalten, haben Redaktoren –<br />
unter Leitung des Geistes – Worte und Werke der Boten Gottes im Sinne einer<br />
Neuauflage kompiliert und veröffentlicht. Mitunter haben sie, wie es im Buch<br />
Jeremia der Fall ist, die Worte des Verfassers in einen historischen Rahmen gestellt,<br />
und gaben so dem ganzen Werk den nötigen Zusammenhalt.<br />
180<br />
Schlüsseltexte<br />
2. Petrus 1,20.21: „Und das sollt ihr vor allem wissen, daß keine Weissagung in<br />
der Schrift eine Sache eigener Auslegung ist. Denn es ist noch nie eine<br />
Weissagung aus menschlichem Willen hervorgebracht worden, sondern getrieben<br />
von dem Heiligen Geist haben Menschen im Namen Gottes geredet.“<br />
Sprüche 1,1: „Dies sind die Sprüche Salomos, des Sohnes Davids ...“<br />
Sprüche 10,1: „Dies sind die Sprüche Salomos.“<br />
Sprüche 25,1: „Auch dies sind Sprüche Salomos; die Männer Hiskias, des<br />
Königs von Juda, haben sie gesammelt.“<br />
Sprüche 30,1: „Dies sind die Worte Agurs, des Sohnes des Jake, aus Massa.“<br />
Sprüche 31,1: „Dies sind die Worte Lemuels, des Königs von Massa, die ihn<br />
seine Mutter lehrte.“<br />
Jeremia 1,1-5: „Dies sind die Worte Jeremias, des Sohnes Hilkijas, aus dem<br />
Priestergeschlecht zu Anatot im Lande Benjamin. Zu ihm geschah das Wort des<br />
Herrn zur Zeit Josias, des Sohnes Amons, des Königs von Juda, im dreizehnten Jahr<br />
seiner Herrschaft, und hernach zur Zeit Jojakims, des Sohnes Josias, des Königs von<br />
Juda, bis ans Ende des elften Jahres Zedekias, des Sohnes Josias, des Königs von<br />
Juda, bis Jerusalem weggeführt wurde im fünften Monat. Und des Herrn Wort<br />
geschah zu mir: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete ...“<br />
Jeremia 29,1: „Dies sind die Worte des Briefes, den der Prophet Jeremia von<br />
Jerusalem sandte an den Rest der Ältesten, die weggeführt waren, an die Priester und<br />
Propheten und an das ganze Volk, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel<br />
weggeführt hatte.“
BEI DEN VERLEGERN<br />
Jeremia 36,32: „Da nahm Jeremia eine andere Schriftrolle und gab sie Baruch,<br />
dem Sohn Nerijas, dem Schreiber. Der schrieb darauf, so wie ihm Jeremia vorsagte,<br />
alle Worte, die auf der Schriftrolle gestanden hatten, die Jojakim, der König von<br />
Juda, im Feuer hatte verbrennen lassen; und es wurden zu ihnen noch viele ähnliche<br />
Worte hinzugetan.“<br />
Jeremia 51,64-52,1: „So weit hat Jeremia geredet. Zedekia war einundzwanzig<br />
Jahre alt, <strong>als</strong> er König wurde; und er regierte elf Jahre zu Jerusalem.“<br />
Redaktion und Kompilation<br />
Hier haben wir einen sensiblen, möglicherweise sogar gefährlichen Punkt unserer<br />
Illustrationen erreicht. Bewußt wurden die Verse aus 2. Petrus 1,20.21 an den<br />
Anfang dieses Abschnitts gesetzt und durch Kursivdruck hervorgehoben. Weshalb?<br />
Weil wir gerade an dieser Stelle ein doppeltes Maß des Geistes benötigen, um<br />
nicht dem einen von zwei Extremen zu verfallen, nämlich: (a) daß unser Glaube<br />
Schiffbruch erleidet, weil uns zuviel Menschliches in der Schrift begegnet oder (b)<br />
daß wir dieses Buch zuschlagen (oder ähnliche Bücher) und uns weigern, weitere<br />
Hinweise für die menschliche Seite der Schrift zur Kenntnis zu nehmen, weil wir<br />
fürchten, unseren Glauben zu verlieren.<br />
Ich habe beide Reaktionen erlebt, und beide sind gefährlich. Wenn wir uns aber<br />
mit diesen Fragen gewissenhaft und unter Gebet auseinandersetzen, können wir<br />
Extremhaltungen vermeiden. Wer aber meint, die eine oder andere der beiden<br />
Alternativen wählen zu müssen, der schließe jetzt bitte dieses Buch – wenigstens<br />
vorübergehend. Lest etwas, das euren Glauben stärkt. Legt eine Verschnaufpause<br />
ein, und dann bittet den Herrn, daß er euch Geduld und Mut verleiht, auf die Sache<br />
zurückzukommen und allmählich in der Erkenntnis zu wachsen, aber nicht schneller<br />
<strong>als</strong> jeder gerade Schritt halten kann.<br />
Wer das Buch beiseite legt, kann es immer wieder hervorholen. Verliert man aber<br />
den Glauben, dann gibt es keine Garantie dafür, daß man ihn wiederfinden kann. Das<br />
wäre zweifellos das größere Unglück. Ich erinnere hier an das schon früher zitierte<br />
Wort von Ellen White: „Aber wir sollten sehr vorsichtig sein und nicht zu schnell<br />
vorgehen, damit wir nicht gezwungen sind, manche Schritte rückgängig zu machen.<br />
Wenn es um Reformen geht, ist es besser, unser Ziel um einen Schritt zu verfehlen<br />
<strong>als</strong> einen Schritt darüber hinauszugehen. Und sollten wir dabei Fehler machen, dann<br />
immer zugunsten der Menschen.“ (3 T 21)<br />
Wenn ihr den Stoff erst einmal durcharbeitet, werden euer Vertrauen und eure<br />
Erfahrung am Schluß viel größer sein – und ihr müßt euch nicht mehr davor fürchten,<br />
181
INSPIRATION<br />
was ihr unversehens in der Schrift finden könntet. Mir ist dieses Gefühl gut bekannt,<br />
denn mein eigenes Schriftstudium war einst überschattet von jener dumpfen Angst,<br />
ich könnte irgendwie etwas sehen, was ich eigentlich nicht sehen sollte.<br />
Laßt mich daran erinnern, daß wir es ja nicht mit schlimmen Enthüllungen über<br />
die Schrift von seiten übelgesinnter Kritiker zu tun haben. Womit wir uns befassen,<br />
das sind Befunde, die sich vor unseren Augen aus der Schrift selbst ergeben.<br />
Ich selbst werde dem Herrn ewig dankbar sein für die Lehrer und auch für die<br />
Umstände, durch die er mich zu meiner gegenwärtigen Erfahrung geführt hat. Mir ist<br />
sehr daran gelegen, diese Erfahrung mit anderen zu teilen. Wenn es uns gelingt,<br />
furchtlos an die Bibel heranzutreten, werden wir tiefe Freude empfinden. Für einige<br />
aber kann sich der Weg, der zu diesem Ziel führt, <strong>als</strong> trügerisch erweisen. Und genau<br />
diesen Weg werden wir nun gemeinsam gehen.<br />
Es erscheint beinahe widersinnig, aber der Weg ist gerade deshalb so gefährlich,<br />
weil er in der Vergangenheit gefährlich war! Ich will das erklären. Sobald wir die<br />
Gefahr sehen, weichen wir zurück und weigern uns, uns mit den Befunden<br />
auseinanderzusetzen. Anstatt vorwärtszugehen, den Weg zu ebnen und abzusichern,<br />
lassen wir die Felsbrocken an ihrem Ort liegen und versäumen es, Schutzgeländer zu<br />
errichten. Das heißt aber, daß der Weg gefährlich bleibt.<br />
Und was hat diese ängstliche Zurückhaltung unserer Gemeinschaft eingebracht?<br />
Den Verlust einiger unserer schärfsten Denker und hellsten Köpfe. Ausgesprochen<br />
wissensdurstige Menschen sind vielleicht nicht bereit, das vorliegende Buch<br />
rechtzeitig zu schließen. Sind sie undiszipliniert, so werden sie immer schneller<br />
vorwärtshasten – und sich dabei mehr und mehr vom Glauben entfernen. Und wie<br />
das zuweilen bei glänzenden Denkern der Fall ist, erscheint die Erkenntnis wichtiger<br />
<strong>als</strong> der Glaube. Jegliche Aussicht auf Glauben könnte dann aber für immer<br />
schwinden.<br />
Ich erinnere mich an ein lebhaftes Telefonat mit einer Frau, die Tonbänder des<br />
von mir durchgeführten Wochenend-Seminars zum Thema Inspiration gehört hatte.<br />
Sie rief mich um die Mittagszeit von weit her an, redete unentwegt und<br />
bezichtigte mich, den Glauben zu zerstören. Ich wußte nicht, was sie meinte, bis sie<br />
mir ihre Geschichte erzählte.<br />
Sie hatte im Archiv der Loma Linda Universität gearbeitet und war zufällig auf<br />
Hinweise gestoßen, daß bei einem Buch von Ellen White Quellen verwendet und<br />
redaktionelle Eingriffe vorgenommen worden waren. (Dies geschah noch vor den<br />
70er Jahren, <strong>als</strong> bekannt wurde, daß Ellen White reichlich von Quellenmaterial<br />
Gebrauch gemacht hatte). Jedenfalls schilderte sie, wie ihr Glaube an Ellen White<br />
zusammengebrochen war. Sie wollte es aber damit nicht bewenden lassen und<br />
182
BEI DEN VERLEGERN<br />
erzählte, wie sie schnurstracks die Universität von Kalifornien in Riverside aufsuchte<br />
und dort einige Bibelfächer belegte. Der Unterricht wurde in einem weltlichen<br />
Rahmen abgehalten; dabei wurden ihre Befürchtungen bestätigt, und sie verlor auch<br />
ihren Glauben an die Bibel. Deshalb ihr verzweifelter Telefonanruf. Sie hätte gerne<br />
den Glauben wiedergefunden, aber es war ihr unmöglich. „Das wenigste, was ich tun<br />
kann,“ sagte sie, „ist andere davor zu bewahren.“<br />
Ich konnte ihr Anliegen sehr gut verstehen, wußte aber auch, daß die Antwort<br />
nicht darin bestehen konnte, die Augen zu verschließen. Als Gemeinschaft haben wir<br />
Verantwortung vor uns selbst und unseren Kindern, vor allem vor denen, die<br />
besonders wissensdurstig und intelligent sind. Gerade sie bilden ein enormes<br />
Potential für unsere Gemeinschaft und für die Welt. Wir müssen langsam aber sicher<br />
vorangehen auf dem gefährlichen Weg. Tun wir es gemeinsam, so braucht uns nichts<br />
zustoßen auf der Reise. Wir müssen allerdings tapfer und geduldig sein. Jedenfalls<br />
sollten wir nicht aufgeben.<br />
Wir wollen das Buch wieder öffnen, wollen die Felsbrocken entfernen und<br />
Schutzgeländer errichten, um den Weg zum Wort Gottes und seinem Reich<br />
freizumachen. Wir müssen aber auch um Weisheit bitten, das Buch zur rechten Zeit<br />
wieder zu schließen und gegebenenfalls abzuwarten.<br />
Deshalb möchte ich dich bitten, einen Moment innezuhalten. Höre auf<br />
weiterzulesen, wenn du dich dazu gedrungen fühlst. Lies die Einführung zum Buch<br />
Der große Kampf, um einen leicht zugänglichen Überblick eines Teils unseres<br />
Lehrstoffs zu erhalten. Ist erst einmal die Brücke überschritten, so wirst du dich<br />
rückschauend wundern, daß du so furchtsam warst. Das liegt nicht daran, weil du<br />
dumm oder schwer von Begriff bist. Es könnte sogar bedeuten, daß du besonders<br />
intelligent und scharfsinnig bist. Vor allem aber zeigt es, daß du ganz menschlich<br />
reagierst.<br />
Jede dauerhafte Veränderung braucht Zeit. Gott richtete das zu unserem Wohl so<br />
ein. Als die Sünde einst Gottes Volk überwältigte, weshalb wohl dauerte es dann so<br />
lange, bis Gott es zur Besinnung rufen konnte? Bestimmt auch deshalb, weil wir Gott<br />
Widerstand leisten und vor allem, weil Wachstum Zeit benötigt.<br />
Daß ich so leidenschaftlich rede, wird einige verwundern. Doch ich hoffe, ihr<br />
werdet versuchen, mich zu verstehen. Obwohl es in der Bibel klare und<br />
unwiderlegbare Beweise für die redaktionelle Bearbeitung und Kompilation von<br />
Texten gibt, führt uns doch unser bisheriges Versäumnis, uns Stück für Stück damit<br />
auseinanderzusetzen, in eine heikle Situation; plötzlich sollen wir alles auf einmal<br />
verkraften.<br />
Redaktionsarbeit sieht man üblicherweise nicht. Auch bei weltlicher Literatur<br />
183
INSPIRATION<br />
bleiben Redaktoren gerne unsichtbar. Man erkennt ja einen guten Redaktor ebenso,<br />
wie man den guten Bediener einer Lautsprecheranlage erkennt: Wenn er seine Arbeit<br />
gut macht, merkt niemand, daß es ihn überhaupt gibt!<br />
Wenn wir uns an dieser Stelle mit Dingen befassen, die wir früher vernachlässigt<br />
haben, kann leicht der Eindruck entstehen, die Bibel sei lediglich ein menschliches<br />
Buch. Deshalb bedürfen wir hier einer doppelten Portion von 2. Petrus 1,20.21.<br />
Immer wieder müssen wir diesen Punkt betonen, sowohl vor uns selbst wie auch<br />
gegenüber anderen: Wir anerkennen das Zeugnis der Schrift, daß ihre Entstehung<br />
vom Geist geleitet war. Unabhängig von den angewandten Methoden glauben wir,<br />
daß der Geist den gesamten Prozeß überwacht hat!<br />
Haben wir uns erst einmal durchgearbeitet, dann verstehen wir besser, weshalb es<br />
der Heilige Geist manchmal für angemessen hielt, gläubige Menschen zu ermuntern,<br />
die Worte von Gottes Boten andern von neuem zugänglich zu machen.<br />
Kompilationen und Neuausgaben, die zum rechten Zeitpunkt erscheinen, können ein<br />
großer Segen sein. Und in vielen Fällen kann es sich <strong>als</strong> nützlich erweisen, zu<br />
wissen, ob wir es mit Kompilationen zu tun haben oder nicht.<br />
Ich erinnere mich gut, wie fassungslos eine Frau reagierte, die der<br />
Adventgemeinde kürzlich beigetreten war und bald darauf ein Exemplar des<br />
Büchleins Ratschläge über Haushalterschaft von Ellen White in die Hand<br />
bekommen hatte. Sie wußte nicht, daß es sich dabei um eine Kompilation<br />
(Zitatensammlung) handelte und las das Büchlein von vorne bis hinten durch. Als<br />
wir sie in ihrem Heim aufsuchten, war sie außer sich. „Alles, was diese Frau<br />
bewegte,“ rief sie aus, „war Geld, Geld und nochm<strong>als</strong> Geld!“ Ihre Unkenntnis über<br />
den Charakter dieses Buches wäre jener Adventistin beinahe zum Verhängnis<br />
geworden.<br />
Überzeugende Belege für eine Redaktion und Kompilation finden sich in den<br />
Sprüchen und im Buch Jeremia. Damit ist das Prinzip belegt, daß die Aussagen<br />
inspirierter Boten bearbeitet werden dürfen. Steht einmal das Prinzip fest, dann<br />
müssen wir nicht beunruhigt sein, wenn wir subtile Hinweise auf die Bearbeitung<br />
anderer biblischer Bücher vorfinden. Es mag durchaus sein, daß auch da Redaktoren<br />
am Werk waren. Warum eigentlich nicht?<br />
Die folgenden Abschnitte beschreiben die Fakten in summarischer Form, wobei<br />
die Sprüche sowie der Prophet Jeremia besonders hervorgehoben werden.<br />
184<br />
Sprüche<br />
Die vorhin zitierten Verse aus den Sprüchen führen zu folgenden Schlüssen:<br />
1. Die Sprüche stellen eine Kompilation von Kompilationen dar. Das Buch enthält
BEI DEN VERLEGERN<br />
eine Reihe von Untertiteln, deren erster sich nur auf die ersten neun Kapitel bezieht<br />
und nicht auf das ganze Buch. Der zweite Untertitel deckt den Abschnitt ab, der mit<br />
dem 10. Kapitel beginnt.<br />
2. Die Sprüche wurden teilweise von einem anderen <strong>als</strong> von Salomo verfaßt. Die<br />
Abschnitte, die am deutlichsten nicht-salomonischen Ursprungs sind, betreffen die<br />
Kapitel 30 und 31. Tatsächlich scheint der wirkliche Autor von Kapitel 31 eine Frau<br />
zu sein, nämlich die Mutter des Königs Lemuel.<br />
3. Mindestens eine der Kompilationen kam erst mehr <strong>als</strong> 200 Jahre nach Salomos<br />
Tod zustande. Die „Männer Hiskias“ kompilierten den Teil des Buches, der mit<br />
Sprüche 25,1 beginnt. Als Resultat eines vermehrten Interesses an den Aussprüchen<br />
der Weisen zur Zeit Hiskias verfügen wir nunmehr über eine zusätzliche Sammlung<br />
von Sprüchen, die heute zu unserer Bibel gehört.<br />
Ein weiterer Aspekt ist hier erwähnenswert, obwohl er außerbiblisches Material<br />
betrifft, nämlich die Parallele zwischen Sprüche 22,17 - 23,11 und einer ägyptischen<br />
Spruchsammlung mit dem Titel „Lehren von Amenemope“. Die Ähnlichkeiten<br />
zwischen beiden sind auffallend. Konservative Ausleger haben geltend gemacht, daß<br />
Amenemope die entsprechenden Textabschnitte aus den Sprüchen übernommen hat;<br />
kritische Gelehrte sehen es jedoch umgekehrt. Vom Standpunkt der Inspiration aus<br />
könnte das eine oder das andere zutreffen, ohne daß dabei die Autorität des Buches<br />
der Sprüche, wie wir es heute kennen, angetastet wird.<br />
In einem guten Kommentar zu den Sprüchen wird diese Frage sorgfältig<br />
analysiert. Eine kurze Darstellung mit Parallelbeispielen beider Quellen ist in dem<br />
Buch Das Alte Testament: Entstehung – Geschichte – Botschaft enthalten, einem<br />
praktischen Kommentar zum Alten Testament, der vom Brunnen Verlag<br />
herausgegeben wird (LaSor, Hubbard, Bush 655).<br />
Jeremia<br />
Die eingangs zitierten Texte von Jeremia führen zu folgenden Schlüssen:<br />
1. Ein Redaktor, möglicherweise aus einer Gruppe von „Nachlaßverwaltern“,<br />
stellte das Buch zusammen, indem er neben Jeremias prophetischen Aussagen<br />
historisches Material darin aufnahm. Im Vergleich zu den Sprüchen erweckt das<br />
Buch Jeremia weniger den Eindruck einer Kompilation, <strong>als</strong> vielmehr den eines<br />
normalen Buches. Die Analogie zum adventistischen „Ellen G. White Estate“<br />
unserer Zeit mag aufschlußreich sein, obwohl zwischen Jeremia und uns eine<br />
erhebliche Zeitdifferenz besteht. Jedenfalls sind folgende Hauptmerkmale zu nennen:<br />
a. Vorhandensein prophetischer Aussagen in der ersten Person neben erzählenden<br />
185
INSPIRATION<br />
und beschreibenden Abschnitten in der dritten Person. Der Prolog (Jeremia 1,1-4;<br />
siehe oben) ist gleichbedeutend mit dem Vorwort des Herausgebers. Unter<br />
Verwendung der dritten Person enthält der Prolog die für eine „Titelseite“ übliche<br />
Information: (1) Identifikation von Jeremia <strong>als</strong> Sohn Hilkias, aus dem<br />
Priestergeschlecht von Anatot im Lande Benjamin, (2) das Anfangsdatum von<br />
Jeremias geistlichem Amt (13. Jahr der Regierungszeit Josias) und (3) Dauer und<br />
Ende von Jeremias geistlichem Amt (während der Zeit Jojakims bis zum 11. Jahr des<br />
Königs Zedekia und bis zur Gefangenschaft Jerusalems im fünften Monat).<br />
Erst im 4. Vers des ersten Kapitels hören wir Jeremia in der ersten Person reden:<br />
„Und des Herrn Wort geschah zu mir.“ Von dort ab sind Jeremias Botschaften in der<br />
ersten Person (ich/mich) eng verbunden mit historischen Begebenheiten in der dritten<br />
Person (er/ihn). Auch die berühmte Geschichte vom Verbrennen der Schriftrolle<br />
durch den König (Jeremia 36) ist gekennzeichnet durch den abwechselnden<br />
Gebrauch der ersten und dritten Person.<br />
b. Einschub eines Briefes von Jeremia, der mit einer erklärenden Einleitung in der<br />
dritten Person versehen ist (Jeremia 29).<br />
c. Hinzufügung eines historischen Nachworts, das sich vom Rest des Buches klar<br />
unterscheidet. Wie bereits vermerkt, endet Jeremia 51,64 mit den Worten: „So weit<br />
hat Jeremia geredet.“ Das heutige Buch Jeremia fährt jedoch fort mit dem 52.<br />
Kapitel, einer fast wörtlichen Wiedergabe von 2. Könige 24,18 - 25,30.<br />
Dieses Nachwort ist sehr bedeutsam. Es beschreibt die Zerstörung Jerusalems und<br />
den Beginn des Exils, Ereignisse, die Jeremia unter Einsatz seines Lebens<br />
zuverlässig vorausgesagt hatte. Das Abschlußkapitel läßt die Absicht des Verfassers<br />
erkennen, die Wahrheit von Jeremias Voraussagen zu bestätigen.<br />
Wer das Buch Jeremia auch zum Abschluß gebracht haben mag – er wollte den<br />
Leser mit dem letzten Satz von Jeremia 51,64 informieren und nicht verunsichern.<br />
Mir ist jedoch mindestens ein Fall von ernsthafter Beunruhigung bekannt, <strong>als</strong><br />
Kollegen anläßlich einer Predigertagung über das Buch Jeremia referierten. Zwei der<br />
anwesenden Prediger waren fassungslos, <strong>als</strong> sie plötzlich gewahr wurden, daß das<br />
letzte Kapitel des Buches nicht von Jeremia stammt. Ausgehend von der Annahme,<br />
daß ein Prophet all seine Botschaften durch direkte Offenbarung von Gott erhält und<br />
verpflichtet ist, diese auch selber aufzuschreiben, erschreckte sie der Gedanke, daß<br />
Jeremia 52 nicht inspiriert sei. Und wenn ein Teil von Jeremia nicht inspiriert war ...<br />
Wieder begegnen wir dem Domino-Effekt, dem Loch im Deich, dem „rutschigen<br />
Abhang“. In diesem Fall kam es zu einem Zusammenstoß zwischen einer<br />
unbiblischen Annahme und einer biblischen Tatsache. Welche Alternativen boten<br />
sich an? Ich sehe drei davon. Ich möchte sie anhand eines einfachen Beispiels<br />
186
BEI DEN VERLEGERN<br />
illustrieren, und dann wollen wir zu einer ernsthaften Anwendung gelangen.<br />
Ein chauvinistischer Mann heiratet eine Frau, von der er erwartet, daß sie in jeder<br />
Hinsicht vollkommen ist. Eines Tages brennen ihr in der Küche die Bohnen an.<br />
187
INSPIRATION<br />
Es gibt drei Möglichkeiten. Erstens: Sowohl die Erwartung (perfekte Ehefrau) wie<br />
auch die Tatsache (verbrannte Bohnen) kommen voll zum Tragen: „Eine perfekte<br />
Hausfrau läßt keine Bohnen anbrennen.“ Er wirft sie aus dem Haus.<br />
Zweitens: Die Erwartung (perfekte Ehefrau) wird aufrechterhalten, aber die<br />
Tatsache (verbrannte Bohnen) wird geleugnet: „Diese Bohnen haben ein ganz<br />
besonderes Aroma. Welches Gewürz hast du verwendet?“ Der Mann beißt die Zähne<br />
zusammen, setzt all seine Willenskraft ein, erklärt die Bohnen für gut und würgt sie<br />
hinunter.<br />
Drittens: Die Erwartung wird im Licht der Tatsachen revidiert: „Ja, die Bohnen<br />
sind verbrannt (Anerkennung des Befunds). Aber ich liebe meine Frau, weil sie mir<br />
so viel bedeutet (Revision der Erwartung an eine perfekte Ehefrau). Wir wollen uns<br />
doch über gelegentlich angebrannte Bohnen nicht aufregen!“ Und mit der neu<br />
gewonnenen Erkenntnis, daß unsere Welt keine absolute Vollkommenheit kennt,<br />
leben die beiden fröhlich weiter bis an ihr Ende.<br />
Kehren wir nun zu unseren beiden Predigern zurück und sehen uns ihre auf die<br />
Bibel bezogenen Alternativen an. Auch sie haben drei Möglichkeiten:<br />
Erstens: Sie können ihre Annahme aufrechterhalten (daß ein Bibelbuch durch<br />
besondere Offenbarung entsteht und von dessen Verfasser selber geschrieben sein<br />
muß) und gleichzeitig den Befund anerkennen (daß ein Teil des Buches nicht durch<br />
spezielle Offenbarung zustande kam und nicht von Jeremia selber geschrieben<br />
wurde). Daraus können sie folgern, daß Gott nicht durch die Bibel gesprochen hat.<br />
Somit hat die Bibel <strong>als</strong> Wort Gottes ausgedient.<br />
Zweitens: Sie können ihre Annahme aufrechterhalten, sich jedoch weigern, den<br />
biblischen Befund zur Kenntnis zu nehmen. Mit dieser Einstellung können sie zwar<br />
den Glauben bewahren, aber hierfür benötigen sie einen Akt des Willens, der die<br />
Tatsachen an Stärke noch übertreffen muß.<br />
Drittens: Sie können ihre Annahme im Licht der Tatsachen revidieren. Auch bei<br />
dieser Alternative ist es weiterhin möglich zu glauben, aber es braucht Zeit, um die<br />
Nachwirkungen der bisherigen Annahme zu überwinden. Ehemalige Erwartungen<br />
und alte Überzeugungen können nicht so leicht ausgemerzt werden, besonders wenn<br />
sie mit Glauben und Religion verknüpft sind.<br />
In Deutschland erzählte mir eine adventistische Frau, sie habe noch volle sieben<br />
Jahre nach ihrer Taufe und Zugehörigkeit zur Adventgemeinde ein Bedürfnis<br />
verspürt, am Sonntag zu ruhen, so wie es ihr <strong>als</strong> Kind eingedrillt worden war. Wohl<br />
hatte sie aufgrund der Schrift den Sabbat verstandesmäßig erfaßt, aber es bedurfte<br />
weiterer sieben Jahre, bis sie wirklich in der Lage war, am Sabbat zu ruhen und am<br />
Sonntag zu arbeiten.<br />
188
BEI DEN VERLEGERN<br />
Was die beiden Prediger betrifft, so gingen sie davon aus, daß Inspiration auf eine<br />
ganz bestimmte Weise zu geschehen habe. Es ist geradezu typisch für konservative<br />
Christen, daß sie nach dem Motto „Ich liebe verbrannte Bohnen“ handeln und den<br />
Textbefund nicht wahrhaben wollen. Eine solche Einstellung kann besonders dann<br />
aufrechterhalten werden, wenn man versäumt, den Tatsachen, wie sie in der Schrift<br />
nun einmal vorhanden sind, ins Auge zu blicken!<br />
Als die beiden Prediger den Text von Jeremia betrachteten, konnten sie die zweite<br />
Alternative nicht mehr aufrechterhalten. Sie hatten nicht die Willenskraft, die<br />
Tatsachen zu leugnen und mußten entweder ihren Glauben aufgeben oder sich mit<br />
den Tatsachen abfinden. Mit einiger Unterstützung gelang es ihnen schließlich, sich<br />
mit den Tatsachen zu arrangieren.<br />
2. Weder das Buch <strong>als</strong> ganzes noch die Aussagen von Jeremia sind chronologisch<br />
angeordnet. Es ist natürlich denkbar, daß entweder ein Redaktor oder Jeremia selbst<br />
für die vorhandene Anordnung des Buches verantwortlich ist. Während einige der<br />
prophetischen Aussagen undatiert sind, sind viele davon mit den vier letzten Königen<br />
Judas verbunden. Es kann somit davon ausgegangen werden, daß dem Buch ein<br />
anderes Prinzip <strong>als</strong> die chronologische Abfolge zugrunde liegt.<br />
Die Kapitel 21 bis 29 stellen ein gutes Übungsfeld dar. Außer Kapitel 23 sind sie<br />
alle mit Daten versehen. Nachstehend ist die Reihenfolge der Könige (mit<br />
Alternativnamen) wiedergegeben, bezogen auf die entsprechenden Kapitel im Buch<br />
Jeremia:<br />
a. Joahas (Schallum): 22 (Teilabschnitt)<br />
b. Jojakim: 22 (Teilabschnitt), 25, 26<br />
c. Jojachin (Jechonja, Konja): 22 (Teilabschnitt)<br />
d. Zedekia (Mattanja): 21, 24, 27, 28, 29<br />
3. Die Septuaginta, die frühe griechische Ausgabe des Alten Testaments, revidiert<br />
den Text von Jeremia.<br />
a. Der Gesamttext von Jeremia in der Septuaginta ist um etwa ein Achtel kürzer<br />
<strong>als</strong> der ursprüngliche hebräische Text. Die Kürzungen in der Septuaginta sind<br />
unerheblich und betreffen überwiegend Sätze oder Satzteile aus dem gesamten Buch.<br />
Beim Buch Hiob können wir in der Septuaginta etwas ähnliches feststellen. Es ist<br />
um ein Sechstel kürzer <strong>als</strong> das hebräische Original. Offenbar haben sehr schwierige<br />
hebräische Passagen die Hiob-Übersetzer der Septuaginta dazu geführt,<br />
schwerverständliche Sätze beiseite zu lassen, um nicht auf Vermutungen angewiesen<br />
zu sein.<br />
Bei Jeremia spielte dieses Argument offenbar keine Rolle. Doch in beiden Fällen<br />
kann das Resultat vielleicht verglichen werden mit den Auswahlbüchern von<br />
189
INSPIRATION<br />
„Reader’s Digest“, die Buchinhalte in gekürzter Form wiedergeben, wobei die<br />
Hauptaussage erhalten bleibt.<br />
b. Ein größerer Abschnitt von Jeremia, die „Gerichtsworte gegen die Völker“,<br />
befindet sich in der Septuaginta an anderer Stelle.<br />
In der hebräischen Bibel (wie auch in unseren englischen und deutschen<br />
Ausgaben) sind diese Gerichtsworte in den Kapiteln 46 bis 51 wiedergegeben und<br />
bilden den letzten großen Abschnitt des Buches vor dem geschichtlichen Nachwort.<br />
Die Septuaginta läßt diesen ganzen Abschnitt auf Jeremia 25,13 folgen, einen Vers,<br />
der sich <strong>als</strong> logische Einführung der Gerichtsworte recht gut eignet: „So lasse ich an<br />
diesem Lande, gegen das ich geredet habe, alle meine Worte in Erfüllung gehen,<br />
nämlich alles, was in diesem Buch geschrieben steht, was Jeremia geweissagt hat<br />
über alle Völker.“ An dieser Stelle werden in der Septuaginta die Gerichtsworte<br />
gegen die Nationen eingefügt.<br />
Aus praktischer Sicht ist dies für Gelehrte, die die Septuaginta mit dem<br />
englischen bzw. deutschen oder hebräischen Text vergleichen wollen, ein<br />
erschwerender Umstand. Und Theologiestudenten, die stolz auf ihre bescheidenen<br />
Griechisch-Kenntnissen sind, können an dieser Stelle in Panik geraten, wenn sie im<br />
gesuchten Text nicht das Geringste finden, was ihnen vertraut wäre!<br />
Zusammenfassung<br />
Wenn Gott Redaktoren und Kompilatoren gebrauchen möchte, um uns seine<br />
Botschaft zu vermitteln, so ist dies seine Entscheidung. Und er hat tatsächlich so<br />
entschieden. Die in 2. Petrus 1,20.21 zum Ausdruck gebrachte Wahrheit ist immer<br />
noch gültig: Die Bibel wurde durch den Heiligen Geist gegeben, sei es durch direkte<br />
Offenbarung oder durch Quellenforschung, durch Sekretäre oder Schreiber,<br />
Redaktoren oder Kompilatoren – oder auch durch die großen Buchstaben, die Paulus<br />
mit eigener Hand schrieb. Wie es auch zustande kommt, ist und bleibt es Gottes<br />
Wort.<br />
Fragen zum Nachdenken<br />
1. Woher stammt die Annahme, die gesamte Schrift müsse durch spezielle<br />
Offenbarung vermittelt werden und jedes darin enthaltene Buch müsse einen<br />
namentlich genannten Autor haben?<br />
2. Welche Maßnahmen sollten von unserer Gemeinschaft getroffen werden, um<br />
f<strong>als</strong>cher Annahmen und Erwartungen zu korrigieren, die uns daran hindern, die<br />
190
BEI DEN VERLEGERN<br />
Schrift richtig zu verstehen und anzuwenden?<br />
191
Kapitel 15<br />
Parallelabschnitte im Alten Testament<br />
Übersicht: Alttestamentliche Parallelberichte sind nützlich, weil sie uns auf drei<br />
wichtige Dinge hinweisen: (1) Abweichungen in geringfügigen Einzelheiten (wie<br />
Zahlen-, Namen- und Ortsangaben), die bei Parallelberichten vorkommen, weil<br />
unvollkommene Menschen am Übertragungsvorgang beteiligt waren; (2) die große<br />
Bedeutung einer Abweichung im Detail <strong>als</strong> Erkennungszeichen für „gegenwärtige<br />
Wahrheit“ – einer neuen theologischen Erkenntnis, die zuvor nicht vorhanden war;<br />
und (3) die Verwendung von Streichungen, Zusätzen und Modifikationen, um im<br />
Rahmen eines ganzen Buches eine bestimmte Botschaft über Gott zu vermitteln.<br />
Der Verfasser der Chronik, der eine Gemeinde ansprach, die zur Mutlosigkeit<br />
neigte, wollte Hoffnung wecken, indem er Israels Geschichte nacherzählte und dabei<br />
die positiven Aspekte hervorhob; viele negative Aspekte dagegen ließ er beiseite.<br />
Die Grunderzählung entspricht derjenigen aus Samuel/Könige, aber die Botschaft ist<br />
unterschiedlich, da der Heilige Geist den Verfasser bewog, in einer besonderen Zeit<br />
auf ein besonderes Bedürfnis einzugehen.<br />
Schlüsseltexte<br />
Davids Volkszählung: 2. Samuel 24 und 1. Chronik 21<br />
Wer tat es?<br />
„Und der Zorn des Herrn entbrannte aberm<strong>als</strong><br />
gegen Israel, und er reizte David gegen das Volk<br />
und sprach: Gehe hin, zähle Israel und Juda!“<br />
2. Samuel 24,1<br />
„Und der Satan stellte sich gegen Israel und<br />
reizte David, daß er Israel zählen ließe.“<br />
1. Chronik 21,1<br />
Wie viele?<br />
„Und Joab gab dem König die Summe des<br />
Volks an, das gezählt war. Und es waren in<br />
Israel achthunderttausend streitbare Männer, die<br />
d a s S c h w e r t t r u g e n , u n d i n J u d a<br />
fünfhunderttausend Mann.“ 2. Samuel 24,9<br />
„... und [Joab] gab David die Zahl des gezählten<br />
Volks an. Es waren von ganz Israel elfmal<br />
hunderttausend Mann, die das Schwert trugen,<br />
und von Juda vierhundertsiebzigtausend Mann,<br />
die das Schwert trugen.“ 1. Chronik 21,5<br />
192
PARALLELABSCHNITTE IM ALTEN TESTAMENT<br />
Wer?<br />
„Der Engel des Herrn aber war bei der Tenne<br />
Araunas, des Jebusiters.“ 2. Samuel 24,16<br />
„Der Engel des HERRN stand aber bei der<br />
Tenne Ornans, des Jebusiters.“ 1.Chronik 21,15<br />
ElbÜ<br />
Wieviel wofür?<br />
„So kaufte David die Tenne und die Rinder für<br />
fünfzig Lot Silber.“ 2. Samuel 24,24<br />
„Und David gab Ornan für den Platz Gold im<br />
Gewicht von sechshundert Schekel.“<br />
1. Chronik 21,25 ElbÜ<br />
Gleiche Geschichte – anderes Anliegen<br />
Einige biblische Geschichten sind so weit von uns entfernt, daß wir beim Lesen rasch<br />
auf Probleme stoßen. Bei der Geschichte von Davids Volkszählung beispielsweise<br />
beschäftigt uns sofort die Frage: Weshalb ist eine Volkszählung verwerflich? Hatte<br />
nicht Gott in der Wüste eine Volkszählung von Mose gefordert? (4. Mose 1,2).<br />
Diese Frage stellen wir heute; dam<strong>als</strong> wurde sie von keinem der Beteiligten<br />
gestellt. Joab, Davids forscher General, der nicht gerade für Tugendhaftigkeit<br />
bekannt war, muß geahnt haben, daß David hier gefährliche Wege ging. Deshalb<br />
stellte er dessen Befehl in Frage. Wir ahnen, daß die Volkszählung etwas mit Davids<br />
Stolz zu tun hatte. Vielleicht lag ihm mehr daran, seine Macht <strong>als</strong> König zu<br />
demonstrieren, <strong>als</strong> seinem Herrn und Gott die Ehre zu geben.<br />
Doch diese Problematik verliert an Bedeutung, und andere, wichtigere Dinge<br />
treten in den Vordergrund, wenn wir die beiden Versionen dieser Geschichte<br />
nebeneinander stellen. Der Bericht von Davids Volkszählung dient <strong>als</strong> Beispiel<br />
dafür, welche Schwierigkeiten uns bei der Betrachtung von biblischen<br />
Parallelabschnitten erwarten. Da die in den Schlüsseltexten genannten Einzelheiten<br />
so auffallend sind, werden wir die übliche Reihenfolge umkehren und uns zunächst<br />
mit geringfügigen Einzelheiten befassen, danach mit einem bedeutsamen Detail, und<br />
schließlich mit dem übergeordneten Thema der allgemeinen Beziehung zwischen<br />
Samuel/Könige und den Chronikbüchern.<br />
Abweichungen in geringfügigen Einzelheiten<br />
Erinnern wir uns an die eingangs erwähnte Geschichte jenes Studenten, der sich<br />
beinahe umgebracht hätte, nachdem er sich in eine Hausaufgabe vertieft hatte? Die<br />
diesem Kapitel vorangestellten Schlüsseltexte enthalten einen Teil der<br />
Entdeckungen, die er in der Bibel machte.<br />
193
INSPIRATION<br />
Wenn uns daran gelegen ist, können wir versuchen, diese Einzelheiten miteinander<br />
in Übereinstimmung zu bringen. Eine Anzahl von Bibelauslegern hat das versucht.<br />
Einer vertrat beispielsweise die Meinung, die unterschiedlichen Geldbeträge, die<br />
David für das Land bezahlte, würden sich auf verschieden große Areale beziehen.<br />
Den größeren Betrag hätte David für die gesamte Anhöhe bezahlt, während der<br />
kleinere Betrag nur für die Opferstätte entrichtet wurde. Die Wahrscheinlichkeit, daß<br />
solche Erklärungsversuche gelingen, halte ich für gering. Ich sehe jedoch eine andere<br />
Möglichkeit: Wenn Gott uns Parallelabschnitte mit unterschiedlichen Einzelheiten<br />
vorlegt, kann es sein, daß er uns damit zeigen möchte, daß solche Einzelheiten es<br />
nicht wert sind, daß wir darüber streiten oder uns den Kopf zerbrechen.<br />
Wenn wir uns bewußt sind, wie die Schreiber der Bibel Quellenmaterial<br />
verwendeten (siehe Kapitel 12), läßt sich annehmen, daß beide Verfasser zu<br />
verschiedenen Berichten über dasselbe Ereignis Zugang hatten. Hätte Gott es aber<br />
nicht so lenken können, daß die Einzelheiten übereinstimmten? Zweifellos hätte er<br />
das tun können. Aber offenbar wollte er es nicht – jedenfalls legt die Bibel diese<br />
Vermutung nahe.<br />
In diesem Zusammenhang mag uns eine Frage helfen, die Sache von einem<br />
praktischen Standpunkt aus zu sehen. Angenommen, ich würde diese Geschichte in<br />
der Kindersabbatschule erzählen, meint ihr, daß beispielsweise der beschriebene<br />
Geldbetrag für die Pointe und Anwendung der Geschichte eine Rolle spielen würde?<br />
Nicht im geringsten!<br />
Es geht doch vor allem um die Glaubwürdigkeit. Können wir der Bibel vertrauen?<br />
Selbstverständlich. Aber es gibt f<strong>als</strong>che Vorstellungen über den Inspirationsprozeß,<br />
und die sind tief verwurzelt, so daß sich ihnen nicht leicht beikommen läßt.<br />
Wir müssen realistisch sein. Selbst wenn Gott uns mitteilen möchte, wir sollten<br />
wegen solcher Einzelheiten keine schlaflosen Nächte verbringen, hilft es den<br />
Betroffenen nur selten, wenn wir ihnen sagen, sie sollten keine schlaflosen Nächte<br />
haben. Es wird immer wieder Leute geben, die über Ungereimtheiten wie den<br />
Unterschied zwischen 50 Lot Silber und 600 Lot Gold beunruhigt sind (wenn man<br />
die Metalle nur austauschen könnte!).<br />
Wir brauchen Geduld. Wenn f<strong>als</strong>che Vorstellungen tief verankert sind, kostet es<br />
Zeit, sich davon zu lösen und mit den eindeutigen Tatsachen auszusöhnen. Als ich<br />
mich selber mit den bestehenden Differenzen in dieser Geschichte (und anderswo in<br />
der Bibel) ausgesöhnt hatte, brach in mir die Frage auf: Wo und wie ist eigentlich die<br />
Meinung entstanden, die Bibel müsse unfehlbar sein? Und wie konnte sie so tiefe<br />
Wurzeln schlagen angesichts der in der Bibel selbst enthaltenen Tatsachen?<br />
Ich bin zu dem Schluß gelangt, daß diese Theorie (ohne eine sorgfältige<br />
194
PARALLELABSCHNITTE IM ALTEN TESTAMENT<br />
Betrachtung biblischer Einzelheiten) auf ganz bestimmten Vorstellungen beruht, wie<br />
sich eine höchste Instanz (Gott) mit uns zu verständigen habe. Anstatt uns vom Text<br />
belehren zu lassen, wird die Theorie dem Text zugrundegelegt. Und wenn solch eine<br />
Ansicht durch eine Gemeinschaft von Gläubigen gestützt wird, ist es für den<br />
Einzelnen fast unmöglich, sich mit den Worten bemerkbar zu machen: „Seht mal,<br />
was ich in der Schrift gefunden habe!“, ohne daß dadurch seine Stellung in dieser<br />
Gemeinde gefährdet wird. Ein vergleichbares Phänomen läßt sich in den Ländern<br />
beobachten, die von einem Diktator regiert werden. Wie jeder in einem solchen Land<br />
weiß, hat der Diktator immer recht – auch wenn er im Unrecht ist.<br />
Ein bedeutsames Detail: Satan oder Gott?<br />
Eine bestimmte Einzelheit in dieser Geschichte ist meines Erachtens von großer<br />
Bedeutung: War es Gott (Buch Samuel) oder Satan (Buch der Chronik), der David<br />
veranlaßte, das Volk zu zählen? Wenn ihr wollt, dürft ihr raten, welcher Variante<br />
Ellen White im Buch Patriarchen und Propheten (S. 721) den Vorzug gab. Sie<br />
entschied sich für Satan und 1. Chronik.<br />
Genau darauf kam es mir an, <strong>als</strong> ich meine Studenten bat, die beiden Berichte zu<br />
vergleichen. Denn ich meine, wir haben hier ein hervorragendes biblisches Beispiel<br />
für das, was Adventisten „gegenwärtige Wahrheit“ genannt haben, nämlich neue<br />
Einsichten, die Gottes Volk heute im Gegensatz zu früher geistlich wie intellektuell<br />
anzunehmen bereit ist.<br />
Ein kurzer Blick auf die adventistische Geschichte mag uns helfen, die biblische<br />
Begebenheit besser zu verstehen. Am eindrucksvollsten war die Verwendung des<br />
Ausdrucks „gegenwärtige Wahrheit“ wohl zur Zeit der Vorgänge um 1888. Dam<strong>als</strong><br />
wandte sich Ellen White mit folgenden Worten an die Delegierten der<br />
Generalkonferenz: „Das, was wir heute durch Gottes Fügung aus dem Munde seiner<br />
Diener hören, wäre vor 20 Jahren vielleicht noch keine gegenwärtige Wahrheit<br />
gewesen, aber es ist Gottes Botschaft für unsere Zeit.“ (MS 8a, 1888, zitiert bei A. V.<br />
Olson, Thirteen Crisis Years 282)<br />
Ellen White beantwortete damit teilweise ein Telegramm des geplagten<br />
Präsidenten der Generalkonferenz, George I. Butler, der selbst nicht anwesend sein<br />
konnte, jedoch so sehr in Sorge war, es könnte Veränderungen geben, daß er die<br />
Delegierten telegraphisch dringend bat: „Steht zu den Marksteinen! Verrückt die<br />
Grenzsteine nicht!“<br />
Ellen White wollte sagen, daß die Gemeinschaft 20 Jahre zuvor für die Botschaft<br />
von Jones und Waggoner wohl noch nicht bereit gewesen wäre. Nun aber sei die Zeit<br />
195
INSPIRATION<br />
gekommen. Ihre Botschaft war gegenwärtige Wahrheit.<br />
Die Parallele zu unserer biblischen Geschichte ist bemerkenswert. Es wäre verkehrt,<br />
die eine <strong>als</strong> richtig und die andere <strong>als</strong> f<strong>als</strong>ch zu bezeichnen, wenn uns auch einer von<br />
diesen beiden Berichte nützlicher und verständlicher erscheint. Obwohl die Chronik<br />
das letzte Buch des hebräischen Alten Testaments darstellt – und damit sozusagen<br />
das letzte Wort hat – haben doch beide Verfasser ihren Lesern in einer gewissen<br />
Weise gegenwärtige Wahrheit vermittelt, d. h. eine ihrer Zeit angepaßte Botschaft. In<br />
Anbetracht der verschiedenen geschichtlichen Umstände enthält jedes Buch die<br />
richtige Botschaft für die richtige Zeit.<br />
Eine Erklärung, die beiden Seiten Rechnung trägt und diese Berichte theologisch<br />
in Übereinstimmung bringt, besteht natürlich darin, daß Satans Wirken unter Gottes<br />
Kontrolle steht und nur mit seiner Erlaubnis geschieht. Aber wenn wir zu rasch zu<br />
dieser Schlußfolgerung kommen, könnten wir leicht die wahre Bedeutung des<br />
Unterschieds zwischen den beiden Berichten übersehen.<br />
Was ich damit sagen will, ist, daß das Auftreten Satans in den Chronikbüchern für<br />
das alte Israel gegenwärtige Wahrheit war. Für Christen, denen Satan zum festen<br />
Begriff geworden ist, mag das überraschend klingen. Ich erinnere mich gut an meine<br />
eigene Überraschung, <strong>als</strong> ich folgendes entdeckte: Als übernatürliches und<br />
gottfeindliches Wesen wird Satan nur an drei Stellen des Alten Testaments eindeutig<br />
erwähnt, nämlich in Hiob 1 und 2, in Sacharja 3 und hier im 1. Chronikbuch. Diese<br />
Bücher wurden erst gegen Ende der alttestamentlichen Periode verfaßt oder in den<br />
Kanon aufgenommen.<br />
Wer war aber dann im Alten Testament für das Böse verantwortlich? Die Antwort<br />
mag überraschen und ist fast revolutionär für unser Verständnis des Alten<br />
Testaments: Gott selbst wird <strong>als</strong> Urheber des Bösen dargestellt! Fast durchgehend<br />
gilt im Alten Testament, daß das Böse direkt von Gott kommt und nicht von Satan.<br />
Kurz gesagt, was uns beinahe <strong>als</strong> Gotteslästerung erscheint, wird im Alten Testament<br />
<strong>als</strong> selbstverständlich betrachtet.<br />
Wer begegnete Mose auf dem Weg nach Ägypten und „wollte ihn töten“? Der<br />
Herr (2. Mose 4,24). Wer tötete alle Erstgeborenen in Ägypten? Nicht Satan. Nicht<br />
einmal ein Engel. Immer wieder wird uns im 2. Mosebuch unmißverständlich klar<br />
gemacht, daß der Herr selbst das Land <strong>als</strong> Todesbringer durchzog (vgl. 2. Mose<br />
4,22.23; 11,4; 12,12.13.23.27.29). Wer sandte die feurigen Schlangen in der Wüste?<br />
Der Herr ( 4. Mose 21,6).<br />
Vielleicht habt ihr euch auch schon einmal gefragt, weshalb die Geschichten des<br />
Alten Testaments, so wie sie in Kinderbibeln und -büchern erzählt werden, so viel<br />
leichter zu lesen und zu verstehen sind <strong>als</strong> die Bibel selbst? Zum Teil liegt es daran,<br />
196
PARALLELABSCHNITTE IM ALTEN TESTAMENT<br />
daß, nachdem wir uns eine gegenwärtige Wahrheit angeeignet haben, wir die<br />
biblischen Geschichten im Licht unserer neuen Erkenntnis wiedergeben. Genau das<br />
haben praktisch alle christlichen Schreiber und Leser getan, wenn sie<br />
alttestamentliche Geschichten erzählen. Jetzt, wo wir über Satan Bescheid wissen,<br />
setzen wir ihn dort ein, wo er hingehört – oder wo wir glauben, daß er hingehöre.<br />
Wir ziehen es vor, das flammende Schwert in der Hand Satans zu sehen und nicht in<br />
der Hand unseres „lieben himmlischen Vaters“ oder eines „freundlichen und sanften<br />
Jesus“.<br />
So aber vernahm das alte Israel diese Geschichten nicht. Weshalb? Wir werden<br />
eine mögliche Erklärung vorschlagen. Dabei müssen wir uns die drei Abschnitte, in<br />
denen Satan beschrieben wird, näher ansehen – sowie die vier weiteren Stellen, die<br />
der Ansicht zu widersprechen scheinen, daß Satan im Verlauf der alttestamentlichen<br />
Geschichte erst spät in Erscheinung tritt.<br />
Zunächst jedoch der Erklärungsversuch. Nach dem Sündenfall nahm die<br />
Erkenntnis des wahren Gottes auf der Erde rasch ab. Die Kapitel von 1. Mose 3-11<br />
beschreiben eine Katastrophe nach der andern: die erste Sünde unserer Ureltern und<br />
der Fluch über die Erde (1. Mose 3,1-24); Kains Mord an seinem Bruder Abel<br />
(1. Mose 4,8); Lamechs verabscheuungswürdige Rachegelüste (1. Mose 4,23.24); die<br />
Sintflut (1. Mose 6,1-8,19); Hams Vergehen an seinem Vater (1. Mose 9,20-27); der<br />
Turm zu Babel (1. Mose 11,1-9). Zu Abrahams Zeit kam es so weit, daß selbst die<br />
Familie des Patriarchen „anderen Göttern diente“ (Josua 24,2). Kinderopfer wurden<br />
wahrscheinlich <strong>als</strong> höchste Form der Anbetung betrachtet, bis Gott Abraham eines<br />
besseren belehrte (1. Mose 22). Und Abraham nahm sich ohne Gewissensbisse eine<br />
zweite Frau, denn, mit den Worten von Ellen White: „Die Vielweiberei war so weit<br />
verbreitet, daß man sie gar nicht mehr <strong>als</strong> etwas Sündhaftes ansah.“ (PP 124)<br />
In dieser nahezu gottverlassenen Welt, in der Satans Konzept der Selbstsucht voll<br />
ausgereift war, wurde die göttliche Autorität durch die Kräfte des Bösen zerschlagen,<br />
und was davon übrigblieb, wurde in eine Menge guter und böser Gottheiten<br />
aufgeteilt. Der Polytheismus war in voller Blüte.<br />
Da die Götter in einem solchen polytheistischen System oft miteinander im Streit<br />
liegen, müssen sich die Menschen bemühen, die richtigen Götter zur richtigen Zeit<br />
zu besänftigen, insbesondere natürlich die bösen unter ihnen, die einem ja Schaden<br />
zufügen können. So wurden in jenen heidnischen Kulturen Magie und Beschwörung<br />
tief verankert und dienten dazu, die bösen Geister fernzuhalten.<br />
Abraham gegenüber ließ Gott verlauten, er beabsichtige, verlorenen Boden<br />
zurückzugewinnen. Aber obwohl Abraham bereit war, dabei eine Schlüsselrolle zu<br />
spielen, gab es doch nur langsam Fortschritte. Und das, was Gott erreicht hatte,<br />
197
INSPIRATION<br />
wurde durch die Jahrhunderte der Sklaverei in Ägypten beinahe wieder zunichte<br />
gemacht.<br />
Da ergriff Gott wieder die Initiative. „Der Pharao wird euch nicht ziehen lassen,“<br />
sagte er zu Mose, „außer er wird durch eine starke Hand dazu gezwungen.“ Gottes<br />
starke Hand war bereit. „Ich werde Pharaos Herz verhärten und seine Erstgeburt<br />
töten.“ Später, <strong>als</strong> Israel gerade dabei war, Ägypten zu verlassen, wurde Mose von<br />
Gott verheißen, er werde das Volk ganz bewußt in eine unmögliche Situation geraten<br />
lassen. Der Pharao werde sie verfolgen. Und dann?<br />
Die Erzählung im 2. Buch Mose deutet auf ein machtvolles Geschehen hin: „Ich<br />
will sein [Pharaos] Herz verstocken, daß er ihnen nachjage, und will meine<br />
Herrlichkeit erweisen an dem Pharao und aller seiner Macht, und die Ägypter sollen<br />
innewerden, daß ich der Herr bin.“ (2. Mose 14,4)<br />
Und so geschah es. Auch Israel war beeindruckt. Im 2. Buch Mose heißt es: „So<br />
errettete der Herr an jenem Tage Israel aus der Ägypter Hand. Und sie sahen die<br />
Ägypter tot am Ufer des Meeres liegen. So sah Israel die mächtige Hand, mit der der<br />
Herr an den Ägyptern gehandelt hatte. Und das Volk fürchtete den Herrn, und sie<br />
glaubten ihm und seinem Knecht Mose.“ (2. Mose 14,30.31)<br />
Wo war Satan in dem allem? Der war natürlich auch dort – das jedenfalls würde<br />
ein Christ behaupten –, aber was Israel betraf, war er außer Sicht. Es scheint, daß<br />
Gott angesichts der Tatsache, daß Israel in Ägypten so lange dem heidnischen<br />
Einfluß ausgesetzt war, wenigstens drei Maßnahmen ergriff, um sein Volk vor der<br />
Versuchung zu bewahren, Satan <strong>als</strong> feindliche Gottheit anzubeten:<br />
1. Es war Israel verboten, neben dem Herrn andere Götter zu verehren. Gottes<br />
erstes Gebot lautete: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ (2. Mose<br />
20,3) Die Existenz anderer Götter wurde nicht in Abrede gestellt. Gott aber forderte<br />
Israel auf, ihre Verehrung auf den Herrn zu beschränken.<br />
2. Die Praxis der Magie und Wahrsagerei war in Israel strikt verboten. In 5.<br />
Mose 18,9-14 werden all die magischen Praktiken genannt, die für Israel verboten<br />
waren. Theologisch ist dieses Verbot bedeutsam, denn Magie und Wahrsagerei<br />
waren dazu angetan, Götter umzustimmen, denen man nicht wirklich vertraute. Der<br />
Herr aber war ein Gott, dem man volles Vertrauen schenken konnte. Er mußte nicht<br />
bearbeitet und umgestimmt werden. Das war auch gar nicht möglich. Es war Israel<br />
verboten, dies auch nur zu versuchen: „Denn diese Völker, deren Land du einnehmen<br />
wirst, hören auf Zeichendeuter und Wahrsager; dir aber hat der Herr, dein Gott, so<br />
etwas verwehrt.“ (5. Mose 18,14)<br />
Das Verbot, andere Götter anzubeten und Magie zu betreiben, bahnte den Weg<br />
zum nächsten Schritt, und das ist vielleicht der eindrucksvollste, wenn es darum geht,<br />
198
PARALLELABSCHNITTE IM ALTEN TESTAMENT<br />
das Alte Testament zu verstehen und auszulegen.<br />
199
INSPIRATION<br />
3. Der Herr, Israels Gott, nahm die volle Verantwortung für das Gute und das<br />
Böse auf sich. Die anschaulichste Aussage hierüber finden wir im Buch Jesaja. Was<br />
diese Stelle so interessant macht, ist die Tatsache, daß hier anstelle der<br />
Umschreibung „Herr“ der persönliche Name des Gottes Israels, nämlich Jahwe,<br />
genannt wird: „Ich bin der Herr [Jahwe], und sonst keiner mehr, der ich das Licht<br />
mache und schaffe die Finsternis, der ich Frieden gebe und schaffe das Unheil. Ich<br />
bin der Herr [Jahwe], der dies alles tut.“ (Jesaja 45,6.7)<br />
Stellt euch einen Vater vor, der mit seinem zweijährigen Sohn einen Dschungel<br />
betritt. Er erzählt dem Knaben nichts von Löwen, Tigern und Schlangen. Das könnte<br />
dem Kind eine unerträgliche Angst einjagen. So sagt der Vater einfach nur: „Halte<br />
meine Hand fest. Ich bin bei dir.“<br />
Ich glaube, daß Gott so mit Israel verfuhr, <strong>als</strong> er es vorzog, mit ihnen nicht über<br />
Satan zu reden. Darin kam sein seelsorgerliches Bemühen zum Ausdruck; er wollte<br />
seine Kinder davor bewahren, ins Heidentum zurückzufallen. Zuerst mußten sie den<br />
einen Gott kennenlernen <strong>als</strong> allmächtiges und allwissendes Wesen, dem nichts<br />
verborgen bleibt. Sie mußten lernen, ihm zu vertrauen.<br />
Mit der Zeit sollten sie dann auch etwas über Satan erfahren. Aber dies sollte zu<br />
einem späteren Zeitpunkt geschehen und dann „gegenwärtige Wahrheit“ sein. Als<br />
Israel aus Ägypten geführt wurde, bestand die gegenwärtige Wahrheit für sie darin,<br />
daß Jahwe oberster Herrscher über die ganze Schöpfung und über alle Völker ist.<br />
Das war die Lektion, die sie lernen mußten, ehe sie etwas anderes aufnehmen<br />
konnten.<br />
Christen können mit Recht sagen, daß die Hand Satans in den Geschichten des<br />
Alten Testamentes gegenwärtig ist. Es ist aber auch hilfreich für uns, den<br />
Unterschied zu erkennen zwischen unserer Interpretation und dem, was der<br />
Schrifttext tatsächlich sagt. In diesem Bewußtsein wollen wir uns nun den<br />
entscheidenden Stellen im Alten Testament zuwenden, die von Satan berichten.<br />
Hinweise auf Satan im Alten Testament<br />
Das hebräische Wort für „Satan“ bedeutet soviel wie „Widersacher“ oder<br />
„Ankläger“. Es kann sich auf jeden Gegner beziehen, auch auf einen menschlichen.<br />
Der Edomiter Hadad war für Salomo ein „Satan“, ebenso der Syrer Reson (1. Könige<br />
11,14.23.25). In diesem allgemeinen Sinn wäre sogar ein gegnerischer Tennisspieler<br />
ein „Satan“. Erst mit der Zeit wurde aus der Bezeichnung „Widersacher“ der Name<br />
einer Person – der Satan. So ist im Neuen Testament Satan der Widersacher von<br />
Gott und Mensch.<br />
200
PARALLELABSCHNITTE IM ALTEN TESTAMENT<br />
Im Alten Testament jedoch, auch in den drei Textabschnitten, in denen sich das Wort<br />
mit Bestimmtheit auf ein übernatürliches gottfeindliches Wesen bezieht, weist es<br />
eher auf einen Satan <strong>als</strong> auf den Satan hin. Die Datierung der drei Abschnitte ist<br />
nicht klar. Als letzter wurde 1. Chronik 21 geschrieben und in den Kanon<br />
aufgenommen. Die Chronik ist den Schriften (dem dritten Teil des hebräischen<br />
Kanons) zugeordnet und bildet, wie bereits erwähnt, das letzte Buch im hebräischen<br />
Kanon. Sacharja 3 gehört zu den Propheten (dem zweiten Teil des hebräischen<br />
Kanons) und stammt aus der Zeit nach dem Exil; es ist eines der letzten<br />
prophetischen Bücher.<br />
Damit sind wir bei den ersten beiden Kapiteln des Buches Hiob angelangt. Da das<br />
Buch selbst keinen Verfasser nennt, enthalten traditionelle jüdische Quellen eine<br />
ganze Reihe von Möglichkeiten, aus welcher Zeit das Buch Hiob stammen und wer<br />
es verfaßt haben könnte. Dabei ist der Name Moses vorherrschend; das ist auch der<br />
Name, der Adventisten am vertrautesten ist (siehe E 146 und SDABC 3:1140).<br />
Interessanterweise gehört das Buch Hiob zu den Schriften (dem letzten Teil des<br />
hebräischen Kanons). Das könnte bedeuten, daß es erst gegen Ende der<br />
alttestamentlichen Periode <strong>als</strong> verbindlich betrachtet wurde. Die Gelehrten sind sich<br />
jedoch einig, daß die Geschichte selbst sehr alt ist und sich in früh-patriarchalischer<br />
Zeit abspielte.<br />
Satan wird lediglich im Vorwort der Hiob-Geschichte genannt, und das nur bei<br />
seinen beiden Auftritten im Himmel. Nichts deutet darauf hin, daß Hiob, seine Frau<br />
oder seine Freunde etwas über Satan wissen. Hiob beklagt sich bei Gott und über<br />
Gott, erwähnt Satan jedoch nie. Dem Verfasser und den Lesern ist Satan bekannt,<br />
Hiob und seinen Freunden jedoch offenbar nicht.<br />
Wenn wir nun Mose <strong>als</strong> den Verfasser akzeptieren, ergeben sich verschiedene<br />
Möglichkeiten: (a) Mose schrieb das Buch, wie wir es heute vor uns haben; (b) Mose<br />
verwendete eine alte Begebenheit und versah diese mit einem Vorwort, um auf die<br />
kosmische Auseinandersetzung zwischen Gott und Satan hinzuweisen oder (c) Mose<br />
verfaßte die Geschichte ohne das Vorwort, und die Rahmenhandlung wurde von<br />
einem späteren inspirierten Verfasser hinzugefügt.<br />
Was wirklich geschah, kann kaum in Erfahrung gebracht werden. Falls das Buch<br />
tatsächlich aus früher Zeit stammt, wurde es womöglich <strong>als</strong> ein „heißes Eisen“<br />
empfunden. Das würde erklären, weshalb es erst gegen Ende der alttestamentlichen<br />
Periode zum Kanon gezählt wurde.<br />
Selbst in den Abschnitten, in denen Satan erwähnt wird, ist seine Verwicklung in<br />
das Böse interessanterweise zweitrangig. Gott lobt z. B. Hiob vor Satan und klagt<br />
zugleich: „Du hast mich bewogen, ihn ohne Grund zu verderben.“ (Hiob 2,3) Es ist<br />
201
INSPIRATION<br />
<strong>als</strong>o weiterhin der Herr, der sich gegen Hiob stellt.<br />
Von einem Teil der jüdisch-christlichen Tradition wurden vier weitere Texte aus<br />
dem Alten Testament auf Satan bezogen. In jedem dieser Fälle kann man zustimmen,<br />
daß die entsprechende Auslegung und Anwendung korrekt ist; andererseits muß man<br />
aber einräumen, daß der Text keine eindeutige Identifikation zuläßt. So kann man<br />
wohl mit Recht behaupten, daß der alttestamentliche Leser diese Texte nicht<br />
unbedingt so verstand, wie uns das heute geläufig ist.<br />
Die Schlange in 1. Mose 3 – In 1. Mose 3 heißt es von der Schlange nur, daß sie<br />
„listiger“ war „<strong>als</strong> alle Tiere auf dem Felde, die Gott der Herr gemacht hatte“<br />
(1. Mose 3,1). Zweifellos handelt es sich dabei um einen Widersacher Gottes, der<br />
aber noch nicht <strong>als</strong> Satan bezeichnet wird. Die Schlangengestalt bleibt zweideutig.<br />
Die Tatsache, daß Offenbarung 12,9 den ersten eindeutigen Hinweis aus jüdischen<br />
oder christlichen Quellen enthält, der die Schlange mit Satan identifiziert, mag<br />
erklären, warum eine eherne Schlange dam<strong>als</strong> in der Wüste noch <strong>als</strong> Symbol der<br />
Heilung gelten konnte (4. Mose 21,8.9). Übrigens war die Schlange auch für Ägypter<br />
ein zweideutiges Symbol und konnte sowohl eine gute wie eine böse Gottheit<br />
bedeuten.<br />
Asasel in 3. Mose 16 – Die Bedeutung von Asasel im 3. Buch Mose ist vielfältig<br />
diskutiert worden. Er wird in diesem Kapitel überhaupt nicht identifiziert und schon<br />
gar nicht mit Satan gleichgesetzt. Evangelische Christen sind mit der adventistischen<br />
Auslegung, Asasel sei gleichbedeutend mit Satan, nicht einverstanden, weil sie nach<br />
ihrer Meinung mit der Lehre vom Sühnopfer Christi nur schwer zu vereinbaren ist.<br />
Die adventistische Auslegung wird allerdings bereits im Buch Henoch aus der<br />
zwischentestamentarischen Zeit angedeutet, wo Asasel <strong>als</strong> Anführer rebellierender<br />
Engel gesehen wird. Gelehrte unserer Zeit setzen Asasel häufig mit dämonischen<br />
Kräften gleich (IDB 1:325.326).<br />
Luzifer in Jesaja 14,12-15 – Obwohl Luzifer („schöner Morgenstern“ bzw.<br />
„Glanzgestirn“) gemäß tief verwurzelter christlicher Tradition mit Satan<br />
gleichgesetzt wird, finden wir den ersten Anhaltspunkt für eine solche<br />
Identifizierung erst in fortgeschrittener christlicher Zeit, nämlich in den Schriften des<br />
Kirchenvaters Tertullian († 225 n. Chr.). In Jesaja 14,4 wird Luzifer einfach <strong>als</strong><br />
„König von Babel“ angesprochen.<br />
„Schirmender Cherub“ in Hesekiel 28,11-19 – Zum ersten Mal wurde der<br />
Cherub wohl im vierten nachchristlichen Jahrhundert mit Satan identifiziert. Diese<br />
Tradition stützt sich auf den hebräischen Text und wurde von der King James<br />
Version übernommen. Die Revised Standard Version folgt der griechischen<br />
Septuaginta und einer Texttradition, die besagt, daß der Cherub den ersten Menschen<br />
202
PARALLELABSCHNITTE IM ALTEN TESTAMENT<br />
verstieß. Im Buch Hesekiel selbst wird der Cherub schlicht <strong>als</strong> „König von Tyrus“<br />
bezeichnet (Vers 12).<br />
Persönlich habe ich mit der adventistischen Auslegung dieser Textabschnitte keine<br />
Schwierigkeiten; ebenso bin ich überzeugt, daß Satan während des gesamten<br />
alttestamentlichen Zeitabschnitts zugegen war. Offenbar aber teilten die Menschen,<br />
die in jener Zeit lebten, diese Überzeugung nicht. Für sie war es noch nicht<br />
gegenwärtige Wahrheit.<br />
Ist Satan für das Böse verantwortlich?<br />
Die Behauptung, Satan sei überall im Alten Testament zugegen gewesen, löst noch<br />
nicht das Problem, in welcher Beziehung die göttliche Allmacht zu dämonischen<br />
Kräften steht. Obwohl die meisten Christen der westlichen Hemisphäre lieber<br />
annehmen, Gott habe das Böse zugelassen und nicht selbst bewirkt, sind doch beide<br />
Auslegungen möglich.<br />
Wer ist für tödliche Unfälle verantwortlich? Eine gute alttestamentliche Antwort<br />
könnte lauten: Gott. Eine modernere Antwort würde etwa sagen, daß Gott dem Satan<br />
erlaubt, sie zu verursachen. Selbst in unserer Zeit gibt es Gläubige, die alles auf<br />
Satan schieben, und andere, die Gott für alles verantwortlich machen möchten.<br />
Der Verfasser der „Jubiläen“, eines jüdischen Buches aus der<br />
zwischentestamentarischen Zeit, fühlte sich bezüglich der ersten beiden Bücher<br />
Mose so unwohl, daß er die Geschichte dieser Periode neu aufzeichnete. Dabei<br />
schrieb er alle Gewalttätigkeit einer dämonischen Gestalt zu, so auch den Befehl zur<br />
Opferung Isaaks und die Tötung des Erstgeborenen in Ägypten. Natürlich ist das im<br />
Vergleich zu den alttestamentlichen Autoren das andere Extrem.<br />
Der Unterschied zwischen der alttestamentlichen und unserer heutigen Sicht läßt<br />
sich verdeutlichen, wenn wir die Schilderung der Schlangenplage im Alten<br />
Testament mit den entsprechenden Erklärungen von Ellen White vergleichen.<br />
Die Schrift beschreibt dieses Ereignis in 4. Mose 21,6 mit den Worten: „Da<br />
sandte der Herr feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk, daß viele aus<br />
Israel starben.“<br />
Die Interpretation von Ellen White zeigt eine deutliche Verschiebung von einem<br />
Gott, der das Übel bewirkt, zu einem Gott, der es lediglich zuläßt: „Beschirmt von<br />
Gottes Macht, hatten sie die zahllosen Gefahren, die sie ständig umgaben, gar nicht<br />
wahrgenommen. In ihrer Undankbarkeit und ihrem Unglauben sahen sie dauernd den<br />
Tod voraus; nun ließ der Herr tatsächlich Tod über sie kommen. Die giftigen<br />
Schlangen, die die Wüste unsicher machten, nannte man feurige Schlangen wegen<br />
der furchtbaren Folgen ihres Bisses, der eine heftige Entzündung und schnellen Tod<br />
203
INSPIRATION<br />
verursachte. Als Gott seine schützende Hand von den Kindern Israel zurückzog,<br />
wurden viele von diesen giftigen Tieren angegriffen und gebissen.“ (PP 409.410)<br />
Dieses sanftere Bild von Gott ist kennzeichnend für eine sanftere Zeit, oder<br />
zumindest für das Interesse von Christen, in Gott eher einen liebevollen Vater <strong>als</strong><br />
einen starken Kriegshelden zu sehen. Dabei bleibt die Frage offen, ob und inwieweit<br />
Gott nicht vielleicht doch <strong>als</strong> alleiniger Verursacher betrachtet werden sollte, um sein<br />
Handeln in gewissen Situationen besser erklären zu können.<br />
Aber auch wenn Gott weiterhin <strong>als</strong> Kriegsheld auftritt, bleibt der Bericht über<br />
Davids Volkszählung in 2. Samuel 24 für uns doch schwer verständlich. Wir fühlen<br />
uns nicht zu einem Gott hingezogen, der die Menschen zu Übertretungen reizt und<br />
sie dann selber wie auch ihre unschuldigen Mitmenschen dafür bestraft.<br />
Die meisten von uns würden sich vermutlich auf die Seite von Ellen White stellen<br />
und die Beschreibung in 1. Chronik 21 wählen, um sie <strong>als</strong> gegenwärtige Wahrheit zu<br />
bezeichnen. Aber die Theologie von 2. Samuel 24 entspricht durchaus dem Tenor<br />
des Alten Testaments. Dort begegnet uns Gott in seiner überwältigenden Allmacht,<br />
der sein Volk Schritt für Schritt zu einem besseren Verständnis der Wahrheit führt.<br />
204<br />
Samuel/Könige und Chronik im Vergleich<br />
Die Geschichte von Davids Volkszählung kann allein nicht genügen, um die<br />
bedeutenden Unterschiede zu zeigen, die zwischen den Büchern Samuel/Könige und<br />
Chronik bestehen. Diese Unterschiede sind keineswegs peinlich. Der Verfasser der<br />
Chronik hat nicht einfach Geschichten erzählt, sondern eine Predigt erarbeitet, um<br />
das Leben seines Volkes zu prägen.<br />
Die Chronik wurde höchstwahrscheinlich ungefähr 150 Jahre nach<br />
Samuel/Könige (hier und im folgenden <strong>als</strong> Einheit betrachtet) geschrieben,<br />
möglicherweise um das Jahr 400 v. Chr. Sie ist das letzte Buch der hebräischen<br />
Bibel.<br />
Dem Verfasser der Chronik lag der Text von Samuel/Könige offensichtlich vor,<br />
er berücksichtigte aber auch andere Quellen. Ein Vergleich zwischen beiden Büchern<br />
macht deutlich, was den Autoren jeweils am Herzen lag. Das ist hinsichtlich der<br />
Chronik besonders interessant, da es sich dabei offenbar um eine Revision von<br />
Samuel/Könige handelt.<br />
Der in den frühen Bibeln verwendete Titel Paraleipomena für das Buch der<br />
Chronik bedeutet soviel wie „ausgelassene Dinge“; er ist keine allzu treffende<br />
Bezeichnung für das Anliegen, das der Chronist vor Augen hatte. Dem ging es<br />
nämlich nicht nur darum, Geschichten hinzuzufügen, die von Samuel/Könige nicht<br />
aufgenommen worden waren. Er hat zwar einige Berichte hinzugefügt, aber auch
PARALLELABSCHNITTE IM ALTEN TESTAMENT<br />
andere weggelassen und den Text für einen ganz bestimmten Zweck bearbeitet –<br />
genauso wie ein Prediger eine Geschichte bearbeitet, um eine bestimmte Botschaft<br />
zu übermitteln.<br />
Eine vergleichende Übersicht zwischen den Büchern Samuel/Könige und Chronik,<br />
so wie sie von James D. Newsome in seinem Werk A Synoptic Harmony of Samuel,<br />
Kings und Chronicles vorgenommen wurde, ist bestens geeignet, unseren Horizont<br />
über diese Bücher zu erweitern. Ich werde hier nur auf die Schwerpunkte hinweisen<br />
und hoffe, sie werden zu weiterem Studium anregen.<br />
Die Botschaft des Chronisten muß vor dem Hintergrund dessen gesehen werden,<br />
was im Volk Gottes geschah. Viele Jahre waren vergangen, seit sie aus dem<br />
babylonischen Exil zurückgekehrt waren, und noch immer hatte Gott ihren früheren<br />
Wohlstand nicht wiederhergestellt. Niedergeschlagenheit schien Gottes Volk zu<br />
überwältigen. Gab es überhaupt noch Hoffnung?<br />
Ja, sagte der Chronist. Und seine Botschaft wurde wie eine frische Brise<br />
empfunden. Wir wissen, daß unsere Väter gesündigt haben, sagt er. Aber Gott hat in<br />
der Vergangenheit Großes an uns getan. Er wird auch in Zukunft Großes tun, wenn<br />
wir ihm vertrauen. Dieser mutmachende Optimismus spricht aus den Geschichten<br />
des Chronisten und aus der Betonung, die er den verschiedenen Geschichten verleiht.<br />
Generell und im Vergleich zu Samuel/Könige können wir folgende Hauptmerkmale<br />
des Chronikbuches feststellen:<br />
Betonung der Blütezeit unter David und Salomo – Der Chronist verschweigt die<br />
unschönen und lang anhaltenden Auseinandersetzungen mit dem Haus Sauls, die<br />
schließlich mit dem Königtum Davids über Israel endeten. In der Chronik erscheint<br />
David <strong>als</strong> der große König, den Gott gesegnet hat. Wenn wir etwas erfahren wollen<br />
über die Affäre mit Bathseba, über Absaloms Aufruhr oder die Empörung Adonijas,<br />
finden wir kein Wort darüber in der Chronik. Der Autor überläßt solche düsteren<br />
Ereignisse den Aufzeichnungen in Samuel/Könige.<br />
Betonung des Tempels und der Tempeldienste – Die nachexilische Bevölkerung<br />
besaß zwar einen Tempel, doch der war nur ein schwacher Abglanz des früheren<br />
Salomonischen Prachtbaus. Der Chronist erinnert nun das Volk an die vergangene<br />
Herrlichkeit, aber nicht um es zu tadeln, sondern um im Blick auf künftige<br />
Entwicklungen neue Begeisterung anzufachen. Im Vergleich zu Samuel/Könige<br />
erweitert der Chronist die Tempelerzählungen aus der Zeit Davids und Salomos,<br />
spricht über Davids umfassende Vorbereitungen für den neuen Tempel und erläutert<br />
mit großer Befriedigung die Einweihung des Tempels unter Salomo.<br />
Der Chronist fügt die spannende Episode von Hiskias großem Passafest hinzu<br />
(2. Chronik 30) – sie wird in Samuel/Könige überhaupt nicht erwähnt – und läßt die<br />
205
INSPIRATION<br />
Auseinandersetzung mit Sanherib in einem viel positiveren Licht erscheinen. Und<br />
wenn er auf Josia zu sprechen kommt, erweitert er wiederum ausführlich den Bericht<br />
über seine Reform und sein Passafest (2. Chronik 35).<br />
Fast ausschließliche Beschränkung auf das Südreich Juda – Obwohl der Chronist<br />
viele Jahre nach dem Ende des Nordreiches Israel wie auch des Südreiches Juda<br />
schrieb, läßt seine Darstellung der beiden Reiche vermuten, worauf es ihm vor allem<br />
ankam. Das Nordreich erwähnt er kaum. Gott war mit Juda und dem Hause Davids.<br />
Samuel/Könige vermittelt uns einen sorgfältig aufgezeichneten, aber<br />
schmerzlichen und mit ständigen Querverweisen versehenen Bericht über den<br />
Niedergang beider Reiche, bis zur Zerstörung Samarias durch die Assyrer und der<br />
Gefangennahme seiner Einwohner um 722 v. Chr. Die Chronik unterläßt den<br />
Querverweis völlig und erwähnt das Nordreich nur selten. Nicht einmal das Wirken<br />
von Elia und Elisa findet in der Chronik Erwähnung, offenbar weil sie ihren Dienst<br />
im Norden Israels versahen. Die beiden Bücher werden auch unterschiedlich zum<br />
Abschluß gebracht: Samuel/Könige endet mit einer düsteren Gerichtsbotschaft,<br />
während die Chronik mit der Hoffnung auf Wiederherstellung ausklingt.<br />
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Samuel/Könige eine viel schroffere,<br />
kritische Darstellung der Geschichte enthält, die immer wieder zu begründen<br />
versucht, weshalb Gottes Volk scheiterte. Es ist keine erhebende Geschichte. Sein(e)<br />
Verfasser rückte(n) das Exil ins Zentrum der Diskussion und wollte(n) sicherstellen,<br />
daß das Volk verstand, weshalb das Reich zerfallen war: Sie und ihre Könige hatten<br />
immer wieder versagt, sie hatten den Herrn verlassen.<br />
Viele Jahrzehnte später fand der Chronist ein Volk vor, das noch immer unter<br />
jener Gerichtsbotschaft litt und die Hoffnung nahezu verloren hatte. So kam er auf<br />
die alte Geschichte zurück und sorgte dafür, daß die mutlosen Herzen durch eine<br />
optimistische Sicht gestärkt wurden. „Ja, wir und unsere Väter haben gesündigt,“<br />
sagte er. „Aber wir haben einen guten Gott; der wird uns vergeben und alles wieder<br />
gutmachen.“<br />
Ich hoffe, daß ich damit euer Interesse und eure Neugier geweckt habe. Aber<br />
verlaßt euch nicht auf mein Wort. Man sollte sich eine Synopse (Paralleldarstellung)<br />
der Bücher Samuel/Könige und der Chronik beschaffen – oder noch besser: Man<br />
stellt selber eine zusammen. Das Ergebnis wird erstaunlich sein!<br />
Wer aber Angst hat, zu viele Unterschiede zu finden, der verzichte besser auf<br />
diese Übung! Die Geschichte ist zu schön, <strong>als</strong> daß sie durch Ängste zerstört werden<br />
sollte. Wer aber Freude an einem solchen Vergleich findet, wird erkennen, daß Gott<br />
seine Schreiber dazu veranlaßte, bedürfnisgerecht zu reden, das heißt, uns die Sünde<br />
vor Augen zu halten, wenn wir eine Gerichtsbotschaft brauchen, und uns Hoffnung<br />
206
PARALLELABSCHNITTE IM ALTEN TESTAMENT<br />
zu vermitteln, wenn wir mutlos geworden sind. Die alttestamentlichen Erzählungen<br />
sind viel mehr <strong>als</strong> nur Geschichten. Es sind kraftvolle Predigten, die aus der<br />
Überzeugung erwachsen sind, daß Gott der Herr des Universums und unseres Lebens<br />
ist.<br />
Fragen zum Nachdenken<br />
1. Welche Unterschiede zwischen den Briefen zweier Familienangehöriger könnte<br />
man hinnehmen, die aus den Ferien über ein und dasselbe Ereignis berichten?<br />
Oder wenn es um einen Unfall oder ein tragisches Ereignis geht? Inwieweit<br />
könnten Differenzen zu der Frage führen, ob ein bestimmtes Ereignis überhaupt<br />
stattgefunden hat? Wäre das abhängig davon, ob die Berichterstatter in unseren<br />
Augen vertrauenswürdig sind oder nicht?<br />
2. Gibt es Zeiten in eurem Leben, in denen ihr euch nach einer eindeutigeren<br />
Manifestation von Gottes Kraft sehnt, nach dem Bewußtsein, daß er alles in<br />
seiner Hand hält – wie uns dies der erste Vers der Samuel-Version von Davids<br />
Volkszählung nahelegt? Gibt es andererseits Zeiten, in denen ihr den Eindruck<br />
habt, daß sich gewisse Dinge durch Zufall oder durch eine dämonische Kraft<br />
ergeben, während sich Gott auf Distanz hält – wie das der erste Vers aus dem<br />
Chronik-Bericht von Davids Volkszählung nahelegt?<br />
3. Sind euch Situationen aus dem Leben eurer Gemeinde in Erinnerung, in denen<br />
der Prediger sich gedrungen fühlte, eine Gerichtsbotschaft zu verkündigen<br />
(Samuel/Könige) bzw. in denen er angesichts von Mutlosigkeit und Resignation<br />
ein Wort der Hoffnung und Ermutigung hatte (Chronik)?<br />
207
Kapitel 16<br />
Parallelabschnitte im Neuen Testament<br />
Übersicht: Die Verfasser der Evangelien erzählten ihre Geschichten nicht nur um<br />
der Geschichten willen; sie hatten vielmehr die Rettung ihrer Zuhörer im Auge und<br />
beabsichtigten, deren Herzen zu erreichen. Abweichungen unter den Evangelien sind<br />
bisweilen darauf zurückzuführen, daß beim Prozeß der Traditionsübermittlung<br />
Menschen ihre Hand im Spiel hatten. Andere Unterschiede sind bezeichnend für die<br />
Botschaft, die ein inspirierter Schreiber vermitteln wollte.<br />
Schlüsseltexte<br />
Das Krähen des Hahns und die Verleugnung des Petrus<br />
Matthäus 26,34: „Jesus sprach zu ihm:<br />
Wahrlich, ich sage dir: In dieser Nacht, ehe der<br />
Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.“<br />
(vgl. Lukas 22,34 und Johannes 13,38)<br />
Markus 14,30: „Und Jesus sprach zu ihm:<br />
Wahrlich, ich sage dir: Heute, in dieser Nacht,<br />
ehe der Hahn zweimal kräht, wirst du mich<br />
dreimal verleugnen.“<br />
Die Inschrift am Kreuz<br />
Matthäus 27,37: „Und<br />
oben über sein Haupt<br />
s e t z t e n s i e e i n e<br />
Aufschrift mit der<br />
Ursache seines Todes:<br />
Dies ist Jesus, der<br />
Juden König.“<br />
Markus 15,26: „Und<br />
es stand über ihm<br />
geschrieben, welche<br />
Schuld man ihm gab,<br />
nämlich: Der König<br />
der Juden.“<br />
Lukas 23,38: „Es war<br />
aber über ihm auch<br />
eine Aufschrift: Dies<br />
ist der Juden König.“<br />
J o h a n n e s 1 9 , 1 9 :<br />
„Pilatus aber schrieb<br />
eine Aufschrift und<br />
setzte sie auf das<br />
Kreuz; und es war<br />
geschrieben: Jesus<br />
von Nazareth, der<br />
König der Juden.“<br />
Heilung des besessenen Knaben<br />
Lukas 9,37-43: „Es<br />
begab sich aber, <strong>als</strong> sie<br />
am nächsten Tag von<br />
dem Berg kamen, da<br />
kam ihm eine große<br />
Menge entgegen. Und<br />
Matthäus 17,14-20:<br />
„Und <strong>als</strong> sie zu dem<br />
Volk kamen, trat ein<br />
Mensch zu ihm, fiel<br />
ihm zu Füßen und<br />
sprach: Herr, erbarme<br />
Markus 9,14-29: „Und sie kamen zu den<br />
Jüngern und sahen eine große Menge um sie<br />
herum und Schriftgelehrte, die mit ihnen stritten.<br />
Und sobald die Menge ihn sah, entsetzten sich<br />
alle, liefen herbei und grüßten ihn. Und er fragte<br />
sie: Was streitet ihr mit ihnen? Einer aber aus<br />
209
INSPIRATION<br />
siehe, ein Mann aus<br />
d e r M e n g e r i e f :<br />
Meister, ich bitte dich,<br />
s i e h d o c h n a c h<br />
meinem Sohn; denn er<br />
ist mein einziger Sohn.<br />
S i e h e , e i n G e i s t<br />
ergreift ihn, daß er<br />
plötzlich aufschreit,<br />
und er reißt ihn, daß er<br />
S c h a u m v o r d e m<br />
Mund hat, und läßt<br />
kaum von ihm ab und<br />
reibt ihn ganz auf. Und<br />
ich habe deine Jünger<br />
gebeten, daß sie ihn<br />
austrieben, und sie<br />
konnten es nicht. Da<br />
antwortete Jesus und<br />
s p r a c h : O d u<br />
u n g l ä u b i g e s u n d<br />
verkehrtes Geschlecht,<br />
wie lange soll ich bei<br />
euch sein und euch<br />
e r d u l d e n ? B r i n g<br />
deinen Sohn her! Und<br />
<strong>als</strong> er zu ihm kam, riß<br />
ihn der böse Geist und<br />
zerrte ihn. Jesus aber<br />
bedrohte den unreinen<br />
Geist und machte den<br />
Knaben gesund und<br />
gab ihn seinem Vater<br />
w i e d e r . U n d s i e<br />
entsetzten sich alle<br />
über die Herrlichkeit<br />
Gottes.“<br />
dich über meinen<br />
Sohn! denn er ist<br />
mondsüchtig und hat<br />
schwer zu leiden; er<br />
fällt oft ins Feuer und<br />
oft ins Wasser; und<br />
i c h h a b e i h n z u<br />
d e i n e n J ü n g e r n<br />
gebracht, und sie<br />
konnten ihm nicht<br />
helfen. Jesus aber<br />
a n t w o r t e t e u n d<br />
s p r a c h : O d u<br />
u n g l ä u b i g e s u n d<br />
v e r k e h r t e s<br />
Geschlecht, wie lange<br />
soll ich bei euch sein?<br />
Wie lange soll ich<br />
euch erdulden? Bringt<br />
ihn mir her! Und<br />
Jesus bedrohte ihn;<br />
und der böse Geist<br />
fuhr aus von ihm, und<br />
der Knabe wurde<br />
gesund zu derselben<br />
Stunde. Da traten<br />
seine Jünger zu ihm,<br />
<strong>als</strong> sie allein waren,<br />
und fragten: Warum<br />
konnten wir ihn nicht<br />
austreiben? Er aber<br />
sprach zu ihnen:<br />
W e g e n e u r e s<br />
Kleinglaubens. Denn<br />
wahrlich ich sage<br />
e u c h : W e n n i h r<br />
Glauben habt wie ein<br />
Senfkorn, so könnt<br />
ihr sagen zu diesem<br />
Berge: Heb d ich<br />
dorthin!, so wird er<br />
sich heben; und euch<br />
w i r d n i c h t s<br />
unmöglich sein.“<br />
der Menge antwortete: Meister, ich habe meinen<br />
Sohn hergebracht zu dir, der hat einen<br />
sprachlosen Geist. Und wo er ihn erwischt, reißt<br />
er ihn; und er hat Schaum vor dem Mund und<br />
knirscht mit den Zähnen und wird starr. Und ich<br />
habe mit deinen Jüngern geredet, daß sie ihn<br />
austreiben sollen, und sie konnten’s nicht. Er<br />
aber antwortete ihnen und sprach: O du<br />
ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei<br />
euch sein? Wie lange soll ich euch ertragen?<br />
Bringt ihn her zu mir! Und sie brachten ihn zu<br />
ihm. Und sogleich, <strong>als</strong> ihn der Geist sah, riß er<br />
ihn. Und er fiel auf die Erde, wälzte sich und<br />
hatte Schaum vor dem Mund. Und Jesus fragte<br />
seinen Vater: Wie lange ist’s, daß ihm das<br />
widerfährt? Er sprach: Von Kind auf. Und oft<br />
hat er ihn ins Feuer und ins Wasser geworfen,<br />
daß er ihn umbrächte. Wenn du aber etwas<br />
kannst, so erbarme dich unser und hilf uns!<br />
Jesus aber sprach zu ihm: Du sagst: Wenn du<br />
kannst – alle Dinge sind möglich dem, der da<br />
glaubt. Sogleich schrie der Vater des Kindes:<br />
Ich glaube; hilf meinem Unglauben! Als nun<br />
Jesus sah, daß das Volk herbeilief, bedrohte er<br />
den unreinen Geist und sprach zu ihm: Du<br />
sprachloser und tauber Geist, ich gebiete dir:<br />
Fahre von ihm aus und fahre nicht mehr in ihn<br />
hinein! Da schrie er und riß ihn sehr und fuhr<br />
aus. Und der Knabe lag da wie tot, so daß die<br />
Menge sagte: Er ist tot. Jesus aber ergriff ihn bei<br />
der Hand und richtete ihn auf, und er stand auf.<br />
Und <strong>als</strong> er heimkam, fragten ihn seine Jünger für<br />
sich allein: Warum konnten wir ihn nicht<br />
austreiben? Und er sprach: Diese Art kann durch<br />
nichts ausfahren <strong>als</strong> durch Beten.“<br />
210
PARALLELABSCHNITTE IM NEUEN TESTAMENT<br />
Eine Geschichte – drei Anwendungen<br />
Ein Bibellehrer einer adventistischen Schule erzählte mir von einem Erlebnis, das er<br />
ihm Rahmen seiner Lehrtätigkeit gehabt hatte. Er wollte seinen Studenten die<br />
Parallelabschnitte in den Evangelien nahebringen und wählte <strong>als</strong> Einstieg die<br />
eingangs zitierten Kreuzesinschriften.<br />
„Da gab es heftige Reaktionen,“ sagte er. Ein Student rief: „Gott hätte den<br />
Inschriften ja denselben Wortlaut geben können, wenn er gewollt hätte.“ Ein anderer<br />
meinte: „Weshalb hast du uns eigentlich auf diese Unterschiede aufmerksam<br />
gemacht? Wir haben kein Interesse daran, sie zu sehen.“<br />
Wir sprachen längere Zeit über die Schwierigkeit, die Bibel so zu sehen, wie sie<br />
ist, und nicht so, wie wir denken, daß sie sein sollte. Und wir dachten darüber nach,<br />
wie wir unsere Erkenntnis den Gemeinden am besten vermitteln könnten.<br />
Ich werde es mir sparen, technische Einzelheiten über die Parallelen zwischen den<br />
Evangelien zu nennen. Aber wir sollten wissen, daß Matthäus, Markus und Lukas die<br />
„synoptischen Evangelien“ genannt werden. Synoptisch bedeutet soviel wie „aus<br />
gemeinsamer Sicht“ und bezieht sich auf die Tatsache, daß die ersten drei<br />
Evangelien viele Parallelen aufweisen. Das Johannesevangelium weicht deutlich<br />
davon ab, zeigt aber gelegentlich ebenfalls Parallelen zu den andern Evangelien.<br />
Die meisten Gelehrten sind sich einig, daß die Worte Jesu und die Geschichten<br />
über sein Leben noch Jahre nach seinem Weggang mündlich überliefert wurden.<br />
Nach allgemeiner Ansicht ist Markus das am frühesten verfaßte Evangelium. Gemäß<br />
einer alten Tradition vermittelt es die Sichtweise des Apostels Petrus. Ebenso<br />
stimmen die Gelehrten überein, daß Matthäus und Lukas das Markusevangelium <strong>als</strong><br />
Quellenmaterial benutzt und gleichzeitig aus einer Sammlung mündlich überlieferter<br />
„Sprüche“ geschöpft haben (letztere wird <strong>als</strong> Spruchquelle „Q“ bezeichnet, wobei<br />
„Q“ <strong>als</strong> Abkürzung für „Quelle“ verwendet wird). Sowohl Matthäus wie Lukas<br />
haben darüber hinaus eigenständiges Material hinzugefügt. Die Beziehung der<br />
Evangelien untereinander und die Frage „wie es eigentlich gewesen ist“, ist bis heute<br />
Gegenstand lebhafter Diskussionen.<br />
Konservativ gesinnte Gläubige neigen dazu, die Spannungen zwischen den<br />
verschiedenen Berichten mit Hilfe der Additionsmethode zu lösen. So sammelt man<br />
beispielsweise bei der Inschrift am Kreuz die verschiedenen Aussagen der<br />
Evangelien und stellt sie so zusammen, daß nichts davon fehlt. Daraus resultiert dann<br />
allerdings eine Inschrift, die in keinem der Evangelien zu finden ist.<br />
Ein bemerkenswertes Beispiel dieser Additionsmethode wird uns in The Battle for<br />
211
INSPIRATION<br />
the Bible (1976) von Harold Lindsell geschildert. In diesem Werk versucht der<br />
Autor, die verschiedenen Evangelienberichte über die Verleugnung Jesu durch Petrus<br />
in Einklang zu bringen. Nur Markus berichtet, daß der Hahn vor der dreimaligen<br />
Verleugnung zweimal krähte. Die übrigen Evangelien sagen übereinstimmend, der<br />
Hahn habe einmal gekräht. Dabei sind die Berichte der Evangelien jeweils in sich<br />
stimmig in bezug auf Jesu Voraussage der Verleugnung und ihre tatsächliche<br />
Erfüllung. Lindsell, ehem<strong>als</strong> Herausgeber der Zeitschrift Christianity Today, nimmt<br />
die Herausforderung an und widmet mehrere Seiten seines Buches (S. 174-176)<br />
einem detaillierten Harmonisierungsplan, der von einem seiner Freunde<br />
ausgearbeitet wurde. Dabei kommt er zu dem Schluß, der Hahn habe dreimal<br />
gekräht, und Petrus habe seinen Herrn insgesamt sechsmal verleugnet!<br />
Wenn ich diese Geschichte in adventistischen Kreisen erzähle, stelle ich mit<br />
Genugtuung fest, daß sie meist ein Schmunzeln auslöst. Wir mögen ja konservativ<br />
sein, aber nicht derart konservativ! Dabei möchte ich Lindsells<br />
Harmonisierungsversuch keineswegs herabsetzen. Er meint es sehr ernst. Für ihn<br />
sind die Abweichungen in den Evangelien kein Grund zum Schmunzeln! Aber ich<br />
finde es bemerkenswert, daß er für dieses Problem eine Lösung vorschlägt, die in<br />
keinem der vorhandenen Evangelien enthalten ist.<br />
Manchmal hilft die Additionsmethode überhaupt nicht. Denken wir<br />
beispielsweise an Jesu Versuchung in der Wüste. Matthäus 4 und Lukas 4<br />
beschreiben die beiden letzten Versuchungen in unterschiedlicher Reihenfolge.<br />
Beeinflußt vom Buch Das Leben Jesu bevorzugen die meisten Adventisten die<br />
Matthäusversion und halten die Szene auf der Tempelzinne für die zweite und die<br />
Aufforderung zur Anbetung Satans für die dritte Versuchung. Lukas aber stellt die<br />
Reihenfolge dieser beiden Versuchungen um. Wer hat nun recht, Matthäus oder<br />
Lukas?<br />
Das ist die f<strong>als</strong>che Frage. George Rice macht uns in seinem wertvollen Büchlein<br />
über das Lukasevangelium, Luke, a Plagiarist?, darauf aufmerksam, daß sowohl bei<br />
Matthäus wie auch bei Lukas die Reihenfolge durch das Anliegen bestimmt wird, das<br />
jeder der Autoren im Auge hatte: „Die Versuchungen steuern bei Matthäus auf die<br />
Frage hin, wer letztlich die Welt regieren sollte. Es geht da um die Herrschaft! Wie<br />
wir noch sehen werden, geht es bei Lukas dagegen um die Befreiung von Satans<br />
Macht. Deshalb läßt er die Versuchungen damit enden, daß Satan von Jesus, der auf<br />
der Tempelzinne steht, weichen muß.“ (Rice 36)<br />
Ich vermute, daß sich der Bedarf nach Harmonisierung vermindern ließe, wenn<br />
die Adventgemeinde die praktischen Gründe verstehen würde, die die<br />
Evangelienschreiber bewogen hatten, ihre Texte in der vorliegenden Form<br />
212
PARALLELABSCHNITTE IM NEUEN TESTAMENT<br />
abzufassen.<br />
Verschiedentlich habe ich einen Versuch unternommen, der bei mündlicher<br />
Durchführung recht gut gelingt. Er betrifft die drei synoptischen Darstellungen der<br />
Heilung des besessenen Knaben, in bestimmter Reihenfolge gelesen, nämlich von der<br />
kürzesten bis zur längsten Fassung. Fachlich gesehen wäre es angebracht, zunächst<br />
zu untersuchen, wie Matthäus und Lukas die Fassung von Markus bearbeitet haben.<br />
Da die Geschichte aber gut bekannt ist, ziehe ich es vor, die kürzeste Version zuerst<br />
zu lesen und die Zuhörer dann zu fragen, was Lukas weggelassen hat. Dann hören<br />
wir uns Matthäus mit seinen wichtigen Änderungen an. Abschließend geschieht<br />
dasselbe mit Markus.<br />
Jeder kann es selber versuchen. Schlagt die Schlüsselverse am Anfang dieses<br />
Kapitels auf und lest die Darstellung von Lukas, Matthäus und Markus in dieser<br />
Reihenfolge. Beachtet die Zusätze und Auslassungen. Versucht euch dann darüber<br />
Klarheit zu verschaffen, wie diese Änderungen die jeweilige Stoßrichtung der<br />
Geschichte beeinflußt haben.<br />
Ihr werdet entdecken, daß Lukas weder vom Ausruf des Vaters „Ich glaube; hilf<br />
meinem Unglauben!“ noch von Jesu Tadel an die Jünger berichtet. Auch Matthäus<br />
unterläßt den Ausruf des Vaters, erwähnt jedoch den Tadel an die Jünger. Nur<br />
Markus berichtet vom verzweifelten Ausruf des Vaters. Der den Jüngern geltende<br />
Tadel klingt hier weit milder <strong>als</strong> bei Matthäus.<br />
Wenn wir uns nun fragen, was der jeweilige Verfasser in der Geschichte<br />
hervorheben wollte, ergeben sich drei unterschiedliche Schwerpunkte:<br />
Lukas schließt den Bericht mit einem Lob der Herrlichkeit Gottes. Für ihn war<br />
diese Begebenheit ein wunderbares Zeugnis für Gottes Macht. Und das stellt er auch<br />
so dar; kurz und treffend.<br />
Matthäus beendet die Geschichte mit einem scharfen Tadel an die Jünger und<br />
verwendet dabei einen seiner Lieblingsausdrücke „Kleingläubigkeit“. Dadurch, daß<br />
das Gespräch mit dem Vater fehlt, tritt Jesu Tadel um so stärker hervor und bildet<br />
das Schlußwort. Die Geschichte soll ein Verweis an die Jünger wegen ihres Mangels<br />
an Glauben sein.<br />
Indem Markus das Gespräch mit dem Vater des Kindes einschließt und den Tadel<br />
an die Jünger abschwächt, erreicht er, daß Jesu Unterhaltung mit dem Vater sowie<br />
dessen Ausruf „Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ klar herausgestellt werden und<br />
die gewollte Beachtung finden. Markus möchte die Geschichte <strong>als</strong> Zeugnis für den<br />
aufkeimenden Glauben des Vaters, nicht <strong>als</strong> Tadel für den mangelnden Glauben der<br />
Jünger verstanden wissen. Mit diesem Ziel vor Augen formuliert er die Geschichte.<br />
Wenn man nun versuche wollte, dieses Ereignis in einem Videofilm darzustellen,<br />
213
INSPIRATION<br />
wer könnte dann den Ablauf ganz genau schildern? Bestimmt keiner! Aber alle drei<br />
Versionen enthalten zwei wichtige Tatsachen: Jesu Erscheinen nach dem Versagen<br />
der Jünger und die Heilung des Knaben. Bei der Beschreibung des übrigen<br />
Geschehens geht jeder Verfasser eigene Wege. In Anbetracht dessen können<br />
diejenigen, die genau wissen wollen, wie sich alles abgespielt hat, ziemlich<br />
enttäuscht werden.<br />
Aufgrund meiner eigenen Erfahrung bin ich jedoch überzeugt, daß jeder der<br />
Evangelisten einen positiven Beitrag leistete, und zwar jeweils an der Stelle, wo Jesu<br />
Worte und Taten zu einer Geschichte geformt werden, die den geistlichen<br />
Bedürfnissen der Menschen Rechnung trägt. Aus dieser Sicht sollte es möglich sein,<br />
die Unterschiede und Abweichungen in den Evangelien mit Freude anstatt mit Furcht<br />
zu betrachten. Durch Gottes Gnade kann die vollkommene Liebe alle Furcht<br />
austreiben, und dann werden wir an den Schönheiten des Wortes Gefallen finden.<br />
Ich möchte dieses Kapitel mit einem Erlebnis abschließen, das mich<br />
zuversichtlich stimmt, was die Offenheit gegenüber den Evangelien sowie der Bibel<br />
<strong>als</strong> Ganzes betrifft. Es ist das Gegenstück zu jener Erfahrung, die mein Kollege mir<br />
erzählte, <strong>als</strong> seine Studenten auf die Differenzen innerhalb der Evangelien verärgert<br />
reagierten.<br />
Gegen Ende meines Austauschjahres an unserem adventistischen Seminar<br />
Marienhöhe in Deutschland nahm ich all meinen Mut zusammen und predigte in<br />
deutscher Sprache in einer der umliegenden Gemeinden. Ich wählte eine Predigt über<br />
die drei Berichte von der Heilung des besessenen Knaben. In Amerika war die<br />
Reaktion auf meine Ausführungen recht ermutigend gewesen. Würde das auch in<br />
Deutschland der Fall sein? Es würde sich zeigen.<br />
Meine Frau und ich betraten einen kleinen Raum im oberen Stockwerk, wo sich<br />
die Glaubensgeschwister zum Gottesdienst einfanden. Es war eine wohltuende Insel<br />
der Frömmigkeit inmitten einer geschäftigen Welt. Die innere Beteiligung der<br />
Geschwister am Gottesdienst war B<strong>als</strong>am für meine Seele.<br />
Während der Predigt bestand reger Augenkontakt zwischen Redner und Hörern,<br />
da mir die Leute in jenem kleinen Raum greifbar nahe saßen. Kraftvoll und freudig<br />
führte ich durch die drei Erzählungen: die von Lukas gelobte Heilungsmacht Gottes,<br />
den von Matthäus hervorgehobenen Tadel der Kleingläubigkeit der Jünger und den<br />
von Markus betonten wachsenden Glauben des Vaters. Ich spürte, daß ich von den<br />
Zuhörern verstanden wurde.<br />
Der Älteste, ein Buchevangelist, lud uns zum Mittagessen ein. Er hatte eine volle<br />
Predigerausbildung an unserem theologischen Seminar erhalten, zog es aber vor, <strong>als</strong><br />
Buchevangelist zu arbeiten. Er und seine Familie empfingen uns herzlich.<br />
214
PARALLELABSCHNITTE IM NEUEN TESTAMENT<br />
Während wir auf das Essen warteten und uns derweil unterhielten, ging die<br />
Neugierde mit mir durch, und ich lenkte das Gespräch auf die Predigt. Ich fragte, wie<br />
man auf meine Predigt reagiert habe. Das war eine ziemlich dreiste Frage. Er faßte<br />
sie aber positiv auf. Da seine Antwort möglicherweise aus Höflichkeit ein etwas<br />
verzerrtes Bild ergeben konnte, achtete ich auf irgendwelche Zeichen der<br />
Unbehaglichkeit. Aber nichts ließ sich feststellen, und so erzählte ich, weshalb ich<br />
diese Predigt gehalten hatte, und erklärte, was ich im geistlichen wie auch im<br />
erzieherischen Sinn damit erreichen wollte. Dabei erwähnte ich auch die negative<br />
Reaktion jener amerikanischen Studenten auf die unterschiedliche Beschriftung des<br />
Kreuzes.<br />
Seine Augen wurden groß. „Du meinst <strong>als</strong>o, da gäbe es Unterschiede?,“ fragte er. Ich<br />
war erstaunt, hatte ich doch einen Mann mit einer Predigerausbildung vor mir, der<br />
mit dem synoptischen Problem offenbar nie vertraut gemacht worden war. Er griff<br />
nach seiner Bibel, und wir hatten zusammen eine „Bibelstunde“, noch ehe das Essen<br />
aufgetragen wurde. Als frommer Mensch, gefestigt in christlicher Erfahrung, konnte<br />
er den Tatsachen ins Gesicht schauen und sein Lächeln behalten. „Wirklich<br />
erstaunlich,“ sagte er, „ich habe das nie so gesehen.“ Dann wurde zu Tisch gerufen.<br />
Es war unvermeidlich, daß die Diskussion über die synoptischen Evangelien<br />
während des Essens fortgesetzt wurde. Schließlich war die ganze Familie über das<br />
Ergebnis unseres Bibelstudiums informiert. Während des Essens wollte unser Bruder<br />
von einem Ereignis erzählen, das sich in seiner Familie zugetragen hatte. „Vor zwei<br />
Wochen,“ so begann er, wurde aber von seiner Frau sanft unterbrochen. „Es war vor<br />
drei Wochen, Liebling,“ sagte sie.<br />
Schelmisch lächelnd blickte er zu mir herüber; er konnte es nicht unterdrücken:<br />
„Das ist ein synoptisches Problem, nicht wahr?“ Ich traute meinen Ohren nicht, <strong>als</strong><br />
ich das Gelächter der gesamten Tischrunde hörte.<br />
Als es ruhiger geworden war, dachte ich laut darüber nach, was hier geschehen<br />
war. Keiner war zornig geworden; keiner zweifelte daran, daß es sich um ein<br />
wirkliches Ereignis handelte. Ob es vor zwei oder vor drei Wochen gewesen war,<br />
spielte in diesem Fall keine Rolle. Wäre es nicht wunderbar, wenn wir die Heilige<br />
Schrift ebenso unvoreingenommen lesen und dankbar in uns aufnehmen könnten?<br />
Ich fand volle Zustimmung.<br />
Diese Geschichte habe ich oft erzählt und viel darüber nachgedacht. Dabei bin ich<br />
mir bewußt, daß ich zuweilen nach zwei Richtungen hin argumentiere. Einerseits<br />
möchte ich sagen, daß manche der in der Schrift vorhandenen Differenzen ganz<br />
nebensächlich sind und einfach mit der unvollkommenen menschlichen Natur<br />
zusammenhängen. Andererseits möchte ich zeigen, daß gewisse Abweichungen ganz<br />
215
INSPIRATION<br />
entscheidend sind für das Anliegen und die Botschaft des Verfassers.<br />
Nach langer Überlegung kam ich zu der Überzeugung, daß keine der beiden<br />
Behauptungen zurückgenommen werden muß. Beide entsprechen der Wahrheit.<br />
Wenn die Angst verschwunden ist, läßt sich relativ einfach der Übergang von einem<br />
„beiläufigen Unterschied“ zu einem „bezeichnenden Unterschied“ vollziehen. Mit<br />
anderen Worten: Eine Differenz, die mir seit langem bekannt ist und die ich bisher<br />
<strong>als</strong> unbedeutend eingestuft habe, kann plötzlich große Bedeutung gewinnen und in<br />
einem völlig neuen Licht erscheinen. Diesem Phänomen bin ich in meinem<br />
Bibelstudium immer wieder begegnet. Es könnte jedoch kaum so geschehen, wenn<br />
ich dauernd befürchten müßte, auf den nächsten Seiten etwas Unliebsames zu<br />
entdecken.<br />
Aber, werdet ihr sagen, wenn Bibelstudium so viel Spaß macht, wo bleiben dann die<br />
Tränen und inneren Kämpfe, die es doch auch gibt? Sie resultieren aus dem nächsten<br />
Schritt, nämlich dann, wenn wir das Ergebnis unseres Bibelstudiums mit den<br />
Menschen und Ereignissen unseres täglichen Lebens in Zusammenhang bringen. In<br />
der lebendigen Zwiesprache mit dem Herrn, die ja für die Funktionsfähigkeit des<br />
Fallbeispiel-Modells so entscheidend ist, muß ich die Frage stellen: Welche<br />
Botschaft benötigen meine Studenten, meine Familie, meine Kollegen heute? Das<br />
von Lukas geschilderte Lob der göttlichen Macht? Den von Matthäus<br />
ausgesprochenen Tadel unserer Kleingläubigkeit? Oder die ermutigende Geschichte<br />
des Markus über den wachsenden Glauben des Vaters?<br />
Die Menschen, denen ich begegne, sind so unterschiedlich, so beschwert mit<br />
Tausenden von Lasten, daß ich außerstande bin, diese Fragen leichthin zu<br />
beantworten. Da gibt es schon Tränen und Kämpfe.<br />
Das Studium der Bibel ist meine Speise und mein Trank, eine Quelle der Kraft.<br />
Ich bin dem Herrn von Herzen dankbar dafür, daß er mich befreit hat von der<br />
quälenden Angst, irgendeinen vernichtenden „Irrtum“ in der Schrift zu finden. Die<br />
Energie, die früher zur Abwehr jener Angst nötig war, kann jetzt eingesetzt werden,<br />
um Gottes heilendes Wort denen zu bringen, die ihrerseits Tränen und Kämpfe<br />
durchstehen müssen und sich nach einem Wort des Herrn sehnen.<br />
Fragen zum Nachdenken<br />
1. Könnt ihr Gründe dafür nennen, warum es Gott nicht für nötig erachtete, die<br />
biblischen Berichte in volle Übereinstimmung zu bringen? Wenn er es nicht tat,<br />
erwartet er es dann von uns?<br />
2. Ist es möglich, daß manche Gläubige die Unterschiede in der Schrift auf die<br />
216
PARALLELABSCHNITTE IM NEUEN TESTAMENT<br />
leichte Schulter nehmen, während andere mit großem Einsatz versuchen, sie zu<br />
harmonisieren? Welche persönlichen Stärken und Schwächen kommen bei jeder<br />
dieser Einstellungen für die Gemeinde zum Tragen?<br />
3. Inwieweit lassen sich Parallelen ziehen zwischen der Predigtvorbereitung, dem<br />
Geschichtenerzählen und dem Entstehen biblischer Bücher? Ist die<br />
Kindergeschichte am Sabbatmorgen – die, je nach Bedürfnis, erweitert,<br />
zusammengefaßt oder sonstwie angepaßt sein kann – ein hilfreiches Modell zum<br />
Verstehen der Schrift?<br />
217
Kapitel 17<br />
Visionen<br />
Übersicht: Prophetische Visionen entsprechen weniger dokumentarischen „Live-<br />
Aufnahmen“ eines realen Geschehens <strong>als</strong> vielmehr „Zeichentrickfilmen“, die der<br />
Erkenntnisfähigkeit des Botschafters angepaßt sind.<br />
218<br />
Schlüsseltexte<br />
1. Könige 22,19-23: „Micha sprach: Darum höre nun das Wort des Herrn! Ich sah<br />
den Herrn sitzen auf seinem Thron und das ganze himmlische Heer neben ihm stehen<br />
zu seiner Rechten und Linken. Und der Herr sprach: Wer will Ahab betören, daß er<br />
hinaufzieht und vor Ramot in Gilead fällt? Und einer sagte dies, der andere das. Da<br />
trat ein Geist vor und stellte sich vor den Herrn und sprach: Ich will ihn betören. Der<br />
Herr sprach zu ihm: Womit? Er sprach: Ich will ausgehen und will ein Lügengeist<br />
sein im Munde aller seiner Propheten. Er sprach: Du sollst ihn betören und sollst es<br />
ausrichten; geh aus und tu das! Nun siehe, der Herr hat einen Lügengeist gegeben in<br />
den Mund aller deiner Propheten; und der Herr hat Unheil gegen dich geredet.“<br />
Offenbarung 1,12-16: „Und ich wandte mich um, zu sehen nach der Stimme, die<br />
mit mir redete. Und <strong>als</strong> ich mich umwandte, sah ich sieben goldene Leuchter und<br />
mitten unter den Leuchtern einen, der war einem Menschensohn gleich, angetan mit<br />
einem langen Gewand und gegürtet um die Brust mit einem goldenen Gürtel. Sein<br />
Haupt aber und sein Haar war weiß wie weiße Wolle, wie der Schnee, und seine<br />
Augen wie eine Feuerflamme und seine Füße wie Golderz, das im Ofen glüht, und<br />
seine Stimme wie großes Wasserrauschen; und er hatte sieben Sterne in seiner<br />
rechten Hand, und aus seinem Mund ging ein scharfes, zweischneidiges Schwert,<br />
und sein Angesicht leuchtete, wie die Sonne scheint in ihrer Macht.“<br />
Offenbarung 20,11-15: „Und ich sah einen großen, weißen Thron und den, der<br />
darauf saß; vor seinem Angesicht flohen die Erde und der Himmel, und es wurde<br />
keine Stätte für sie gefunden. Und ich sah die Toten, groß und klein, stehen vor dem<br />
Thron, und Bücher wurden aufgetan. Und ein andres Buch wurde aufgetan, welches<br />
ist das Buch des Lebens. Und die Toten wurden gerichtet nach dem, was in den<br />
Büchern geschrieben steht, nach ihren Werken. Und das Meer gab die Toten heraus,<br />
die darin waren, und der Tod und sein Reich gaben die Toten heraus, die darin<br />
waren; und sie wurden gerichtet, ein jeder nach seinen Werken. Und der Tod und
VISIONEN<br />
sein Reich wurden geworfen in den feurigen Pfuhl. Das ist der zweite Tod: der<br />
feurige Pfuhl. Und wenn jemand nicht gefunden wurde geschrieben in dem Buch des<br />
Lebens, der wurde geworfen in den feurigen Pfuhl.“<br />
Live-Aufnahmen oder Zeichentrickfilme?<br />
Wer sich einer mühsamen Aufgabe unterziehen will, lese die obigen Schlüsselverse<br />
und versuche dann zu unterscheiden, was Symbol und was Realität ist.<br />
Ich kann versichern, daß es keine eindeutig richtige Antwort gibt. Es ließen sich<br />
wohl kaum zwei Personen finden, die die Trennlinie an genau der gleichen Stelle<br />
ziehen würden. Wenn ich College-Studenten vor eine solche Aufgabe stelle, sind sie<br />
meist ein wenig frustriert, weil sie nicht wissen, wo sie die Trennlinie für sich selbst<br />
ziehen sollen, geschweige denn für andere. Genau das ist es aber, was ich hier zeigen<br />
möchte.<br />
Wie sollen wir <strong>als</strong> Gemeinde mit Visionen umgehen? Woher können wir wissen,<br />
worauf wir zählen dürfen, was solide und unverrückbar ist?<br />
Der erste Schritt besteht darin, das eigentliche Anliegen und die zentrale Aussage<br />
einer Vision zu bestimmen. Was beispielsweise Michas Vision betrifft, so teile ich<br />
meine Studenten bezüglich der „Realitätsfrage“ in ungefähr zwei gleichgroße<br />
Gruppen. Der einen Gruppe fällt es nicht schwer zu sagen: „Ja, genau das spielte sich<br />
im Himmel ab. Damit haben wir kein Problem.“ Die andere Gruppe stellt fest: „So<br />
etwas kann im Himmel nicht geschehen. Das muß bildlich verstanden werden.“<br />
Beide Seiten stimmen aber problemlos darin überein, daß der springende Punkt der<br />
Vision darin besteht, daß sich Ahab durch seine eigenen Propheten irreführen ließ<br />
und bei Ramot in Gilead fallen sollte.<br />
Die in 1. Könige 22 geschilderte himmlische Thronszene ist ein herausragendes<br />
Beispiel alttestamentlicher Kosmologie und ein faszinierendes Thema zur weiteren<br />
Betrachtung. An dieser Stelle mag ein Hinweis auf die Vorrede zum Buch Hiob<br />
genügen, wo eine ähnliche Szene, jedoch mit anderem Verlauf geschildert wird.<br />
Nur selten bin ich einem Studenten begegnet, der die Vision in Offenbarung 1 <strong>als</strong><br />
realistische Darstellung auffaßte. Alle aber sehen in dieser Vision problemlos eine<br />
eindrucksvolle Demonstration der Herrlichkeit Gottes und einen Auftakt zu weiteren<br />
Offenbarungen.<br />
Offenbarung 20 ist besonders faszinierend, da hier die Hauptaussage völlig klar<br />
ist: Das Ende alles Bösen und aller Gottlosigkeit ist gekommen. Sobald wir aber die<br />
Liste der im feurigen Pfuhl brennenden Opfer betrachten, scheint die konkrete<br />
Realität einem bildhaften Geschehen Platz zu machen. Offenbarung 20,10 spricht<br />
219
INSPIRATION<br />
von drei Opfern: dem Teufel, dem Tier und dem f<strong>als</strong>chen Propheten; Vers 14 fügt<br />
Tod und Totenreich hinzu. Schließlich befinden sich auch noch alle diejenigen im<br />
feurigen Pfuhl, deren Name nicht im Buch des Lebens gefunden wird.<br />
Was hat nun Johannes in seiner Vision wirklich gesehen, <strong>als</strong> Tod und Totenwelt<br />
in den feurigen Pfuhl geworfen wurden? Einen Totenkopf mit gekreuzten Knochen?<br />
Ein Skelett? Was immer es war, es sollte bildhaft das Ende von Tod und Grab<br />
darstellen. Ein wirkliches Feuer wäre dazu wohl kaum geeignet.<br />
Der adventistische Bibelkommentar bemerkt zu Offenbarung 20,10: „Es ist zu<br />
beachten, daß das Tier und der f<strong>als</strong>che Prophet keine wirklichen, sondern<br />
symbolische Wesen sind.“ (7 SDABC 882) Nach traditioneller adventistischer<br />
Auslegung stellt das Tier den römischen Katholizismus und der f<strong>als</strong>che Prophet den<br />
abgefallenen Protestantismus dar. Beide sind menschliche Religionssysteme. Der<br />
Einsatz von Feuer gegen sie wäre ein sonderbares Unterfangen. Doch der zentrale<br />
Punkt steht fest und betrifft ihren Untergang.<br />
Somit bleibt noch der Teufel und ein Teil der Menschheit übrig, um im<br />
wörtlichen Sinne in den feurigen Pfuhl geworfen zu werden – oder vielleicht doch<br />
nicht? Im Feuer brennende Menschen werden normalerweise rasch bewußtlos. Und<br />
wenn wir unseren eigenen Argumenten gegen die Lehre der Unsterblichkeit der<br />
Seele Glauben schenken, wird Gott kein Wunder vollbringen, um die Gottlosen<br />
lebendig zu erhalten. Sie werden schnell dem Tod verfallen.<br />
In diesem Zusammenhang soll auf einen interessanten Kommentar von Ellen<br />
White über den zweiten Tod hingewiesen werden: „Ich sah, daß einige schnell<br />
vernichtet werden, während andere länger leiden mußten. Sie werden nach ihren<br />
Werken bestraft, die sie zu Lebzeiten getan hatten. Einige befanden sich viele Tage<br />
im Feuer. Solange ein Teil an ihnen noch nicht verzehrt war, empfanden sie auch das<br />
volle Gewicht ihrer Leiden. Der Engel sagte: ‚Der Wurm des Lebens wird nicht<br />
sterben, und ihr Feuer wird nicht verlöschen, solange noch das Geringste vorhanden<br />
ist, was verzehrt werden kann.‘“ (FS 281) In bezug auf Satan äußert sich Ellen White<br />
im Buch Der große Kampf wie folgt: „Seine Strafe wird weit größer sein <strong>als</strong> die<br />
Strafe derer, die er getäuscht hat. Nachdem alle, die er betört hat, vernichtet sind,<br />
muß er noch weiter leben und leiden.“ (S. 672)<br />
Wenn wir voraussetzen, daß Visionen oft bildliche Darstellungen abstrakter<br />
Wahrheiten enthalten, können wir uns ganz dem Anliegen dieser Vision zuwenden,<br />
ohne darüber beunruhigt zu sein, ob auch wirklich alles genauso eintreffen wird. In<br />
diesem Fall ist die Hauptaussage offensichtlich die „proportionale Vergeltung“ (die<br />
Bestrafung entspricht den Taten im Leben). Auch wenn uns nicht wohl sein mag bei<br />
der Vorstellung, daß die Gottlosen „viele Tage“ leiden müssen, habe ich doch bisher<br />
220
VISIONEN<br />
keine wirklich befriedigende Alternative gefunden, um das biblische Prinzip der<br />
„proportionalen Vergeltung“ bildhaft und anschaulich darzustellen.<br />
Feuer ist kein geeignetes Mittel, um das Tier, den f<strong>als</strong>chen Propheten oder Satan<br />
zu vernichten – es sei denn, man befindet sich in einer Vision. Wie heiß müßte<br />
eigentlich das Feuer sein, um Satan, ein übernatürliches Wesen, durch die Hitze<br />
langsam umzubringen? Doch unabhängig davon, ob wir uns nun vorstellen können,<br />
daß Satan in einem real brennenden Feuer lange Zeit schmoren muß, ist die<br />
Hauptaussage von Ellen White in Erfahrungen und Gesichte eindeutig und klar:<br />
Bestrafung erfolgt im Verhältnis zur eigenen Schuld.<br />
Was den Kernpunkt von Offenbarung 20 betrifft, ist es meines Erachtens besser,<br />
wenn wir davon ausgehen, daß uns die Vision die völlige Vernichtung des Bösen vor<br />
Augen führt, <strong>als</strong> daß wir versuchen, jedes Detail wörtlich aufzufassen.<br />
Die beiden nächsten Kapitel, Offenbarung 21 und 22, handeln von dem neuen<br />
Himmel und der neuen Erde. Auch hier sind unserem menschlichen Denken Grenzen<br />
gesetzt. Wir können uns eine vollkommene Welt nur schwer vorstellen; die Vision<br />
aber gibt uns einen guten Anhaltspunkt.<br />
Wenn wir die Bildhaftigkeit von Visionen erfaßt haben, können wir ihren<br />
„Illustrationswert“ anerkennen, ohne ihren Inhalt direkt in eine formale<br />
Lehrauffassung übertragen zu müssen. In diesem Sinn können wir auch dem Engel in<br />
Ellen Whites Vision eine gewisse Freiheit beim Zitieren der Schrift zugestehen, ohne<br />
diese spezielle Auslegung mit der ursprünglichen Bedeutung des Textes<br />
gleichzusetzen (siehe z. B. die Auslegung des Begriffs „Wurm“ im adventistischen<br />
Bibelkommentar zu Jesaja 66,24 und Markus 9,48).<br />
Konkretes und abstraktes Denken<br />
Unser Dilemma bezüglich der Visionen besteht darin, daß sich Menschen in ihrer<br />
Fähigkeit und Neigung, sich zwischen konkretem und abstraktem Denken zu<br />
bewegen, stark unterscheiden. Aus eigener Erfahrung weiß ich, daß konservative<br />
Christen mehr zu konkretem Denken neigen. Das trifft bestimmt auf die Mehrzahl<br />
der Adventisten zu: Für sie sind Wunder und Himmel etwas ganz Reales. Jesus war<br />
ja wirklich fleischgewordener Gott; auch Auferstehung und Wiederkunft sind<br />
wörtlich zu verstehen.<br />
Umgekehrt konnte ich beobachten, daß sogenannte liberale Christen zu mehr<br />
abstraktem Denken neigen. Sie haben Mühe, Wunder und Himmel zum Nennwert zu<br />
akzeptieren. Für sie ist das wörtliche Verständnis der Menschwerdung, der<br />
Auferstehung und der Wiederkunft oft problematisch.<br />
221
INSPIRATION<br />
Kultur und Umwelt spielen hier ebenfalls eine gewisse Rolle. So stellte ich<br />
beispielsweise merkliche Unterschiede bei deutschen Glaubensgeschwistern fest,<br />
wenn es um ihre Vorstellung vom Himmel und dem ewigen Leben ging.<br />
Ausgesprochen konservative deutsche Adventisten fühlten sich beispielsweise<br />
unbehaglich, wenn sie amerikanischen Glaubensgeschwistern zuhörten, die sich über<br />
Vögel, Blumen und reichgedeckte Tische im Himmel ausließen. In Amerika pflegt<br />
man ungehemmt über die physischen Annehmlichkeiten des künftigen Lebens zu<br />
sprechen: Bootfahren, Segeln, Fliegen, sich im hohen Gras tummeln – all das gehört<br />
zum amerikanisch-adventistischen Himmel!<br />
Bei der Mentalität deutscher Studenten war es durchaus verständlich, daß ihnen<br />
unbehaglich wurde, <strong>als</strong> ich die Heiligtumslehre behandelte und dabei das himmlische<br />
Heiligtum allzu anschaulich darstellte. Ich erinnere mich, daß ich anfangs<br />
verunsichert war und die jungen Leute sich ihrerseits unwohl fühlten, <strong>als</strong> wir unsere<br />
unterschiedlichen Standpunkte in einem Seminar darlegen sollten. Ich hatte der<br />
Klasse einen Artikel über das Heiligtum zu lesen gegeben, der von einem<br />
amerikanischen adventistischen Gelehrten verfaßt war. Zu Beginn seiner<br />
Ausführungen wies er angemessen auf unser begrenztes Wissen bezüglich<br />
himmlischer Dinge hin. Doch dann verwendete er, in guter amerikanischer Manier,<br />
die entsprechenden Symbole ganz unbekümmert, ohne ständig darauf hinzuweisen,<br />
daß es sich ja nur um Symbole handelt.<br />
Das aber kam bei meinen deutschen Studenten nicht gut an. Fast nach jedem Satz<br />
erwarteten sie eine erneute Bestätigung dafür, daß es wirklich nur Symbole seien. Ich<br />
war prinzipiell mit ihnen einig, und so machten wir weiter. Aber das ständige<br />
Drängen hin zum Abstrakten und weg vom Konkreten ging nicht spurlos an mir<br />
vorüber. Zunächst war mir das gar nicht bewußt, bis ich anläßlich einer Unterhaltung<br />
mit meiner Frau beiläufig eine Bemerkung machte, die himmlische Dinge betraf. Sie<br />
unterbrach mich und hinterfragte, was ich gerade gesagt hatte. Da wurde mir<br />
plötzlich bewußt, daß ich infolge des ständigen Drucks von seiten meiner Umgebung<br />
Zugeständnisse gemacht hatte, die eigentlich gar nicht nötig oder angebracht waren.<br />
Monate später, <strong>als</strong> ich wieder in Amerika war, führte ich bei einer Gruppe<br />
durchschnittlicher Adventisten (falls es das gibt) eine Umfrage über das<br />
Untersuchungsgericht durch. Ich fragte: „Bezogen auf eine Skala zwischen 1<br />
(konkret) und 10 (abstrakt), wie würdet ihr die Ereignisse einstufen?“<br />
Ich erwartete, daß die Antworten der meisten Teilnehmer auf der konkreten Seite<br />
der Skala liegen würden. Tatsächlich kreuzten 46% der Befragten die 1 an: sie<br />
betrachteten die Ereignisse <strong>als</strong> sehr konkret. 54% aber entschieden sich für eine<br />
andere Zahl, wenn auch die meisten über eine 2 oder 3 nicht hinausgingen. Trotzdem<br />
222
VISIONEN<br />
gab es eine knappe Mehrheit, die bezüglich unserer Fähigkeit, die wirklichen<br />
Gegebenheiten zu erfassen, gewisse Vorbehalte hatte.<br />
In der Tat sind unsere Denkprozesse an Bilder geknüpft, und zwar an sehr<br />
konkrete. Was bedeuten Liebe oder Haß oder Freundlichkeit oder Zorn, wenn wir<br />
ihnen nicht Arme, Beine und ein Gesicht verleihen?<br />
Wenn es um himmlische Realitäten geht, bitte ich meine Studenten gern, mir zu<br />
beschreiben, wie Gott Buch führt. Es ist dann stets erheiternd zu beobachten, daß<br />
gedankenvolle Gesichter plötzlich verschmitzt zu lächeln beginnen, sobald ihnen klar<br />
wird, worum es geht. Und dann kommen fast alle zu dem Schluß: Es muß dort<br />
Schreibfedern und Schriftrollen geben, vielleicht auch Bücher; auf alle Fälle aber<br />
Schreibfedern!<br />
Nun stelle man sich einen Engel vor, der in das himmlische Archiv stürmt:<br />
„Schnell! Wir müssen unser himmlisches System auf den neuesten Stand bringen.<br />
Unten auf der Erde benützen sie bereits Computer und Disketten.“<br />
Eigentlich kann ich mir so etwas nicht vorstellen. Ebensowenig aber ist für mich<br />
denkbar, daß sich das Bild in meiner Vorstellung einfach von der Schreibfeder auf<br />
den Computer umstellen läßt. Gabriel & Co mit Computern – das klingt nicht<br />
überzeugend. Ich habe deshalb nach wie vor Schreibfedern vor Augen, wenn ich an<br />
die himmlische Buchführung denke, sage mir aber gleichzeitig, daß die Wirklichkeit<br />
sicher anders ist. Wie denn? Ich weiß es nicht. Wenn die Bibel von Büchern und<br />
Aufzeichnungen spricht, bedient sie sich einer Sprache, die wir verstehen können.<br />
Ob es sich nun um Schreibfedern, Schreibmaschinen, Computer oder das tatsächlich<br />
im Himmel verwendete Buchführungssystem handelt – Anliegen und Bedeutung der<br />
betreffenden Vision sind uns völlig klar, oder nicht?<br />
An dieser Stelle frage ich mich, ob Gott überhaupt jem<strong>als</strong> eine ganz realistische<br />
Darstellung vermittelt. Mehr und mehr neige ich zu der Annahme, daß alle göttlich<br />
inspirierten Visionen mit „Zeichentrickfilmen“ vergleichbar sind, <strong>als</strong> Angleichungen<br />
an die begrenzten menschlichen Fähigkeiten. Gott tut, was notwendig ist, damit wir<br />
das für uns Wichtige verstehen können. Und ich vermute, daß wir bei unserem ersten<br />
Rundgang durch die himmlische Welt einige echte Überraschungen erleben werden!<br />
Mir sind die konkreten Elemente meines konservativen adventistischen Erbes sehr<br />
wichtig. Alles, was ich in diesem Leben kenne, ist mit etwas Greifbarem verbunden:<br />
meine Frau, meine Kinder, meine Kollegen, meine Gemeinde, meine Welt. Gott<br />
schuf eine materielle Welt und erklärte sie für gut. Zugegeben, sie wurde durch die<br />
Sünde entstellt, aber Gott versprach, sie zu erneuern. Diese Verheißung ist mir sehr<br />
wertvoll. Wie könnte die „selige Hoffnung“ so tief in unserem adventistischen<br />
Empfinden verwurzelt sein, wenn sie nicht ein Hinweis auf einen wirklichen Gott ist,<br />
223
INSPIRATION<br />
der sich um wirkliche Menschen kümmert und sie einer wirklichen neuen Wohnstätte<br />
zuführen wird?<br />
Ich ermutige meine Studenten, die Bilder – seien sie konkret oder abstrakt – die<br />
für ihren Glauben wichtig sind, zu bewahren. C. S. Lewis sagte einmal, es sei ihm<br />
egal, ob jemand glaube, Gott trage einen Bart. Niem<strong>als</strong> sei jemand verlorengegangen,<br />
weil er das geglaubt habe.<br />
Wir können auf der Konkret-Abstrakt-Skala irgendwo stehen – Hauptsache ist,<br />
daß wir nicht versuchen, unsere Bilder anderen aufzudrängen. Doch da, so befürchte<br />
ich, begehen diejenigen mit konkreten Vorstellungen am ehesten einen Fehler.<br />
Unsere Bilder sind uns mitunter so wichtig, daß wir heftiger reagieren <strong>als</strong> nötig,<br />
wenn wir befürchten, man könne uns diese Bilder entreißen.<br />
Ich erinnere mich noch gut an Worte des Dankes und der Anerkennung auf einem<br />
Beurteilungsblatt, das ich im Anschluß an den Unterricht über die Heiligtumslehre<br />
ausgeteilt hatte: „Danke, daß ich meine Bilder behalten durfte,“ hieß es da. „Ich<br />
brauche sie.“<br />
Wir alle brauchen unsere Bilder. Und es würde uns keine Perle aus der Krone<br />
fallen, wenn wir auch mit den Bildern anderer sorgfältiger umgehen würden.<br />
Was Bilder (nicht) sagen wollen<br />
Die Wahl des geeigneten Bildes war schon für die biblischen Verfasser wichtig.<br />
Gerade hinsichtlich des Heiligtums wird deutlich, wie Gott seine Boten inspirierte,<br />
so daß sie Bilder verwendeten, die die Leute verstehen konnten. Zwei Bibelstellen<br />
mögen das belegen.<br />
In 2. Mose 25,9 wies Gott Mose an, das Heiligtum zu bauen „nach dem Bild, das<br />
ich dir von der Wohnung und ihrem ganzen Gerät zeige.“ Archäologen haben<br />
entdeckt, daß dieses „Bild“ dem von kananäischen Tempeln weitgehend entsprach.<br />
Ein überraschender Befund? Ja – bis wir verstehen, daß Gott offenbar eine<br />
Anbetungsstätte haben wollte, die innerhalb jener Kultur <strong>als</strong> solche anerkannt war.<br />
Die Rituale im israelitischen Heiligtum unterschieden sich grundlegend von denen<br />
der Kanaaniter. Aber von außen sah das Gotteshaus eben wie ein Gotteshaus aus!<br />
In Hebräer 8,5 lesen wir, daß das irdische Heiligtum „dem Abbild und Schatten<br />
des Himmlischen“ dienen sollte. Wenn das 2. Buch Mose eine kananäische Umwelt<br />
ansprach, so wandte sich der Hebräerbrief an eine griechisch-römische Welt. Und<br />
dort war Platons Gedanke der himmlischen „Ideen“ vorherrschend: Jeder Gegenstand<br />
auf dieser Erde ist ein Abglanz der wahren Idee im Himmel. Wir verstehen deshalb,<br />
warum der Verfasser des Hebräerbriefs über Abbild und Schatten spricht.<br />
224
VISIONEN<br />
Daß heißt aber, daß wir uns hüten sollten, unsere Bilder zu absoluten<br />
Vorstellungen zu machen. Als Adventisten haben wir diesbezüglich mehr Mühe mit<br />
den Schriften von Ellen White <strong>als</strong> mit der Bibel – so jedenfalls mein Eindruck. Im<br />
allgemeinen sind meine Studenten eher bereit, für biblische Visionen<br />
verschiedenartige Auslegungen zu akzeptieren, <strong>als</strong> für die von Ellen White. Und<br />
doch geht es um dasselbe Prinzip.<br />
Ich nehme an, daß die konservative Prägung unserer Gemeinschaft mit der<br />
Tatsache zusammenhängt, daß die Heiligtumslehre den ersten Adventisten zur<br />
Anerkennung des Sabbats verholfen hat. Ellen Whites Vision von der Bundeslade im<br />
himmlischen Heiligtum und vom vierten Gebot, das „von einem Kranz der<br />
Herrlichkeit umgeben“ war (FS 242), spielte ursprünglich eine Schlüsselrolle in<br />
unserer Bewegung – zum Teil auch noch heute.<br />
Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß die Vision über den „Lichtkranz“ um das<br />
vierte Gebot <strong>als</strong> eindrucksvolles Bild verstanden werden will, das die Wichtigkeit der<br />
Sabbatheiligung hervorhebt. Die Vision sollte aber nicht <strong>als</strong> fotographisches Abbild<br />
der himmlischen Wirklichkeit verstanden werden.<br />
In diesem Zusammenhang möchte ich auf zwei hilfreiche Aussagen von Ellen<br />
White hinweisen. Sie enthalten die Mahnung, sich in der Vorstellung himmlischer<br />
Dinge nicht zu weit in das eine oder andere Extrem vorzuwagen.<br />
„Die Besorgnis, daß das zukünftige Erbe zu sinnlich erschiene, hat viele dahin<br />
gebracht, gerade die Wahrheiten zu vergeistigen, die uns veranlaßten, dieses Erbe <strong>als</strong><br />
unsere wahre Heimat zu betrachten. Christus versicherte seinen Jüngern, daß er<br />
hingehe, ihnen in des Vaters Haus die Stätte zu bereiten. Wer die Lehren des Wortes<br />
Gottes annimmt, wird hinsichtlich der himmlischen Wohnungen nicht völlig<br />
unwissend sein, und doch erklärt der Apostel Paulus: ‚Was kein Auge gesehen hat<br />
und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott<br />
bereitet hat denen, die ihn lieben‘.“ (1. Korinther 2,9) Die menschliche Sprache<br />
reicht nicht aus, um den Lohn der Gerechten zu beschreiben. Nur die werden dazu in<br />
der Lage sein, die ihn sehen. Kein sterblicher Verstand kann die Herrlichkeit des<br />
Paradieses Gottes begreifen.“ (GK 673.674)<br />
„Der Herr spricht zu den Menschen in einer unvollkommenen Sprache, damit der<br />
Mensch mit seinen geschwächten Sinnen und seiner getrübten Fassungskraft seine<br />
seine Worte verstehen kann. Darin zeigt sich Gottes Menschenfreundlichkeit. Er<br />
begegnet den gefallenen Menschen dort, wo sie sind. So vollkommen die Bibel in<br />
ihrer Einfachheit auch ist, hat sie dennoch die großen Gedanken Gottes nicht<br />
aufgenommen; denn unendliche Gedanken können nicht in die begrenzte Sprache<br />
menschlicher Gedanken eingehen. Viele meinen, die biblischen Ausdrücke seien<br />
225
INSPIRATION<br />
übertrieben, doch die überwältigendsten Ausdrücke verblassen vor der Hoheit der<br />
Gedanken Gottes, auch wenn die Schreiber sich um eine gewählte Sprache bemühen,<br />
um die Wahrheit mitzuteilen. Sündige Menschen können nur den Schatten vom<br />
Glanz der himmlischen Herrlichkeit ertragen.“ (1 FG 22)<br />
Wenn wir wählen könnten, würden wir vielleicht sowohl die 1 wie auch die 10<br />
auf der Konkret-Abstrakt-Skala vermeiden. Leider sind wir aber oft gar nicht in der<br />
Lage, eine solche Wahl zu treffen. Es wurde uns doch einiges in die Wiege gelegt<br />
und dann durch den Einfluß unserer Umwelt zementiert. Wir können den Herrn nur<br />
bitten, daß er uns hilft, andere mit ihren Bildern leben zu lassen.<br />
Ein letztes Wort noch zu meiner oben erwähnten Umfrage. Eine Frau, der meine<br />
Frage gar nicht gefallen hatte, setzte schließlich – unter Protest – eine 5 auf der Skala<br />
ein und zitierte dabei C. S. Lewis: „ Manche Dinge sind so schrecklich real, daß wir<br />
sie uns überhaupt nicht vorstellen können.“<br />
Mir scheint, daß sie damit recht haben könnte.<br />
Fragen zum Nachdenken<br />
1. Wie lernt man am besten, die zentrale Aussage einer Vision zu erfassen, ohne<br />
sich durch die Spannungen zwischen konkreter und abstrakter Auslegung<br />
ablenken zu lassen?<br />
2. Woran kann es liegen, wenn sich Adventisten und andere Christen von der<br />
konkreten Vorstellung einer künftigen Hoffnung immer weiter entfernen? Ist es<br />
möglich, zu einer konservativen (konkreten) Auffassung zurückzukehren, wenn<br />
man sich einmal einer mehr abstrakten Einstellung zugewandt hat?<br />
3. Wie wichtig ist die Heiligtumsfrage für Adventisten? Würde sie an Bedeutung<br />
gewinnen oder verlieren, wenn man auf der Konkret-Abstrakt-Skala in die eine<br />
oder andere Richtung vorstößt?<br />
226
Kapitel 18<br />
Inspirierte Schreiber zitieren<br />
inspirierte Schreiber<br />
Übersicht: Betrachten wir die Schrift <strong>als</strong> Beispielsammlung, so bedeutet das, daß<br />
ein inspirierter Schreiber nicht der endgültige Interpret eines anderen Schreibers sein<br />
kann. Beide sind durch eine höhere Instanz zu bewerten. Das Alte Testament war<br />
logischerweise der erste Prüfstein, an dem die Aussagen Jesu, der Apostel und<br />
letztlich des ganzen Neuen Testaments gemessen wurden (vgl. Lukas 24,44). Das<br />
aber erlaubt uns nicht, im Gegenzug das Alte Testament ausschließlich im Licht des<br />
Neuen zu interpretieren! Da nun einmal beide Testamente zum biblischen Kanon<br />
gehören, muß all ihren Verfassern zugestanden werden, für sich selber zu sprechen.<br />
Schlüsseltexte<br />
Hosea 11,1-3: „Als Israel jung war, hatte ich ihn lieb und rief ihn, meinen Sohn,<br />
aus Ägypten; aber wenn man sie jetzt ruft, so wenden sie sich davon und opfern den<br />
Baalen und räuchern den Bildern. Ich lehrte Ephraim gehen und nahm ihn auf meine<br />
Arme; aber sie merkten’s nicht, wie ich ihnen half.“<br />
Matthäus 2,14-15: „Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit<br />
sich bei Nacht und entwich nach Ägypten und blieb dort bis nach dem Tod des<br />
Herodes, damit erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da<br />
spricht: ‚Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.‘“<br />
Laßt die Schreiber für sich selber sprechen!<br />
Zu Beginn dieses Kapitels wage ich eine kühne Behauptung: Die Schriften eines<br />
inspirierten Schreibers sollten nie <strong>als</strong> endgültige Interpretation der Schriften eines<br />
anderen inspirierten Schreibers betrachtet werden. Anders ausgedrückt und speziell<br />
auf die Bibel bezogen: Das Neue Testament sollte nicht dazu herhalten, das Studium<br />
des Alten Testaments zu vernachlässigen. Letztlich sollte jeder einzelne Abschnitt,<br />
der durch Inspiration vermittelt wurde – und das heißt die gesamte Bibel – für neue<br />
Einsichten und Auslegungen offenbleiben.<br />
228
INSPIRIERTE SCHREIBER ZITIEREN INSPIRIERTE SCHREIBER<br />
Diese Ansicht ist bei weitem nicht so radikal wie sie klingt; in gewisser Weise ist sie<br />
sogar ausgesprochen konservativ. Ich vertrete nämlich den Standpunkt, daß der<br />
biblische Kanon <strong>als</strong> abgeschlossen, vollständig und gesichert zu betrachten ist. Das<br />
ist die konservative Sicht. Aber jeder einzelne Vers im biblischen Kanon muß auch<br />
lebendig bleiben und der Untersuchung und Interpretation zugänglich sein. Das mag<br />
<strong>als</strong> radikal gelten; aber auch das hat geistlich wie intellektuell einen Sinn. Betrachten<br />
wir das Gesagte eingehender im Licht der Bibel.<br />
Ein Vergleich zwischen Matthäus 2,15 und Hosea 11,1 läßt den<br />
unvoreingenommenen Leser vermuten, daß diese beiden Abschnitte wenig<br />
miteinander zu tun haben. Hosea sprach von Israels Flucht aus Ägypten; Matthäus<br />
beschrieb Jesu Flucht nach Ägypten, von wo er später, <strong>als</strong> Herodes gestorben war,<br />
nach Palästina zurückkehrte. Matthäus und Johannes wenden diesen „Beweis“ gern<br />
an, während Markus und Lukas viel seltener davon Gebrauch machen.<br />
Im Matthäusevangelium finden sich elf verschiedene „Erfüllungen“ von<br />
Verheißungen, wovon die eine oben beschrieben ist (Matthäus 1,22.23;<br />
2,15.17.18.23; 4,14-16; 8,17; 12,17-21; 13,14.15.35; 21,4.5; 27,9.10). Die Art und<br />
Weise, wie Matthäus diese Zitate verwendet und sein Hinweis, daß sie durch Jesus<br />
erfüllt wurden, kann eine echte Schwierigkeit für uns bedeuten, weil sie mit dem<br />
Anspruch Jesu zusammenhängen, der Messias zu sein.<br />
Als ich im Verlauf meiner Studien die von Matthäus beschriebenen „Erfüllungen“<br />
nachprüfte, war meine erste Reaktion: „Wenn das der Beweis sein soll, daß Jesus der<br />
Messias ist, dann ist es nicht verwunderlich, daß ihn die Juden verwarfen!“<br />
Inzwischen ist dieses Problem für mich gelöst; es soll uns aber hier nicht weiter<br />
beschäftigen (siehe dazu Thompson, Who’s Afraid of the Old Testament God? 130-<br />
157).<br />
Uns interessiert an dieser Stelle, wie sich ein inspirierter Schreiber zu den<br />
Schriften eines anderen inspirierten Schreibers verhält. Bei dem Abschnitt aus<br />
Matthäus stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Alten und dem<br />
Neuen Testament. Dieser Vergleich ist von entscheidender Bedeutung, denn bei der<br />
Entwicklung des biblischen Kanons mußte ja jeder Zusatz zum Kanon zunächst im<br />
Lichte bestehender kanonischer Schriften überprüft werden.<br />
Jesu Hinweis auf die „Erfüllung“ von Aussagen aus dem Gesetz, den Propheten<br />
und den Psalmen (Lukas 24,44) deutet darauf hin, daß man im Alten Testament den<br />
Prüfstein sah, an dem Jesus und sein Wirken beurteilt werden sollten. Und das ist<br />
sicher richtig so.<br />
Aber es wäre nun f<strong>als</strong>ch, den Spieß umzudrehen und nur noch die<br />
neutestamentliche Sicht zum Verständnis des Alten Testaments heranzuziehen. Da<br />
229
INSPIRATION<br />
wir überzeugt sind, daß beide zum Kanon gehören, finde ich es nicht in Ordnung,<br />
einen Autor gegen den anderen auszuspielen. Mein geistliches Empfinden ist darauf<br />
ausgerichtet, beide Autoren gleicherweise zu respektieren. Ich möchte auch nicht die<br />
Worte des einen Autors einem andern aufdrängen, denn mein Verstand hält es für<br />
angebracht, daß jeder Autor und jeder Text für sich selber sprechen kann, <strong>als</strong>o ohne<br />
Einmischung von außen.<br />
Ich verstecke mich damit ein wenig hinter dem Kanon. Denn meines Erachtens<br />
kann Matthäus – ganz unabhängig von seinem Vorgehen – weder das Alte Testament<br />
noch seine eigene Stellung in der Schrift gefährden.<br />
Hier mag uns das Bild von einer Heirat weiterhelfen. Was immer zwei Menschen<br />
zusammengeführt hat, so gilt doch: Sind sie erst einmal verheiratet, so sind sie<br />
verheiratet! Die Zeit der Werbung, in der beide ihren Partner zu gewinnen und zu<br />
überzeugen suchen, ist vorbei. Keiner steht mehr in einer Art Probezeit. Wir wissen<br />
auch, daß Beziehungen scheitern können, sei es im Bereich des Glaubens oder der<br />
Ehe. Das, was Gott <strong>als</strong> sicheres Bollwerk für uns vorgesehen hat, kann in unserer<br />
sündigen Welt fehlschlagen.<br />
Wie läßt sich das vermeiden? Eine Möglichkeit besteht darin, daß wir uns wieder<br />
den ersten Tagen der Freundschaft zuwenden und uns daran erinnern, was uns<br />
dam<strong>als</strong> füreinander eingenommen hat. Obwohl die Probezeit mit der Heirat endet<br />
und einem Gefühl der Sicherheit Platz macht, wächst die Wahrscheinlichkeit einer<br />
guten Ehe, wenn gewisse Verhaltensmuster aus der Zeit vor der Heirat auch später<br />
noch Geltung haben.<br />
Wenden wir diese Analogie gezielt auf das Matthäusevangelium an. Wenn wir<br />
auch alles, was wir bei Matthäus finden, ohne weiteres „absegnen“, da dieses<br />
Evangelium ja zum Kanon gehört, dürfen wir doch wenigstens feststellen, weshalb<br />
und wie dieses Buch dam<strong>als</strong> in den Kanon aufgenommen wurde. Hier stimmt unsere<br />
Analogie mit der Zeit der Partnerwerbung nicht mehr ganz, da die Entscheidung,<br />
Matthäus einzuschließen, nicht unsere Entscheidung war. Sie wurde für uns<br />
getroffen – etwa so, wie im Nahen Osten eine Hochzeit von den Eltern geplant wird.<br />
Trotzdem stehen zwei Dinge fest: (1) Die Entscheidung der Zugehörigkeit zum<br />
Kanon wurde getroffen (d. h. die Ehe wurde geschlossen, auch wenn sie von den<br />
Eltern geplant war). (2) Mit dieser Entscheidung war eine gewisse Begründung<br />
verbunden (d. h. die Entscheidung beruhte nicht ganz auf Zufall, da sich ja die Eltern<br />
oder das Paar selbst eine Begründung ausgedacht haben, die für die Heirat<br />
ausschlaggebend war).<br />
Bei meinem Bemühen, die ursprünglichen Gegebenheiten zu verstehen, die die<br />
frühe Kirche dazu bewogen haben, Matthäus anzuerkennen und seinem Wort zu<br />
230
INSPIRIERTE SCHREIBER ZITIEREN INSPIRIERTE SCHREIBER<br />
glauben, entdeckte ich, daß seine Logik und Beweisführung genau dem entsprechen,<br />
was nachdenkliche Juden seiner Zeit zu schätzen wußten. Die Begriffe Midrasch und<br />
Haggada beziehen sich auf die kreativen jüdischen Methoden, biblische Aussagen zu<br />
erweitern und zu erklären. Ein Merkmal dieser Literaturgattung ist die Tendenz,<br />
spätere Schlußfolgerungen in frühere Schriften „hineinzulesen“ und das ganze wie<br />
ein saumloses Gewand zu behandeln.<br />
Mir ist schließlich aufgegangen, daß Matthäus zunächst einmal seine eigenen<br />
Zeitgenossen überzeugen mußte. Seine dem zeitgenössischen jüdischen Denken<br />
entlehnten Argumente mögen mich heute nicht sonderlich beeindrucken, aber die<br />
Tatsache, daß er – auf welche Weise auch immer – in seiner Welt erfolgreich war,<br />
beeindruckt mich auch heute noch.<br />
Wenn wir <strong>als</strong>o vor dem Problem stehen, Einzelabschnitte oder auch ganze Bücher<br />
der Bibel auszulegen, sollten wir uns so etwas wie die Gesetzespyramide dabei<br />
vorstellen. Da finden wir zwar scheinbare Widersprüche bei gewissen Einzelheiten,<br />
aber auch eine durchgängige, übergeordnete Harmonie. Jeder Verfasser und jeder<br />
Abschnitt beleuchten auf ihre Weise die verschiedenen Aspekte des einen, der zwei<br />
und der Zehn Gebote.<br />
Die Verwendung des Alten Testaments durch Matthäus wirft ein Licht auf das<br />
Problem des Verhältnisses von zwei inspirierten Schreibern zueinander. Ein von<br />
messianischer Deutung unberührter Abschnitt kann aber noch besser zeigen, wie<br />
verschiedene Interpretationen ein und derselben Geschichte einem praktischen und<br />
gemeinsamen Anliegen dienen können.<br />
In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Geschichte der Tötung des<br />
Ägypters durch Mose verweisen, von der es drei verschiedene biblische Versionen<br />
gibt, die das Gesagte gut illustrieren. Ich verdanke diese Einsicht dem umfassenden<br />
Kommentar zum 2. Buch Mose von Brevard Childs. Da alle drei Versionen das<br />
Gesetz der Liebe vor Augen haben, müssen wir sie nicht in eine einzige Form<br />
pressen. Wir haben es vielmehr mit drei verschiedenen Gußformen zu tun, jeweils<br />
eine für das 2. Buch Mose, die Apostelgeschichte und den Hebräerbrief. Aber alle<br />
drei Formen gehören zum selben Sortiment.<br />
Wer Freude daran hat, Neues zu entdecken, vertiefe sich in die folgenden drei<br />
Berichte, bevor er das Buch weiterliest.<br />
231
INSPIRATION<br />
2. Mose 2,11-15<br />
(Originalbericht):<br />
„Zu der Zeit, <strong>als</strong> Mose groß<br />
geworden war, ging er hinaus<br />
zu seinen Brüdern und sah<br />
ihren Frondienst und nahm<br />
wahr, daß ein Ägypter einen<br />
seiner hebräischen Brüder<br />
schlug. Da schaute er sich nach<br />
allen Seiten um, und <strong>als</strong> er sah,<br />
daß kein Mensch da war,<br />
erschlug er den Ägypter und<br />
verscharrte ihn im Sande. Am<br />
andern Tage ging er wieder<br />
hinaus und sah zwei hebräische<br />
Männer miteinander streiten<br />
und sprach zu dem, der im<br />
Unrecht war: Warum schlägst<br />
du deinen Nächsten? Er aber<br />
sprach: Wer hat dich zum<br />
Aufseher oder Richter über uns<br />
gesetzt? Willst du mich auch<br />
umbringen, wie du den Ägypter<br />
umgebracht hast? Da fürchtete<br />
sich Mose und sprach: Wie ist<br />
das bekannt geworden? Und es<br />
kam vor den Pharao; der<br />
trachtete danach, Mose zu<br />
töten. Aber Mose floh vor dem<br />
Pharao und hielt sich auf im<br />
Lande Midian. Und er setzte<br />
s i c h n i e d e r b e i e i n e m<br />
Brunnen.“<br />
Apostelgeschichte<br />
7,24-29.35.39.51<br />
(Predigt des Stephanus):<br />
„Und sah einen Unrecht leiden;<br />
da stand er ihm bei und rächte<br />
den, dem Leid geschah, und<br />
erschlug den Ägypter. Er<br />
meinte aber, seine Brüder<br />
sollten’s verstehen, daß Gott<br />
durch seine Hand ihnen<br />
Rettung bringe; aber sie<br />
verstanden’s nicht. Und am<br />
nächsten Tag kam er zu ihnen,<br />
<strong>als</strong> sie miteinander stritten, und<br />
ermahnte sie, Frieden zu halten,<br />
und sprach: Liebe Männer, ihr<br />
seid doch Brüder; warum tut<br />
einer dem andern Unrecht? Der<br />
aber seinem Nächsten Unrecht<br />
getan hatte, stieß ihn von sich<br />
und sprach: ‚Wer hat dich zum<br />
Aufseher und Richter über uns<br />
gesetzt? Willst du mich auch<br />
töten, wie du gestern den<br />
Ägypter getötet hast?‘ Mose<br />
aber floh wegen dieser Rede<br />
und lebte <strong>als</strong> Fremdling im<br />
Lande Midian; dort zeugte er<br />
zwei Söhne... Diesen Mose, den<br />
sie verleugnet hatten, <strong>als</strong> sie<br />
sprachen: ‚Wer hat dich <strong>als</strong><br />
A u f s e h e r u n d R i c h t e r<br />
eingesetzt?‘, den sandte Gott<br />
<strong>als</strong> Anführer und Retter durch<br />
d e n E n g e l , d er ih m i m<br />
Dornbusch erschienen war...<br />
Ihm wollten unsere Väter nicht<br />
gehorsam werden, sondern sie<br />
stießen ihn von sich und<br />
wandten sich in ihrem Herzen<br />
wieder Ägypten zu... Ihr<br />
H<strong>als</strong>starrigen, mit verstockten<br />
Herzen und tauben Ohren, ihr<br />
widerstrebt allezeit dem<br />
heiligen Geist, wie eure Väter,<br />
Hebräer 11,23-28<br />
(Durch den Glauben):<br />
„Durch den Glauben wurde<br />
Mose, <strong>als</strong> er geboren war, drei<br />
Monate verborgen von seinen<br />
Eltern, weil sie sahen, daß er<br />
ein schönes Kind war; und sie<br />
fürchteten sich nicht vor des<br />
Königs Gebot. Durch den<br />
Glauben wollte Mose, <strong>als</strong> er<br />
groß geworden war, nicht<br />
mehr <strong>als</strong> Sohn der Tochter<br />
des Pharao gelten, sondern<br />
wollte viel lieber mit dem<br />
Volk Gottes zusammen<br />
mißhandelt werden, <strong>als</strong> eine<br />
Zeitlang den Genuß der<br />
Sünde haben, und hielt die<br />
Schmach Christi für größeren<br />
Reichtum <strong>als</strong> die Schätze<br />
Ägyptens; denn er sah auf die<br />
Beloh n u n g. Durch d en<br />
Glauben verließ er Ägypten<br />
und fürchtete nicht den Zorn<br />
des Königs; denn er hielt sich<br />
an den, den er nicht sah, <strong>als</strong><br />
sähe er ihn. Durch den<br />
Glauben hielt er das Passa<br />
und das Besprengen mit Blut,<br />
damit der Verderber ihre<br />
Erstgeburten nicht anrühre.“<br />
232
INSPIRIERTE SCHREIBER ZITIEREN INSPIRIERTE SCHREIBER<br />
so auch ihr.“<br />
Diese drei Erzählungen enthalten jeweils eine eigene Lehre. Mitunter rate ich meinen<br />
Studenten, an die drei Darstellungen folgende Frage zu richten: „Hatte Mose richtig<br />
gehandelt, <strong>als</strong> er den Ägypter erschlug?“ Obwohl die Frage nicht ganz befriedigend<br />
erscheint, trägt sie doch zu folgenden Schlußfolgerungen bei:<br />
2. Buch Mose – Obwohl Moses Tat in diesem Abschnitt nicht eindeutig verurteilt<br />
wird, ist der Darstellung doch zu entnehmen, daß sie <strong>als</strong> ungerechtfertigte<br />
Demonstration von Moses stolzem Wesen gewertet wird. Erst <strong>als</strong> dieser Stolz<br />
überwunden war, wie in 2. Mose 3 und 4 geschildert wird, war Mose in der Lage,<br />
Israel zu befreien.<br />
Apostelgeschichte 7 – Der Predigt von Stephanus liegt eine andere Moral<br />
zugrunde. Er rückt die Auflehnung derer, denen Mose helfen wollte, ins Zentrum.<br />
Die Ablehnung, die Mose dam<strong>als</strong> widerfuhr, wird von Stephanus <strong>als</strong> kennzeichnend<br />
für die jahrhundertealte Auflehnung der Juden hingestellt. Wird in der<br />
ursprünglichen Geschichte der Stolz des Mose getadelt, so betrifft der Tadel hier die<br />
Auflehnung von Gottes Volk.<br />
Hebräer 11 – Im Zusammenhang mit der christlichen Ermahnung zum Glauben<br />
erfährt die Geschichte eine völlige Umgestaltung; das trifft auch für andere Episoden<br />
zu, die in Hebräer 11 erwähnt werden. Dieses Kapitel betont den Weg des Glaubens<br />
und läßt die Niederungen von Sünde, Stolz und Auflehnung beiseite. Auch Abraham<br />
und Sara werden <strong>als</strong> Menschen edlen Glaubens dargestellt. Wer etwa erfahren<br />
möchte, daß Sara über Gottes Verheißung lachte, wird in Hebräer 11 nichts davon<br />
erfahren; das ist im Alten Testament nachzulesen.<br />
Am auffallendsten ist hier die Feststellung, daß Mose Ägypten verließ und „nicht<br />
den Zorn des Königs“ fürchtete (Vers 27). Im 2. Buch Mose war es gerade seine<br />
Furcht vor dem König, weshalb er Ägypten verließ. Aber der Hebräerbrief möchte<br />
uns bezüglich Furcht und Glauben einen tieferen Einblick vermitteln. Als Mose von<br />
seinen Eltern versteckt wurde, heißt es: „Und sie fürchteten sich nicht vor des<br />
Königs Gebot.“ (Vers 23) Weshalb wollten sie denn dann ihr Kind verbergen, wenn<br />
nicht aus Furcht? Natürlich hatten sie Angst, genauso wie Mose Angst hatte, <strong>als</strong> er<br />
vor Pharao floh – aber eben nur oberflächlich gesehen. Denn gleichzeitig hatten sie<br />
ja ein tiefes Vertrauen zu Gott, daß er letztlich alles zu einem guten Ende führen<br />
werde.<br />
Das ist eine wunderbare Botschaft, eine übergreifende Harmonie, die jeglichen<br />
Widerspruch, der bei oberflächlicher Betrachtung aufkommen kann, gegenstandslos<br />
macht. Und für uns heißt das: Sollten wir einerseits auch Angst haben, so können wir<br />
233
INSPIRATION<br />
doch andererseits tief in unserem Herzen einen starken und beständigen Glauben<br />
besitzen.<br />
Unser Schriftstudium würde allerdings großen Schaden leiden, wollten wir jetzt die<br />
Geschichten aus 2. Mose 2, Apostelgeschichte 7 und Hebräer 11 miteinander<br />
harmonisieren und zu einem einzigen Bericht zusammenschweißen. Wir sollten nicht<br />
darauf bestehen, daß Apostelgeschichte 7 und Hebräer 11 mit 2. Mose 2<br />
übereinstimmen müssen; ebensowenig wie wir zulassen dürfen, daß die Aussagen in<br />
Apostelgeschichte 7 und Hebräer11 die Interpretation von 2. Mose 2 diktieren.<br />
Lassen wir alle drei für sich selbst sprechen! Dann zeigt sich die Gefahr des Stolzes,<br />
die Gefahr der Auflehnung und die Schönheit eines beständigen Glaubens – drei<br />
Lehren aus einer einzigen Geschichte, die alle für unser heutiges Christenleben sehr<br />
bedeutsam sind.<br />
Wie wichtig es ist, daß wir inspirierten Schreibern die Freiheit zugestehen,<br />
biblische Textabschnitte einem übergeordneten Lehrziel anzupassen, läßt sich auch<br />
anhand der Geschichte der Adventbewegung veranschaulichen. Anders ausgedrückt<br />
(d. h. präziser, und damit wohl auch etwas kühner): Inspirierte Schreiber sollten<br />
Gläubige (d. h. solche, die nicht in einem speziellen Sinne inspiriert sind) nicht daran<br />
hindern, ihre eigene gottgegebene Verantwortung wahrzunehmen, den Schrifttext für<br />
sich selber auszulegen, auch wenn ihre Auslegung von der eines anerkannten<br />
inspirierten Schreibers abweichen mag.<br />
Mit anderen Worten: Wir müssen inspirierte Schreiber von der Verantwortung<br />
entbinden – einer Verantwortung, die sie nie für sich beansprucht haben –, die<br />
endgültigen Interpreten anderer inspirierter Aussagen zu sein. Falls das für meine<br />
adventistischen Leser noch nicht klar genug ist, möchte ich es offen aussprechen:<br />
Wir sollten von Ellen White nicht erwarten, daß sie die Bibel letztgültig kommentiert<br />
oder interpretiert. Zur Illustration möchte ich eine Episode aus der Adventgeschichte<br />
anführen, die uns helfen kann, das Gesagte besser zu verstehen.<br />
Es war anläßlich der Generalkonferenz von 1888. Worum es ging, läßt sich am<br />
besten verstehen, wenn wir zwei sich anscheinend widersprechende Aussagen von<br />
Ellen White einander gegenüberstellen. Sie entstammen einer Predigt, die sie am<br />
1. November vor den Delegierten der Generalkonferenz hielt (MS 15, 1888; siehe<br />
Anhang F). Dabei äußerte sie sich über E. J. Waggoners Bibelauslegung und seine<br />
Botschaft hinsichtlich der Gerechtigkeit durch den Glauben.<br />
„Gewisse Bibelauslegungen von Dr. Waggoner<br />
halte ich nicht für richtig.“<br />
„Was hier vorgetragen wurde, stimmt völlig mit<br />
dem Licht überein, das mir Gott durch all die<br />
Jahre meiner Erfahrung hindurch offenbart hat.“<br />
234
INSPIRIERTE SCHREIBER ZITIEREN INSPIRIERTE SCHREIBER<br />
Wie konnte sie sich von der Schriftauslegung von Waggoner distanzieren und im<br />
selben Atemzug sagen, seine Botschaft stimme mit ihrer Erfahrung überein?<br />
Möglicherweise genau so, wie auch Apostelgeschichte 7 und Hebräer 11 gegenüber<br />
2. Mose 2 eine andere Sicht vertreten, in ihrer praktischen Anwendung aber mit der<br />
Gesetzespyramide des einen, der zwei und der zehn völlig übereinstimmen.<br />
In der eben zitierten Predigt macht Ellen White deutlich, daß sie mit Waggoners<br />
Bibelauslegungen nicht immer konform geht, doch sie fügt hinzu: „Ich bin überzeugt,<br />
daß er völlig ehrlich ist in seinen Anschauungen; ich respektiere seine Haltung und<br />
behandle ihn <strong>als</strong> einen christlichen Ehrenmann. Ich habe keinen Grund anzunehmen,<br />
daß Gott ihn für weniger wert hält <strong>als</strong> irgendeinen meiner Glaubensbrüder, und ich<br />
betrachte ihn <strong>als</strong> meinen Bruder in Christus, solange es keinen Beweis für seine<br />
Unwürdigkeit gibt. Die Tatsache, daß einige seiner Ansichten über die Bibel von<br />
euren oder meinen Überzeugungen abweichen, gibt uns kein Recht, ihn <strong>als</strong> einen<br />
Übeltäter oder gefährlichen Menschen zu behandeln und zur Zielscheibe ungerechter<br />
Kritik werden zu lassen.“ (siehe Anhang F)<br />
Ellen White behauptete nicht, daß ihre prophetische Autorität die Freiheit<br />
Waggoners, bestimmte Texte anders zu verstehen, prinzipiell in Frage stellte. Sie und<br />
Waggoner konnten verschiedener Meinung und trotzdem Glieder des einen Leibes<br />
Christi sein. Wenn sie auch bezüglich der Auslegung der Schrift mit Waggoner nicht<br />
immer einer Meinung war (in diesem Fall ging es um Galater 3), war es ihr doch ein<br />
Anliegen zu betonen, daß seine Botschaft mit ihrer Erfahrung voll und ganz<br />
übereinstimme.<br />
Kurz gesagt, die grundsätzliche Unterstützung der zentralen Botschaft Waggoners<br />
verlangte nicht die Zustimmung zu all seinen Argumenten, Illustrationen oder<br />
Auslegungen bestimmter Textabschnitte.<br />
Wenn wir darauf bestehen, daß alle Leser die Schrift in derselben Weise<br />
verstehen oder daß ein spezieller Abschnitt so und nicht anders auszulegen ist, kann<br />
dies zur Folge haben, daß die geistliche Kraft unserer Gemeinschaft verkümmert.<br />
Im Jahre 1892 schrieb Ellen White: „Wir können <strong>als</strong>o nicht behaupten, die<br />
Einheit der Gemeinde bestehe darin, daß jeder Bibeltext in genau derselben Weise<br />
verstanden wird. Die Gemeinschaft mag Entschlüsse über Entschlüsse fassen, um<br />
Meinungsverschiedenheiten auszumerzen, aber wir können dem Verstand und dem<br />
Willen keinen Zwang antun, noch auf diese Weise Differenzen beseitigen. Solche<br />
Beschlüsse mögen Uneinigkeit verbergen, aber sie können sie nicht auslöschen und<br />
vollkommene Einigkeit herbeiführen.“<br />
Worüber müssen wir uns denn einig sein?<br />
„Die großen Wahrheiten des Wortes Gottes sind so klar ausgedrückt, daß<br />
235
INSPIRATION<br />
niemand sie aus Versehen mißzuverstehen braucht. Wenn ihr <strong>als</strong> individuelle<br />
Gemeindeglieder Gott über alles liebt und euren Nächsten wie euch selbst, bedarf es<br />
keiner großen Anstrengung, um Einheit zu erlangen, denn dann werdet ihr <strong>als</strong><br />
natürliche Folge untereinander eins sein in Christus.“ (MS 24, 1892; siehe<br />
Anhang F)<br />
Liebe zu Gott und zu seinen Geschöpfen – das sind die „großen Zwei“. Jede<br />
Schriftauslegung sollte darauf ausgerichtet sein. Vielleicht haben wir übersehen, daß<br />
zwei Menschen, sogar zwei inspirierte Schreiber, denselben Bibeltext verschieden<br />
auslegen können, wobei die Auslegung beider die Erfüllung des einen, der zwei und<br />
der zehn zum Ziel hat. Das ist bei der Bibel zweifellos der Fall. Möglicherweise<br />
brauchen wir Mut, um das etwas lauter zu sagen, <strong>als</strong> wir es bisher getan haben.<br />
Zusammenfassend sei auf drei Schlußfolgerungen hingewiesen, die aus der<br />
vorangegangenen Diskussion resultieren:<br />
1. Wer wissen will, was das Alte Testament sagt, der lese das Alte Testament.<br />
2. Wer wissen will, was das Neue Testament sagt, der lese das Neue Testament.<br />
3. Wer wissen will, was Ellen White sagt, der lese die Schriften von Ellen White.<br />
Fragen zum Nachdenken<br />
1. Wenn wir eine Predigt hören oder ein Buch lesen, wird deren Quintessenz<br />
zerstört oder die Argumentation entkräftet, weil wir mit einer bestimmten<br />
Illustration oder Textauslegung nicht einverstanden sind? Wie weit dürfen die<br />
Meinungen auseinandergehen, bevor Kommunikation und Vertrauen untergraben<br />
werden?<br />
2. Könnt ihr euch vorstellen, daß sich in eurer Gemeinde eine Gruppe zum<br />
Bibelstudium trifft und die Beteiligten beispielsweise sagen: „Ich verstehe diesen<br />
oder jenen alttestamentlichen Abschnitt anders <strong>als</strong> Paulus“? Würde eine solche<br />
Aussage bedeuten, daß das Vertrauen zu Paulus verloren gegangen ist?<br />
3. Wie stünde es um unsere Fähigkeit zur Zusammenarbeit, wenn wir jede<br />
Bibelauslegung dem Gesetz des einen, der zwei und der zehn bewußt<br />
unterordneten? Würden unsere missionarischen Bemühungen dadurch eher<br />
gehindert oder gefördert werden?<br />
236
Kapitel 19<br />
Zahlen, Stammbäume, Daten<br />
Übersicht: Bezüglich der biblischen Zahlenangaben, Stammbäume und Daten<br />
sollten wir kein höheres Maß an Genauigkeit erwarten, <strong>als</strong> die Bibel selbst liefert. Da<br />
flüchtiges Lesen zu vorschnellen Schlußfolgerungen führen kann, die sich bei<br />
genauer Betrachtung des Textes nicht aufrechterhalten lassen, sollte die Gemeinde<br />
Raum dafür schaffen, daß sowohl der flüchtige wie auch der sorgfältig prüfende<br />
Leser mit seinen jeweiligen Ergebnissen leben kann. Vielleicht kann es uns helfen,<br />
Zahlen, Stammbäume und Daten <strong>als</strong> interessant oder sogar faszinierend einzustufen,<br />
aber nicht <strong>als</strong> wirklich wichtig oder entscheidend – und es dabei bewenden zu lassen.<br />
Schlüsseltexte<br />
1. Mose 15,13-16: „Da sprach der Herr zu Abram: Das sollst du wissen, daß<br />
deine Nachkommen werden Fremdlinge sein in einem Lande, das nicht das ihre ist;<br />
und da wird man sie zu dienen zwingen und plagen vierhundert Jahre. Aber ich will<br />
das Volk richten, dem sie dienen müssen. Danach sollen sie ausziehen mit großem<br />
Gut. Und du sollst fahren zu deinen Vätern mit Frieden und in gutem Alter begraben<br />
werden. Sie aber sollen erst nach vier Menschenaltern wieder hierher kommen; denn<br />
die Missetat der Amoriter ist noch nicht voll.“ (eigene Hervorhebung)<br />
1. Chronik 2,1-20: „Dies sind die Söhne Israels: Ruben, Simeon, Levi [1], Juda<br />
[1], Issaschar, Sebulon, Dan, Josef [1], Benjamin, Naftali, Gad, Asser. Die Söhne<br />
Judas [1] sind: Er, Onan, Schela. Diese drei wurden ihm geboren von der<br />
Kanaaniterin, der Tochter Schuas. Er aber, der Erstgeborene Judas, war böse vor<br />
dem Herrn; darum ließ er ihn sterben. Tamar aber, seine Schwiegertochter, gebar ihm<br />
Perez [2] und Serach, so daß die Söhne Judas zusammen fünf waren. Die Söhne des<br />
Perez [2] sind: Hezron [3] und Hamul. Die Söhne Serachs aber sind: Simri, Etan,<br />
Heman, Kalkol, Darda. Das sind zusammen fünf. Der Sohn Karmis ist: Achan, der<br />
Israel ins Unglück brachte, <strong>als</strong> er sich am Gebannten vergriff. Der Sohn Etans ist:<br />
Asarja. Die Söhne Hezrons [3] aber, die ihm geboren wurden, sind: Jerachmeel, Ram<br />
[4], Kaleb [4]. Ram aber zeugte Amminadab [5]. Amminadab [5] zeugte Nachschon<br />
[6], den Fürsten von Juda. Nachschon [6] zeugte Salmon [7]. Salmon [7] zeugte Boas<br />
[8]. Boas [8] zeugte Obed [9]. Obed [9] zeugte Isai [10]. Isai zeugte seinen<br />
Erstgeborenen Eliab, Abinadab <strong>als</strong> zweiten Sohn, Schajma <strong>als</strong> dritten, Netanel <strong>als</strong><br />
238
ZAHLEN, STAMMBÄUME, DATEN<br />
vierten, Raddai <strong>als</strong> fünften, Ozem <strong>als</strong> sechsten, David [11] <strong>als</strong> siebenten. Und ihre<br />
Schwestern waren: Zeruja und Abigal. Die Söhne der Zeruja sind: Abischai, Joab,<br />
Asael, diese drei. Abigal aber gebar Amasa. Der Vater Amasas aber war Jeter, ein<br />
Ismaeliter. Kaleb [4] , der Sohn Hezrons [3], zeugte mit Asuba, seiner Frau, die<br />
Jeriot. Und dies sind ihre Söhne: Jescher, Schobab und Ardon. Als aber Asuba starb,<br />
nahm Kaleb [4] Efrata; die gebar ihm Hur [5]. Hur [5] zeugte Uri [6]. Uri zeugte<br />
Bezalel [7].“<br />
1. Chronik 5,27-29: „Die Söhne Levis [1] waren: Gerschon, Kehat [2] und<br />
Merari. Die Söhne Kehats [2] aber waren: Amram [3], Jizhar, Hebron und Usiel. Die<br />
Söhne Amrams [3] waren: Aaron [4] und Mose [4]; dazu Mirjam. Die Söhne Aarons<br />
[4] waren: Nadab, Abihu, Eleasar und Itamar.“<br />
1. Chronik 7,23-27: „Und er (Ephraim [2]) ging ein zu seiner Frau; die ward<br />
schwanger und gebar einen Sohn, den nannte er Beria [3], weil in seinem Hause<br />
Unglück war. Seine Tochter aber war Scheera, die baute das untere und obere Bet-<br />
Horon und Usen-Scheera. Sein Sohn war Refach [4], auch Reschef [5], dessen Sohn<br />
war Telach [6], dessen Sohn war Tahan [7], dessen Sohn war Ladan [8], dessen Sohn<br />
war Ammihud [9], dessen Sohn war Elischama [10], dessen Sohn war Nun [11],<br />
dessen Sohn war Josua [12].“<br />
4. Mose 1,45-46: „Und die Summe der Israeliten nach ihren Sippen, von zwanzig<br />
Jahren an und darüber, alles, was wehrfähig war in Israel, war 603.550.“<br />
4. Mose 3,43: „Und die Zahl der Namen aller männlichen Erstgeburt, einen<br />
Monat alt und darüber, betrug 22.273.“<br />
4. Mose 3,27-28: „Dies sind die Geschlechter von Kehat [2]: die Amramiter [3],<br />
die Jizhariter, die Hebroniter und die Usieliter, alles, was männlich war, einen Monat<br />
alt und darüber, an Zahl 8.600, die den Dienst am Heiligtum versehen.“<br />
Matthäus 1,1-17: „Dies ist das Buch von der Geschichte Jesu Christi, des Sohnes<br />
Davids, des Sohnes Abrahams. Abraham [1] zeugte Isaak [2]. Isaak [2] zeugte Jakob<br />
[3]. Jakob zeugte Juda [4] und seine Brüder. Juda [4] zeugte Perez [5] und Serach<br />
mit der Tamar. Perez [5] zeugte Hezron [6]. Hezron [6] zeugte Ram [7]. Ram [7]<br />
zeugte Amminadab [8]. Amminadab [8] zeugte Nachschon [9]. Nachschon [9] zeugte<br />
Salmon [10]. Salmon [10] zeugte Boas [11] mit der Rahab. Boas [11] zeugte Obed<br />
[12] mit der Rut. Obed [12] zeugte Isai [13]. Isai [13] zeugte den König David [14].<br />
David [14] zeugte Salomo [1] mit der Frau des Uria. Salomo [1] zeugte Rahabeam<br />
[2]. Rehabeam [2] zeugte Abija [3]. Abija [3] zeugte Asa [4]. Asa [4] zeugte<br />
Joschafat [5]. Joschafat [5] zeugte Joram [6]. Joram [6] [vgl. 1. Chronik 3,11-12:<br />
Ahasja (6a), Joasch (6b), Amazja (6c)] zeugte Usija [7]. Usija [7] zeugte Jotam [8].<br />
Jotam [8] zeugte Ahas [9]. Ahas [9] zeugte Hiskia [10]. Hiskia [10] zeugte<br />
239
INSPIRATION<br />
Manasse [11]. Manasse [11] zeugte Amon [12]. Amon [12] zeugte Josia [13]. Josia<br />
[13] zeugte Jojachin [14] und seine Brüder um die Zeit der babylonischen<br />
Gefangenschaft. Nach der babylonischen Gefangenschaft zeugte Jojachin [14]<br />
Schealtiel [1]. Schealtiel [1] zeugte Serubbabel [2]. Serubbabel [2] zeugte Abihud<br />
[3]. Abihud [3] zeugte Eljakim [4]. Elkakim [4] zeugte Asor [5]. Asor [5] zeugte<br />
Zadok [6]. Zadok [6] zeugte Achim [7]. Achim [7] zeugte Eliud [8]. Eliud [8] zeugte<br />
Eleasar [9]. Eleasar [9] zeugte Mattan [10]. Mattan [10] zeugte Jakob [11]. Jakob<br />
[11] zeugte Josef [12], den Mann der Maria, von der geboren ist Jesus, der da heißt<br />
Christus. Alle Glieder von Abraham bis zu David sind vierzehn Glieder [tatsächliche<br />
Gesamtzahl: mindestens 21 Generationen, da 7 Generationen aus 1. Chronik 7,23-<br />
27 hinzuzufügen sind; danach gehört Josua zur 12. Generation seit Jakob (Mose<br />
aber zur vierten)]. Von David bis zur babylonischen Gefangenschaft sind vierzehn<br />
Glieder [tatsächliche Gesamtzahl: mindestens 17 Generationen, da drei<br />
Generationen aus 1. Chronik 3,11.12 hinzuzufügen sind]. Von der babylonischen<br />
Gefangenschaft bis zu Christus sind vierzehn Glieder [Lukas 3 beinhaltet Namen (die<br />
alle anders lauten außer Schealtiel und Serubbabel), die zusammen 23 Generationen<br />
für dieselbe Periode ergeben].“ (eigene Hervorhebung)<br />
Todlangweilig – aber gefährlich!<br />
Ihr habt einen Blick auf die Schlüsseltexte geworfen und dann dieses Kapitel beinahe<br />
überblättert – stimmt’s? Deshalb wollte ich dieses Kapitel eigentlich gar nicht erst in<br />
mein Buch aufnehmen. Langweilig, theoretisch, trocken – das sind Worte, die etwa<br />
das umschreiben, was wir in diesem Kapitel betrachten werden.<br />
Wer aber erst einmal bis hierher vorgestoßen ist, sollte mutig weitermachen.<br />
Zunächst wollen wir uns zwei allgemeinen Problemen zuwenden, um uns danach mit<br />
der Materie näher zu befassen.<br />
1. Der Unterschied zwischen flüchtigem (nicht-analytischem) und sorgfältig<br />
prüfendem (analytischem) Lesen. Flüchtige Leser mögen komplexere Probleme, die<br />
im Hintergrund lauern, übersehen. Infolgedessen können scheinbar eindeutige<br />
Schlüsse sich <strong>als</strong> f<strong>als</strong>ch erweisen, sobald genauere Befunde aus der Schrift vorliegen.<br />
Angesichts der Unterschiedlichkeit unserer Gemeindeglieder bin ich dafür, daß<br />
wir sowohl flüchtigen wie auch sorgfältig prüfenden Lesern Raum gewähren.<br />
Deshalb sollten wir tunlichst vermeiden, oberflächliche Erkenntnisse durch<br />
eindringliche Warnungen oder schweres dogmatisches Geschütz einzuhämmern.<br />
Genau das aber ist zu befürchten, wenn sich gläubige Menschen vor dem „rutschigen<br />
Abhang“ oder dem Domino-Effekt fürchten.<br />
240
ZAHLEN, STAMMBÄUME, DATEN<br />
2. Die Gefahr, Beweisführungen auf flüchtigem Lesen aufzubauen. Verbindet sich<br />
flüchtiges Lesen mit der Angst vor dem „rutschigen Abhang“, so besteht die Gefahr,<br />
daß zweitrangigen Dingen allzu große Bedeutung beigemessen wird. Werden dann<br />
diese unwesentlichen Aspekte dazu verwendet, die Gültigkeit der Schrift zu<br />
„beweisen“, ist der Glaube in Gefahr, sobald das flüchtige Lesen einer sorgfältigen<br />
und prüfenden Betrachtung weicht.<br />
Die Bibel selbst scheint uns zu warnen vor einer zu starken Gewichtung von<br />
Zahlen, Stammbäumen und Daten. Wir sollten Zahlen und Geschlechtsregister <strong>als</strong><br />
interessant und vielleicht sogar faszinierend einstufen, niem<strong>als</strong> aber <strong>als</strong> wirklich<br />
wichtig oder entscheidend. Denn sonst könnten uns Befürchtungen daran hindern,<br />
vernünftige Schlüsse zu ziehen. Deren Fehlen wiederum könnte unsere<br />
Befürchtungen zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen werden lassen.<br />
Amrams Brüder waren sehr produktiv<br />
Zur Einführung wollen wir die Geschichte aufgreifen, die den Anlaß zu dieser<br />
Überschrift gegeben hat. Sie veranschaulicht, wie der Unterschied zwischen<br />
flüchtigem und sorgfältig prüfendem Lesen zu Schwierigkeiten führen kann.<br />
Wenn einem durchschnittlichen Gemeindeglied die Frage gestellt würde, wie<br />
viele Menschen seinerzeit aus Ägypten auszogen, lautete die Antwort<br />
wahrscheinlich: „Millionen“. Wir könnten diese Vorstellung sogar <strong>als</strong> biblisch<br />
begründet erachten. In 2.Mose 12,37 lesen wir, daß unter Moses Führung 600.000<br />
Mann ohne Frauen und Kinder von Ägypten auszogen. 4. Mose 1,46 nennt eine Zahl<br />
von 603.550 und bezieht sie auf Männer, die 20 Jahre alt und darüber waren.<br />
Ähnliche Zahlen finden wir in 2. Mose 38,26 sowie in 4. Mose 2,32; 11,21 und<br />
26,51. Zählen wir Frauen und Kinder dazu, so ergibt sich eine Gesamtzahl von<br />
ungefähr zwei Millionen (vgl. PP 308) oder, allgemeiner ausgedrückt, von<br />
„Millionen“ (vgl. PP 391).<br />
Lesen wir jedoch 4. Mose 3,43 sorgfältig, so staunen wir, daß die Zahl der<br />
männlichen Erstgeborenen im Alter von einem Monat und darüber 22.273 betrug.<br />
Diese Feststellung ist hochinteressant. Wenn wir annehmen, daß beide Zahlen<br />
korrekt sind (nämlich 603.550 männliche Erwachsene im Alter von über 20 Jahren<br />
sowie 22.273 männliche Erstgeborene im Alter von einem Monat und darüber),<br />
können wir die männlichen Erwachsenen auf 22.273 Familien aufteilen. Das Resultat<br />
hinsichtlich der Familienglieder sähe dann folgendermaßen aus:<br />
27 männliche + 27 weibliche Erwachsene pro Familie<br />
13 männliche + 13 weibliche Jugendliche pro Familie<br />
(geschätzte Zahl von 300.000 männlichen Jugendlichen unter 20 Jahren)<br />
241
INSPIRATION<br />
80 Kinder pro Familie im Durchschnitt.<br />
Gehen wir bezüglich der Durchschnittszahlen noch einen Schritt weiter. Wieviele<br />
Kinder hatten Amram und Jochebed? Wir hören von 2 Söhnen: Aaron und Mose<br />
(2. Mose 6,20) und einer Tochter, Mirjam (2. Mose 15,20). Falls es in dieser Familie<br />
nur drei Kinder gab, müßte die nächste Familie 157 Nachkommen gehabt haben, um<br />
den Durchschnitt wieder zu erreichen.<br />
Um es noch anschaulicher zu machen: In 4. Mose 3,27-28 (siehe Schlüsseltexte)<br />
lesen wir, daß Amram und seine drei Brüder (Jizhar, Hebron und Usiel) zur Zeit des<br />
Auszugs aus Ägypten 8.600 männliche Nachkommen hatten (einen Monat alt und<br />
darüber); das ergibt einen Durchschnitt von 2.150 pro Familie. Zählen wir die<br />
weiblichen Nachkommen dazu, ergibt dies einen Durchschnitt von 4.300 Kindern pro<br />
Familie. Der Begriff „produktiv“ wäre hier wohl eine Untertreibung! Wenn aber<br />
Amram nur zwei Söhne hatte, so hätte jeder seiner drei Brüder noch 700 weitere<br />
Söhne und die entsprechende Zahl von Töchtern zeugen müssen.<br />
Entweder stimmt mit diesen Zahlen etwas nicht, oder Amram war nicht Moses<br />
Vater, sondern vielleicht sein Ururururgroßvater (die Anzahl Generationen ist nur<br />
eine grobe Schätzung). Sowohl Zahlen wie Stammbäume spielen bei diesem Problem<br />
eine Rolle. Und es gibt weitere indirekte Hinweise aus der Schrift, daß die Zahl der<br />
Menschen, die Ägypten verließ, kleiner <strong>als</strong> zwei Millionen war.<br />
Aber da stellen wir plötzlich fest, daß wir uns an drei „rutschigen Abhängen“<br />
befinden. Bevor wir weitergehen, wollen wir sie hier gleich beim Namen nennen, um<br />
mögliche Angstreaktionen zu vermeiden.<br />
1. Vertrauen in die Bibel – Wenn wir der Bibel hier nicht vertrauen können, wie<br />
ist es dann anderswo?<br />
2. Glaube an Wunder – Wenn wir die Zahl der aus Ägypten ausziehenden<br />
Menschen vermindern, wird damit das wunderbare Eingreifen Gottes in der Bibel<br />
infragegestellt?<br />
3. Vertrauen in Ellen White – Wenn Ellen White die Zahl von zwei Millionen<br />
nennt und wir folgern, daß es erheblich weniger gewesen sind, ist sie dann <strong>als</strong><br />
inspirierte Schreiberin noch glaubwürdig?<br />
Die Frage bezüglich Ellen White wird speziell im Anhang D angesprochen. Wir<br />
sollten uns aber darüber klar sein, daß dieselben „Probleme“ auch in der Bibel<br />
vorhanden sind. In beiden Fällen stellt sich die grundlegende Frage, ob<br />
Glaubwürdigkeit absolute Vollkommenheit voraussetzt. Betrachtet man die Bibel <strong>als</strong><br />
philosophische Abhandlung, <strong>als</strong> wissenschaftliches Dokument oder <strong>als</strong> Niederschrift<br />
göttlicher Worte, dann könnte man vielleicht von einem fatalen Fehler sprechen. Ist<br />
aber die Bibel mehr ein Familienrundbrief oder der Brief eines lieben Freundes und<br />
242
ZAHLEN, STAMMBÄUME, DATEN<br />
bestimmen wir ihre Glaubwürdigkeit in der gleichen Weise wie bei jeder anderen<br />
Person, dann ist absolute Vollkommenheit nicht erforderlich, ja sie könnte sich sogar<br />
kontraproduktiv auswirken. „Die Bibel wird uns nicht in großartiger<br />
übermenschlicher Sprache vermittelt,“ schrieb Ellen White. „Um jeden zu erreichen,<br />
wurde Jesus Mensch. Die Bibel mußte <strong>als</strong>o in der Sprache des Menschen<br />
geschrieben werden. Alles aber, was menschlich ist, ist auch unvollkommen.“ (1 FG<br />
20) Einige mir wertvolle Menschen sind mir noch wertvoller geworden, seitdem ich<br />
ihre vermeintlichen Fehler und Unvollkommenheiten <strong>als</strong> Teil einer neuen Schönheit<br />
anzusehen gelernt habe. Ich nehme an, daß dies in einer vollkommenen Welt nicht<br />
mehr so sein wird. Aber in unserer gefallenen Welt hat uns Gott die Möglichkeit<br />
gegeben, das Gewöhnliche und Unangenehme <strong>als</strong> eine Quelle von Schönheit und<br />
Segen zu erfahren.<br />
Im ersten Teilabschnitt von Für die Gemeinde geschrieben, Band 1, geht es Ellen<br />
White gerade darum, uns eine solche Botschaft über die Bibel zu vermitteln. Gern<br />
möchte sie ihre Leser zu solch einer Erfahrung mit Gott führen und somit erreichen,<br />
daß die Bibel <strong>als</strong> ein Brief Gottes zu einer wertvollen und ungefährlichen Lektüre für<br />
uns wird. „Ich nehme die Bibel schlicht <strong>als</strong> das, was sie ist: das inspirierte Wort,“<br />
schreibt sie. Und weiter: „Die Menschen sollten Gott selbst für sein Buch und seine<br />
lebendigen Weissagungen sorgen lassen, wie er es seit jeher getan hat.“ Oder:<br />
„Brüder, haltet fest an der Bibel, wie sie niedergeschrieben ist, und gebt eure Kritik<br />
an ihrer Zuverlässigkeit auf. Gehorcht dem Wort, und keiner von euch wird verloren<br />
gehen.“ (1 FG 17) Abschließend äußert sie ihre Dankbarkeit dafür, daß Gott uns eine<br />
Bibel gab, die einfache wie auch gebildete Menschen anspricht. Besonders<br />
interessant ist ihre Bemerkung bezüglich eines Menschen, der „Fähigkeiten und<br />
geistige Kraft besitzt.“ Der, so stellt sie fest, entdeckt „in den Weissagungen Gottes<br />
Schätze der Wahrheit, schön und wertvoll, die er sich aneignen kann,“ aber auch<br />
„Schwierigkeiten, Geheimnisse und Wunder ..., deren Studium ihn ein Leben lang<br />
tief befriedigen wird, und dennoch gibt es darüber hinaus noch Bereiche des<br />
Unendlichen und Unermeßlichen.“ (1 FG 18) In all diesen Aussagen findet sich nicht<br />
der geringste Hinweis darauf, daß der Gläubige in ständiger Angst vor der<br />
Entdeckung eines fatalen Fehlers leben müßte. Nein, Gott und sein Buch haben ihren<br />
Wert bewiesen. Der Gläubige kann sich sorglos auf beide verlassen.<br />
In diesem Zusammenhang sollten wir uns daran erinnern, daß die Alles-odernichts-Haltung<br />
biblisch nicht zu belegen ist, wenn sie auch von bedeutenden und<br />
hervorragenden Denkern <strong>als</strong> richtig erachtet wurde. John Wesley zum Beispiel<br />
erklärte in einer Zeitschrift vom 24. August 1776: „Wenn es irgendwelche Fehler in<br />
der Bibel gibt, könnten es genauso gut tausend sein. Sollte man darin eine einzige<br />
243
INSPIRATION<br />
Unwahrheit entdecken, so wäre klar, daß dieses Buch nicht von dem Gott der<br />
Wahrheit kommt.“ (Wesley 6:117) Bei allem Respekt für Wesley muß doch gesagt<br />
werden, daß das Alles-oder-nichts-Argument irreführend ist und schlimme Folgen<br />
haben kann. Es spiegelt zwar eine tiefe psychologische Neigung wieder, die durch<br />
den Eifer gläubiger Menschen, die die Bibel verteidigen möchten, oft noch verstärkt<br />
wird. Aber es ist kein Prinzip, das sich aus der Bibel selber ergibt.<br />
Interessanterweise legen wir in unserem täglichen Umgang mit Menschen und<br />
Ereignissen ein pragmatischeres Verhalten an den Tag. Nehmen wir zum Beispiel an,<br />
daß zwei durchaus zuverlässige Studenten ins Klassenzimmer stürmen und rufen, sie<br />
wären soeben Zeugen eines Unfalls gewesen. Der eine behauptet, drei Menschen<br />
seien verletzt, der andere, es habe zwei Verletzte gegeben. Sollte man daraus folgern<br />
dürfen, es habe überhaupt keinen Unfall gegeben? Ganz im Gegenteil: Man käme zu<br />
dem eindeutigen Schluß, daß sich tatsächlich ein Unfall ereignet hat. Nur die<br />
Einzelheiten sind ungewiß.<br />
Handelt es sich aber um die Bibel, so herrscht seltsamerweise die Ansicht vor,<br />
daß ein „Irrtum“ die ganze Botschaft zunichte macht. Genau hier liegt die Gefahr<br />
einer theoretischen Einstellung gegenüber der Inspiration. Die praktische Sicht auf<br />
der Basis des „Inkarnationsmodells“ berücksichtigt die geheimnisvolle<br />
Verschmelzung zwischen Menschlichem und Göttlichem. Deshalb muß uns die<br />
Angst vor fatalen Fehlern in der Bibel nicht länger bedrängen, denn wir können die<br />
Bibel jetzt genauso anerkennen wie den glaubwürdigen Bericht eines zuverlässigen<br />
Freundes.<br />
Wenn wir dagegen das Alles-oder-nichts-Prinzip auf die Bibel anwenden, können<br />
die ersten beiden „rutschigen Abhänge“ (das Vertrauen in die Bibel und der<br />
Wunderglaube) zu einem großen Abgleiten führen und die Gläubigen in die Tiefen<br />
des Agnostizismus und Atheismus stürzen. Denn wie kann man bei fehlendem<br />
Vertrauen in die Bibel ihren Berichten über göttliches Eingreifen in die Geschichte<br />
der Menschen Glauben schenken? Deshalb stellen ja Rationalisten nicht einfach die<br />
Frage, wie viele Leute dam<strong>als</strong> von Ägypten auszogen, sondern ob ein solcher Auszug<br />
überhaupt jem<strong>als</strong> stattgefunden hat (siehe Anhang E).<br />
Zugleich läßt sich aber auch erkennen, daß es etwas anderes ist, die Anzahl der<br />
Personen in Frage zu stellen <strong>als</strong> das Ereignis an sich zu bezweifeln. Wer schon<br />
einmal ein Ferienlager mit einer Gruppe von nur acht Jungen und Mädchen geleitet<br />
hat, der weiß, daß ein kleines Wunder nötig ist, um sie durch die Wildnis zu führen.<br />
Auch eine weit kleinere Anzahl <strong>als</strong> zwei Millionen Israeliten würde immer noch eine<br />
ganze Reihe von Wundern erforderlich machen: Den Durchzug durch das Meer, das<br />
Wasser aus dem Felsen, das Manna – und das wäre erst der Anfang. Wenn auch die<br />
244
ZAHLEN, STAMMBÄUME, DATEN<br />
Frage nach der Anzahl letztlich auf eine Verminderung der geschätzten Zahl von<br />
Israeliten hinausläuft, so wird doch das Wunder des Auszugs dadurch keineswegs<br />
geschmälert. Und wenn wir auf diese Weise einige geringfügige rationale<br />
Schwierigkeiten aus dem Weg räumen können (geringfügig deshalb, weil die<br />
Glaubwürdigkeit des Berichts nicht von unserer Fähigkeit abhängt, diese<br />
Schwierigkeiten aus der Welt zu schaffen), so wird die biblische Geschichte dadurch<br />
eher noch eindrucksvoller.<br />
Befassen wir uns <strong>als</strong>o etwas eingehender mit diesen kleinen rationalen<br />
Schwierigkeiten, die sich aus der Annahme ergeben, daß dam<strong>als</strong> etwa zwei Millionen<br />
Menschen von Ägypten auszogen: Wie konnten so viele Leute in Eile das Rote Meer<br />
durchqueren? Wie konnten sie sich am Berg Sinai lagern? Wie konnten sie Jericho<br />
umkreisen, eine Stadt von nur etwa vier Hektar Land? Wie konnte eine Bevölkerung<br />
von zwei Millionen Menschen in Palästina untergebracht werden, wo doch selbst der<br />
moderne Staat Israel heute (1995) weniger <strong>als</strong> 6 Millionen zählt? Ohne in Frage zu<br />
stellen, ob der Auszug stattgefunden hat, gibt uns doch die Bibel selbst einen<br />
gewissen Anlaß, uns mit der Frage der Anzahl zu beschäftigen.<br />
Professor Dr. Siegfried Horn, Dozent für Altes Testament am <strong>Theologische</strong>n<br />
Seminar der Andrews Universität, hat mich in den 60er Jahren erstm<strong>als</strong> auf dieses<br />
Problem sowie auf mögliche Lösungen aufmerksam gemacht. Ich habe mir<br />
manchmal gewünscht, man hätte unseren Gemeinden eine gedruckte Erklärung in die<br />
Hand gegeben, die eine allzu dogmatische Einstellung in manchen Fragen hätte<br />
abmildern können.<br />
Nicht nur Zahlen, auch Stammbäume hängen mit diesem Problem zusammen. Wir<br />
werden auf beides eingehen. Allerdings blieb Dr. Horn, der uns bei der Lösung des<br />
Problems großer Zahlen im Alten Testament behilflich war, sehr zurückhaltend,<br />
wenn es um Stammbäume ging. Er pflegte dann seine Bibel zur Hand zu nehmen und<br />
zwei Texte aufzuschlagen: „Von törichten Fragen aber, von Geschlechtsregistern ...<br />
halte dich fern“ (Titus 3,9), oder den Rat des Paulus, man solle „nicht achthaben auf<br />
die Fabeln und Geschlechtsregister, die kein Ende haben und eher Fragen<br />
aufbringen, <strong>als</strong> daß sie dem Ratschluß Gottes im Glauben dienen“ (1. Timotheus<br />
1,4). Ich höre noch seinen sympathischen deutsch-holländischen Akzent, wenn er auf<br />
jene Texte hinwies und dann lächelnd sagte: „Ich halte mich daran!“<br />
Was die Anzahl der am Auszug beteiligten Israeliten betrifft, so bestand Horns<br />
erste Antwort darin, daß er einige gegenteilige Hinweise aus der Schrift selbst<br />
anführte. Aus 2. Mose 1,15 zum Beispiel ist zu entnehmen, daß es zur Zeit der<br />
Geburt Moses zwei Hebammen gab, die den Hebräern zur Verfügung standen,<br />
nämlich Schifra und Pua. Wie groß stellen wir uns eine Bevölkerung vor, die mit nur<br />
245
INSPIRATION<br />
zwei Hebammen auskommt? Ist da zu erwarten, daß 80 Jahre später eine Population<br />
von zwei Millionen anzutreffen ist? Das ist sehr unwahrscheinlich.<br />
Dann wies er auf 5. Mose 7 hin, d. h. auf Mahnungen, die Mose gegen Ende<br />
seines Lebens an Israel richtete. Dort, an der Grenze zu Kanaan, gab er dem Volk<br />
letzte Ratschläge und warnte vor Gefahren, die beim Einzug in Kanaan lauern<br />
würden. Dabei erwähnte er „sieben Völker, die größer und stärker sind <strong>als</strong> du“ (5.<br />
Mose 7,1) und nannte Israel „das kleinste unter allen Völkern“ (Vers 7). Und<br />
schließlich verhieß Mose: „Der Herr, dein Gott, wird diese Leute ausrotten vor dir,<br />
einzeln nacheinander. Du kannst sie nicht auf einmal vertilgen, damit sich nicht die<br />
wilden Tiere wider dich vermehren.“ (Vers 22) Das klingt nicht so, <strong>als</strong> richtete sich<br />
Mose an ein Volk von zwei Millionen Menschen.<br />
Unsere Probleme lassen sich am ehesten lösen, wenn wir von einer kleineren Zahl<br />
ausgehen und uns dabei auf folgende Befunde stützen: (1) die 22.273 männlichen<br />
Erstgeborenen, (2) den Hinweis aus 2. Mose 1, daß Israel 80 Jahre früher von nur<br />
zwei Hebammen betreut wurde, und (3) die Konsequenz der Behauptung, Israel sei<br />
„das kleinste unter allen Völkern.“<br />
Wenn ich diese Illustrationen im Unterricht behandle, geben sich manche<br />
Studenten alle erdenkliche Mühe, die Zahlen miteinander in Einklang zu bringen,<br />
nämlich die 600.000 männlichen Erwachsenen und die 22.273 Erstgeborenen. Sie<br />
möchten es nicht auf sich beruhen lassen, daß eine der beiden Zahlen f<strong>als</strong>ch sein<br />
könnte.<br />
Warum ließ der Herr aber solche Unterschiede zu? Meines Erachtens will er uns<br />
zeigen, daß die Zahl der am Auszug Beteiligten nicht so wichtig ist. Gott führte eine<br />
buntgemischte Menge aus Ägypten, vollbrachte ein Wunder nach dem andern in der<br />
Wüste und ließ sie schließlich nach Kanaan gelangen. Das ist die Hauptsache an der<br />
Geschichte. Und darauf kommt es an.<br />
Wenn ich mir im Unterricht die Zeit nehme, die Stammbäume oder die Anzahl<br />
der am Exodus Beteiligten zu besprechen, sage ich meinen Studenten, daß wir uns<br />
nur so viel Zeit nehmen, wie wir benötigen – gerade um sie zu überzeugen, daß es<br />
nicht zwingend ist, für solche Dinge viel Zeit zu investieren! Oder anders<br />
ausgedrückt: Die Schlußfolgerung, daß Zahlen nicht so wichtig sind, ist so wichtig,<br />
daß ich zwei volle Unterrichtseinheiten dafür benötige, um sie davon zu überzeugen.<br />
Wir wollen uns nun bezüglich Zahlen, Stammbäumen und Daten einigen<br />
speziellen Fragen zuwenden. Dabei werden wir auf zusätzliches Material stoßen, das<br />
ein Hinweis dafür ist, daß gewisse im Alten Testament genannte Zahlen verzerrt<br />
worden sind. Wenn wir uns die Stammbäume ansehen, müssen wir uns vertraut<br />
machen mit der Möglichkeit, daß Amram und Jochebed die Vorfahren des Moses,<br />
246
ZAHLEN, STAMMBÄUME, DATEN<br />
jedoch nicht seine Eltern waren. Wie wir noch sehen werden, können Stammbäume<br />
in einem weiteren Sinne die Herkunftslinie anzeigen, müssen <strong>als</strong>o nicht unbedingt<br />
auf unmittelbare Abstammung hinweisen. So gibt es eine biblische Stammbaumliste,<br />
in welcher Mose in der vierten Generation nach Jakob figuriert; eine andere setzt<br />
Bezalel in die siebente Generation, und wieder eine andere rechnet Josua der<br />
zwölften Generation zu. Alle drei Männer waren jedoch Zeitgenossen.<br />
Interessanterweise werden bei der Erzählung von Moses Geburt weder Amram,<br />
Jochebed noch Mirjam mit Namen genannt. Die Geschichte beginnt lediglich mit den<br />
Worten: „Und es ging hin ein Mann vom Hause Levi und nahm ein Mädchen aus<br />
dem Hause Levi zur Frau.“ (2. Mose 2,1) Und wenn schon die Anzahl der<br />
Generationen zwischen Amram und Mose ungewiß ist, könnte es schließlich nötig<br />
werden, erneut einen Blick auf den Zeitpunkt des Auszugs zu werfen.<br />
Das Problem der großen Zahlen im Alten Testament<br />
Ein ausschlaggebender Faktor bei der Beurteilung alttestamentlicher Zahlen ist die<br />
Mehrdeutigkeit des hebräischen Wortes ‘aleph, das meist mit „tausend“<br />
wiedergegeben wird. Es kann auf vier verschiedene Arten übersetzt werden: (1) Rind<br />
– „... unsere Rinder, daß sie tragen ohne Schaden und Verlust“ (Psalm 144,14); (2)<br />
Sippschaft oder Stadt – „... die du klein bist unter den Städten in Juda“ (Micha 5,1);<br />
(3) (Ober-)Haupt – „... was willst du sagen, wenn er die über dich zum Haupt<br />
bestellen wird, die du <strong>als</strong> Freunde an dich gewöhnt hast?“ (Jeremia 13,21; vgl. das<br />
Zitat von Micha 5,1 bei Matthäus: „Und du, Bethlehem, Land Juda, bist keineswegs<br />
die geringste unter den Fürsten Judas“ (Matthäus 2,6 ElbÜ); und (4) Tausend – „...<br />
das du klein unter den Tausendschaften von Juda bist“ (Micha 5,1 ElbÜ).<br />
Die Auswirkung dieser Mehrdeutigkeit könnte bedeutsam werden, wenn über<br />
Kriegsteilnehmer berichtet oder gelesen wird. Unter ein und demselben Begriff kann<br />
man tausend Mann, ein Oberhaupt oder eine Kampfeinheit verstehen. Man muß den<br />
Bericht genau ansehen und sich fragen: Waren das 100.000 Soldaten, die in den<br />
Kampf zogen? Oder 100 Kampfeinheiten? Oder vielleicht 100 Oberhäupter? Die<br />
Übersetzungsmöglichkeiten von Micha 5,1 spiegeln die Mehrdeutigkeit des<br />
genannten Wortes wider. Die eine Bibelübersetzung spricht von Tausendschaften,<br />
eine andere von Städten, und Matthäus, der aus dem Hebräischen ins Griechische<br />
übersetzt, wählt (gemäß der Elberfelder Übersetzung) den Begriff Fürsten.<br />
Obwohl entsprechende Beweise fehlen, müssen wir doch mit der Möglichkeit<br />
rechnen, daß die Mehrdeutigkeit gewisser hebräischer Worte mit den Zahlenwerten<br />
zusammenhängt, d. h. mit Zahlen, die uns manchmal viel zu hoch erscheinen. Die<br />
247
INSPIRATION<br />
großartigen Wunder bleiben in jedem Fall Wunder, auch wenn dabei keine so große<br />
Zahl von Menschen vorausgesetzt wird. Die Bibel selbst deutet darauf hin, daß wir<br />
ihr gegenüber ein gewisses Maß an Flexibilität an den Tag legen sollten.<br />
Eine sorgfältige Untersuchung über die Zahlen in der Bibel führt, so scheint mir,<br />
zu der Erkenntnis, daß wir den inspirierten Verfassern eine gewisse Bandbreite<br />
zugestehen sollten. Mit anderen Worten: Bei eingehender Untersuchung dieser Frage<br />
werden wir herausfinden, wann und wo wir von den inspirierten Autoren keine<br />
Zahlenpräzision zu erwarten haben.<br />
Manchmal lassen sich auch kleine Zahlen nicht in Übereinstimmung bringen. So<br />
geht beispielsweise aus den synoptischen Evangelien nicht klar hervor, ob der Hahn<br />
ein- oder zweimal krähte, bevor Petrus seinen Herrn zum dritten Mal verleugnete<br />
(siehe Kapitel 16). Dewey Beegle vertritt den Standpunkt, daß das nicht so wichtig<br />
ist: „Was macht es wirklich aus, wenn die anderen Evangelisten, Matthäus und<br />
Lukas, der allgemeinen Tradition folgen, die besagt, der Hahn habe nur einmal<br />
gekräht (während Markus sagt, der Hahn habe zweimal gekräht)? Alle drei<br />
Evangelien enthalten die notwendigen historischen Elemente, um uns die Wahrheit<br />
des Geschehens zu vermitteln, nämlich die Voraussage der Verleugnung und<br />
Großtuerei des Petrus, die Erfüllung der Voraussage, und die Reue von Petrus im<br />
Gedenken an Jesu Worte.“ (Beegle 193; zitiert in Lindsell, The Battle for the Bible<br />
174)<br />
Ich glaube, daß Dewey Beegle im Prinzip recht hat. Dem kann aber Harold<br />
Lindsell, der Verteidiger der Irrtumslosigkeit der Bibel, nicht beipflichten: „Es ist<br />
dieselbe alte Geschichte: Laßt euch von den Einzelheiten, die f<strong>als</strong>ch sein können,<br />
nicht beeinflussen; was die Schreiber sagen wollten, ergibt sich trotz der<br />
Fehlerhaftigkeit aus den voneinander abweichenden Berichten. Wie stellen wir uns<br />
zu dieser Herausforderung?“ (Lindsell 174) Lindsell stellt uns dann seinen<br />
Harmonisierungsvorschlag vor, wonach der Hahn dreimal krähte und Petrus seinen<br />
Herrn sechsmal verleugnete.<br />
Während Lindsell nicht bereit ist, diese Art Flexibilität bei inspirierten Schreibern<br />
gelten zu lassen, behandelt er andererseits gewisse Einzelheiten mit einer<br />
Sorglosigkeit, die die wissenschaftliche Kompetenz konservativer Christen schon oft<br />
in Mißkredit gebracht hat. Auf den Seiten 36 und 37 seines Buches The Battle for the<br />
Bible läßt Lindsell vage durchblicken, daß er mit dem Problem des hebräischen<br />
Wortes „tausend“ vertraut ist. Dabei macht er geltend, daß „eine fehlerhafte<br />
Abschrift etwas völlig anderes ist <strong>als</strong> ein biblischer Irrtum.“ Dann fährt er fort:<br />
„Ferner ist immer anerkannt worden, daß die hebräischen Zahlen ein Problem<br />
darstellen, weil die Unterschiede zwischen den hebräischen Begriffen für ‚hundert‘<br />
248
ZAHLEN, STAMMBÄUME, DATEN<br />
und ‚tausend‘ so geringfügig sind, daß eine vielbenutzte alte Handschrift f<strong>als</strong>ch<br />
gelesen werden kann.“<br />
Falls Lindsell das oben beschriebene Wortproblem bezüglich der Zahl Tausend<br />
ansprechen wollte, hätte er schlicht und einfach sagen sollen, daß der hebräische<br />
Begriff für „tausend“ mehrdeutig ist, und nicht, daß die Worte für „hundert“ und<br />
„tausend“ sich ähnlich sind. Im Hebräischen gleichen sich die Worte für „hundert“<br />
und „tausend“ nämlich nicht mehr <strong>als</strong> die entsprechenden englischen oder deutschen<br />
Begriffe und würden wohl nie Anlaß zur Verwechslung geben. (Das Wort für<br />
„tausend“ heißt ‘aleph, dasjenige für „hundert“ me’ah.)<br />
Vielleicht sollte ich mit Lindsell nicht so hart umgehen. Aber mir scheint, daß<br />
sein Argument irreführend ist und daß es dabei um erheblich mehr geht <strong>als</strong> das einoder<br />
zweimalige Krähen des Hahns anläßlich der Verleugnung des Petrus. Vielleicht<br />
könnte man sagen, Lindsells „Ausrutscher“ sei eher mit der Vergeßlichkeit des<br />
Paulus zu vergleichen, der zunächst behauptete, er habe niemanden in Korinth<br />
getauft – und sich dann doch an etliche erinnerte (1. Korinther 1,14-16). Oder mit<br />
dem Autor des Hebräerbriefes, der Psalm 8 zitierte, sich aber nicht an die Bibelstelle<br />
erinnerte und deshalb einfach sagte: „Es bezeugt aber einer an einer Stelle.“ (Hebräer<br />
2,6) Oder wir können an Matthäus denken (oder war es Jesus selbst?), der auf den<br />
Mord an Sacharja, den Sohn Berechjas, hinwies (Matthäus 23,35), dabei aber<br />
Sacharja, den Sohn des Priesters Jojada meinte (2. Chronik 24,20). Oder vielleicht<br />
auch an Matthäus, wie er sich auf Jeremia bezog, in Wirklichkeit aber Sacharja<br />
zitierte (Matthäus 27,9.10; frei bezugnehmend auf Sacharja 11,12.13).<br />
Ist der „rutschige Abhang“ so gefährlich, daß wir den biblischen Schreibern die<br />
natürlichen menschlichen Schwächen nicht zugestehen können? Würde ich an die<br />
Irrtumslosigkeit der Bibel glauben, so wäre ich sicherlich über die hier gemachten<br />
Äußerungen sehr beunruhigt. Das erklärt auch, weshalb ich dieses Kapitel anfänglich<br />
gar nicht schreiben wollte. Viele Adventisten vertreten die Irrtumslosigkeit der Bibel<br />
bewußt oder unbewußt, wie übrigens auch die Mehrheit aller Amerikaner.<br />
Leider wird dieses Thema stets brisant bleiben. Deshalb hielt ich es für besser,<br />
dieses Kapitel erst gegen Ende des Buches unterzubringen. Ich wünschte, wir<br />
könnten die Eigenheiten der Bibelschreiber einfach <strong>als</strong> solche akzeptieren, ohne zu<br />
meinen, sie oder wir müßten deshalb kopfstehen und ihnen unser Verständnis von<br />
Inspiration aufzwingen, obwohl das mit den tatsächlichen Gegebenheiten überhaupt<br />
nicht in Einklang zu bringen ist!<br />
Haben wir aber erst einmal den Drang überwunden, alle Einzelheiten zu<br />
harmonisieren, dann werden wir auch die Furcht verlieren und können uns der<br />
vordringlichen Aufgabe zuwenden, nämlich die wesentliche Botschaft der Schrift zu<br />
249
INSPIRATION<br />
vernehmen, um Gottes Willen zu verstehen, so daß seine Wahrheit in uns lebendig<br />
werden kann.<br />
Wer die Bedeutung des bisher Besprochenen erfaßt hat, stellt nun vielleicht eine<br />
ganz praktische Frage: Wenn wir zu dem Schluß kommen, daß Amram und Jochebed<br />
nicht die Eltern Moses, sondern seine Vorfahren waren, wie sollen wir dann mit der<br />
biblischen Geschichte umgehen? Was sollen wir den Kindern in der Sabbatschule<br />
und unseren eigenen Kindern daheim erzählen über die Eltern des Kindes, das aus<br />
dem Wasser gezogen wurde? Nun, ich nehme an, Amram und Jochebed werden<br />
bleiben, was sie bisher für uns waren, zumal uns ja die Bibel – vordergründig<br />
betrachtet – unmittelbar zu diesem Schluß führt. Irgendwann aber müssen unsere<br />
Kinder und unsere Gemeindeglieder auf das Zahlenproblem aufmerksam gemacht<br />
werden, wenn wir nicht riskieren wollen, daß sie plötzlich Befürchtungen hegen, die<br />
in Wirklichkeit unbegründet sind.<br />
250<br />
Stammbäume<br />
Wir haben schon darauf hingewiesen, daß unsere Vorfahren Stammbäume nicht so<br />
verwendeten wie wir. Die folgende Untersuchung (die teilweise auf dem Artikel von<br />
Lawrence Geraty, „The Genesis Genealogies as an Index of Time“, beruht)<br />
beschreibt einige hervorstechende Merkmale der wichtigsten biblischen<br />
Stammbäume:<br />
1. Die Bibel enthält Stammbäume aus Gründen, die über geschichtliche und<br />
chronologische Betrachtungen weit hinausreichen. Versuchen wir, einige<br />
bedeutende biblische Stammbäume zu interpretieren.<br />
1. Mose 5 und 11: Die Auswirkungen der Sintflut werden veranschaulicht – Die<br />
Namensliste der ersten 20 Patriarchen enthält jeweils das Alter des Patriarchen zur<br />
Zeit der Geburt seines ersten Sohnes sowie sein gesamtes Lebensalter. Diese<br />
Altersangaben scheinen eine chronologische Datierung zu ermöglichen. Da diese<br />
Listen die einzig erhältlichen Zahlen liefern, die uns über die Zeitintervalle zwischen<br />
Schöpfung und Sintflut sowie zwischen Sintflut und Abraham Aufschluß geben<br />
könnten, überrascht es nicht, daß Ausleger diese Zahlen für Zeitberechnungen und<br />
Datierungsversuche herangezogen haben.<br />
Es ist aber durchaus möglich, daß die Altersangaben vor allem deshalb genannt<br />
wurden, um den krassen Einfluß der Sintflut auf das Lebensalter zu zeigen. Vor der<br />
Sintflut erreichten die Patriarchen ein Alter von nahezu 1000 Jahren; nach der<br />
Sintflut verringerte sich die Lebenserwartung drastisch.<br />
Ein weiterer Grund, weshalb wir jenen Zahlen hinsichtlich der chronologischen<br />
Berechnung kein allzu großes Gewicht beimessen dürfen, besteht darin, daß die drei
ZAHLEN, STAMMBÄUME, DATEN<br />
ältesten Textvorlagen zum 1. Buch Mose voneinander abweichende Einzel- und<br />
Gesamtzahlen bezüglich der ersten 20 Patriarchen enthalten:<br />
Masoretischer Text (hebräisch) ............................1.946 Jahre<br />
Samaritanischer Pentateuch (hebräisch) ...............2.247 Jahre<br />
Septuaginta (griechisch) .......................................3.412 Jahre<br />
Der masoretische Text (MT) entspricht der offiziellen jüdischen Bibel. Sein<br />
Name leitet sich von den Masoreten ab, einer Gruppe frommer jüdischer<br />
Schriftgelehrten aus der Zeit zwischen 500-1000 n. Chr. Sie befaßten sich ihr Leben<br />
lang mit der Abschrift der hebräischen Bibel und widmeten sich dieser Aufgabe mit<br />
äußerster Genauigkeit.<br />
Die in den meisten modernen Übersetzungen von 1. Mose 5 und 11 enthaltenen<br />
Altersangaben entsprechen der masoretischen Texttradition. Obwohl die älteste<br />
Handschrift des masoretischen Textes ungefähr aus dem Jahr 1000 n. Chr. stammt<br />
(während des Mittelalters verbrannten die Juden ihre alten Bibeln), wird der<br />
masoretische Text doch hoch geachtet und gilt <strong>als</strong> zuverlässig.<br />
Im Gegensatz zum MT setzt der Samaritanische Pentateuch (SP) dem Alter der<br />
Patriarchen insgesamt etwa 300 Jahre hinzu. Der SP dient <strong>als</strong> unabhängiges Zeugnis<br />
zur generellen Bestätigung des hebräischen Textes. Er ist die Bibel der Samaritaner,<br />
die sie kopierten und unabhängig von der masoretischen Texttradition aufbewahrten,<br />
nachdem sie sich nach dem 5. Jahrhundert v. Chr. von den Juden getrennt hatten<br />
(vgl. 2. Könige 17 und Esra 4). Die älteste uns erhaltene SP-Handschrift ist die<br />
Nablus-Rolle, die auf die frühen christlichen Jahrhunderte zurückgeht. Bezogen auf<br />
alle fünf Bücher Moses weicht der SP an etwa 6.000 Stellen vom MT ab, wobei die<br />
Abweichungen jedoch meist minimal sind. An etwa 1.600 Stellen stimmt er – im<br />
Gegensatz zum MT – mit der Septuaginta überein.<br />
Die Septuaginta (LXX) ist besonders interessant, denn im Vergleich zum MT fügt<br />
sie dem Gesamtalter der Patriarchen 1466 Jahre hinzu. Das ist vor allem darauf<br />
zurückzuführen, daß das Alter der Patriarchen nach der Sintflut jeweils um 100 Jahre<br />
erhöht wurde. Einige Gelehrte versuchen das damit zu erklären, daß einer der<br />
Kopisten glaubte, die Patriarchen der zweiten Periode seien viel zu jung gewesen, <strong>als</strong><br />
ihre ersten Söhne geboren wurden. Deshalb hat man dem Alter eines jeden vor der<br />
Geburt seines ersten Sohnes 100 Jahre hinzugerechnet. Die LXX fügt dem<br />
Stammbaum zwischen den Namen Schelach und Arpachschad noch den Namen<br />
Kenan hinzu – eine Variante, die sich in Lukas 3,36 wiederfindet. Entstanden ist die<br />
LXX etwa 200 Jahre v. Chr; die wichtigsten erhalten gebliebenen Handschriften<br />
wurden von Christen aufbewahrt.<br />
251
INSPIRATION<br />
Zusätzlich zu den Abweichungen zwischen den drei hauptsächlichsten<br />
Textvarianten für das 1. Buch Mose gibt es im Zusammenhang mit jenen frühen<br />
Kapiteln noch einen subtileren Aspekt. Da wird uns nämlich der Eindruck vermittelt<br />
(es ist nur ein Eindruck), daß zwischen Abraham und den früheren Patriarchen eine<br />
große Kluft bestand. Wenn die Anzahl der Jahre im MT richtig ist, dann lebte<br />
Abraham teilweise gleichzeitig mit Sem. Wie war es unter dieser Voraussetzung<br />
möglich, daß Abrahams eigene Familie andern Göttern diente (Josua 24,2); daß<br />
Abraham selber Kinderopfer <strong>als</strong> geeignetes Mittel ansah, um Gott zu dienen – bis<br />
Gott gerade jenes Mittel benutzte, um ihn eines besseren zu belehren; oder daß<br />
Abraham sich eine andere Frau nehmen konnte, ohne das <strong>als</strong> Sünde zu betrachten<br />
(vgl PP 124)?<br />
Es ist typisch für Christen, daß sie sich auf die in Hebräer 11 beschriebene<br />
Glaubenshaltung stützen und diese bewußt oder unbewußt auf die gesamte Bibel<br />
übertragen. Wir könnten dieses Vorgehen <strong>als</strong> „Höhenweg“ bezeichnen, weil es<br />
Beständigkeit und Glauben hervorhebt. Das umgekehrte Vorgehen, der „Talweg“,<br />
der besonders für das Alte Testament bedeutsam ist, läßt uns erkennen, wie tief die<br />
Menschen gefallen waren. Wenn wir, speziell auf Abraham bezogen, davon<br />
ausgehen, daß eine klare und enge Verbindung zwischen den Patriarchen und Adam<br />
bestand, so läßt sich kaum eine Erklärung finden für die erhebliche Differenz<br />
zwischen dem, was Abraham hätte wissen sollen, und seinem tatsächlichen<br />
Verhalten. Es leuchtet mir eher ein, daß er entsprechend seinem eigenen Wissen und<br />
Gewissen handelte und daß die Beziehung zur Linie Adam-Noah-Seth offenbar sehr<br />
vage gewesen sein muß. Das ist jedenfalls mein Eindruck, wenn ich den Bericht über<br />
Abrahams Leben im 1. Buch Mose lese. Aber ich betone, es ist nur ein Eindruck, der<br />
mir jedoch hilft, die Erfahrung Abrahams besser zu verstehen. Zugleich erscheint<br />
dadurch der Gott des Alten Testaments in einem vorteilhaften Licht, nämlich <strong>als</strong> ein<br />
Gott, der seinem Volk, das weit von ihm entfernt ist, mit bemerkenswerter Geduld<br />
begegnet.<br />
Dieser Eindruck einer langen Zeitperiode zwischen Abraham und den früheren<br />
Patriarchen führte einige zu der Vermutung, der Bericht im 1. Buch Mose enthalte<br />
lediglich einige beispielhafte Altersangaben mit dem Ziel, den enormen Einfluß der<br />
Sintflut auf das Leben der Menschen zu erläutern. Daß ein Stammbaum auch Namen<br />
enthalten kann, die lediglich <strong>als</strong> Beispiele dienen sollen, kann vielleicht anhand der<br />
Periode zwischen Jakob und dem Auszug aus Ägypten am besten illustriert werden.<br />
Wie bereits in den Schlüsseltexten sowie in den Ausführungen kurz erwähnt, wird<br />
Mose der vierten Generation, Bezalel der siebenten, und Josua der zwölften<br />
Generation zugerechnet.<br />
252
ZAHLEN, STAMMBÄUME, DATEN<br />
Die Alterszahlen der ersten 20 Patriarchen wurden der Chronologie des Alten<br />
Testaments zugrunde gelegt, die von Erzbischof Ussher in den Jahren 1650-1654<br />
veröffentlicht wurde. Er nennt die Jahre 4004 und 2348 v. Chr. <strong>als</strong> Daten für die<br />
Schöpfung und die Sintflut. Sollte uns Usshers Zeitangabe von 4004 v. Chr. allzu<br />
genau erscheinen, so war sein Zeitgenosse John Lightfoot noch genauer. Er<br />
behauptete, die Schöpfung habe am 12. September stattgefunden; Adam sei um 9<br />
Uhr morgens geschaffen worden, habe am selben Tag um 12 Uhr gesündigt und um<br />
15 Uhr die Heilsverheißung empfangen! (Lightfoot, 7:372.377)<br />
Von 1701 an wurden Usshers Datierungen in die Randbemerkungen der King<br />
James Version der Bibel aufgenommen. Das mag erklären, weshalb die Zahl von<br />
6000 Jahren in christlichen Kreisen so fest Fuß faßte. Um es mit den Worten von<br />
Ellen White auszudrücken, wurden Usshers Daten <strong>als</strong> „wohlbekannte Tatsachen“<br />
angesehen, die „von der protestantischen Welt allgemein bestätigt“ wurden (GK 13).<br />
Als die Archäologie <strong>als</strong> relativ junge Wissenschaft im 19. Jahrhundert begann, die<br />
uralten Geheimnisse früher Zivilisationen zu entschlüsseln, wurde es schwierig, die<br />
Chronologie Usshers mit den Entdeckungen über die antike Geschichte in Einklang<br />
zu bringen. Das für die Sintflut genannte Datum ist besonders problematisch. Falls<br />
die Sintflut, wie von vielen Christen angenommen, weltumfassend war, mußte sie<br />
alle Spuren der Zivilisation vernichtet haben. Jedoch für die zwei wichtigsten<br />
Zivilisationszentren der Antike, nämlich Babylon und Ägypten, reichen die<br />
geschichtlichen Aufzeichnungen lückenlos bis wenigstens ins Jahr 3100 v. Chr.<br />
zurück. Folglich kamen gläubige Christen, die die Daten von Ussher in ihrer Bibel in<br />
gedruckter Form vorfanden, leicht zu dem Schluß, die neuzeitlichen Wissenschaftler<br />
würden den Glauben zerstören.<br />
Ein jüngeres Beispiel stammt aus den 70er Jahren, <strong>als</strong> die biblische Wissenschaft<br />
die ergiebigen Funden aus der alten Stadt Ebla zur Kenntnis nahm, einem knapp<br />
30 Hektar großen Areal im Norden Syriens. Gemäß dem archäologischen Befund<br />
erreichte Ebla seine höchste Blütezeit um 2500 v. Chr. Es war das<br />
Verwaltungszentrum für mehr <strong>als</strong> eine Viertelmillion Menschen. Da die Stadt seit<br />
langem kontinuierlich bewohnt war, schließt dies die Möglichkeit einer Sintflut nur<br />
kurze Zeit zuvor aus. Auch die Zahl der von der Stadt verwalteten Bevölkerung<br />
macht deutlich, daß eine weltweite Sintflut Jahrhunderte früher hätte stattfinden<br />
müssen.<br />
Wer mit modernen Entwicklungen vertraut ist, weiß, daß gemäß geltender<br />
wissenschaftlicher Ansicht – abgesehen von der Meinung einiger konservativer<br />
Christen – der Sintflutbericht in 1. Mose auf ein örtlich begrenztes Ereignis<br />
zurückgeführt wird.<br />
253
INSPIRATION<br />
Man könnte natürlich behaupten – und viele Christen stehen dazu –, die<br />
Sintflutgeschichte wolle vor allem zeigen, daß der Sünde des Menschen durch das<br />
Gericht Grenzen gesetzt sind. Um diese Nutzanwendung hervorzuheben, bedarf es<br />
aber nicht unbedingt einer weltweiten Flut.<br />
Widerspricht man der Sintflut jedoch auf philosophischer Basis, indem man<br />
behauptet, ein Wunderwirken Gottes sei a priori auszuschließen, so bedeutet dies<br />
eine viel schwerwiegendere Grenzüberschreitung des traditionellen christlichen<br />
Glaubens. Im übrigen halte ich die weite Verbreitung von Flutgeschichten quer durch<br />
die verschiedenen Kulturen dieser Erde für äußerst interessant. Für mich jedenfalls<br />
bilden sie eine wichtige Stütze für den biblischen Flutbericht.<br />
Beachtenswert an den alten Geschichtsaufzeichnungen des Nahen Ostens ist<br />
einerseits die Tatsache, daß sie uns für die Chronologie von Ussher keine präziseren<br />
Anhaltspunkte liefern. Andererseits steht das plötzliche Auftreten der durch die<br />
Quellen belegten Zivilisation im 4. Jahrtausend v. Chr. in scharfem Kontrast zu den<br />
typischen Schätzungen der Evolutionstheorie, wonach die Geschichte der modernen<br />
Menschheit auf etwa 100.000 Jahre zurückgeht. Wenn Geschichtsaufzeichnungen<br />
um das Jahr 4000 v. Chr. ihren Anfang nahmen, so ist dies wie gestern im Vergleich<br />
zu einer Periode von 100.000 Jahren. Aus diesem Grunde bekennt sich eine Anzahl<br />
adventistischer Gelehrter zu der Auffassung, die Welt sei relativ jung und nach<br />
Tausenden von Jahren, nicht aber nach Millionen Jahren zu bemessen.<br />
Die vergleichsweise kurze Geschichte menschlicher Aufzeichnungen deutet<br />
darauf hin, daß der durch den biblischen Bericht vermittelte Eindruck – nämlich daß<br />
die Erde relativ jung ist – glaubwürdig erscheint. Das bedeutet aber keine Stütze für<br />
Usshers Chronologie. Außerdem – jedes noch so genaue Alter der Erde oder ein<br />
geschätztes Datum für die Schöpfung kann die Tatsache der Schöpfung nicht<br />
belegen. Deshalb sind wir gut beraten, wenn wir die Frage nach dem Alter der Erde<br />
von der Tatsache der Schöpfung an sich trennen. Das eine ist unabhängig vom<br />
andern.<br />
Chronik: Legitimierung der Abstammungslinien von David und Levi – Dem<br />
Chronisten, der gegen Ende der alttestamentlichen Periode schrieb, war besonders<br />
daran gelegen, die Herrlichkeit des Tempels sowie die Macht des Hauses Davids zu<br />
bestätigen. Dementsprechend geht es bei den Stammbäumen der Chronik vor allem<br />
darum, die Echtheit der davidischen wie auch der levitischen Linie zu bezeugen.<br />
Es ist möglich, wenn auch nicht zu beweisen, daß gewisse religiöse<br />
Führerpersönlichkeiten aus der Richterzeit sowie der frühen Monarchie nachträglich<br />
zum Stamm Levi gezählt wurden und einen levitischen Stammbaum erhielten.<br />
Sowohl Eli wie Zadok, deren Stammbäume recht ungewöhnlich sind, käme für eine<br />
254
ZAHLEN, STAMMBÄUME, DATEN<br />
solche Adoption in Frage. Jedenfalls zielen die Stammbäume der Chronik darauf ab,<br />
eine Abstammungslinie zu rechtfertigen und nicht Daten festzulegen.<br />
Matthäus 1: Veranschaulichung der Qualität des Stammbaums Jesu – Wenn<br />
wir uns den Stammbaum Jesu nach Matthäus näher ansehen, finden wir<br />
Erstaunliches. Um zu seinem 14-14-14-Schema zu kommen, läßt Matthäus nicht nur<br />
gewisse Namen weg (Ahasja, Joasch, Amazja), sondern zählt auch Jojachin beim<br />
zweiten und dritten Teilstück mit, um jeweils genau 14 Namen pro Gruppe zu<br />
erhalten. Vergleichen wir seine Zusammenstellung mit anderen Ahnentafeln, die<br />
denselben Zeitraum betreffen, so sehen wir, daß die anderen Listen regelmäßig mehr<br />
Namen enthalten: wenigstens sieben mehr für die erste Gruppe, drei mehr für die<br />
zweite, und neun mehr für die dritte (siehe Schlüsseltexte).<br />
Das auffallendste Merkmal des von Matthäus präsentierten Stammbaums ist<br />
jedoch der Einschluß von vier Frauen im Zusammenhang mit Jesu Vorfahren, ein<br />
Vorgehen, das sonst in jüdischen Kreisen unbekannt war. Alle vier Frauen sind<br />
irgendwie anrüchig: Tamar, eine Kanaaniterin, die Perez durch Inzest gebar; Rahab<br />
aus Palästina, eine ehemalige Prostituierte; die Moabiterin Rut, die trotz ihrer<br />
moralischen Reinheit aufgrund ihrer Abstammung eigentlich von Israel<br />
ausgeschlossen war (siehe 5. Mose 23,3); und schließlich die Ehebrecherin Batseba,<br />
die von Matthäus nicht mit Namen genannt, sondern mit dem überraschenden Begriff<br />
„Frau des Uria“ bezeichnet wird.<br />
Was möchte Matthäus damit sagen? Daß Jesus von ganz und gar menschlichem<br />
Geblüt abstammte! Mit einem Stammbaum, der Inzest, Prostitution und Ehebruch<br />
einschließt, und mit fremdem Blut in seinen Adern, kam Jesus <strong>als</strong> „Gott mit uns“ auf<br />
diese Erde, um uns von unseren Sünden zu erretten. Die Mathematik können wir<br />
vergessen. Die Botschaft jedoch ist höchst eindrucksvoll.<br />
Lukas 3: Jesus weiß sich mit der gesamten Menschheit verbunden – Der<br />
Versuch, die von Lukas und Matthäus aufgestellten Stammbäume Jesu in Einklang<br />
zu bringen, erweist sich <strong>als</strong> frustrierendes Unterfangen. Für die Zeit nach der<br />
Monarchie besteht nicht nur das Problem, daß Matthäus nur 13, Lukas jedoch 23<br />
Namen nennt, sondern auch, daß diese Listen überhaupt nur zwei Namen gemeinsam<br />
haben, nämlich Schealtiel und Serubbabel. Einige nehmen an, daß Matthäus die<br />
Linie Josephs, Lukas dagegen die Linie Marias wiedergibt. Das ist jedoch nur eine<br />
– wenn auch interessante – Vermutung. Der wirklich bedeutsame Unterschied<br />
zwischen den beiden Listen liegt darin, daß Matthäus eine jüdische Abstammung<br />
zeigen will (deshalb die Rückführung auf Abraham), während Lukas eine<br />
umfassende menschliche Abstammung erkennen lassen möchte (deshalb die<br />
Rückführung auf Adam). Der Stammbaum von Matthäus war für Juden gedacht, der<br />
255
INSPIRATION<br />
von Lukas aber für die ganze Welt, indem er von Jesus erklärt: „... der war ein Sohn<br />
Sets, der war ein Sohn Adams, der war Gottes.“ (Lukas 3,38)<br />
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß sich von den verschiedenen biblischen<br />
Stammbäumen nur die in 1. Mose 5 und 11 möglicherweise zu Datierungszwecken<br />
eignen. Auch da ist es jedoch fraglich, ob sich eine solche Verwendung rechtfertigen<br />
läßt. Und wenn wir unser Bild mit weiteren Aspekten über den Gebrauch von<br />
Stammbäumen vervollständigen, sind wir nicht mehr erstaunt über das, was uns<br />
zunächst <strong>als</strong> Oberflächlichkeit im Umgang mit Einzelheiten erscheinen mag.<br />
Vielmehr erinnern wir uns dabei an die Gründe, weshalb inspirierte Schreiber dam<strong>als</strong><br />
überhaupt Stammbäume verwendet haben. Wir mögen uns vorstellen, Stammbäume<br />
müßten genau und vollständig sein. Aber das ist unser Problem, nicht das der<br />
Bibelschreiber. Dieser Kernpunkt kann noch deutlicher herausgestellt werden, wenn<br />
wir uns weiteren Aspekten über Stammbäume in der Bibel zuwenden.<br />
2. Stammbäume geben oft Aufschluß über eine Blutsverwandtschaft im weiteren Sinn<br />
oder über eine „Autoritätsverwandtschaft“, aber nicht notwendigerweise über ein<br />
direktes Vater-Sohn-Verhältnis. Obwohl nicht einem Stammbaum entnommen, zeigt<br />
die für Jesus gern gebrauchte Bezeichnung „Sohn Davids“ (siehe z. B. Matthäus<br />
9,27), daß eine der augenfälligsten Verwendungen des Ausdrucks „Sohn des ...“<br />
u. U. sogar bedeuten kann, daß Jahrhunderte übersprungen werden.<br />
Ebenso können sich auch innerhalb von Stammbäumen die Begriffe „Sohn des ...“<br />
oder „Vater von ...“ auf die erweiterte Abstammungslinie, anstatt auf die<br />
allernächsten Verwandtschaftsgrade beziehen. Angesichts der dam<strong>als</strong> geltenden<br />
Regeln haben wir deshalb kein Recht, Mose oder Matthäus dafür zu kritisieren, daß<br />
sie Namen wegließen.<br />
Ein weiteres interessantes Beispiel betrifft Belsazar, den König von Babylon<br />
(Daniel 5). In den Anfangsjahren der sogenannten höheren Bibelkritik verwiesen<br />
Kritiker gern auf Belsazar <strong>als</strong> Beweis dafür, daß der Verfasser des Buches Daniel mit<br />
den historischen Verhältnissen nicht vertraut war. Sie hielten Belsazar für eine von<br />
Daniel frei erfundene Figur, da ein König unter diesem Namen in den Annalen des<br />
babylonischen Hofes nicht auffindbar war. Stets war es Nabonid, der <strong>als</strong> letzter<br />
König von Babylon genannt wurde. Die Archäologen haben diese Ansicht<br />
inzwischen längst revidiert. Raymond Dougherty verfaßte 1929 sein Standardwerk<br />
über Nabonid und Belsazar und konnte aufgrund neuer Entdeckungen nachweisen,<br />
daß Belsazar, der Sohn Nabonids, tatsächlich König war.<br />
Der Text in Daniel 5,2 nennt jedoch Nebukadnezar, nicht Nabonid, <strong>als</strong> Belsazars<br />
Vater. Hatte Daniel recht? Dougherty wies darauf hin, daß die Mutter Belsazars<br />
wahrscheinlich eine Tochter des berühmten Königs war, so daß Belsazar<br />
256
ZAHLEN, STAMMBÄUME, DATEN<br />
Nebukadnezars Enkel war (siehe Artikel „Belsazar“, in SDABD).<br />
Aber die Begriffe „Sohn des ...“ und „Vater von ...“ wurden in alter Zeit in noch<br />
weiterem Sinne angewandt und bezogen sich nicht notwendigerweise auf eine<br />
Bl u t s ve r w a n d t s c h a f t , s o n d e r n u n a b h ä n gi g d a von a u f eine Art<br />
„Autoritätsverwandtschaft“. Eines der bemerkenswertesten Beispiele hierfür aus<br />
biblischer Zeit betrifft Jehu, den König von Israel, der in assyrischen<br />
Aufzeichnungen „Jehu, Omris Sohn“ genannt wird. Sowohl Jehu wie auch Omri<br />
waren Könige in Israel, aber es bestand keine Blutsverwandtschaft zwischen ihnen.<br />
Omri hatte seinen Ruf so stark gefestigt, daß die Assyrer noch 150 Jahre nach seinem<br />
Tod Israel <strong>als</strong> das „Haus Omris“ bezeichneten. Obwohl Jehu die Familie Omris<br />
vernichtet und sich den Thron widerrechtlich angeeignet hatte, um seine eigene<br />
Herrschaft aufzurichten, galt er bei den Assyrern doch <strong>als</strong> „Sohn Omris“. Auf unsere<br />
Zeit bezogen würde das bedeuten, daß der Präsident der USA auch <strong>als</strong> „Sohn von<br />
George Washington“ bezeichnet werden könnte.<br />
3. Manche problematische Zahlenangaben in der Bibel gehen möglicherweise auf<br />
Stammbäume, nicht auf historische Berichte zurück. – Es kann sein, daß ein<br />
Verfasser oder Schreiber eine bestimmte Zeitperiode anführen wollte, aber nur ein<br />
Stammbaum-Verzeichnis zur Verfügung hatte. Ein Zeitabschnitt aber konnte<br />
errechnet werden, indem man die Anzahl der Namen mit der durchschnittlichen Zahl<br />
der Jahre pro Generation multiplizierte. In zwei Fällen scheint dies der Fall gewesen<br />
zu sein: In 1. Mose 15,13-16 (vier Menschenalter à 100 Jahre ergeben 400 Jahre),<br />
und in 1. Könige 6,1 (zwölf Generationen à 40 Jahre ergeben 480 Jahre). Beide<br />
Bibelstellen wurden verwendet, um den Auszug aus Ägypten zeitlich festzulegen.<br />
Damit wollen wir uns nun befassen.<br />
Datierung: Wann geschah der Exodus?<br />
Bibelgelehrte haben ihr Augenmerk auf zwei mögliche Daten für den Exodus<br />
gerichtet: 1445 und 1290 v. Chr. Ursprünglich bevorzugten die Liberalen das Jahr<br />
1290 und die Konservativen das Jahr 1445. Das hat sich jedoch geändert. Neuerdings<br />
gibt es in konservativen Kreisen Befürworter beider Daten (wobei das spätere Datum<br />
sogar von einigen aufrechterhalten wird, die an die Unfehlbarkeit der Bibel glauben).<br />
Andererseits gehen manche Liberale heute so weit, daß sie den Exodus <strong>als</strong> solchen<br />
überhaupt in Frage stellen (siehe Anhang E).<br />
Die mit Zahlen und Stammbäumen verbundenen Probleme, wie wir sie hier<br />
besprochen haben, spielen auch bei der Datierung des Exodus eine gewisse Rolle.<br />
Obwohl wir keine definitiven Antworten haben, können wir Vermutungen anstellen,<br />
257
INSPIRATION<br />
wie viele Generationen bis zum Erreichen einer gewissen Bevölkerungsgröße nötig<br />
waren. Auf den Exodus bezogen müßten die Fragen etwa lauten: (1) Wie lange hielt<br />
sich Israel in Ägypten auf? (2) Wie groß war die Gruppe, die Ägypten verließ?<br />
Wie die Schlüsseltexte zeigen, wird die Zahl der Generationen für die Zeit, die<br />
Israel in Ägypten zubrachte, verschieden angegeben. Wir kennen drei Varianten:<br />
Vier Generationen zwischen Levi und Mose (1. Chronik 5,27-29); sieben<br />
Generationen zwischen Juda und Bezalel (1. Chronik 2,1-20), zwölf Generationen<br />
zwischen Joseph (Ephraim) und Josua (1. Chronik 7, 23-27). Dabei ist zu<br />
berücksichtigen, daß Mose, Bezalel und Josua zur selben Zeit lebten.<br />
Der Text in 1. Mose 15,13-16 bringt die Periode von 400 Jahren mit „vier<br />
Menschenaltern“ in Verbindung. Manche beziehen diese auf die vier Namen bzw.<br />
Generationen in 1. Chronik 5,27-29 (Levi, Kehat, Amram und Mose).<br />
Ägyptische Aufzeichnungen enthalten keine Hinweise auf Israel bis zu<br />
Merneptah, der Ägypten von etwa 1213-1204 v. Chr. regierte (nach Achtemeier,<br />
Harper’s Bible Dictionary 627). In seiner „Israel-Stele“ prahlt dieser Herrscher, er<br />
habe einen Raubzug nach Kanaan unternommen und Israel vernichtet, wobei es keine<br />
Überlebenden gegeben habe. Praktisch alle Gelehrten stimmen überein, daß Israel<br />
um 1200 v. Chr. in Kanaan angesiedelt war. Aber sowohl das Datum für ihre<br />
Ankunft in Ägypten <strong>als</strong> auch die Dauer ihres dortigen Aufenthalts sind unklar.<br />
Es gibt eine wichtige Aussage in 2. Mose 12,40, die die Frage, wie lange Israel in<br />
Ägypten war, anscheinend klar beantwortet: „Die Zeit aber, die die Israeliten in<br />
Ägypten gewohnt haben, ist vierhundertdreißig Jahre.“ Diese Übersetzung stützt sich<br />
auf den hebräischen Text. Die Septuaginta wie auch der Samaritanische Pentateuch<br />
fügen jedoch die Bemerkung „in Kanaan“ hinzu und deuten damit an, daß die 430<br />
Jahre mit der Berufung Abrahams begannen. Addiert man das Alter der Patriarchen<br />
gemäß dem 1. Buch Mose, so ergibt sich zwischen Abrahams Berufung und Jakobs<br />
Ankunft in Ägypten ein Zeitraum von 215 Jahren (siehe 1. Mose 12,4; 21,5; 25,26;<br />
47,9). Werden diese 215 Jahre von den 430 Jahren abgezogen, so beträgt die in<br />
Ägypten verbrachte Zeit ebenfalls 215 Jahre. Allerdings ist der Text insofern<br />
schwierig, <strong>als</strong> der entscheidende Zusatz „in Kanaan“ bei der Septuaginta und der<br />
samaritanischen Fassung nicht an derselben Stelle erscheint. Das deutet darauf hin,<br />
daß der Zusatz anfänglich nicht vorhanden war, sondern später hinzugefügt wurde<br />
durch Schreiber, die offenbar bemüht waren, das Problem in eigener Regie zu lösen.<br />
Wir versuchen, einen anderen inspirierten Autor, nämlich Paulus, zur Klärung des<br />
Problems heranzuziehen. In Galater 3,17 bezieht er sich aus anderem Anlaß auf 2.<br />
Mose 12,40. Dabei benutzt er die Septuaginta-Version und stützt damit den kürzeren<br />
Aufenthalt in Ägypten. Aber wie schon in Kapitel 18 dargelegt, können wir von<br />
258
ZAHLEN, STAMMBÄUME, DATEN<br />
inspirierten Schreibern nicht erwarten, daß sie solch ein Problem für uns lösen.<br />
Vermutlich zitiert Paulus die Zahl aus der Septuaginta etwa so wie auch Ellen White<br />
die Zahl von zwei Millionen Israeliten zur Zeit des Exodus von anderen übernahm.<br />
Paulus nahm die Aussage der Septuaginta einfach <strong>als</strong> gegeben an, ohne zu prüfen, ob<br />
diese Information richtig oder f<strong>als</strong>ch ist.<br />
In unserer Diskussion über die Datierung des Exodus muß auch 1. Könige 6,1<br />
herangezogen werden. Dieser Vers könnte sehr nützlich sein für die Berechnung der<br />
Zeit des Exodus, wäre er nicht ausgerechnet ein Beispiel dafür, daß die genannte<br />
Zeitperiode möglicherweise auf Stammbaum-Daten und nicht auf geschichtliche<br />
Daten zurückzuführen ist. „Im vierhundertachtzigsten Jahr nach dem Auszug Israels<br />
aus Ägyptenland, im vierten Jahr der Herrschaft Salomos über Israel, im Monat Siw,<br />
das ist der zweite Monat, wurde das Haus dem Herrn gebaut.“<br />
Da biblische Ereignisse vor der Zeit der Monarchie in außerbiblischen Quellen<br />
keine direkte Erwähnung finden, können externe Belege für die Datierung der<br />
Frühgeschichte Israels kaum herangezogen werden. Mit dem Aufkommen der<br />
Monarchie aber werden Bezugspunkte erkennbar, obwohl die neuere Forschung bei<br />
der Festlegung von Daten sehr zurückhaltend ist. In Harper’s Bible Dictionary lesen<br />
wir zum Beispiel: „Das einzige, was wir mit einiger Sicherheit sagen können, ist daß<br />
Saul, David und Salomo um das Jahr 1000 v. Chr. gelebt haben.“ (S. 166)<br />
Doch selbst in Anbetracht dieser sehr allgemeinen Feststellung dürfen wir<br />
annehmen, daß ein Text wie der in 1. Könige 6,1 mit dem Bau von Salomos Tempel<br />
verknüpft werden kann. Rechnet man von diesem Zeitpunkt 480 Jahre zurück, so<br />
erhält man das Datum des Exodus. Seit langem haben Adventisten dafür das Jahr<br />
1445 v. Chr. bevorzugt und sich dabei auch auf das Zeugnis von 1. Könige 6,1<br />
gestützt.<br />
Aber in der Welt der Bibelwissenschaft haben sich die Zeiten geändert. Während<br />
es immer noch starke Befürworter des Jahres 1445 gibt, setzen sich heute sogar<br />
manche der Gelehrten, die an die Unfehlbarkeit der Schrift glauben, für das Jahr<br />
1290 ein. Was heute im Dialog zwischen Liberalen und Konservativen zur Debatte<br />
steht, ist nicht mehr das richtige Datum, sondern ob ein von Wundern begleiteter<br />
Exodus überhaupt stattgefunden hat!<br />
Ein Haupthindernis, das „bibelgläubige“ Christen davon abhielt, das Jahr 1290<br />
anzuerkennen, ist die Stelle in 1. Könige 6,1. Im Laufe der Zeit aber gewann das<br />
Argument an Glaubwürdigkeit, daß dem Verfasser von 1. Könige 6,1 keine<br />
geschichtlich fundierte Information zur Verfügung stand, sondern eher ein<br />
Stammbaum mit 12 Namen: 12 mal 40 Jahre ( das Durchschnittsalter einer<br />
Generation) ergibt 480. Gestützt wird diese Interpretation durch die Handschriften<br />
259
INSPIRATION<br />
der Septuaginta zu 1. Könige 6,1, die eine Zahl von 440 Jahren nennen. Diese Zahl<br />
mag auf den Angaben eines anderen Stammbaumes beruhen, der dieselbe Zeitperiode<br />
umfaßt, jedoch nur 11 Namen enthält: 11 mal 40 ergibt 440.<br />
Wie verhält es sich aber mit der Zeit der Richter? Kann sie einen Beitrag zu<br />
unserer Frage leisten? Eine sorgfältige Untersuchung des Buches Richter läßt<br />
vermuten, daß viele Richter zur gleichen Zeit in verschiedenen Teilen des Landes<br />
regierten. Wenn wir die den einzelnen Richtern zugeschriebenen Jahre<br />
zusammenzählen (410 Jahre gemäß Richter 3-16) und diese Zahl in die Berechnung<br />
der Periode zwischen Exodus und Tempelbau einbeziehen, ergibt sich eine<br />
Gesamtzahl von 554 Jahren – eine Zahl, die im Rahmen von 1. Könige 6,1 viel zu<br />
hoch ist. Verschiedene Unklarheiten würden ohnehin bestehen bleiben.<br />
Zusammenfassend können wir drei Lösungen anbieten, die unter „bibelgläubigen“<br />
Christen ihre Befürworter finden, auch unter solchen, die für die Unfehlbarkeit der<br />
Bibel eintreten. Alle drei Varianten nennen für das Jahr des Tempelbaus ein Datum,<br />
das nahe bei 966 v. Chr. liegt. Das vorhandene Material läßt erkennen, daß es nicht<br />
einfach ist, genaue Zahlen zu ermitteln, da in 1. Könige 6,1 von 480 Jahren nach dem<br />
Exodus, in 2. Mose 12,40 jedoch von 430 Jahren vor dem Exodus die Rede ist.<br />
Entwurf 1 – Basierend auf 2. Mose 12,40 (hebräischer Text) und einer<br />
buchstäblichen Auslegung von 1. Könige 6,1:<br />
A. Abrahams Berufung....................... 2090 (215 Jahre in Kanaan)<br />
B. Jakob nach Ägypten....................... 1875 (430 Jahre in Ägypten)<br />
C. Exodus........................................... 1445 (480 Jahre zwischen Exodus und Tempel)<br />
D. Tempelbau..................................... 966<br />
Entwurf 2 – Basierend auf 2. Mose 12,40 (hebräischer Text) sowie auf<br />
1. Könige 6,1 (wobei die Zeitperiode dieses Textes <strong>als</strong> Schätzung aufgefaßt wird, die<br />
auf Stammbaumdaten beruht):<br />
A. Abrahams Berufung....................... 1935 (215 Jahre in Kanaan)<br />
B. Jakob nach Ägypten....................... 1720 (430 Jahre in Ägypten)<br />
C. Exodus........................................... 1290 (325 Jahre zwischen Exodus und Tempel)<br />
D. Tempelbau..................................... 966<br />
Entwurf 3 – Basierend auf 2. Mose 12,40 (Septuaginta und SP, vgl. Galater 3,17)<br />
und einer buchstäblichen Auslegung von 1. Könige 6,1:<br />
A. Abrahams Berufung....................... 1875 (215 Jahre in Kanaan)<br />
B. Jakob nach Ägypten....................... 1660 (215 Jahre in Ägypten)<br />
260
ZAHLEN, STAMMBÄUME, DATEN<br />
C. Exodus........................................... 1445 (480 Jahre zwischen Exodus und Tempel)<br />
D. Tempelbau..................................... 966<br />
Da jeder dieser drei Entwürfe von gläubigen Konservativen vertreten wird (früher<br />
fand Entwurf 2 nur bei Liberalen Zustimmung), ist es interessant festzustellen,<br />
welche Argumente für die drei Varianten am überzeugendsten sind. Auf den ersten<br />
Blick erscheint Entwurf 1 <strong>als</strong> der konservativste; er ist aber mit dem Problem<br />
behaftet, daß die Berufung Abrahams (2090) zu nahe an Usshers Datum für die<br />
Sintflut (2348) heranreicht.<br />
Entwurf 2 erlaubt sich scheinbar die größten Freiheiten hinsichtlich des<br />
biblischen Textes; er vertritt aber die hebräische Fassung von 2. Mose 12,40, <strong>als</strong>o die<br />
qualitativ beste Textquelle. Dieser Entwurf enthält einen Zeitraum für den<br />
Aufenthalt in Ägypten, der für ein solches Bevölkerungswachstum ausreichend ist.<br />
Entwurf 3 ist vielleicht unter Adventisten am besten bekannt. Er fußt zwar auf der<br />
schlechteren Fassung von 2. Mose 12,40 (LXX und SP), wird aber gestützt durch<br />
Galater 3, 17. Auch er faßt 1. Könige 6,1 im buchstäblichen Sinn auf.<br />
Wenn wir zu wenig Vorsicht walten lassen, kann es sein, daß wir bezüglich gewisser<br />
Fragen eine festere Haltung einnehmen, <strong>als</strong> es aufgrund des biblischen Befunds<br />
angebracht erscheint. Es wäre mir viel lieber, wir würden diese Erörterungen <strong>als</strong><br />
interessant, aber nicht beunruhigend ansehen. Dann müßten auch diejenigen, die an<br />
dieser Diskussion nicht interessiert sind, keinerlei Befürchtungen haben.<br />
Vielleicht ist nun erkennbar, wie berechtigt die Formulierung in diesem Kapitel<br />
war: „Todlangweilig – aber gefährlich!“ Es muß nicht erst darauf aufmerksam<br />
gemacht werden, daß Stammbäume für die meisten von uns langweilig sind. Wenn<br />
wir aber erkennen, inwiefern sie auch gefährlich sein können, gewinnen sie plötzlich<br />
an Bedeutung. Ja, sie können so interessant werden, daß sie uns anspornen, dem<br />
Problem auf den Grund zu gehen – bis die Gefahr gebannt ist.<br />
Das folgende Kapitel wird sich eingehend mit praktischen Fragen befassen, die<br />
sich aus dem hier behandelten Stoff ergeben. Für den Augenblick können wir <strong>als</strong> die<br />
vielleicht wichtigste Schlußfolgerung festhalten, daß wir uns hüten sollten, die aus<br />
der Schriftlektüre gewonnenen Einsichten des flüchtigen oder auch des sorgfältig<br />
prüfenden Lesens allzu schnell abzulehnen. Gott jedenfalls kann beide Methoden<br />
benutzen, um Menschen in sein Reich zu führen.<br />
Fragen zum Nachdenken<br />
1. Wie kann unsere Gemeinschaft Bibelstudienprogramme erstellen, die zu einer<br />
261
Aufgeschlossenheit für Problembereiche (wie etwa die Stammbäume) führen,<br />
ohne daß ihnen eine zu große Bedeutung beigemessen wird?<br />
2. Sollten Gemeindeglieder versuchen, eine gewisse Zeit für sorgfältig prüfendes<br />
Bibelstudium aufzuwenden (im Gegensatz zum meditativen Lesen der Schrift zur<br />
persönlichen Erbauung), oder sollten wir erwarten, daß Wissenschaftler aus<br />
unseren Reihen diese Aufgabe übernehmen? Wie kann ein analytisches Studium<br />
unsere christliche Erfahrung am besten fördern?<br />
3. Inwieweit läßt sich eine Parallele ziehen zwischen unseren zuverlässigsten<br />
Freunden und der Zuverlässigkeit der Bibel? Kann ein Freund einen Fehler<br />
begehen und dennoch weiterhin unser Vertrauen genießen? Inwieweit und mit<br />
welchen Folgen können „Fehler“ das Vertrauen untergraben? Wenn wir von<br />
Freunden absolute Vollkommenheit erwarten, wie viele Freunde werden wir dann<br />
haben? Läßt sich daraus eine Parallele zur Bibel ziehen?<br />
TEIL IV<br />
ERGEBNIS
ZAHLEN, STAMMBÄUME, DATEN<br />
Neue Einsichten gewinnen –<br />
den Glauben bewahren<br />
263
Einleitung<br />
Unsere beiden Schlußkapitel handeln von praktischen Belangen im Leben der<br />
Gemeinde. Die Adventbewegung ist Veränderungen unterworfen und wird<br />
zusehends vielfältiger. Soll unsere Gemeinschaft lebendig bleiben, wachsen und<br />
zusammenhalten, sind sorgfältige Überlegungen, Planung und Gebet erforderlich –<br />
dazu ein reiches Maß an Gottes Gnade.<br />
Im Licht dessen, was in diesem Buche bisher behandelt wurde, ergeben sich<br />
gewisse praktische Fragen. Sie sind für alle Gemeindeglieder wichtig, besonders<br />
aber, so glaube ich, für die Zukunft unserer Jugend. In unserer Verantwortung <strong>als</strong><br />
Erzieher haben wir uns folgende Fragen zu stellen:<br />
1. Wie soll sich unsere Jugend zu dem hier vorgelegten Befund verhalten? Sollte<br />
sie die Bibel und Gott ablehnen, weil sein Wort nicht ihren Erwartungen entspricht?<br />
Soll sie vorgeben, nichts bemerkt zu haben? Oder soll sie sehen und glauben –<br />
letztlich mit größerer Hingabe und ohne Furcht?<br />
Mein adventistisches Erbe weist mich hin auf die dritte Möglichkeit <strong>als</strong> die einzig<br />
richtige. Ich bin überzeugt, es ist eine gangbare Alternative. Es liegt mir fern, den<br />
Verstand höher einzustufen <strong>als</strong> die Offenbarung; was ich aber anstrebe, ist, daß wir<br />
Offenbarung mit Hilfe eines geheiligten Verstands besser verstehen lernen. Wenn<br />
wir unsere Jugendlichen dahin bringen wollen, daß sie die Bibel so sehen, wie sie ist,<br />
und dabei ihren Glauben bewahren, stellen sich zwei weitere Fragen.<br />
2. Wann soll man ihnen diese Erkenntnis vermitteln, und unter welchen<br />
Umständen? In einigen Fällen werden wir gar keine Wahl haben; im allgemeinen<br />
aber ist eine sorgfältige Planung bestimmt von Nutzen.<br />
3. Welche praktischen Schritte sind nötig, um das gesteckte Ziel zu erreichen?<br />
Kapitel 20 wird sich mit diesen Fragen auseinandersetzen. Wenn meine Studenten<br />
– zugegebenermaßen mit meiner Hilfe – gewisse überraschende Fakten entdecken<br />
(ich wünschte, mir hätte jemand geholfen, <strong>als</strong> ich damit zu tun hatte!), erinnere ich<br />
sie an die Worte von Ellen White: „Alles aber, was menschlich ist, ist auch<br />
unvollkommen“ (1 FG 20), und „Der Herr gab sein Wort genauso, wie es zu uns<br />
kommen sollte.“ (1 FG 21)<br />
Gewiß beabsichtigt der Herr nicht, diese Fragen zu einem Prüfstein unseres<br />
Glaubens werden zu lassen. Die wichtigen Glaubenspunkte sind zweifellos in aller<br />
Klarheit aus der Schrift zu erkennen. Und wenn es uns gelingt, das<br />
Überraschungsmoment zu bewältigen, werden die sogenannten Probleme<br />
unversehens <strong>als</strong> notwendige Anpassungen an menschliche Bedürfnisse erscheinen,<br />
durch die sich Gott uns mitteilen kann.<br />
265
INSPIRATION<br />
Letztlich müssen wir den wichtigsten Anliegen in der Bibel den Vorrang geben. Hier<br />
halte ich zwei Aussagen von Ellen White für besonders nützlich. Die eine betont die<br />
Wichtigkeit von Johannes 3,16 und stellt fest: „Diese Einsicht ist von allergrößter<br />
Bedeutung für jeden Menschen, denn hier wird der Weg zum Heil mit aller<br />
Deutlichkeit herausgestellt. Wenn wir keinen anderen Text in der Bibel hätten, so<br />
wäre dieser eine <strong>als</strong> Wegweiser geeignet.“ (TM 370)<br />
Soll jedoch dieser eine Vers seine Wirksamkeit entfalten, so muß der Gläubige<br />
dem Wort Gottes vertrauen; denn Johannes 3,16 ist ja Bestandteil dieses Wortes. Das<br />
macht unsere Aufgabe so wichtig.<br />
Das zweite Zitat steht im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen von<br />
1888. Im vorangegangenen Abschnitt machte Ellen White geltend, daß Einheit in der<br />
Gemeinde nicht durch Gleichförmigkeit der Schriftauslegung zu erreichen ist: „Wir<br />
können <strong>als</strong>o nicht behaupten, die Einheit der Gemeinde bestehe darin, daß jeder<br />
Bibeltext in genau derselben Weise verstanden wird.“<br />
Dann zeigte sie <strong>als</strong> bemerkenswerte Erläuterung zu den zwei großen Geboten,<br />
worin nach ihrer Überzeugung das Fundament für die Einheit der Gemeinde besteht:<br />
„Die großen Wahrheiten des Wortes Gottes sind so klar ausgedrückt, daß niemand<br />
sie aus Versehen mißzuverstehen braucht. Wenn ihr <strong>als</strong> individuelle<br />
Gemeindeglieder Gott über alles liebt und euren Nächsten wie euch selbst, bedarf es<br />
keiner großen Anstrengung, um Einheit zu erlangen, denn dann werdet ihr <strong>als</strong><br />
natürliche Folge untereinander eins sein in Christus.“ (MS 24, 1892; siehe<br />
Anhang F)<br />
Die folgenden beiden Kapitel behandeln die Beziehung zwischen unserem<br />
Vertrauen zur Schrift und unserem Vertrauen zu Gott. Beide gehen Hand in Hand, ist<br />
doch die Schrift die Quelle unserer Gotteserkenntnis.<br />
266
Kapitel 20<br />
Zwei Wege ins Verderben:<br />
Der „rutschige Abhang“ und<br />
das „Rehabeam-Prinzip“<br />
Wenn Prediger die Gemeinde und Lehrer ihre Schüler vor sich sehen, wissen sie,<br />
daß diese in zwei Risikogruppen aufgeteilt werden können: solche, denen der<br />
„rutschige Abhang“, und andere, denen das „Rehabeam-Prinzip“ zum Verhängnis<br />
werden kann.<br />
Wir haben uns dem „rutschigen Abhang“ mit großer Zähigkeit widersetzt; aber<br />
das „Rehabeam-Prinzip“ haben wir noch gar nicht erwähnt, obwohl es schon längst<br />
seinen Schatten über dieses Buch geworfen hat. Der Ausdruck geht zurück auf die<br />
Erzählung von Israels Aufstand gegen Rehabeam (1. Könige 12). Als das Volk um<br />
eine Steuererleichterung bat, hätte ein Zugeständnis Rehabeams den Bestand des<br />
Königreichs sichern können. Aber er wollte nicht; der Status quo sollte nicht nur<br />
beibehalten, sondern die Steuerlast sogar noch erhöht werden.<br />
„Auf zu deinen Hütten, Israel!“ schrie das aufgebrachte Volk – und schon war es<br />
um das Königreich geschehen.<br />
Dazu bemerkt Ellen White: „Als sich ihnen während der Versammlung in Sichem<br />
die Gelegenheit dazu bot, vermochten sie die Auswirkungen ihrer Handlungsweise<br />
nicht zu beurteilen und schwächten für immer ihren Einfluß auf einen großen Teil<br />
des Volkes.“ (PK 62)<br />
Bezüglich der Inspiration lehnen viele, die den „rutschigen Abhang“ fürchten<br />
(wie z. B. Rehabeam), jedes Zugeständnis kategorisch ab. Ja sie ziehen die Schlinge<br />
der Unfehlbarkeit nur noch fester zu, indem sie sich auf festgeschriebene<br />
Glaubensüberzeugungen stützen oder sogar schriftliche Bekenntnisse fordern. Ich<br />
habe dagegen in diesem Buch immer wieder die Meinung vertreten, wir sollten die<br />
Bibel für sich selbst sprechen lassen.<br />
Ich wende mich auch gegen die Anwendung bibelfremder, rationalistischer<br />
Maßstäbe auf die Bibel. Wenn der Text beispielsweise von einem Wunder spricht,<br />
wollen wir seinem Zeugnis vertrauen. Sollten Differenzen zutage treten (z. B. bei<br />
Parallelabschnitten), so laßt uns auch diese Texte anerkennen. Die Verleugnung<br />
dessen, was wir bereits erkannt haben, führt zwangsläufig zu dem Ausruf: „Auf zu<br />
deinen Hütten, Israel!“<br />
267
INSPIRATION<br />
Unsere Gemeinschaft hat denkende und engagierte Leute verloren, weil ihnen<br />
gewisse Gemeindeglieder Ansichten über die Schrift aufzwingen wollten, die nicht<br />
den Tatsachen entsprachen. Der Bibel zu viel zuzuschreiben ist ebenso gefährlich<br />
wie ihr zu wenig zuzutrauen. Jeder Lehrer und jeder Prediger sieht sich diesem<br />
Dilemma ausgesetzt. Sollen wir riskieren, Menschen vor den Kopf zu stoßen, weil<br />
wir überzogene Ansprüche für die Bibel geltend machen? Oder werden wir andere<br />
verlieren, weil sie befürchten, daß wir der Schrift nicht genügend Vertrauen<br />
schenken?<br />
In diesem Kapitel möchte ich praktische Wege aufzeigen, wie Verluste aus beiden<br />
Gruppen möglichst niedrig gehalten und Einsichten über die Inspiration der<br />
Gemeinde zugänglich gemacht werden können. Ich nenne zunächst fünf<br />
Grundprinzipien, diesen werden acht detailliertere Hinweise folgen.<br />
Kernpunkte der Diskussion<br />
1. Der „schlüpfrige Abhang“ oder das „Rehabeam-Prinzip“ – Bricht der Glaube<br />
plötzlich zusammen oder wird er allmählich ausgehöhlt? Wer den „rutschigen<br />
Abhang“ fürchtet, mag vielleicht denken: „Falls mir dieser Weg nicht erspart bleibt,<br />
kann ich auch gleich aufgeben. Ein einziger ‚Irrtum‘ – und alles ist wertlos.“<br />
Während die einen heftigen Widerstand leisten, um einen Zusammenbruch zu<br />
vermeiden, werfen andere ihren Glauben gleich über Bord, weil sie einen tödlichen<br />
„Fehler“ entdeckt zu haben meinen.<br />
Andere haben inzwischen angefangen, mit Rehabeam zu verhandeln. „Wir<br />
bleiben dir treu ergeben, wenn du unser Joch nur ein wenig erleichterst. Bitte laß uns<br />
wenigstens so weit gehen, wie es uns die Bibel selbst ermöglicht.“ Antwortet die<br />
Gemeinschaft nun im Sinne Rehabeams, dann verlieren sie diejenigen, die bereits zu<br />
gewissen Erkenntnissen gekommen sind. Genau da aber liegt unser Dilemma. Ich bin<br />
überzeugt, es ließen sich praktische Schritte unternehmen, um Verluste in beiden<br />
Gruppen zu verringern. Wir werden später darauf zurückkommen. Bedenken wir<br />
aber, daß beide Seiten in echter Gefahr sind.<br />
Ich erinnere mich, wie mir ein älterer, ehem<strong>als</strong> römisch-katholischer Student<br />
seine Reaktion beschrieb, <strong>als</strong> er von einer Lehrveränderung erfuhr, die es den<br />
Katholiken gestattete, am Freitag Fleisch zu essen. Er war dam<strong>als</strong> etwa zehn Jahre alt<br />
und nur lose mit der Kirche verbunden. Als aber jene Entscheidung bekannt wurde,<br />
war er entsetzt und verwarf jede Religion. „Man hat uns gelehrt, wir würden in die<br />
Hölle kommen, wenn wir am Freitag Fleisch essen,“ sagte er. „Was erzählen wir nun<br />
all den Leuten in der Hölle?“ Als ich ihn traf, hatte er seinen Glauben zwar<br />
268
ZWEI WEGE INS VERDERBEN<br />
wiedergefunden, aber den damaligen Schock noch nicht vergessen.<br />
W. W. Prescott stand vor dem „rutschigen Abhang“, <strong>als</strong> er gebeten wurde, das Buch<br />
Der große Kampf neu herauszugeben. Doch bewirkte die Erfüllung dieser Aufgabe<br />
letztlich eine Glaubensstärkung für ihn. Seine erste Reaktion aber war alles andere<br />
<strong>als</strong> positiv: „Zunächst sagte ich: ‚Nein, das werde ich nicht tun. Ich weiß, was das<br />
bedeutet.‘ Dann wurde ich dazu überredet. Als ich die Sache mit W. C. White<br />
besprochen hatte, sagte ich: ‚Ich habe folgendes Problem. Ich habe das Buch<br />
durchgearbeitet und Änderungsvorschläge unterbreitet, die zur Korrektur gewisser<br />
Aussagen erforderlich sind. Diese Vorschläge wurden akzeptiert. Persönlich werde<br />
ich jedoch Mühe haben, meinen Glauben bezüglich der Dinge zu bewahren, die ich<br />
nicht auf diese Weise lösen kann.‘ Aber ich verwarf den Geist der Weissagung nicht<br />
und habe es bis heute nicht getan; allerdings war ich genötigt, meine Ansichten<br />
darüber zu ändern. Und ich kann euch sagen, daß mir die Beziehung jener Schriften<br />
zu dieser Bewegung und zu unserem Werk heute klarer und enger erscheint, <strong>als</strong> es<br />
dam<strong>als</strong> der Fall war. Trotzdem wißt ihr, was man mir zum Vorwurf macht. Ich habe<br />
genau das, was euch bewegt, am eigenen Leibe erfahren. Wenn wir hier und dort<br />
Korrekturen vornehmen, wie können wir dann an anderen Stellen unsere Position<br />
aufrechterhalten?“ (Couperus, „The Bible Conference of 1919,“ 54-55)<br />
Mir sind Studenten begegnet, die sich zu einem tieferen Glauben durchgerungen<br />
haben. Wenn das nicht die Erfahrung der überwiegenden Mehrheit wäre, hätte ich<br />
dieses Buch gar nicht geschrieben. Andererseits habe ich auch gesehen, wie bei<br />
einigen der Glaube Schiffbruch erlitt. Ich kenne Studenten, die die ersten Schritte des<br />
Umdenkens vollzogen, dann aber aus ihrer sozialen Umwelt ausbrachen und später<br />
den Glauben ganz verloren. Die adventistische Geschichte kennt<br />
Führerpersönlichkeiten wie A. T. Jones, D. M. Canright und John Harvey Kellogg,<br />
die sich nicht umstellen konnten. Prescott sagte: „Ich mußte meine Ansichten<br />
entsprechend ändern.“ Das ist die Veränderung, die die gesamte Adventgemeinde<br />
dringend benötigt, wenn wir die ständig sich wiederholenden Krisen vermeiden<br />
wollen, die sich an der Frage der Inspiration entzünden.<br />
Um auf eine bereits verwendete (etwas chauvinistische) Illustration<br />
zurückzukommen: Einige schreien „Hinaus!“, weil die Frau die Bohnen hat<br />
anbrennen lassen. Andere behaupten: „Die Bohnen sind gar nicht angebrannt; sie<br />
haben nur einen ganz eigenen, besonderen Geschmack.“ Die reife Haltung kommt in<br />
den Worten zum Ausdruck: „Der Wert meiner Frau hängt nicht davon ab, ob die<br />
Bohnen mitunter angebrannt sind. Im Blick auf das, was wirklich zählt, ist sie genau<br />
die richtige Frau für mich. Außerdem kommt es ja wirklich selten vor, daß ihr die<br />
Bohnen anbrennen.“<br />
269
INSPIRATION<br />
Diese reife Haltung stellt eine Art Mittelweg dar, auf dem wir uns sicher bewegen<br />
können, wenn wir das folgende Prinzip beachten.<br />
2. Die Wichtigkeit sozialen Rückhalts für jegliche Ansicht über Inspiration – Allzu<br />
leicht sind wir davon überzeugt, daß sich unsere derzeitige Meinung schließlich <strong>als</strong><br />
richtig erweisen wird. Dabei sollten wir aber bedenken, daß jede von uns vertretene<br />
Ansicht, unabhängig von ihrer Richtigkeit, auch von unserem sozialen Umfeld<br />
geprägt und gestützt wird. Wir werden durch ähnlich denkende Gläubige bestärkt,<br />
bei unserer Überzeugung zu bleiben.<br />
„Umkehr“ zu einem neuen Leben und zu neuem Denken geschieht leichter, wenn<br />
sich jemand aus den Trümmern seiner zerstörten Umgebung befreit und neuen<br />
gesellschaftlichen Rückhalt findet. Damit sich dieser Mensch zu einem neuen System<br />
bekennen kann, braucht es einerseits klare Grundsätze und andererseits überzeugte<br />
Mitmenschen. Evangelisation kann kaum erfolgreich sein, wenn sich der Prediger<br />
oder die Gemeindeglieder ihres Glaubens nicht sicher sind. Überzeugend<br />
vorgetragene Behauptungen – selbst wenn sie f<strong>als</strong>ch sind – werden mehr Anhänger<br />
finden <strong>als</strong> ein zielloses Palaver über wahre Dinge.<br />
Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß Ellen White mir den nötigen sozialen<br />
Rückhalt gegeben hat. Auch mein College-Lehrer J. Paul Grove spielte eine wichtige<br />
Rolle in meiner geistigen Entwicklung. Aus persönlicher Erfahrung bin ich<br />
überzeugt, daß wir <strong>als</strong> Gemeinschaft einen Mittelweg einschlagen und dort Grenzen<br />
ziehen sollten, wo es nötig ist, damit wir nicht den „rutschigen Abhang“<br />
hinabgleiten. Wir können – und sollten – solche Zugeständnisse machen, die der<br />
Bibeltext selber erfordert (um Rehabeams Untergebene zufriedenzustellen); dann<br />
können wir vertrauensvoll vorangehen. Wir werden nicht nur eine stabile<br />
Gemeinschaft für uns und unsere Kinder bilden, sondern auch dazu beitragen, in<br />
unserer christlichen Welt stabile Werte zu erhalten.<br />
Der Soziologe und Theologe Peter Berger spricht im Zusammenhang mit der<br />
sogenannten „Dialektischen Theologie“ ganz offen von der Wichtigkeit<br />
gesellschaftlicher Unterstützung. (Obwohl Adventisten längst nicht alle<br />
neoorthodoxen Auffassungen gutheißen können, hat sich diese Bewegung doch sehr<br />
darum bemüht, die Transzendenz Gottes erneut ins Bewußtsein zu rufen.) Da sich die<br />
Neoorthodoxie der zeitgenössischen Kultur entgegenstellte, benötigten ihre<br />
Anhänger gegenseitige Unterstützung. „Grob gesagt, wenn man heutzutage glauben<br />
soll, was die Neo-Orthodoxie einen glauben machen möchte, dann sollte man mit<br />
seinen Glaubensbrüdern tunlichst ständig eng zusammenhocken.“ (Berger 155)<br />
Bergers Aussage mag uns plump erscheinen, aber der Hebräerbrief sagt uns<br />
270
ZWEI WEGE INS VERDERBEN<br />
letztlich dasselbe in einer uns geläufigeren Sprache: „... laßt uns aufeinander<br />
achthaben ... und nicht verlassen unsere Versammlungen ...“ (Hebräer 10,24.25).<br />
3. Die Gesetzespyramide <strong>als</strong> Stabilitätsfaktor – Ich bin zunehmend davon überzeugt,<br />
daß die Gesetze, die wir das eine, die zwei und die zehn genannt haben, einen<br />
bemerkenswert stimmigen Rahmen bilden, in den sich die gesamte Bibel sinnvoll<br />
einfügen läßt. Wer sich vor dem „rutschigen Abhang“ fürchtet, kann gerade hier<br />
einen festen Anker finden. Weil wir Adventisten den Sabbat ernst nehmen, können<br />
wir unsere einzigartige Auffassung vom Gesetz gegenüber Andersgläubigen<br />
glaubhaft vertreten. Wir sollten von diesem Geschenk Gottes mehr Gebrauch machen<br />
und auch unsere Mitmenschen daran teilnehmen lassen.<br />
4. Persönlicher Brief oder Enzyklopädie – Konservative christliche Kreise neigen<br />
zu der Annahme, daß die von inspirierten Schreibern verfaßten Dokumente auf alle<br />
Fragen eine letztgültige Antwort haben. Ich denke, einer der Gründe dafür, daß das<br />
Vertrauen in die Schrift im 19. Jahrhundert erheblich nachgelassen hat, besteht darin,<br />
daß die Kirche nicht fähig war, einen Mittelweg zu beschreiten. Wissenschaftler<br />
entdeckten Sachverhalte in der Bibel, die die Kirche nicht wahrhaben wollte. Das<br />
Rehabeam-Prinzip wurde wirksam. Das Ergebnis war, daß die Kirche eine erhebliche<br />
Zahl ihrer Glieder verlor.<br />
In einem gewissen Sinn haben wir uns selbst zu Gefangenen der Aufklärung<br />
gemacht. Mögen ernüchterte Gelehrte versuchen, die Bibel <strong>als</strong> unwahr hinzustellen,<br />
so sollten wir uns doch keinesfalls auf ihr Niveau begeben und unsererseits<br />
versuchen, mit Hilfe derselben Methoden den göttlichen Ursprung der Bibel zu<br />
beweisen. Die wirklich entscheidenden Belange unserer religiösen Erfahrung, wie<br />
auch aller menschlicher Erfahrung, können nie in formalem Sinn bewiesen werden.<br />
Was könnte beispielsweise den Beweis dafür liefern, daß mich meine Frau liebt?<br />
Selbst der Versuch, solche Beweise zu erbringen, würde das, was ich an ihr am<br />
meisten schätze, zerstören, nämlich ihr Vertrauen und unsere Beziehung, die aus dem<br />
gegenseitigen Vertrauen erwächst.<br />
Da wir die Zuverlässigkeit unserer Freunde und derer, die wir lieben,<br />
gefühlsmäßig ganz gut erfassen können, sollten wir nicht versuchen, auch der Bibel<br />
so zu begegnen? Wir vertrauen den Zeugen, die uns die Bibel übermittelt haben und<br />
erwarten nicht, daß sie absolut vollkommen sind. Das bedeutet, daß wir die Schrift<br />
zur Hand nehmen und lesen, daß wir darüber nachdenken und uns daran freuen, ja<br />
daß wir sogar darüber rätseln können, ohne besorgt sein zu müssen über das, was wir<br />
auf der nächsten Seite vorfinden könnten.<br />
Dadurch wird die Bibel für uns so etwas wie ein Brief von der Familie oder von<br />
Freunden. Diese Vorstellung hat mir sehr geholfen. Jedesmal, wenn wir uns im<br />
271
INSPIRATION<br />
Ausland aufhielten, erlebten wir von neuem, wie schön es ist, Post zu bekommen. In<br />
England, wo Briefe durch den Schlitz an der Haustür geworfen werden, warteten wir<br />
stets mit Spannung auf das willkommene Geräusch der zu Boden fallenden Post –<br />
auch wenn die Nachrichten mitunter traurig waren. Wir öffneten den Umschlag und<br />
lasen – und kümmerten uns wenig um mögliche Fehler. Warum sollten wir es mit der<br />
Bibel nicht auch so halten?<br />
5. Die Rolle der Adventbewegung in der Christenheit – Die Zeit ist reif, daß<br />
Adventisten ihre Erkenntnis der übrigen christlichen Welt zugänglich machen und<br />
sich dabei klar zu ihrer Identität bekennen. Inspiration und biblisches<br />
Gesetzesverständnis sind Themen, zu denen wir etwas zu sagen haben. Sicher<br />
werden wir in unseren eigenen Reihen die wegweisende Rolle von Ellen White<br />
anerkennen, anderen gegenüber werden wir aber nur auf die Schrift verweisen. Das<br />
geht im Grunde genommen ohne Schwierigkeiten, denn die Schrift ist<br />
bemerkenswert deutlich. Was wir brauchen, ist das gesellschaftliche Umfeld<br />
Gleichgesinnter, das uns den nötigen Rückhalt gibt, um darzulegen, was uns schon<br />
immer <strong>als</strong> Wahrheit eingeleuchtet hat.<br />
Konservative evangelikale Christen, die sich – nach den negativen Erfahrungen<br />
der fundamentalistischen Debatte in den frühen Jahren dieses Jahrhunderts – wieder<br />
einem Dialog mit der intellektuellen Welt zuwenden, sind in wissenschaftlichen<br />
Fragen nicht immer sorgfältig genug vorgegangen. Im Bereich der Philologie,<br />
Archäologie und Textkritik wurde durchaus erstklassige Arbeit geleistet. Wenn wir<br />
heute unseren Beitrag zu den heikleren Gebieten der biblischen Forschung und der<br />
systematischen Theologie leisten wollen, ist es wichtig, daß wir unsere<br />
Hausaufgaben gewissenhaft erledigen.<br />
Wir sollten deshalb stets die nötige Sorgfalt walten lassen und auf Primärquellen<br />
zurückgreifen. Bei biblischen Studien bedeutet das, den entsprechenden Bibeltext für<br />
sich selbst sprechen zu lassen. Wir werden nie den Ruf ernstzunehmender<br />
Wissenschaftler erlangen, wenn wir im Zusammenhang mit der Inspiration weiterhin<br />
auf Argumenten beharren, die dem Textbefund zu wenig Rechnung tragen. Unsere<br />
Aufgabe, die moderne Welt davon zu überzeugen, daß es einen Schöpfer und Erlöser<br />
gibt, der sich um uns kümmert, ist herausfordernd genug. Warum sollten wir uns<br />
diese Aufgabe erschweren, indem wir hinsichtlich der Bibel Argumente benutzen,<br />
die nicht völlig stichhaltig sind? Es ist eine Sache, unsere Unwissenheit oder<br />
Ehrfurcht über göttliche Dinge zu bezeugen. Wenn aber biblische Parallelen belegen,<br />
daß unsere traditionellen Argumente unhaltbar sind, sollten wir bereit sein, unsere<br />
„Ansichten darüber zu ändern“ – genauso wie es einer der früheren Adventisten,<br />
nämlich W. W. Prescott, getan hat.<br />
272
ZWEI WEGE INS VERDERBEN<br />
273
INSPIRATION<br />
Praktische Ratschläge<br />
Die folgenden Anregungen fassen eine Reihe von Schlußfolgerungen zusammen, die<br />
sich aus den in diesem Buch enthaltenen Überlegungen ergeben. Sie zielen darauf ab,<br />
der Gemeinde zu tieferer Erkenntnis zu verhelfen und gleichzeitig der Schriftaussage<br />
die nötige Beachtung zu schenken.<br />
1. Stützt euch auf die Aussagen der Bibel. – Zuweilen sind außerbiblische<br />
Hinweise zum Verständnis des biblischen Berichts sehr nützlich. Sich aber auf die<br />
Wissenschaft anstelle der Bibel zu stützen, hilft nicht weiter, wenn dabei lediglich<br />
das natürliche gegen das übernatürliche Geschehen ausgespielt wird. Beruht eine<br />
bestimmte Idee auf einer Auslegung der Schrift, wie im Fall der biblischen<br />
Chronologie, so muß der Bibeltext neu bedacht werden. Unsere Gemeinschaft wird<br />
nicht positiv auf Argumente oder Fakten reagieren, die außerbiblischen Quellen<br />
entstammen. In erster Linie haben wir uns mit dem biblischen Befund selber zu<br />
befassen.<br />
Parallelabschnitte in der Schrift sind bestens geeignet, unser Verständnis über<br />
Inspiration in die richtigen Bahnen zu lenken. Die Evangelien oder Parallelstellen<br />
aus den Büchern Samuel/Könige und Chronik sind ausgezeichnete<br />
Studiendokumente, um unser Verständnis zu vertiefen.<br />
2. Nehmt Rücksicht auf den flüchtigen wie auch auf den prüfenden Leser. – Wir<br />
haben auf mindestens zwei Beispiele hingewiesen, die zeigen, daß der flüchtige<br />
Bibelleser leicht zu anderen Schlußfolgerungen kommt <strong>als</strong> der sorgfältig prüfende<br />
Leser: (a) die biblische Chronologie und (b) die Zahl derer, die Ägypten beim<br />
Auszug verließen. Als drittes Beispiel kann das Ausmaß der Sintflut zur Zeit Noahs<br />
dienen. Gewiß haben Adventisten, wie auch andere konservative Christen, sie stets<br />
<strong>als</strong> eine weltweite Flut verstanden. Das hat sich in den letzten Jahren insofern<br />
dramatisch geändert, <strong>als</strong> Evangelikale, auch solche, die an der Unfehlbarkeit der<br />
Schrift festhalten, heute einräumen, daß es sich bei diesem Wunder nicht<br />
notwendigerweise um ein weltweites Ereignis gehandelt hat.<br />
Kolosser 1,23 könnte in diese Richtung weisen. Dort sagt Paulus, das Evangelium<br />
werde „allen Geschöpfen unter dem Himmel“ gepredigt. Damit meint er aber wohl<br />
kaum das Gleiche, was wir mit dem Wort „weltweit“ bezeichnen.<br />
Wichtig bei all diesen Beispielen ist jedoch, daß wir darunter nicht einfach<br />
natürliche Ereignisse verstehen. Sowohl der flüchtige wie auch der prüfende Leser<br />
muß zugeben, daß der Text auf ein übernatürliches Geschehen hinweist. Es besteht<br />
ein großer Unterschied zwischen der Anerkennung dieser Tatsache (bei<br />
unterschiedlichen Einzelvorstellungen) und der Leugnung des Eingeifens Gottes in<br />
274
ZWEI WEGE INS VERDERBEN<br />
die Geschichte überhaupt.<br />
Anders ausgedrückt: Die Tatsache der Sintflut ist wichtiger <strong>als</strong> ihr Ausmaß. Ebenso<br />
können wir sagen, daß die Tatsache des Exodus wichtiger ist <strong>als</strong> die Anzahl der<br />
daran beteiligten Personen. Das Wundergeschehen bleibt in jedem Fall davon<br />
unberührt. Deshalb sollte sich sowohl der flüchtige wie auch der prüfende Leser in<br />
unserer Gemeinschaft angenommen wissen.<br />
Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir übereinkommen, was <strong>als</strong> unverzichtbar<br />
und was <strong>als</strong> diskutabel gelten soll. Angesichts der Struktur unserer Gemeinschaft<br />
liegt die Hauptverantwortung dafür, daß mit Bedacht vorgegangen wird, in den<br />
Händen der ausgebildeten geistigen Leiter.<br />
3. Angriff ist die beste Verteidigung. – Weder Ellen White noch die Schreiber der<br />
Bibel heben besonders hervor, daß sie Altes beiseite legen und sich Neuem<br />
zuwenden. Die neutestamentliche Haltung gegenüber jüdischen Gebräuchen, die ihre<br />
Gültigkeit verloren hatten, grenzt mitunter an Polemik. Jesu Reden in der<br />
Bergpredigt („Ihr habt gehört, daß gesagt ist ... Ich aber sage euch ...“) bieten ein<br />
weiteres Beispiel dafür, daß hier ein Wandel eingetreten ist. Wenn Petrus auf das<br />
Joch hinweist, „das weder unsere Väter noch wir haben tragen können“<br />
(Apostelgeschichte 15,10), so gesteht er damit mehr ein <strong>als</strong> sonst bei den Schreibern<br />
der Bibel üblich ist.<br />
Im allgemeinen verblaßt das Alte zusehends und wird mehr und mehr durch<br />
Neues ersetzt. Auch die Schriften von Ellen White lassen bedeutende<br />
Richtungsänderungen erkennen, ohne daß sie selbst besonders darauf hingewiesen<br />
hätte. Dafür gibt es einleuchtende und praktische Gründe. Zum Nachteil ist es<br />
allerdings, wenn ernüchterte Leser den Eindruck gewinnen, sie wollte etwas<br />
vertuschen. Sicher wäre es angebracht, in unseren Gemeinden gelegentlich Seminare<br />
durchzuführen, bei denen die mehr theoretischen Zusammenhänge wie auch die<br />
menschlichen Aspekte in geeigneter Weise dargestellt würden. Das sollte aber nicht<br />
das vorrangige Ziel sein. Am wichtigsten ist die geistliche Speise. Man sollte deshalb<br />
nicht so viele Knochen, dafür mehr Fleisch anbieten.<br />
4. Räumt Geschichtenerzählern die nötige Freiheit ein. – Eine Untersuchung der<br />
Parallelberichte in der Bibel, speziell in den Evangelien, läßt erkennen, daß die<br />
Verfasser sich erstaunlich frei fühlten, die Geschichte ihrem Lehrziel anzupassen.<br />
Alle großen Geschichtenerzähler nehmen sich diese Freiheit. Ich erinnere mich gut,<br />
wie enttäuscht ich war, <strong>als</strong> ich entdeckte, daß eine meiner Lieblingsgeschichten sich<br />
in Wirklichkeit so nicht zugetragen hatte. Es ist eine großartige Geschichte – aber ich<br />
weiß jetzt, daß es sich um eine Collage verschiedener Geschichten handelt, die zu<br />
einer einzigen Erzählung umgeformt wurden.<br />
275
INSPIRATION<br />
Ähnliches begegnet uns in der Bergpredigt, die <strong>als</strong> Kompilation<br />
(Zusammenstellung) zu verstehen ist, aber häufig <strong>als</strong> eine zusammenhängende<br />
Predigt dargestellt wird. Lukas benutzt ebenfalls dieses Material und präsentiert es<br />
<strong>als</strong> „Feldpredigt“. Viele meinen, daß jeder Geschichte ein Einzelereignis zugrunde<br />
liege. Solch eine Einstellung führt meines Erachtens zu großen Schwierigkeiten; sie<br />
fußt auf der Theorie der Irrtumslosigkeit, nicht aber auf dem offensichtlichen<br />
Textsinn.<br />
Wenn wir erkennen, daß uns die Bibel für praktische Zwecke gegeben wurde,<br />
sollten wir ihren Verfassern die gleichen Rechte gewähren, wie wir sie Predigern,<br />
Lehrern und Erzählern ohne weiteres zugestehen, nämlich Freiheit, einen bestimmten<br />
Bericht so zu formen, daß das anvisierte Lehrziel erreicht wird.<br />
5. Achtet auf eure Sprache. – Drei Anliegen sollen hier genannt werden:<br />
Erstens, vermeidet vorschnelle und unüberlegte Äußerungen. Bevor ihr nicht<br />
vertraut seid mit der Materie, könnt ihr sie auch nicht darbieten. Die Art und Weise,<br />
wie ihr sie vermittelt, hängt von eurer eigenen Erfahrung und eurem persönlichen Stil<br />
ab. Ich bemühe mich, sehr offen und ehrlich zu sein, besonders was Ellen White<br />
betrifft; nahm sie doch in meiner geistlichen Entwicklung eine Schlüsselrolle ein.<br />
Kollegen sagen mir mitunter, sie könnten sich nie erlauben, das zu sagen, was ich<br />
sage, und dabei ungeschoren davonkommen. Ich hoffe, daß meine Zuhörer spüren,<br />
daß es mir nicht darum geht, ungeschoren davonzukommen, sondern daß ich mit<br />
ihnen eine Erfahrung teilen möchte, die mir sehr wichtig geworden ist und die man<br />
nicht für sich behalten sollte.<br />
Zweitens, vermeidet Sätze, die irrtümliche Ansichten stützen. Alles-oder-nichts-<br />
Aussagen sind am gefährlichsten: „Wenn ihr irgendeine andere Übersetzung <strong>als</strong> die<br />
King James Version verwendet ...“; oder: „Wenn ihr auch nur einen einzigen Fehler<br />
in der Bibel entdeckt ...“ Wir zahlen einen hohen Preis für die Wiederholung<br />
derartiger Sätze. Immer wieder erinnern wir uns daran – selbst wenn wir uns längst<br />
vorgenommen haben, sie zu vergessen. Vielleicht sollte man Sprüche 22,6 so<br />
übersetzen: „Gewöhne einen Knaben an seinen Weg, so wird er nicht davon<br />
loskommen, auch wenn er alt wird.“<br />
In diesem Zusammenhang erscheint es ebenso ratsam zu vermeiden, daß die durch<br />
flüchtiges Lesen entstandenen Schlußfolgerungen durch unsere Aussagen noch<br />
gestützt werden. Anstatt von zwei Millionen Menschen zu sprechen, die aus Ägypten<br />
auszogen, sollten wir besser von „Tausenden“ reden. Wir werden zwar weiterhin mit<br />
den Schlußfolgerungen flüchtiger Leser rechnen müssen, aber wir brauchen sie nicht<br />
noch zu ermuntern, diese allzu ernst zu nehmen.<br />
Drittens, vermeidet provozierende Begriffe. Worte wie „Irrtum“, „Widerspruch“<br />
276
ZWEI WEGE INS VERDERBEN<br />
und „Fehler“ sollten in Bezug auf die Bibel aus unserem Vokabular gestrichen<br />
werden. In Amerika ist der Glaube an die Unfehlbarkeit so stark verankert, selbst bei<br />
denen, die die Bibel nie gelesen haben, daß man solche Menschen leicht verlieren<br />
kann, noch ehe der richtige Zugang zu ihnen gefunden ist. Wir sollten <strong>als</strong>o unsere<br />
Worte sorgfältig abwägen. Der Begriff „Unterschied“ oder „Abweichung“ dürfte <strong>als</strong><br />
Umschreibung dessen genügen, was wir sagen möchten. „Formen“ oder „gestalten“<br />
sind bessere Ausdrücke <strong>als</strong> „verändern“. Unser Ziel besteht ja darin, den Glauben zu<br />
stärken.<br />
6. Lest für euch selbst. – Die für Adventisten einschlägigen Aussagen über<br />
Inspiration sind in der Einleitung zum Buch Der große Kampf sowie in Für die<br />
Gemeinde geschrieben, Band 1, zu finden. (Diese Dokumente bilden den ersten Teil<br />
dieses Buches.) Vermeidet theoretische Diskussionen, die den biblischen Befund<br />
außer acht lassen. Nichts ist wichtiger <strong>als</strong> das Studium der Bibel selber. Dabei sind<br />
die Parallelabschnitte besonders hilfreich, um die Grenzen jeglicher Inspirationslehre<br />
aufzuzeigen. Wir sollten bereit sein, wenigstens so weit zu gehen, wie die Bibel<br />
selbst geht.<br />
Und natürlich hoffe ich, daß das vorliegende Buch <strong>als</strong> Wegweiser dienen und zu<br />
weiterem Studium und Gedankenaustausch anregen wird. Aber man verlasse sich<br />
nicht auf mein Wort, sondern erprobe es selbst. Nach wie vor schätze ich die aus der<br />
Zeit nach 1888 stammenden, etwas scharfen Worte von Ellen White: „Wir dürfen die<br />
Meinungen von Kommentatoren nicht mit der Stimme Gottes gleichsetzen; sie waren<br />
irrende Sterbliche wie wir auch. Genauso wie ihnen hat Gott auch uns<br />
Verstandeskräfte gegeben. Wir sollten die Bibel für sich selbst sprechen lassen.“<br />
(TM 106)<br />
7. Arbeitet zusammen mit den Leitern unserer Gemeinschaft. – Als Prediger,<br />
Lehrer, Administratoren, Evangelisten und Laien haben wir alle unseren eigenen<br />
Blickwinkel, der nicht zuletzt von unseren Aufgaben im Alltag und in der Gemeinde<br />
bestimmt wird. Wenn wir versäumen, uns regelmäßig auszutauschen, kann es leicht<br />
zu Verdächtigungen kommen. Dann werden Steine geworfen, und unversehens ist<br />
der Leib Christi verwundet. Das können wir verhindern. Daß es möglich ist, habe ich<br />
in unserem Teil der Welt erlebt. Und ich bin den Verantwortungsträgern sehr<br />
dankbar, daß sie uns in die richtige Richtung gewiesen haben. Solch ein Vorgehen<br />
beschreibt auch Ellen White: „Es wäre sehr vorteilhaft für unsere Schulen, wenn<br />
regelmäßig und häufig Versammlungen abgehalten würden, bei denen sich alle<br />
Lehrer im Studium des Wortes Gottes vereinen.“ (CT 433)<br />
8. Benutzt die Schriften von Ellen White nicht <strong>als</strong> letztgültige Interpretation der<br />
Bibel, genausowenig wie ihr das Neue Testament <strong>als</strong> letztgültige Interpretation des<br />
277
INSPIRATION<br />
Alten Testaments benützen solltet. – Dieser letzte Punkt ist vielleicht der heikelste.<br />
Während meiner College-Jahre lehrte mich J. Paul Grove, das Matthäusevangelium<br />
auf dessen eigentlichen Gehalt hin zu studieren. Wir lasen keine anderen Evangelien,<br />
keine Bibelkommentare. Wir lasen nichts aus dem Buch Das Leben Jesu. Unser<br />
Lehrer wollte nur die Stimme von Matthäus zu Wort kommen lassen. Und so<br />
geschah es auch.<br />
Doch dann entdeckte ich, daß sich Matthäus nicht an dieselben Regeln hielt wie<br />
ich. Und das ärgerte mich, zumindest eine Zeitlang. Ich wäre bei der Prüfung<br />
durchgefallen, wenn ich das Alte Testament so gelesen hätte, wie Matthäus es tat.<br />
Dann aber gewann ich die Einsicht, daß Matthäus die besten Methoden der<br />
damaligen Zeit anwandte. So wurde ich wieder mit ihm versöhnt.<br />
Jeder muß sich darüber klar werden, wie er die Aussagen eines inspirierten<br />
Schreibers zu denen eines anderen in Beziehung setzen soll. Dabei entstand für mich<br />
das Motto, das ich heute vertrete (und von dem ich glaube, daß es wichtig ist, wenn<br />
wir unsere eigene Integrität sowie die der inspirierten Schreiber unangetastet lassen<br />
wollen): Wer wissen will, was das Alte Testament lehrt, der lese das Alte Testament;<br />
wer wissen will, was das Neue Testament lehrt, der lese das Neue Testament; wer<br />
wissen will, was Ellen White lehrt, der lese Ellen White.<br />
Das bedeutet keineswegs, daß ein inspirierter Schreiber nicht etwa eine<br />
Andeutung machen oder eine Anregung geben darf, die eine andere Stelle erhellt<br />
oder verständlich macht. Ellen White hat in diesem Sinne mein Verständnis für das<br />
Alte Testament erweitert. Sie erlaubte mir gewissermaßen, Dinge zu sehen, die man<br />
mir früher <strong>als</strong> gefährlich dargestellt hatte. Und heute noch vermittelt sie mir oft<br />
Einsichten, die mir helfen, die Schrift besser zu verstehen, so wie mir auch das<br />
Bibelstudium Einsichten vermittelt, die mir helfen, Ellen White richtig zu verstehen.<br />
Solch eine Haltung setzt natürlich voraus, daß der Schriftkanon gesichert ist.<br />
Darüber hinaus halte ich Ellen White für eine beglaubigte Prophetin, die sich an die<br />
Adventgemeinde richtet. Sie hat unser Vertrauen verdient. Ich brauche ihre<br />
Glaubwürdigkeit nicht immer wieder zu hinterfragen, genausowenig wie ich Jeremia,<br />
Matthäus oder Paulus ständig einer neuen Prüfung unterziehe.<br />
In einem gewissen Sinn ist dies mit einer Ehe vergleichbar. Ich brauche mich<br />
nicht zu fragen, ob ich verheiratet bin oder nicht. Ich muß mich nicht einmal<br />
verheiratet fühlen. Ich bin verheiratet. Und das gibt mir ein hohes Maß an Sicherheit<br />
und Freiheit, ob meine Frau und ich nun zusammen sind oder nicht.<br />
Ellen White (wie auch die Autoren der Bibel) schrieb „für praktische Zwecke“.<br />
Das bedeutet, daß wir ihren wichtigen Lehren und zentralen Anliegen jederzeit<br />
Beachtung schenken sollten.<br />
278
ZWEI WEGE INS VERDERBEN<br />
Ich möchte ihre Rolle auch nicht <strong>als</strong> „pastoral“ bezeichnen, um sie damit von der<br />
der biblischen Propheten zu unterscheiden. Inspiration ist ein und dasselbe<br />
Phänomen in der Erfahrung der Bibelschreiber wie auch von Ellen White. Was<br />
jedoch anders ist, ist die Funktion der Heiligen Schrift. Sie ist die Norm, an der alles<br />
andere gemessen wird. Aber da ich einem inspirierten Schreiber nie zumute, die<br />
Aussagen eines anderen inspirierten Schreibers letztgültig auszulegen, sehe ich mich<br />
auch nie veranlaßt, einen gegen den anderen auszuspielen. In jedem Fall frage ich<br />
nach der praktischen Anwendung und dem eigentlichen Anliegen der Botschaft.<br />
Unter allen Umständen sollten wir uns von der Gewohnheit lösen, die Schriften von<br />
Ellen White oder auch die Bibel <strong>als</strong> eine Art „Heilig-Geist-Ausgabe“ der<br />
Encyclopaedia Britannica zu benutzen, das heißt zu erwarten, daß sie für jede<br />
Kleinigkeit eine verbindliche Erklärung liefern.<br />
„Die Bibel ist ganz praktisch zu nehmen.“ (1 FG 20) Sie verbindet uns mit Gott.<br />
Und mit Gottes Hilfe werden wir sie hochhalten, bis Jesus wiederkommt.<br />
Ich möchte dieses Kapitel mit einem meiner Lieblingstexte aus dem Buch<br />
Erziehung abschließen. Es geht dabei um die Macht des Wortes Gottes: „Wenn wir<br />
über die erhabenen Gegenstände des Wortes Gottes nachsinnen, schauen wir<br />
gleichsam in einen Brunnen, der sich unter unserem Blicke ausdehnt und vertieft.<br />
Seine Breite und Tiefe übersteigt unsere Erkenntnis. Während wir hinabblicken,<br />
erweitert sich die Schau: Vor uns sehen wir ein unbegrenztes, uferloses Meer<br />
daliegen. Von einem solchem Studium geht belebende Kraft aus. Geist und Herz<br />
erlangen neue Stärke, neues Leben. Diese Erfahrung ist der höchste Beweis für den<br />
göttlichen Ursprung der Bibel. Ebenso wie das Brot unserem Körper <strong>als</strong> Speise dient,<br />
nährt das Wort Gottes unsere Seele. Das Brot kommt den Bedürfnissen unseres<br />
natürlichen Menschen entgegen. Aus Erfahrung wissen wir, daß es Blut, Knochen<br />
und Gehirnmasse erzeugt. Machen wir dieselbe Probe mit der Bibel: Was war das<br />
Ergebnis, wenn ihre Grundsätze wirklich zu Bestandteilen des Charakters wurden?<br />
Welcher Wandel im Leben bewirkte sie? ‚Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles<br />
neu geworden.‘ [2. Korinther 5,17]“ (E 159)<br />
279
Kapitel 21<br />
Es ist doch alles so klar!<br />
In diesem abschließenden Kapitel kehren wir zum Anfangspunkt zurück und werfen<br />
noch einmal einen Blick auf die Beziehung zwischen christlicher Erfahrung und<br />
biblischer Botschaft. *<br />
Im ersten Teil dieses Buches finden sich Ellen Whites klassische Aussagen über<br />
Inspiration aus Für die Gemeinde geschrieben, Band 1, sowie die Einleitung zum<br />
Buch Der große Kampf. Sie verbinden in bemerkenswerter Weise eine realistische<br />
Einschätzung der Bibel mit der Zusicherung, daß wir dem Wort Gottes voll und ganz<br />
vertrauen können. Es ist erstaunlich, wie diese fromme Frau Überraschungen<br />
verarbeiten und trotzdem glauben konnte.<br />
Vielleicht geht es manchen Lesern dieses Buches wie den beiden Studentinnen,<br />
die auf meinen Kurs über „Offenbarung und Inspiration“ mit der folgenden,<br />
bewegenden Frage reagierten. Die eine schrieb: „Wenn wir den Worten eines<br />
Propheten nicht vertrauen können, da sie ja gar nicht Wort für Wort inspiriert sind,<br />
und wir nicht wissen, ob für uns heute etwas von bleibendem Wert ist, wie sollen wir<br />
dann angesichts solcher Ungewißheit die Bibel auf unser persönliches Leben<br />
beziehen?“ Und ihre Zimmergefährtin fügte hinzu: „In den vergangenen Wochen ist<br />
mir irgendwie der Gedanke gekommen, daß die Heilige Schrift doch nicht das ist,<br />
was ich mir einmal vorgestellt habe. In der Klasse sind Ideen aufgekommen, bei<br />
denen ich mich frage: Sind die Aussagen jener ‚inspirierten Männer der alten Zeit‘<br />
überhaupt noch gültig?“<br />
Wie können wir einen Glauben erlangen, der nicht wankt? Ich kannte die beiden<br />
jungen Frauen, die ihre Beunruhigung zum Ausdruck gebracht hatten. Sie waren<br />
echte Christen und übten im College einen positiven Einfluß aus. Weshalb war ihr<br />
Glaubensleben in Gefahr?<br />
Am folgenden Montagmorgen sammelte ich die letzten Leseberichte ein. Die<br />
Aufgabe hatte gelautet: „Lies die Einführung zum Buch Der große Kampf sowie Für<br />
die Gemeinde geschrieben, Band 1, die Seiten 15-60. Gib deinen persönlichen<br />
Eindruck wieder.“<br />
* In der englischsprachigen Ausgabe beschreibt Alden Thompson an dieser Stelle ausführlich seine<br />
Erfahrungen und die Situation der nordamerikanischen Adventgemeinde am Anfang der 80er Jahre.<br />
Wir bringen diesen Abschnitt hier in gekürzter Form.<br />
280
ES IST DOCH ALLES SO KLAR!<br />
Was für eine Freude und Erleichterung! Gottes Geist hatte gewirkt. Die beiden<br />
Zimmergefährtinnen hatten ihre Leseaufgabe erfüllt. Die erste schrieb: „Ich<br />
wünschte, wir hätten diese Texte bereits am Anfang gelesen. Sie haben alles, was wir<br />
bisher betrachtet haben, so einsichtig gemacht. Das war so etwas wie die<br />
Zusammenfassung des ganzen Unterrichts. Ellen White sagte genau, wie ihre<br />
Schriften und auch die Bibel verwendet werden sollten. Es ist doch alles so klar.<br />
Wenn nur alle das lesen würden, damit es bei solchen Streitfragen weniger Probleme<br />
gäbe!“<br />
Auch ihre Zimmergefährtin meinte: „Als ich jene Texte las, fragte ich mich,<br />
warum wir diese Lektüre nicht zu Beginn des Kurses erhalten haben. Ich war sehr<br />
beeindruckt. Viele meiner Fragen über den Umgang mit den Schriften von Ellen<br />
White und mit der Bibel finden hier ihre Antwort. Weshalb gibt es nur so viele<br />
Auseinandersetzungen über ihre Schriften, wo sie doch selber die Antwort<br />
bereithält?“<br />
Heute lesen meine Studenten diese beiden Abschnitte am Anfang und am Ende<br />
des Kurses. Und beim zweiten Durchgang erkennen sie noch vieles, das ihnen beim<br />
ersten Lesen gar nicht aufgefallen ist.<br />
Warum aber sind diese beiden Texte so hilfreich? Vielleicht liegt es daran, daß<br />
Zweifel zu noch mehr Zweifel führt, während der Glaube größeren Glauben erweckt.<br />
Der große christliche Apologet C. S. Lewis spielt auf unsere Verletzlichkeit an, wenn<br />
er aus eigenen Erfahrung sagt: „In der Gesellschaft von Ungläubigen fällt es mir<br />
schwerer zu glauben, selbst wenn es Leute sind, deren Meinung in allen andern<br />
Dingen <strong>als</strong> unmaßgeblich bekannt ist.“ (Lewis 72)<br />
Die Gesellschaft, in der wir uns bewegen, prägt unser geistliches Leben. Und<br />
wenn wir lesen, was Ellen White über Inspiration zu sagen hat, befinden wir uns in<br />
Gesellschaft eines gläubigen Menschen. Sie sagt eigentlich nichts, was wir durch<br />
sorgfältiges Schriftstudium nicht selber entdecken könnten. Sollten wir aber auf eine<br />
verunsichernde „Überraschung“ in Gottes Wort stoßen, so vermittelt sie neuen Halt,<br />
indem sie zu verstehen gibt, daß sie unsere Probleme kennt, aber dennoch weiterhin<br />
glaubt. In einer von Skepsis erfüllten Zeit brauchen wir solche Hilfe.<br />
Diese Erfahrung hat bei mir und in meinem Unterricht Spuren hinterlassen. Ich<br />
glaube, daß das, was ich gelernt habe, auch meiner Gemeinde Nutzen bringen kann.<br />
Sowohl das glückliche Ende wie auch der schmerzliche Weg haben uns etwas zu<br />
sagen.<br />
Zum ersten: Das Studium der Bibel bringt Freude und Erkenntnis; es kann aber<br />
auch ängstigend und gefährlich sein. Wir wagen uns nicht an dieses Studium heran,<br />
ohne Gott um seinen Geist zu bitten, daß er uns leite und segne.<br />
281
INSPIRATION<br />
Zweitens kann Selbstzufriedenheit beim Bibelstudium dazu führen, daß wir<br />
unsere Lektion in schwieriger Zeit und unter Tränen lernen müssen. Auf dem<br />
Höhepunkt der Krise von 1888 beschreibt Ellen White diese Gefahr in einem<br />
Zeugnis für die Gemeinde: „Doch wo das geistliche Leben abnimmt, herrscht stets<br />
die Neigung, im Suchen nach Erkenntnis der Wahrheit nachzulassen. Die Menschen<br />
geben sich mit der Erkenntnis zufrieden, die sie bereits aus dem Worte Gottes<br />
empfangen haben, und vernachlässigen ein weiteres Suchen in der Schrift. Sie<br />
erstarren geistlich und trachten danach, Aussprachen aus dem Wege zu gehen. Die<br />
Tatsache, daß es unter dem Volke Gottes keine Lehrstreitigkeiten und keine Gärung<br />
gibt, sollte nicht <strong>als</strong> schlüssiger Beweis dafür gelten, daß es an der gesunden Lehre<br />
festhält. Die Befürchtung ist berechtigt, daß es Wahrheit und Irrtum nicht deutlich<br />
unterscheiden kann. Wenn durch das Suchen in der Schrift keine neuen Fragen und<br />
keine Meinungsverschiedenheiten aufkommen, durch die Menschen veranlaßt<br />
werden, selbst in der Bibel zu forschen, um sicher zu sein, daß sie die Wahrheit<br />
besitzen, dann wird es wie in früheren Zeiten viele geben, die sich an<br />
Überlieferungen halten und die nicht wissen, was sie anbeten.“ (2 Sch 281-282)<br />
Was wir uns drittens einprägen sollten, ist der hohe Stellenwert dessen, was Ellen<br />
White zum Thema Inspiration zu sagen hat. Gott gab ihr die ungewöhnliche<br />
Fähigkeit, die menschliche Seite der biblischen Schreiber realistisch einzuschätzen,<br />
gleichzeitig aber zu bekräftigen, daß Gott in seinem Wort gegenwärtig ist. In einer<br />
von Zweifeln durchsetzten Zeit sollten wir für diese Gabe Gottes dankbar sein.<br />
Wenn Ellen White eine so praxisbezogene und ausgewogene Haltung zur Schrift<br />
einnahm, warum konnte dann ihre Sicht in unseren Gemeinden nicht besser Fuß<br />
fassen? Vielleicht weil unsere Gemeinschaft nicht bereit war, ihre Worte<br />
anzunehmen. Und wenn wir nicht aufnahmebereit sind, selbst wenn Gottes Botin<br />
spricht, wird die Botschaft ihr Ziel verfehlen.<br />
Dank Gottes Vorsehung können wir heute noch immer von Ellen White lernen.<br />
Ich werde ihr für das, was sie an mir getan hat, ewig dankbar sein. In einer Zeit, da<br />
Adventisten nicht sicher sind, welchen Stellenwert sie Ellen White einräumen sollen,<br />
und womöglich auch das Bibelstudium vernachlässigen, ist es nötiger denn je, daß<br />
diejenigen unter uns, denen ihr Wirken zum Segen gereichte, das auch deutlich zum<br />
Ausdruck bringen.<br />
Als ich dieses Buch in Manuskriptform einem meiner Freunde zur Durchsicht<br />
gab, war ich über seinen Kommentar zunächst erstaunt. Er bezeichnete es <strong>als</strong> „einen<br />
Akt der Dankbarkeit gegenüber Ellen White sowie eine wertvolle Stütze für alle, die<br />
sich mit Fragen auseinandersetzen, die sich aus unserer säkularen und pluralistischen<br />
Gesellschaft ergeben.“ Je mehr ich über diese Einschätzung nachdenke, um so<br />
282
ES IST DOCH ALLES SO KLAR!<br />
sympathischer wird sie mir. Wie dankbar wäre ich, wenn meine Gemeinde, die ich<br />
liebe und schätze, dieses Buch im selben Licht sehen könnte.<br />
Einige mögen Mühe haben mit der Offenheit, die ich an den Tag lege. Und wer von<br />
Ellen Whites Wirken nicht so stark beeindruckt ist wie ich, mag sich wundern über<br />
die Tiefe meiner persönlichen Überzeugung. Wir können dem Geheimnis nicht<br />
vollends auf die Spur kommen, warum und wie wir in der Lage sind zu glauben.<br />
Aber immer wenn ich Freunde und Studenten mit Glaubensfragen habe ringen sehen,<br />
wuchs in mir der Wunsch, daß sie eine enge Beziehung zu Gott finden mögen.<br />
„Kein unbegreifliches Prinzip, keine unpersönliche Kraft, keine bloße<br />
Abstraktion kann den Bedürfnissen und Sehnsüchten menschlicher Wesen in diesem<br />
Leben des Kampfes mit Sünde, Leid und Schmerz Genüge tun. Es reicht nicht aus,<br />
an Gesetz und Macht zu glauben, an Dinge, die kein Mitgefühl haben und<br />
nimmermehr den Schrei nach Hilfe vernehmen. Wir müssen um einen allmächtigen<br />
Arm wissen, der uns aufrechterhält, um einen ewigen Freund, der Mitleid mit uns<br />
hat. Wir bedürfen einer warmen Hand, die wir ergreifen, eines Herzens voller<br />
Zärtlichkeit, dem wir vertrauen können; und gerade so hat sich Gott in seinem Worte<br />
offenbart.“ (E 135)<br />
Braucht ihr Kraft zum Durchhalten? „Wenn der Bibelleser den Erlöser erschaut,<br />
bricht in seiner Seele die geheimnisvolle Kraft des Glaubens, der Anbetung und der<br />
Liebe auf. Sein Blick ist auf die Erscheinung Christi geheftet, und der Schauende<br />
wächst zum Ebenbild dessen heran, den er verehrt. Die Worte des Apostels Paulus<br />
werden zur Sprache des Herzens: ‚Ich achte es noch alles für Schaden gegen die<br />
überschwengliche Erkenntnis Christi Jesu, ... zu erkennen ihn und die Kraft seiner<br />
Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden‘ (Philipper 3, 8-10).“ (E 177)<br />
Schließlich lautet mein Gebet, daß wir uns Ellen Whites Modell zum Studium der<br />
Schrift aneignen. Das mag ein schwer erreichbares Ziel sein, doch es ist wert, daß<br />
wir darum beten. Und wenn das geschieht, werden wir uns gegenseitig mit Weisheit<br />
und Kraft unterstützen, so wie es Gott vorgesehen hat: „Es wäre sehr vorteilhaft für<br />
unsere Schulen, wenn regelmäßig und häufig Versammlungen abgehalten würden,<br />
bei denen sich alle Lehrer im Studium des Wortes Gottes vereinen. Sie sollten in der<br />
Schrift forschen, wie es die Gläubigen in Beröa getan hatten. Sie sollten bereit sein,<br />
alle vorgefaßten Meinungen unterzuordnen. Die Bibel soll ihnen <strong>als</strong> Lehrbuch<br />
dienen, und indem sie Schriftwort mit Schriftwort vergleichen, wird ihnen klar<br />
werden, was sie ihren Schülern beibringen und wie sie diese für ihren späteren<br />
Dienst ausbilden sollen.“ (CT 433)<br />
Mir gefällt diese Vorstellung. Sie stellt ein großartiges Modell dar für eine<br />
Gemeinschaft von Gläubigen, die die Ewigkeit miteinander verbringen möchten.<br />
283
INSPIRATION<br />
Trotz ihrer Reichhaltigkeit und Vielfalt ist die Bibel Gottes Werkzeug, um unsere<br />
Herzen in geheimnisvoller Einheit mit ihm und untereinander zu verbinden. Laßt uns<br />
deshalb dafür beten, daß es geschehen wird.<br />
284
Zusammenfassung<br />
Die nachstehende Zusammenfassung enthält die Hauptelemente, die<br />
kennzeichnend sind für die in diesem Buch entwickelte „praktische“ Sicht. Wir<br />
fragen uns: Worin liegen nun die entscheidenden Vorteile einer pragmatischen<br />
Einstellung zur Inspiration, die die Bibel vor allem <strong>als</strong> Beispielsammlung (casebook)<br />
und weniger <strong>als</strong> Regelwerk (codebook) versteht? Kurz gesagt: Wir haben es mit einer<br />
Schwerpunktverschiebung von der theoretischen zur praktischen Seite zu tun.<br />
Seit der Aufklärung haben Kritiker den göttlichen Ursprung der Bibel immer<br />
wieder geleugnet. Der Kampf um die Bibel fand dabei auf dem Boden der<br />
Aufklärung statt, wobei Fragen und Antworten aus dem theoretischen Blickwinkel<br />
von Philosophie und Wissenschaft kamen. Wenn gläubige Christen die Schrift zu<br />
verteidigen suchten, haben sie sich zunehmend der von der Aufklärung gelieferten<br />
Hilfsmittel bedient und dabei nicht nur Beweismaterial aus Naturwissenschaft und<br />
Archäologie herangezogen, sondern auch Wahrscheinlichkeitsberechnungen zur<br />
Verteidigung der Prophetie ins Feld geführt. Das hatte zur Folge, daß das biblische<br />
Erfahrungselement zugunsten nüchterner Vernunft im Sinne logischer und<br />
wissenschaftlicher Beweisführung vernachlässigt wurde. So konnte die Bibel nicht<br />
mehr für sich selbst sprechen.<br />
Achten wir jedoch auf die Stimme der Schrift, so verschiebt sich der Schwerpunkt<br />
hin zum praktischen Bereich der Beziehung und der Glaubenserfahrung. Die<br />
Vollkommenheit der Schrift ist <strong>als</strong>o weniger mit einem Präzisionslabor vergleichbar,<br />
<strong>als</strong> vielmehr mit einem Stadion für Athleten, wo sich Sportler – ein klares Ziel vor<br />
Augen – mit Wind und Wetter sowie den Rivalen messen. Haben wir erkannt, daß<br />
die Bibel dazu bestimmt ist, auf die Bedürfnisse der Menschen einzugehen, dann<br />
können auch scheinbar widersprüchliche Befunde geklärt und Probleme angemessen<br />
gelöst werden.<br />
I. Der „Familienrundbrief“: Mehr praxisbezogen <strong>als</strong> theoretisch – Da die<br />
Bibel ein Buch für Menschen ist, besteht ihre erste Aufgabe darin, den Menschen zu<br />
helfen und ihre Bedürfnisse zu stillen. Deshalb entspricht sie weniger einer<br />
theoretischen Abhandlung, einem Gesetzeskodex oder einem wissenschaftlichen<br />
Bericht, <strong>als</strong> vielmehr einem Familienrundbrief. Sie ist Gottes Brief an seine Kinder.<br />
So wie wir im Gebet mit einem Freund sprechen, so spricht in der Bibel ein Freund<br />
zu uns. Ihre Botschaft wird uns durch geisterfüllte irdische Freunde übermittelt.<br />
Bestimmte Teile der Schrift gelten der ganzen Familie, andere für besondere<br />
Personen und Situationen. Diese Verschiedenheit macht es möglich, allen etwas zu<br />
geben.<br />
II. Die Gesetzespyramide: Regelwerk und Beispielsammlung – Der Schlüssel,<br />
285
INSPIRATION<br />
um die Einheit der Schrift näher bestimmen zu können, ist die Gesetzespyramide.<br />
Das eine ewig gültige Prinzip der Liebe, das durch die zwei großen Gesetze und die<br />
zehn Gebote erläutert wird, stellt den Teil der Bibel dar, den wir <strong>als</strong> Regelbuch<br />
bezeichnet haben. Die Gesetzespyramide ist universell gültig, dauerhaft und<br />
unveränderlich. Alles andere in der Schrift entspricht einem Kommentar, einer<br />
Beispielsammlung. Anhand zahlreicher Fälle wird die Anwendung des einen, der<br />
zwei und der zehn unter Berücksichtigung der örtlichen und zeitlichen Verhältnisse<br />
veranschaulicht. Die Konsequenzen einer solchen Betrachtungsweise sind<br />
bedeutsam.<br />
A. Einheit der Schrift – Die Liebe <strong>als</strong> Spitze der Gesetzespyramide ist sowohl<br />
das verbindende Grundelement der Schrift <strong>als</strong> auch ihre zentrale Motivationsquelle.<br />
Sie ist die Erfüllung des Gesetzes (Römer 13,10). Die Mannigfaltigkeit der Schrift,<br />
die mitunter geradezu widersprüchlich erscheint, gehört zum Plan Gottes, allen alles<br />
zu werden, damit er auf alle Weise einige rette (1. Korinther 9,22).<br />
B. Verbindlichkeit der Schrift – Die für unser Leben maßgeblichen Regelwerk-<br />
Elemente der Schrift sind in dem einen, den zwei und den zehn zu finden. Dabei ist<br />
jeder Teil der Schrift eine konkrete, wenn auch partielle, durch Ort und Zeit<br />
bestimmte Offenbarung Gottes. „Alle Schrift [ist] von Gott eingegeben“ (2.<br />
Timotheus 3,16). Weil aber diese Offenbarung den Verhältnissen der gefallenen<br />
Menschheit angepaßt wurde, unterliegt sie auch menschlichen Unzulänglichkeiten.<br />
In den Worten von Ellen White: „Alles aber, was menschlich ist, ist auch<br />
unvollkommen.“ (1 FG 20) Denn nur „Gott und der Himmel allein sind unfehlbar.“<br />
(CWE 37)<br />
C. Gehorsam: Abgrenzung und Wechselbeziehung zwischen Offenbarung,<br />
Verstand und Heiligem Geist – Für Christen, die das Gesetz der Liebe befolgen<br />
möchten, erlauben die Fallbeispiel-Elemente der Schrift eine Abgrenzung und<br />
zugleich eine Wechselbeziehung zwischen der Offenbarung, dem menschlichen<br />
Verstand und dem göttlichen Geist. Die Schrift ist eine feststehende schriftliche<br />
Offenbarung; der menschliche Verstand ist fehlbar und kann irregeleitet sein; der<br />
Geist ist Gottes lebendige und aktive Gegenwart. Wie können diese drei<br />
zusammenwirken?<br />
Die in der Schrift enthaltenen Fallbeispiele (Offenbarung) informieren den<br />
Verstand und vermitteln uns die Grenzen, innerhalb derer der Geist geprüft werden<br />
kann. Andererseits können Fallbeispiele ohne den Verstand weder begriffen noch<br />
angewendet werden; ebensowenig kann der Geist geprüft werden, ohne daß sich der<br />
Verstand kritisch mit den Fakten auseinandersetzt. Ohne den Geist gäbe es<br />
andererseits gar keine Offenbarung. Der Christ kann bezeugen, daß trotz der<br />
286
ZUSAMMENFASSUNG<br />
wichtigen Funktion, die der Verstand für die Erkenntnis und Anwendung der<br />
Offenbarung hat, nur die Gegenwart des Geistes zu einem Resultat führen kann, das<br />
von Liebe und nicht von Selbstsucht geprägt ist. Diese Gegenwart des Geistes wird<br />
uns zuteil, wenn wir darum bitten (vgl. GK 9).<br />
Kurz gesagt, die Gesetzespyramide erläutert die Beziehung zwischen Regelwerk und<br />
Beispielsammlung in der Schrift und liefert damit ein Modell, das Verstand und<br />
Offenbarung mit dem Wirken des Geistes in Einklang bringt. Daraus resultiert, daß<br />
das Studium der Schrift und das Gebetsleben des Christen Hand in Hand gehen<br />
müssen. Beide sind wesentlich, wenn das Gesetz der Liebe im Leben des Christen<br />
verwirklicht werden soll.<br />
III. Praktischer Nutzen – Im Gegensatz zu der traditionellen, eher theoretischen<br />
und von der Aufklärung geprägten Sicht der Inspiration bietet der hier vorgestellte<br />
praktische Denkansatz entscheidende Vorteile:<br />
A. Schutz vor dem „rutschigen Abhang“ – Die Anerkennung der<br />
unveränderlichen Gesetzespyramide sowie der universellen Gültigkeit des einen, der<br />
zwei und der zehn bietet einen Schutz vor dem „rutschigen Abhang“. Andere Aspekte<br />
der göttlichen Offenbarung können <strong>als</strong> Anpassung an spezielle Situationen und<br />
Bedürfnisse betrachtet werden (z. B. Gesetze über Sklaverei, Polygamie und<br />
Blutrache), ohne daß dadurch die Autorität der Schrift in ihrer Gesamtheit hinterfragt<br />
wird.<br />
B. Anpassungsfähigkeit ohne Kompromisse – Die Anerkennung der Fallbeispiel-<br />
Elemente in der Schrift erlaubt es uns, scheinbare Widersprüche in der Bibel <strong>als</strong><br />
folgerichtige Anpassungen des Gesetzes der Liebe an die Bedürfnisse von einzelnen<br />
oder von Gruppen in speziellen Lebensumständen zu werten. Jede Anpassung aber<br />
ist vereinbar mit dem einen, den zwei und den zehn.<br />
C. Bedeutung von Andacht und Gebet – Die biblischen Fallbeispiele stellen das<br />
Rohmaterial dar, das dem Christen zur Erkenntnis verhilft, wie das Gesetz Gottes in<br />
unserer Zeit gehalten werden kann. Es genügt aber nicht, die Schrift zu kennen; man<br />
muß Gott selbst kennen. Liebender Gehorsam ist nur möglich durch das Wirken und<br />
die Gegenwart des Geistes, die wir im Gebet erbitten.<br />
D. Bibelstudium ohne Angst – Wenn die Einheit der Schrift mehr in ihrem<br />
Motivationsziel <strong>als</strong> in ihrem theoretischen Inhalt gesehen wird, dient jeder Abschnitt<br />
der Bibel einem praktischen und konkreten Zweck, der Vorrang hat vor den<br />
abstrakten und lehrmäßigen Aspekten. Lautet die entscheidende Frage, wie jeder<br />
Abschnitt unsere Bindung an das Gesetz der Liebe festigen kann, so erwächst daraus<br />
eine Haltung, die es dem Gläubigen gestattet, die Botschaften inspirierter Schreiber<br />
nebeneinander zu sehen und nicht übereinander zu stapeln. (Das Resultat käme eher<br />
287
INSPIRATION<br />
einem Orchester gleich <strong>als</strong> einem Trompetensolo.) Solch eine Einstellung befreit den<br />
Gläubigen von zwei Ängsten und von einer großen Gefahr, die alle eng miteinander<br />
verknüpft sind.<br />
1. Die Angst, daß Verstand und Offenbarung in Konkurrenz zueinander treten –<br />
Einheit im rein theoretischen Sinn macht erforderlich, daß jeder inspirierte Schreiber<br />
in seiner Interpretation der Bibel mit jedem anderen inspirierten Schreiber völlig<br />
übereinstimmt. Solch eine Auffassung führt zwangsläufig zum Konflikt zwischen<br />
Offenbarung und Verstand, denn der Gläubige kann bei seiner Bibelbetrachtung<br />
nicht „alle vorgefaßten Meinungen unterordnen“ (CT 433), wenn er bereits „weiß“,<br />
was der Text aufgrund einer „inspirierten“ Auslegung sagen soll. Wird die Einheit<br />
der Schrift hingegen vom Gesichtspunkt der Motivation aus betrachtet, so fordert sie<br />
geradezu Verschiedenartigkeit, „weil Menschen in ihrem Denken verschieden sind“<br />
(CT 432). Da sich Gott „in der Bibel nicht in Worten, Logik und Rhetorik einem<br />
Test unterziehen“ wollte (1 FG 21), ist es möglich, den praktischen Wert seiner<br />
Offenbarungen auch dann zu erfassen, wenn die Logik der inspirierten Verfasser zu<br />
wünschen übrig läßt. Offenbarung und Verstand stehen nicht im Widerspruch<br />
zueinander, denn die Aufgabe der Offenbarung besteht darin, auf das Gesetz der<br />
Liebe hinzuweisen, während es Sache des Verstandes ist, zu erkennen, wie der<br />
jeweilige Schreiber dabei vorgegangen ist.<br />
2. Die Angst vor dem Widerspruch zwischen inspirierten Verfassern – Die Urteile<br />
derer, die die Bibel ihrer „vielen Widersprüche“ wegen verworfen haben, sind dazu<br />
angetan, die Angst der Gläubigen zu verstärken, daß auch ihr Glaube infolge<br />
schwerwiegender Widersprüche ins Wanken kommen und zerbrechen könnte. Man<br />
entwickelt deshalb ausgeklügelte Harmonisierungsversuche, die aber gerade jene<br />
Merkmale verzerren können, die für die einzelne Botschaft so wirkungsvoll waren.<br />
Eine Ausrichtung auf die praktischen Zwecke und Motivationsziele der Schrift<br />
erlaubt es den Gläubigen, unterschiedliche Auslegungen <strong>als</strong> Teil von Gottes großem<br />
Plan wertzuschätzen, seine Kinder zur Einheit des Glaubens zu führen.<br />
3. Die Gefahr, vertiefendes Bibelstudium zu umgehen – Es gibt Menschen, die<br />
aufgrund der „Irrtümer der allgemein verbreiteten theologischen Auffassungen“, d. h.<br />
von Lehren, die den „Auffassungen von Gerechtigkeit, Gnade und Güte Gewalt<br />
antun“ (GK 528), in Zweifel getrieben werden und sich von der Schrift abwenden.<br />
Viele andere, die der Religion von Natur aus mehr zugeneigt sind, bleiben in ihrer<br />
Glaubensfamilie, gehen aber den schwierigen Fragen aus dem Wege. Sie<br />
„vernachlässigen ein weiteres Suchen in der Schrift. Sie erstarren geistlich und<br />
trachten danach, Aussprachen aus dem Wege zu gehen.“ (2 Sch 282) Als Folge<br />
davon halten sie sich an Überlieferungen und wissen nicht, was sie anbeten (2 Sch<br />
288
ZUSAMMENFASSUNG<br />
282). Eine pragmatische Einstellung zur Inspiration dagegen ermöglicht gründliches<br />
Studium, anhaltenden Dialog und sogar Meinungsverschiedenheiten. Ellen White<br />
sagte 1888, daß ihr gewisse Bibelauslegungen von Dr. Waggoner „nicht <strong>als</strong> richtig“<br />
erschienen; gleichzeitig hielt sie ihn jedoch für ein treues Gemeindeglied. „Die<br />
Tatsache, daß einige seiner Ansichten über die Bibel von euren oder meinen<br />
Überzeugungen abweichen, gibt uns kein Recht, ihn <strong>als</strong> einen Übeltäter oder<br />
gefährlichen Menschen zu behandeln und zur Zielscheibe ungerechter Kritik werden<br />
zu lassen.“ Dann, fast im selben Atemzug, läßt sie keinen Zweifel daran, daß das,<br />
was von Waggoner vorgetragen wurde, „völlig mit dem Licht“ übereinstimmt, das<br />
Gott ihr durch die Jahre hindurch gegeben hatte (Olson 301-305). Ein Widerspruch?<br />
Nein. Ellen White sah seine deutliche Ausrichtung auf das Gesetz der Liebe, auch<br />
wenn sie mit einzelnen Schriftauslegungen nicht übereinstimmte.<br />
Diese Illustration wirft Licht auf die wichtigste Konsequenz einer pragmatischen<br />
Sicht der Inspiration: Kein Abschnitt inspirierten Schrifttums ist je von weiterem<br />
Studium und neuer Auslegung ausgeschlossen. Andere, auch inspirierte Kommentare<br />
mögen sehr nützlich sein, sind aber nie das letzte Wort. Alle Schrift ist von Gott<br />
eingegeben und stets „nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur<br />
Erziehung in der Gerechtigkeit“ (2. Timotheus 3,16). „Die Güte des Herrn ist’s, daß<br />
wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle<br />
Morgen neu.“ (Klagelieder 3,22.23) Die Bibel bleibt stets neu und frisch – die ganze<br />
Bibel. Nicht jeder wird jeden Morgen neues darin entdecken. Aber in Gottes großer<br />
Familie kann jeder einzelne Nahrung in diesem Wort finden. Und wenn Kinder<br />
genügend Nahrung bekommen, ist die Familie Gottes sicher und stark.<br />
289
ANHANG
Anhang A<br />
Die Inspirationsfrage<br />
in der Adventgeschichte<br />
Immer schon hatte die Bibel bei den Adventisten eine vorrangige Stellung<br />
eingenommen, ja sie rief diese Bewegung überhaupt erst ins Leben. Und <strong>als</strong> Christus<br />
1844 nicht wie erwartet erschien, war es wieder die Bibel, die die Hoffnung der<br />
Gläubigen aufrecht erhielt.<br />
Als Siebenten-Tags-Adventisten zum ersten Mal eine inoffizielle „Übersicht<br />
unseres Glaubens“ (1872) veröffentlichten, enthielt dieses Dokument die<br />
Feststellung, daß „wir außer der Bibel keinerlei Glaubensartikel, Glaubensbekenntnis<br />
oder Gemeindeordnung kennen.“ Auch in der ersten „offiziellen“ Darlegung<br />
adventistischer Glaubensgrundsätze (1931) wurde festgehalten: „Die Heilige Schrift<br />
Alten und Neuen Testaments, durch göttliche Eingebung uns zuteil geworden, ist<br />
eine völlig ausreichende Offenbarung des göttlichen Willens für die Menschen und<br />
die einzige untrügliche Richtschnur des Glaubens und Handelns.“<br />
Als schließlich erstm<strong>als</strong> anläßlich einer Generalkonferenz-Sitzung eine Erklärung<br />
der adventistischen „Glaubensüberzeugungen“ beraten und verabschiedet wurde<br />
(1980), enthielt die Präambel den Hinweis: „Siebenten-Tags-Adventisten anerkennen<br />
die Bibel <strong>als</strong> die alleinige Grundlage ihres Glaubens.“<br />
Trotz des unumwundenen Bekenntnisses zur Bibel haben Adventisten erhebliche<br />
Mühe gehabt, das Wesen der Bibel richtig einzuschätzen. Einerseits gab es in der<br />
Adventbewegung wiederholt Parallelen zu der allgemeinen Auseinandersetzung über<br />
Inspiration und Offenbarung, wie sie in der Zeit nach der Aufklärung stattgefunden<br />
hatte. Andererseits war es unvermeidlich, daß die Schriften von Ellen White, der<br />
inspirierten „Botin des Herrn“, die adventistischen Debatten stark beeinflußten. Im<br />
Verlauf der vergangenen hundert Jahre wurden die Gemüter der Adventisten durch<br />
das Inspirationsproblem dreimal erhitzt, wobei die Schriften von Ellen White<br />
jedesmal im Zentrum der Auseinandersetzung standen.<br />
1. Szene: 1880er Jahre<br />
In der damaligen christlichen Welt war die sogenannte „höhere Bibelkritik“ gerade<br />
dabei, dem orthodoxen Protestantismus den Rang abzulaufen. In dieser Zeit<br />
293
INSPIRATION<br />
entschieden sich die Adventisten anläßlich der Generalkonferenz von 1883, die<br />
Testimonies for the Church vor einer Neuauflage zu revidieren, da sie der Meinung<br />
waren, daß gewisse „Mängel“ einer Korrektur bedurften (3 SM 96; siehe auch<br />
Anhang B).<br />
Kurz darnach verließ D. M. Canright, ein begabter, aber unbeständiger Mensch,<br />
der seine Stellung <strong>als</strong> Adventistenprediger viermal aufgegeben und wieder<br />
eingenommen hatte, die Gemeinschaft für immer. Er wurde Baptist und schrieb das<br />
Buch Seventh-Day Adventism Renounced (1889). In diesem gegen die Adventisten<br />
gerichteten Werk führte er die Revision der Testimonies <strong>als</strong> Beweis dafür an, daß sie<br />
nicht inspiriert sein konnten.<br />
Im selben Jahrzehnt hinterließ W. W. Prescott, der Leiter des Battle Creek<br />
College, einen bleibenden Eindruck in der Adventgemeinde, <strong>als</strong> er Francois Louis<br />
Gaussens Verbalinspirationslehre nachdrücklich verteidigte. In Antwort auf eine<br />
Anfrage von seiten LeRoy Frooms im Jahr 1928 behauptete W. C. White, daß<br />
Prescotts Ausführungen am College viele überzeugt hatten, darunter S. N. Haskell,<br />
und „in zunehmendem Maße zu Fragen und Schwierigkeiten ohne Ende“ geführt<br />
hatten (3 SM 454; siehe auch Anhang B).<br />
Prescotts Überzeugung von der Irrtumslosigkeit inspirierter Schriften führte ihn<br />
später in eine Krise, <strong>als</strong> er gebeten wurde, die historischen Aussagen des Buches Der<br />
große Kampf für die Neuauflage im Jahr 1911 zu revidieren. Seine eigenen<br />
Äußerungen auf der Bibelkonferenz von 1919 bestätigen die Entwicklung zu einer<br />
gemäßigten Auffassung über die Inspiration. Doch die Folgen seiner Verteidigung<br />
der Verbalinspiration in den 80er Jahren konnte auch er nicht mehr ungeschehen<br />
machen.<br />
2. Szene: Die 1920er Jahre<br />
Im Protestantismus hatte die Auseinandersetzung mit den Fundamentalisten einen<br />
Keil getrieben zwischen Protestanten im allgemeinen und denen, die an den<br />
fundamentalistischen Auffassungen weiterhin festhielten. Dam<strong>als</strong> war die Ansicht<br />
verbreitet, Pfarrer und Lehrer der führenden protestantischen Kirchen seien<br />
hochgebildete Kritiker, die die Bibel auseinandernähmen und bezweifelten. Als<br />
Reaktion auf diese Bedrohung errichteten konservative Gläubige eigene<br />
Bibelschulen und distanzierten sich von Schulen mit umfassenderen<br />
Lehrprogrammen.<br />
Nach dem Tod von Ellen White im Jahre 1915 sahen sich Adventisten der immer<br />
drängenderen Frage ausgesetzt, wie Ellen Whites Schriften gegenüber der Bibel zu<br />
294
DIE INSPIRATIONSFRAGE IN DER ADVENTGESCHICHTE<br />
bewerten seien. Auf der Bibelkonferenz von 1919 wurde diese Frage eingehend<br />
erörtert, konnte jedoch nicht befriedigend gelöst werden.<br />
Zwei führende Persönlichkeiten, A. G. Daniells und W. W. Prescott, setzten sich für<br />
eine gemäßigte Linie ein, die die Wichtigkeit des Textzusammenhangs für die<br />
Auslegung hervorhob und sich von Unfehlbarkeit, Verbalinspiration und<br />
allumfassender Anwendbarkeit distanzierte. Sowohl Daniells, Präsident der<br />
Generalkonferenz seit 1901, wie auch Prescott hatten zu Ellen White eine enge<br />
persönliche Beziehung gehabt. Sie bestätigten ihre Autorität, nicht aber ihre<br />
Unfehlbarkeit.<br />
Obwohl die heftigsten Gegner von Daniells bei jener Konferenz gar nicht zugegen<br />
waren, traten sie ihm und seinen Ansichten doch vehement entgegen. Während der<br />
Sitzung der Generalkonferenz von 1922 verteilte J. S. Washburn ein gegen Daniells<br />
gerichtetes Pamphlet. Weitere Anstrengungen wurden unternommen, die letztlich<br />
eine Wiederwahl von Daniells <strong>als</strong> Präsident der Generalkonferenz verhinderten.<br />
An der Bibelkonferenz von 1919 nahmen auch Männer teil, die behutsam<br />
vorgingen, wie M. E. Kern und F. M. Wilcox. Sie betrachteten die „gemäßigte“<br />
Haltung <strong>als</strong> durchaus vernünftig, äußerten jedoch Bedenken für den Fall, daß diese<br />
Ansicht in den Gemeinden bekannt würde. „Meines Erachtens gibt es sehr viele<br />
Fragen, die wir zurückhalten und nicht diskutieren sollten,“ sagte Wilcox. „Ich sehe<br />
nicht ein, daß wir jede Frage, die uns von Schülern oder von anderer Seite gestellt<br />
wird, beantworten müssen.“ (Couperus 45.46)<br />
Die Zurückhaltung siegte. Daniells und Prescott, die sich für ein klares<br />
Bekenntnis zur moderaten Haltung eingesetzt hatten, wurden beiseite geschoben. Die<br />
vorsichtig Gemäßigten beherrschten das Feld und bestimmten, was die Gemeinden<br />
fortan hören und lesen sollten. Wilcox war Herausgeber der Zeitschrift Review and<br />
Herald bis zu seinem Ruhestand im Jahr 1944. Kern wurde 1933 Dekan der<br />
„Advanced Bible School“ und 1936, <strong>als</strong> diese zum „Seventh-Day Adventist<br />
Theological Seminary“ ausgebaut wurde, dessen Präsident. Von 1943 bis zu seiner<br />
Pensionierung (1950) war er Feldsekretär der Generalkonferenz und Vorsteher des<br />
Beirats der Ellen G. White-Publikationen.<br />
Da sich die Gemeinschaft weitgehend mit den konservativ Denkenden und<br />
vorsichtig Gemäßigten identifizierte, verschwand das Sitzungsprotokoll der<br />
Bibelkonferenz von 1919 in den Archiven der Generalkonferenz und geriet in<br />
Vergessenheit. Es tauchte erst 1974 wieder auf, <strong>als</strong> das Inspirationsproblem erneut in<br />
den Mittelpunkt rückte.<br />
295
INSPIRATION<br />
3. Szene: Die 1970er Jahre<br />
Jahrzehnte waren vergangen, seit die Fundamentalismus-Debatte einen Keil<br />
getrieben hatte zwischen die liberalen protestantischen Kirchen und die<br />
konservativen Kirchen, die in der Folge <strong>als</strong> evangelikal oder fundamentalistisch<br />
bezeichnet wurden. Immer mehr öffneten sich auch sogenannte bibelgläubige<br />
Christen der höheren Bildung. Trotz des festen Glaubens an die Inspiration der Bibel<br />
sowie an einen persönlichen Gott, der Gebete erhört und Wunder vollbringt,<br />
begannen junge christliche Gelehrte gewisse analytische Methoden anzuwenden, die<br />
im 19. Jahrhundert entwickelt worden waren. Sie gaben zu verstehen, diese<br />
Methoden seien lediglich dazu da, die Befunde aus der Schrift besser beschreiben zu<br />
können. Sie wollten den Glauben stärken und nicht etwa zerstören.<br />
Aber sie schlugen damit einen gefährlichen Weg ein. Das Concordia Seminar der<br />
Missouri Synode der lutherischen Kirche beispielsweise brach förmlich in sich<br />
zusammen, <strong>als</strong> die Vertreter der extremen Standpunkte jede Möglichkeit eines<br />
Kompromisses ausschlossen. Als es im Februar 1974 zur Konfrontation kam,<br />
verließen etwa 40 gemäßigte und liberale Lehrkräfte sowie 400 Studenten den<br />
Campus und gründeten ihr eigenes Seminar „im Exil“ (Seminex). Zurück blieben die<br />
Konservativen, gerade einmal vier Dozenten und 50 Schüler.<br />
Veröffentlichungen verschärften den Streit. Harold Lindsell, dam<strong>als</strong> Herausgeber<br />
der Zeitschrift Christianity Today, verfaßte sein Buch The Battle for the Bible<br />
(1976), in dem er sich vehement für die Unfehlbarkeit einsetzte. In einem weiteren<br />
Buch, The Bible in the Balance, nannte Lindsell die Dozenten, Seminare und<br />
Kirchen, von denen er glaubte, sie würden die Inspiration nicht ernst genug nehmen.<br />
Die Auseinandersetzungen innerhalb des Protestantismus blieb nicht ohne<br />
Rückwirkung auf die Adventgemeinde. Ein großer Unterschied bestand allerdings<br />
darin, daß in adventistische Erörterungen Ellen White zwangsläufig miteinbezogen<br />
wurde. Unabhängig von der Autorität, die man Ellen White im Vergleich zur Bibel<br />
beimaß, waren sich Adventisten praktisch einig, daß das Phänomen der Inspiration,<br />
wie es die Bibelschreiber erlebten, dem entspricht, was auch Ellen White erlebte.<br />
In den 70er Jahren bevorzugten etliche Leiter der Gemeinschaft eine<br />
konservative Haltung der Schrift gegenüber. Doch das Interesse an den literarischen<br />
Methoden, die von Ellen White angewandt worden waren, machte es zunehmend<br />
schwierig, die Bibel und die Schriften von Ellen White an demselben konservativen<br />
Maßstab zu messen.<br />
Die Generalkonferenz organisierte 1974 eine Bibelkonferenz, auf der eine<br />
konservative Einstellung zur Bibel gefordert wurde. Dabei stand die Frage im<br />
296
DIE INSPIRATIONSFRAGE IN DER ADVENTGESCHICHTE<br />
Vordergrund, ob adventistische Wissenschaftler die sogenannte historisch-kritische<br />
Methode in irgendeiner Form benutzen dürften oder nicht. Die naturalistischen<br />
Denkvoraussetzungen, die diese Methode in ihrer klassischen Formulierung<br />
kennzeichnen, sind für Adventisten tatsächlich problematisch. Viele Bibelgelehrte<br />
der Gemeinschaft vertraten jedoch die Ansicht, daß man die beschreibenden Aspekte<br />
der Methode (z. B. die beschreibenden Elemente der Quellenkritik, der Formkritik<br />
und der Redaktionskritik) im Blick auf die Bedürfnisse der Gemeinde<br />
gewinnbringend nutzen könne.<br />
Vom konservativen Standpunkt aus, wie er im allgemeinen von der Leitung<br />
unserer Gemeinschaft eingenommen wurde, war es jedoch klar, daß die Anwendung<br />
eines Teils der Methode die Anwendung der gesamten Methode zur Folge hat.<br />
Ausgerechnet 1974, <strong>als</strong>o in dem Jahr, <strong>als</strong> man anläßlich der Bibelkonferenz alle<br />
Theologen auf eine einheitliche, konservative Linie ausrichten wollte, tauchte das<br />
Protokoll der Bibelkonferenz von 1919 aus den Archiven der Generalkonferenz<br />
wieder auf. Publiziert wurde dieses Dokument allerdings erst 1979 in der<br />
unabhängigen Zeitschrift Spectrum. Adventistische Wissenschaftler wurden rasch<br />
aufmerksam auf dieses Protokoll und erkannten sofort, daß das Hauptproblem von<br />
1919 mit dem der 70er Jahre identisch war: Inspiration. Und wieder ging es sowohl<br />
um die Schriften von Ellen White wie auch um die Bibel.<br />
Die Zeitschrift Spectrum setzte sich für eine kritische Analyse der Schriften von<br />
Ellen White ein. In der Herbstausgabe von 1970 behauptete William Peterson, Ellen<br />
White habe in ihrem Buch Der große Kampf im Kapitel über die Französische<br />
Revolution nicht die besten Historiker zitiert, womit er andeuten wollte, daß durch<br />
die Verwendung minderwertigen Quellenmateri<strong>als</strong> die prophetische Autorität von<br />
Ellen White herabgesetzt oder sogar zerstört würde. Die Antwort von Ron Graybill<br />
in der Ausgabe vom Sommer 1972 war überraschend einfach: Ellen White hatte sich<br />
nicht auf Historiker gestützt, sondern vielmehr Zitate von Uriah Smith übernommen.<br />
Offenbar hatte die gesamte Adventgemeinde übersehen, daß Ellen White in der<br />
Einleitung zum Buch Der große Kampf (S. 14) bereits darauf hinweist, daß sie von<br />
„veröffentlichten Werken“ ihrer Zeitgenossen aus der Adventbewegung Gebrauch<br />
machte. Ferner erklärt sie, Zitate von Historikern habe sie nicht deshalb verwendet,<br />
weil sie so zuverlässig sind, sondern weil sie passend waren.<br />
Die Diskussion über Ellen Whites literarische Gepflogenheiten steigerte sich und<br />
fand schließlich ihren Höhepunkt in dem engagierten Werk von Walter Rea, The<br />
White Lie (1982). Die Gemeinschaft bediente sich nun moderner kritischer<br />
Methoden, um Ellen White vor der Anschuldigung des Plagiats zu schützen. In der<br />
Zeitschrift Ministry vom Juni 1982 äußerte sich Warren Johns über diese<br />
297
INSPIRATION<br />
literarischen Anleihen mit einer Offenheit, wie sie in der offiziellen adventistischen<br />
Literatur bisher nur selten anzutreffen war.<br />
Gegen Ende der 70er Jahre stellte Desmond Ford die adventistische Lehre über<br />
das Heiligtum und das Untersuchungsgericht in Frage (1979); damit verschärfte sich<br />
erneut das Inspirationsproblem. War seine Einstellung zurückzuführen (a) auf seine<br />
Methode oder (b) auf seine Erfahrung oder (c) auf beide? Mit Unterstützung der<br />
Generalkonferenz kam der spezifisch lehrmäßige Aspekt beim „Consultation I“-<br />
Treffen (Glacier View, Colorado, 1980), der methodische Aspekt mit Bezug auf<br />
Inspiration auf dem „Consultation II“-Treffen (Washington, D. C., 1981) zur<br />
Sprache.<br />
Eingedenk der deutlichen Äußerungen über Inspiration von Ellen White, leisteten<br />
die Bibelgelehrten der Gemeinschaft einen wichtigen Beitrag zu dem Konsens der<br />
Arbeitsgruppen beim Consultation II-Treffen. Die Übereinkunft bestand darin, daß<br />
die beschreibende Komponente der sogenannten historisch-kritischen Methode zu<br />
trennen ist von den naturalistischen Denkvoraussetzungen und daß diese Methode so<br />
von adventistischen Wissenschaftlern durchaus in der Forschung eingesetzt werden<br />
kann. Faktisch wurden ja diese beschreibenden Methoden bereits angewandt, um das<br />
Vorgehen von Ellen White bei der Abfassung ihrer Werke zu rechtfertigen.<br />
Wenn man bedenkt, welcher Argumentation sich die adventistischen<br />
Bibelgelehrten anschlossen, ist es eigentlich nicht erstaunlich, daß sie Parallelen aus<br />
der Schrift heranzogen, um die von Ellen White benutzte Methode zu stützen. Eines<br />
der bemerkenswerten Bücher zu diesem Thema stammt von George Rice und trägt<br />
den Titel Luke, a Plagiarist? Es wurde für gebildete Laien geschrieben und zeigt,<br />
wie eng die von Lukas angewandte literarische Methode mit dem theologischen<br />
Konzept seines Evangeliums verbunden ist.<br />
Die Debatte über die Inspiration wird unter Adventisten vermutlich weitergehen.<br />
Der von Rice präsentierte Denkansatz eröffnet dabei interessante Möglichkeiten für<br />
das Bibelstudium. Noch ist es aber verfrüht, sich ein Urteil zu bilden, ob seine<br />
Vorstellungen die Gemeinde überzeugen werden. Zu welcher Seite wir auch neigen<br />
mögen – eines steht fest: Immer wieder zieht uns die Bibel in ihren Bann. Und das ist<br />
der Grund, weshalb die Auseinandersetzungen so heftig sind.<br />
298
Anhang B<br />
Die Revision der Testimonies for the Church<br />
Eines der bedeutsamsten Ereignisse in der Frühgeschichte der Siebenten-Tags-<br />
Adventisten in Hinblick auf die Frage der Inspiration war der Beschluß der<br />
Generalkonferenz-Sitzung von 1883, die Zeugnisse für die Gemeinde zu revidieren.<br />
Der damalige Beschluß wird hier wiedergegeben, zusammen mit Ellen Whites<br />
Schreiben an Uriah Smith, den Vorsitzenden des Revisionsausschusses, der untätig<br />
blieb, weil er sich der Entscheidung der Generalkonferenz widersetzte. Dazu kommt<br />
der Auszug eines Schreibens von W. C. White an L. E. Froom, ein Kommentar des<br />
Generalkonferenz-Beschlusses im Lichte von Bestrebungen, die auf eine<br />
Verbalinspiration hinausliefen. (Die nachstehend aufgeführten Dokumente stammen<br />
aus Selected Messages, Band 3, Seite 96-98 und 454-455.)<br />
Generalkonferenz-Beschluß vom 16. November 1883<br />
„32. Da einige Bände der Zeugnisse für die Gemeinde vergriffen sind und die<br />
Gesamtausgabe nicht mehr erhältlich ist; und da beharrlich und dringend ein<br />
Nachdruck dieser Bände gefordert wird –<br />
Beschlossen, die Herausgabe einer Neuauflage zu empfehlen, wobei vier Bände<br />
von je sieben- oder achthundert Seiten vorgesehen sind.<br />
33. Da viele dieser Zeugnisse unter äußerst ungünstigen Umständen geschrieben<br />
wurden und die Verfasserin mit Sorgen und Arbeit zu sehr belastet war, <strong>als</strong> daß sie<br />
sich mit grammatikalischen Fragen hätte befassen können, und ihre Schriften in<br />
solcher Eile gedruckt wurden, daß diese Mängel nicht mehr behoben werden<br />
konnten; und da wir glauben, daß das von Gott seinen Dienern gegebene Licht den<br />
Verstand erleuchtet und somit die Gedanken vermittelt und nicht (von wenigen<br />
Ausnahmen abgesehen) die einzelnen Worte, durch die die Ideen zum Ausdruck<br />
gebracht werden sollten –<br />
Beschlossen, daß beim Nachdruck dieser Bände textliche Änderungen<br />
anzubringen sind, die die obengenannten Mängel so weit wie möglich beseitigen,<br />
ohne jedoch die Gedanken in irgendeiner Weise zu verändern; und weiter<br />
Beschlossen, daß dieses Gremium einen Ausschuß von fünf Mitgliedern ernennt,<br />
der die Aufsicht über die Neuauflage dieser Bände gemäß den obengenannten<br />
Präambeln und Beschlüssen übernimmt.“ (Review and Herald, 27. November 1883)<br />
299
INSPIRATION<br />
Der Ausschuß der Fünf, der die Neuausgabe der Zeugnisse gemäß Beschluß No. 34<br />
beaufsichtigen soll, setzt sich aus folgenden Gliedern zusammen, wobei dem<br />
Vorsitzenden das Recht zugestanden wurde, vier weitere Personen vorzuschlagen:<br />
W. C. White, Uriah Smith, J. H. Waggoner, S. N. Haskell, George I. Butler.“ (Ebd.)<br />
300<br />
Brief von Ellen White an Uriah Smith<br />
vom 19. Februar 1884 (No. 11, 1884)<br />
„Lieber Bruder Smith: Ich habe Dir heute einen Brief gesandt, aber mir wurde von<br />
Battle Creek aus zugetragen, daß man die Arbeit an den Zeugnissen nicht gutheißt.<br />
Ich möchte einige Dinge klarstellen, und Du kannst meine Mitteilung nach<br />
Deinem Gutdünken verwenden. Was ich zu sagen habe, hast Du zuvor schon von mir<br />
gehört, nämlich daß mir schon vor Jahren gezeigt wurde, wir sollten die<br />
Veröffentlichung des mir gegebenen Lichts nicht verzögern, nur weil ich die Sache<br />
nicht vollständig vorbereiten konnte. Mein Mann war zeitweise schwer krank und<br />
konnte mich nicht so unterstützen, wie er es zweifellos getan hätte, wenn er gesund<br />
gewesen wäre. Aus diesem Grunde verzögerte ich dam<strong>als</strong> die Herausgabe dessen,<br />
was mir in Gesichten gezeigt worden war.<br />
Aber mir wurde gezeigt, daß ich das erhaltene Licht der Gemeinde in der<br />
bestmöglichen Weise vorlegen sollte; wenn ich dann vermehrtes Licht empfinge und<br />
die mir von Gott gegebene Gabe nutzte, sollte ich besser befähigt sein, zu schreiben<br />
und zu sprechen. Ich wurde beauftragt, alles zu verbessern und so weit wie möglich<br />
zu vervollkommnen, damit auch intelligente Menschen meine Botschaft annehmen<br />
könnten.<br />
Nach Möglichkeit sollten alle Mängel in unserem Schrifttum behoben werden. Je<br />
weiter sich die Wahrheit entfaltet und fortschreitet, desto mehr sollten wir uns<br />
bemühen, die veröffentlichten Werke zu vervollkommnen.<br />
Hinsichtlich des Buches History of the Sabbath von Bruder Andrews sah ich, daß<br />
dieses Werk zu lange hinausgezögert wurde. Andere Bücher mit irreführendem Inhalt<br />
setzten sich durch und versperrten den Weg, und so wurden durch gegenteilige<br />
Ansichten unnötigerweise Vorurteile geschaffen. Ich sah, daß dadurch viel verloren<br />
geht. Nachdem die erste Auflage vergriffen war, hätte er Verbesserungen anbringen<br />
können; doch er ging viel zu perfektionistisch vor. Diese Verzögerung entsprach<br />
nicht dem Willen Gottes.<br />
Nun, Bruder Smith, ich habe die Korrekturvorschläge betreffs der Zeugnisse<br />
sorgfältig und kritisch untersucht und bin zu dem Schluß gelangt, daß an einigen<br />
Stellen Korrekturen angebracht sind bezüglich der Sache, die Dir und anderen
DIE REVISION DER TESTIMONIES FOR THE CHURCH<br />
gegenüber auf der Generalkonferenz [November 1883] vorgetragen wurde. Bei<br />
genauer Betrachtung sehe ich jedoch immer weniger, was davon beanstandet werden<br />
könnte. Wo immer sprachliche Unzulänglichkeiten vorhanden sind, lege ich Wert auf<br />
korrekte grammatikalische Formulierungen, und ich glaube, das sollte überall<br />
geschehen, solange der Sinn nicht entstellt wird. Diese Arbeit verzögert sich, und ich<br />
bin unglücklich darüber ...<br />
Ich habe mir zur Frage der Zeugnisse und ihrer Revision viele Gedanken gemacht.<br />
Wir haben sie einer kritischen Durchsicht unterzogen. Ich kann diese Angelegenheit<br />
nicht so sehen, wie es meine Brüder tun. Ich bin überzeugt, daß die Änderungen für<br />
das Buch vorteilhaft sind. Wenn unsere Gegner sich darauf stürzen, so sollen sie es<br />
tun ...<br />
Ich glaube, daß alles, was wir herausbringen, kritisiert, verzerrt und verdreht<br />
werden wird; aber wir müssen mit gutem Gewissen voranschreiten, indem wir tun,<br />
was in unserer Macht steht und das Resultat Gott überlassen. Wir sollten dieses<br />
Werk nicht länger verzögern.<br />
Und nun, meine Brüder, wie soll es weitergehen? Ich wünsche nicht, daß sich<br />
diese Sache noch länger hinzieht. Ich erwarte, daß etwas geschieht, und zwar jetzt.“<br />
Auszug aus dem Brief von W. C. White an L. E. Froom<br />
vom 8. Januar 1928<br />
„Du beziehst Dich auf den kleinen Abschnitt bezüglich der Verbalinspiration, den<br />
ich Dir zugesandt habe. Diese Stellungnahme der Generalkonferenz von 1883 stand<br />
in völliger Übereinstimmung mit den Überzeugungen und Ansichten der Pioniere<br />
unserer Bewegung, und sie entsprach, so viel ich weiß, der Meinung aller unserer<br />
Prediger und Lehrer, bis Prof. [ W. W.] Prescott, der Leiter des Battle Creek College,<br />
mit größtem Nachdruck eine andere Sicht vertrat – die Sicht nämlich, wie sie von<br />
Professor Gaussen hochgehalten und vertreten wurde [gemeint ist François Louis<br />
Gaussen, ein Schweizer Geistlicher (1790-1863), der die Verbalinspiration der Bibel<br />
lehrte]. Die Billigung dieser Lehre durch die Schüler des Battle Creek College sowie<br />
durch viele andere, einschließlich von S. N. Haskell, führte in zunehmendem Maße<br />
zu Fragen und Schwierigkeiten ohne Ende in unserer Gemeinschaft.<br />
Schwester White hat Gaussens Theorie bezüglich der Verbalinspiration nie<br />
akzeptiert, weder mit Bezug auf ihr eigenes Werk noch mit Bezug auf die Bibel.“<br />
301
Anhang C<br />
Die Bedeutung des Wortes „Apokryphen“<br />
In einem guten Bibellexikon sollten die verschiedenen Bedeutungen des Wortes<br />
„apokryph“ erklärt sein. Im Seventh-Day Adventist Bible Dictionary findet sich eine<br />
fundierte Erläuterung, die Adventisten leicht zugänglich ist. The Interpreter’s<br />
Dictionary of the Bible liefert eine noch umfassendere Erläuterung.<br />
Der populäre Gebrauch dieses Begriffs im Sinne von „unecht“ oder „f<strong>als</strong>ch“<br />
erschwert die Anwendung des Adjektivs „apokryph“ in einem neutralen und<br />
beschreibenden Sinn. Wenn jemand sagt, eine Geschichte sei „apokryph“, so versteht<br />
man darunter meist, sie sei unwahr oder unecht.<br />
Bezogen auf Bücher aus biblischer Zeit hat der Begriff mindestens drei<br />
Entwicklungsstadien durchlaufen. Zunächst handelt es sich bei dem Wort apokrypha<br />
um ein griechisches Adjektiv im Neutrum Plural und bedeutet soviel wie<br />
„Verborgenes“ (d. h. verborgene Bücher). So verstanden war es eine ehrenvolle<br />
Bezeichnung, weil damit angedeutet wurde, diese Bücher seien lesenswert, wenn<br />
auch nur für Eingeweihte. Das traditionelle Verständnis, wonach gewisse Bücher<br />
öffentlich, andere aber privat und nur für würdige Leser bestimmt seien, wird in<br />
einem jüdischen Buch aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. zum Ausdruck gebracht,<br />
nämlich in 4. Esra 14,45-47; es gehört heute zu den protestantischen Apokryphen.<br />
Möglicherweise entstand aus dieser Tradition der verborgenen Bücher die zweite<br />
Bedeutung des Wortes „apokryph“ im Sinne von „unecht“ oder „häretisch“. Dieser<br />
Wortgebrauch ging vermutlich auf diejenigen zurück, die man für unwürdig hielt, sie<br />
zu lesen, und die daraus den Schluß zogen, diese Bücher würden dem orthodoxen<br />
Glauben irgendwie entgegenstehen. In den frühen christlichen Jahrhunderten waren<br />
Bücher, die <strong>als</strong> „apokryph“ galten, mitunter für den öffentlichen wie für den privaten<br />
Gebrauch verboten. Die Kirchenväter Athanasius (^ 373 n. Chr.) und Rufinus<br />
(^ 410 n. Chr.) verwendeten das Wort „apokryph“ im Sinne von „unecht“ oder<br />
„häretisch“.<br />
Der erste, der dieses Wort einfach auf Bücher bezog, die vom biblischen Kanon<br />
ausgeschlossen sind, war Hieronymus (^ 420 n. Chr.). Für ihn bedeutete „apokryph“<br />
nicht „häretisch“, sondern einfach „nicht-kanonisch“. Die entsprechende Definition<br />
im Seventh-Day Adventist Bible Dictionary besagt, daß der Begriff „im Sinne der<br />
reformierten Kirchen die 15 Dokumente bezeichnet, die in einigen griechischen und<br />
303
INSPIRATION<br />
lateinischen Handschriften des Alten Testaments erscheinen, jedoch nicht zum<br />
Kanon der hebräischen Schriften gehören.“ (S. 52)<br />
Die folgende Aufzählung von 15 Büchern (aus Harper’s Bible Dictionary, S. 36)<br />
nennt die Namen der protestantischen Apokryphen. Mit Ausnahme des 2. Esdras<br />
(4. Esra) werden die meisten dieser Bücher von Katholiken <strong>als</strong> verbindlich<br />
betrachtet:<br />
1. Esdras<br />
2. Esdras (4. Esra)<br />
Tobias<br />
Judith<br />
Zusätze zu Esther<br />
Weisheit Salomos<br />
Jesus Sirach (Ecclesiasticus)<br />
Baruch<br />
Brief des Jeremia<br />
Zusätze zum Buch Daniel<br />
Der Gesang der drei Männer im Feuerofen<br />
(mit dem Gebet des Asarja)<br />
Susanna<br />
Bel und der Drache<br />
Gebet des Manasse<br />
1. Makkabäer<br />
2. Makkabäer<br />
304
Anhang D<br />
Inspiration und prophetische Autorität<br />
Der Unterschied zwischen flüchtigem (nicht-analytischem) und sorgfältig<br />
prüfendem (analytischem) Lesen betrifft nicht nur gewöhnliche Menschen, sondern<br />
auch inspirierte Schreiber. So wie Paulus die Septuaginta kursorisch las und dabei<br />
auf die 430 Jahre stieß (Galater 3,17), so kam Ellen White – indem sie die Bibel<br />
offenbar ebenfalls nicht in analytischer Weise studierte – auf die Zahl von zwei<br />
Millionen Israeliten, die Ägypten verließen. Verschiedene Texte besagen, daß es zur<br />
Zeit des Auszugs ungefähr 600.000 männliche Erwachsene in Israel gab (z. B. 4.<br />
Mose 1,46). Wie wir jedoch in Kapitel 19 gesehen haben, führt eine genauere,<br />
analytische Betrachtung biblischer Angaben zu dem Schluß, daß erheblich weniger<br />
<strong>als</strong> zwei Millionen Menschen von Ägypten auszogen.<br />
Natürlich stellt sich hier die Frage nach der prophetischen Autorität, speziell<br />
bezüglich der traditionellen Ansicht, inspirierte Schreiber seien in allen von ihnen<br />
genannten Einzelheiten unfehlbare Informanten. Eine Abkehr von der Vorstellung,<br />
der Exodus habe zwei Millionen Menschen umfaßt, könnte für diejenigen, die so<br />
denken, das Gespenst des „rutschigen Abhangs“ heraufbeschwören.<br />
Betrachten wir hingegen die an Uriah Smith gerichteten Äußerungen von Ellen<br />
White bezüglich der Neuausgabe der Zeugnisse, so bekommen wir vom<br />
Prophetenamt einen anderen Eindruck. Der besagt, daß die praktische Anwendung<br />
von ausschlaggebender Bedeutung ist, wobei das Werk des Autors durchaus Spuren<br />
menschlicher Unvollkommenheit aufweisen darf.<br />
Wenn Ellen White sagt: „Ich wurde beauftragt, alles zu verbessern“ (3 SM 97),<br />
bezieht sie sich auf die göttliche Anweisung, ihre Botschaft in der bestmöglichen Art<br />
und Weise herauszugeben, ohne jedoch zu warten, bis alles in letzter Perfektion<br />
geglättet ist. Der Wortlaut des Briefes ist in Anhang B enthalten und wird uns noch<br />
beschäftigen.<br />
Wenn nun inspirierte Schreiber gewisse Einzelheiten aufgreifen, ohne sich mit<br />
der Materie näher befaßt zu haben, zeigt das um so mehr, daß wir von inspirierten<br />
Schreibern nicht die Lösung der in der Bibel auftretenden fachlichen Probleme<br />
erwarten können. In Kapitel 18 („Inspirierte Schreiber zitieren inspirierte Schreiber“)<br />
wurde bereits auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die sich ergeben, wenn einem<br />
inspirierten Schreiber zugemutet wird, <strong>als</strong> letztgültiger Interpret der Aussagen eines<br />
anderen inspirierten Schreibers zu fungieren.<br />
305
INSPIRATION<br />
Obwohl Ellen White ständig die Bibel auslegte, lehnte sie es doch ab, <strong>als</strong><br />
Schiedsrichterin aufzutreten, wenn es um Streitfragen ging wie etwa um das Gesetz<br />
in Galater 3 oder das „tägliche [Opfer]“ im Buch Daniel. Das Kapitel „Crisis in<br />
Authority“ im Buch Angry Saints von George Knight behandelt dieses Thema in<br />
ausgezeichneter Weise. Das Buch Für die Gemeinde geschrieben, Band 1, Seite 164-<br />
168 enthält wichtige Zitate zur Frage des „täglichen [Opfers]“.<br />
Ellen White richtete ihre prophetische Tätigkeit ganz bewußt auf praktische<br />
Belange aus, die die Gemeinschaft und ihre Glieder betrafen. Mit dem Wort<br />
„praktisch“ meine ich nichts anderes <strong>als</strong> die Funktion, wie sie von jedem anderen<br />
inspirierten Schreiber einschließlich der biblischen Autoren wahrgenommen wurde.<br />
Ellen White sagt ja selbst: „Die Bibel ist ganz praktisch zu nehmen.“ (1 FG 20)<br />
Manche haben versucht, Ellen White eine pastorale Rolle zuzuschreiben, um<br />
damit ihre Autorität von derjenigen der Schrift abzugrenzen. Aber alle Propheten<br />
haben eine pastorale Aufgabe; alle sind praxisbezogen. Ich wage sogar zu behaupten,<br />
daß sowohl die Bibel wie auch die Bücher von Ellen White nur insoweit Lehren<br />
vermitteln, <strong>als</strong> diese einen praktischen Bezug haben.<br />
Wie Ellen White selbst ihre Aufgabe einschätzte, können wir einer Beschreibung<br />
entnehmen, wie sie mit ihrem Mann James in den Anfangstagen des gemeinsamen<br />
Wirkens zusammenarbeitete. „Unsere Zusammenkünfte wurden üblicherweise so<br />
durchgeführt, daß beide von uns daran Anteil hatten. Mein Mann fing mit einer<br />
lehrmäßigen Betrachtung an, und ich ließ dieser eine ermahnende Botschaft von<br />
beträchtlicher Dauer folgen und suchte die Herzen der Versammelten zu erreichen.<br />
So war es mein Mann, der pflanzte, und ich, der den Samen der Wahrheit begoß, und<br />
Gott gab das Gedeihen.“ (1 T 75; eigene Hervorhebung)<br />
Wenn sie sich in jungen Jahren weniger auf Lehrfragen <strong>als</strong> vielmehr auf<br />
praktische Aspekte konzentrierte, indem sie ermahnte, ermutigte und die Gefühle der<br />
Versammelten ansprach, so war dies auch in Übereinstimmung mit ihrer späteren<br />
Tätigkeit. Als sie einmal ihr geistliches Amt verteidigte, machte sie geltend, nicht<br />
jedesmal einer neuen Vision zu bedürfen, wenn sie sah, „daß Männer und Frauen den<br />
gleichen Weg einschlagen und die gleichen Schwächen nähren, die andere Menschen<br />
gefährdeten und dem Werke Gottes geschadet haben, obwohl der Herr sie immer<br />
wieder gerügt hat“ (2 Sch 268). Sie beschäftigte sich vor allem mit dem Leben der<br />
Menschen und ging auf ihre Bedürfnisse ein, wo immer sie ihr begegneten.<br />
Davon ausgehend müssen wir nun untersuchen, wie sich das rein historische<br />
Material mit den mehr praktischen Aspekten ihres Wirkens in Beziehung setzen läßt.<br />
In diesem Zusammenhang werden wir in ihren Aussagen auch auf Stellen stoßen, die<br />
offenbar durch flüchtiges Schriftstudium zustande kamen.<br />
306
INSPIRATION UND PROPHETISCHE AUTORITÄT<br />
Das Verhältnis zwischen geschichtlicher Darstellung<br />
und praktischer Anwendung<br />
Die Beziehung zwischen historischem Quellenmaterial und ihrer praktischen<br />
Aufgabe <strong>als</strong> Prophetin wird in der Einleitung zu Ellen Whites Buch Der große<br />
Kampf geschildert. Der entsprechende Abschnitt ist wichtig genug, um hier<br />
wiedergegeben zu werden. Er kann uns auch bei der Beantwortung der Frage<br />
hilfreich sein, wie sich das historische Material der Schrift zu deren praktischem<br />
Nutzen verhält. Ich werde drei wichtige Aussagen optisch hervorheben:<br />
„Die großen Ereignisse, die den Fortschritt der geistlichen Erneuerung in den<br />
vergangenen Jahrhunderten kennzeichneten, sind [1] wohlbekannte und von der<br />
protestantischen Welt allgemein bestätigte geschichtliche Tatsachen, die niemand<br />
bestreiten kann. Dieses Geschehen habe ich in Übereinstimmung mit der Aufgabe<br />
des Buches und der Kürze, die notwendigerweise beachtet werden mußte, deutlich<br />
dargestellt und [2] so weit zusammengedrängt, wie es zu ihrem richtigen Verständnis<br />
möglich war. In etlichen Fällen, in denen ein Historiker die Ereignisse so<br />
zusammengestellt hat, daß sie in aller Kürze einen umfassenden Überblick<br />
gewährten, oder [3] wo er die Einzelheiten in passender Weise zusammenfaßte, ist er<br />
wörtlich zitiert worden; aber in einigen Fällen wurden keine Namen angegeben, da<br />
die Zitate nicht in der Absicht angeführt wurden, den betreffenden Verfasser <strong>als</strong><br />
Autorität hinzustellen, sondern weil seine Aussagen eine treffende und kraftvolle<br />
Darstellung der historischen Ereignisse boten. Von den Erfahrungen und Ansichten<br />
der Männer, die das Erneuerungswerk in unserer Zeit voran führten, wurde aus ihren<br />
veröffentlichten Werken in ähnlicher Weise zitiert.“ (S. 13-14; eigene<br />
Hervorhebung)<br />
Drei Punkte sind hier besonders hervorzuheben:<br />
1. Die in diesem Buch enthaltenen historischen Tatsachen wurden nicht durch<br />
Offenbarung vermittelt, sondern waren „wohlbekannt“ und „allgemein bestätigt“.<br />
Da aber auf Allgemeinwissen beruhende Sachverhalte auch einmal f<strong>als</strong>ch sein<br />
können, zögerten Ellen White und ihre Mitarbeiter nicht, solche Ungenauigkeiten in<br />
späteren Ausgaben zu korrigieren. Ihre Bitte an W. W. Prescott, er solle in ihrem<br />
Buch Der große Kampf die historischen Belegstellen revidieren, bestätigt das<br />
Gesagte, auch wenn Prescott zunächst davor zurückschreckte (siehe Anhang A).<br />
2. Die Tatsachen <strong>als</strong> solche wurden gegenüber einem „richtigen Verständnis“<br />
ihrer praktischen Anwendung <strong>als</strong> zweitrangig betrachtet. Für einen Propheten ist die<br />
Anwendung seiner Botschaft die Hauptsache. Tatbestände sind nur Mittel zur<br />
Erreichung eines höheren Ziels.<br />
307
INSPIRATION<br />
308
INSPIRATION UND PROPHETISCHE AUTORITÄT<br />
3. Autoren wurden nicht angeführt, weil sie fachlich kompetent, sondern weil ihre<br />
Ausführungen geeignet waren. Wenn Ellen White Ausdrücke wie „treffend“ und<br />
„kraftvoll“ verwendet, um die Beiträge anderer Autoren zu kennzeichnen, wird<br />
deutlich, daß es ihr vor allem um praktische Belange ging. Während sie der Klarheit<br />
des Ausdrucks den Vorrang gab, war ihr doch auch daran gelegen, geschichtliche<br />
Tatbestände korrekt zu vermitteln. Deshalb zögerte sie nicht, in den späteren<br />
Ausgaben ihrer Bücher Einzelheiten zu korrigieren oder bessere Zitate einzufügen.<br />
Die Tatsache, daß der sogenannten ‚Entscheidungsserie‘ zwei frühere Ausgaben<br />
mit ähnlichem Inhalt vorausgingen, bietet uns die einzigartige Möglichkeit, den<br />
Redaktionsvorgang sowie die einzelnen Verbesserungsschritte zu verfolgen.<br />
Ellen Whites klaren diesbezüglichen Ansichten sind in einem offenherzigen<br />
Schreiben an Uriah Smith dargelegt, der gebeten worden war, den Vorsitz eines<br />
Ausschusses zu übernehmen, der sich mit der Revision der Zeugnisse befassen sollte.<br />
Da Uriah Smith erheblichen Widerstand unter den Gläubigen verspürte, bedurfte es<br />
eines Ansporns durch Ellen White, um die Neubearbeitung gemäß dem<br />
Generalkonferenz-Beschluß von 1883 voranzutreiben.<br />
Ellen Whites Brief an Smith [siehe Anhang B] enthält die beachtenswerten<br />
Worte: „Aber mir wurde gezeigt, daß ich das erhaltene Licht der Gemeinde in der<br />
bestmöglichen Weise vorlegen sollte; wenn ich dann vermehrtes Licht empfinge und<br />
die mir von Gott gegebene Gabe nutzte, sollte ich besser befähigt sein, zu schreiben<br />
und zu sprechen. Ich wurde beauftragt, alles zu verbessern und so weit wie möglich<br />
zu vervollkommnen, damit auch intelligente Menschen meine Botschaft annehmen<br />
könnten.“ (3 SM 96-97, eigene Hervorhebung)<br />
Dann beklagt Ellen White den Verzug der Herausgabe des Buches History of the<br />
Sabbath. „Andere Bücher mit irreführendem Inhalt setzten sich durch“ und erfüllten<br />
viele Menschen mit Vorurteilen. J. N. Andrews hätte sein Buch längst herausgeben<br />
sollen, meinte sie. „Nachdem die erste Auflage vergriffen war, hätte er<br />
Verbesserungen anbringen können; doch er ging viel zu perfektionistisch vor.“<br />
Bezüglich ihrer eigenen Werke konnte sie nicht mit den Brüdern übereinstimmen, die<br />
zögerten, die Zeugnisse neu herauszugeben: „Ich bin überzeugt, daß die Änderungen<br />
für das Buch vorteilhaft sind. Wenn unsere Gegner sich darauf stürzen, so sollen sie<br />
es tun,“ sagte sie. „Ich glaube, daß alles, was wir herausbringen, kritisiert, verzerrt<br />
und verdreht werden wird; aber wir müssen mit gutem Gewissen voranschreiten,<br />
indem wir tun, was in unserer Macht steht und das Resultat Gott überlassen.“ (3 SM<br />
97-98)<br />
Als die Neuauflage der Zeugnisse schließlich erschien, stürzten sich die „Gegner“<br />
tatsächlich darauf, und das Werk wurde „kritisiert, verzerrt und verdreht“. Dabei<br />
309
INSPIRATION<br />
spielte der frühere Adventistenprediger D. M. Canright eine führende Rolle. In<br />
seinem Buch Seventh-Day Adventism Renounced kritisierte Canright die revidierten<br />
Testimonies mit folgenden Worten: „Ich las vier verschiedene, zufällig geöffnete<br />
Seiten aus Band 1 und verglich sie mit der ursprünglichen Version. Ich fand<br />
durchschnittlich vierundzwanzig Wortveränderungen auf jeder Seite! Ihre Worte<br />
wurden entfernt und durch andere Worte ersetzt; weitere Änderungen wurden<br />
vorgenommen, in einigen Fällen so viele, daß es schwierig war, beide Fassungen<br />
vergleichend zu lesen. Wenn man dieselbe Korrekturquote auf alle vier Bände<br />
überträgt, so ergibt dies insgesamt 63.720 Änderungen. Legt man all die Worte<br />
zusammen, die von ihrem Mann, ihrem Kopisten, ihrem Sohn, ihren Herausgebern<br />
sowie aus den Werken anderer Autoren stammen, so umfassen diese vermutlich<br />
zwischen einem Zehntel und einem Viertel all ihrer Bücher. Da kann man nur sagen:<br />
Schöne Inspiration!“ (Canright 141)<br />
Ellen Whites Ansicht über Inspiration waren für Canright eindeutig zu weit<br />
gefaßt. Folgen wir <strong>als</strong> Adventisten jedoch dem Weg, den Ellen White uns aufgezeigt<br />
hat (und nicht dem von Canright), dann werden auch wir eine pragmatische und<br />
flexible Einstellung gegenüber der Inspiration gewinnen – eine, die dem Schreiber<br />
erlaubt, seine Botschaft anzupassen, anzuwenden und umzuformen und sie dadurch,<br />
wo immer möglich, zu verbessern. Diese flexible Sicht der Inspiration befähigt dazu,<br />
auch das, was wir in der Schrift vorfinden, realistisch zu beurteilen. Wir müssen die<br />
Schrift dann nicht in eine selbstgebastelte Zwangsjacke stecken, bei der Theorie und<br />
Text einander entgegenstehen.<br />
Die drei sukzessiven Ausgaben der ‚Entscheidungsserie‘ zeigen sehr gut, welche<br />
Änderungen und redaktionellen Bearbeitungen wir aus der Feder eines inspirierten<br />
Schreibers erwarten können. Die bei diesen Werken vorgenommenen Eingriffe sind<br />
oft viel einschneidender <strong>als</strong> die Feinabstimmung bei der Revision der Zeugnisse.<br />
Nachstehend sind die drei aufeinanderfolgenden Ausgaben aufgeführt, die<br />
gegenwärtig in gedruckter Form vorliegen (die ersten beiden <strong>als</strong> Faksimile-<br />
Nachdruck), mit den entsprechenden Anfangs- und Enddaten der<br />
Originalpublikation * :<br />
Spiritual Gifts, Band I-IV, 1858-1864<br />
The Spirit of Prophecy, Band I-IV, 1870-1884<br />
Entscheidungsserie, Band 1-5, 1888-1916<br />
Von den folgenden Beispielen erläutern die ersten drei verschiedene Arten von<br />
* Spiritual Gifts, Band I, findet sich in deutscher Übersetzung in dem Buch Frühe Schriften von Ellen<br />
G. White, S. 119-282. Die ‚Entscheidungsserie‘ ist ebenfalls in Deutsch erhältlich.<br />
310
INSPIRATION UND PROPHETISCHE AUTORITÄT<br />
Abweichungen, und zwar anhand eines Vergleichs der drei Ausgaben. Die<br />
anderenbeiden Beispiele sind einander ähnlich, indem sie vor Augen führen, wie<br />
Gott seine Botschafter im Rahmen der zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten<br />
leitete. Mit fortschreitender Zeit und zunehmender Erkenntnis wird es auch für einen<br />
Boten Gottes nötig und sogar erwünscht sein, bestimmte Änderungen anzubringen,<br />
um „alles zu verbessern und so weit wie möglich zu vervollkommnen.“<br />
Sollte das Ergebnis flüchtiger (nicht-analytischer) Lektüre durch sorgfältig<br />
prüfendes (analytisches) Textstudium in Frage gestellt werden, so muß ein Prophet<br />
angemessen reagieren und gegebenenfalls seinen Text ändern, gewisse Dinge<br />
streichen oder hinzufügen. Da Gott seine Boten in ihrem gesellschaftlichen Umfeld<br />
anspricht, haben wir unser Augenmerk auf die praktische Anwendung ihrer Aussagen<br />
zu richten, die bereits bei der ursprünglichen Botschaft im Mittelpunkt stand.<br />
„Ich wurde beauftragt, alles zu verbessern“<br />
1. <strong>Theologische</strong> Entwicklung: Hoffnung für den gefallenen Luzifer – Die drei<br />
aufeinanderfolgenden Ausgaben enthalten im Blick auf Luzifer drei verschiedene<br />
Darstellungen von Gott und seinem Gesetz. Spiritual Gifts beschreibt das<br />
Gerichtsurteil <strong>als</strong> zügig und entschlossen. Luzifer wird im Schnellverfahren<br />
abgeurteilt. Wenn er auch nach seiner Austreibung Reue zeigt, so ist doch niemand<br />
im Himmel, der für den Rebellen und seine Anhänger das geringste Mitleid<br />
empfindet. „Doch ihre Sünde – ihr Haß, ihr Neid und ihre Eifersucht – war so groß<br />
geworden, daß Gott sie nicht auslöschen konnte.“ (1 SG 19; deutsch in FS 132)<br />
In The Spirit of Prophecy stoßen wir auf eine Spur von Anteilnahme. Zunächst<br />
versuchen die ungefallenen Engel Luzifer zu überreden, sich Gott zu unterwerfen<br />
(1 SP 20). Sogar Christus vergießt Tränen, <strong>als</strong> Luzifer ihn um Wiederaufnahme<br />
bittet. Aber das Gesetz ist unerbittlich. Es gibt keine Hoffnung, denn „Sünde und<br />
Auflehnung waren von ihm ausgegangen.“ (1 SP 29)<br />
In Patriarchen und Propheten stellt das Gesetz nicht mehr eine undurchdringliche<br />
Schranke dar. Gott selbst begegnet Luzifer mit großer Geduld und bietet ihm sogar<br />
die Möglichkeit der Wiedereinsetzung, nachdem die Auflehnung bekannt geworden<br />
war. „Obgleich er seine Stellung <strong>als</strong> deckender Cherub verließ, hätte er wieder in<br />
sein Amt eingesetzt werden können, wenn er nur bereit gewesen wäre, zu Gott<br />
zurückzukehren und des Schöpfers Weisheit anzuerkennen.“ (PP 15)<br />
Diese Veränderungen in der Auslegung entsprechen dem sich entwickelnden<br />
Gesetzesverständnis von Ellen White. Ursprünglich erscheint das Gesetz bei ihr <strong>als</strong><br />
äußerliche Größe, willkürlich und autoritär, wobei Macht die wichtigste<br />
311
INSPIRATION<br />
Charaktereigenschaft Gottes bildet. Aber ihr Verständnis wandelte sich, bis sie<br />
Gottes Gesetz <strong>als</strong> inneren Faktor, natürlich und nicht-autoritär wertete und die Güte<br />
<strong>als</strong> hervorstechende Charaktereigenschaft Gottes erkannte. (Weitere Erklärungen und<br />
dokumentarische Nachweise sind in meiner Serie „From Sinai to Golgotha“<br />
enthalten.)<br />
2. Identität historischer Persönlichkeiten: Herodes im Neuen Testament – Dem<br />
uneingeweihten oder flüchtigen Leser wird es kaum gelingen, die verschiedenen<br />
neutestamentlichen Träger des Namens Herodes auseinanderzuhalten. Wenn wir den<br />
biblischen Bericht mit außerbiblischen Quellen vergleichen, lassen sich folgende<br />
Herodes-Figuren identifizieren: (a) Herodes der Große (Geburt Jesu); (b) Herodes<br />
Antipas (Tod Jesu); (c) Herodes Agrippa I (Hinrichtung von Jakobus;<br />
Gefangennahme von Petrus); (d) Herodes Agrippa II (Gespräch mit Paulus).<br />
In Band 1 von Spiritual Gifts werden Herodes Antipas und Herodes Agrippa <strong>als</strong><br />
ein und dieselbe Person dargestellt: „Das Herz des Herodes war noch verhärteter<br />
geworden, und <strong>als</strong> er hörte, daß Jesus auferstanden war, beunruhigte ihn diese<br />
Botschaft nicht sehr. Er nahm Jakobus das Leben, und <strong>als</strong> er merkte, daß dies den<br />
Juden wohlgefiel, legte er seine Hand auch an Petrus, in der Absicht, auch ihn zu<br />
töten. Aber Gott hatte ein Werk für Petrus zu tun und sandte seinen Engel, ihn zu<br />
befreien. Herodes wurde von den Gerichten Gottes heimgesucht. Als er sich in der<br />
Gegenwart einer großen Menge überhob, wurde er von einem Engel des Herrn<br />
geschlagen und starb eines schrecklichen Todes.“ (1 SG 71; deutsch in FS 171)<br />
Im Rahmen der erweiterten Darstellung im Band 3 von The Spirit of Prophecy<br />
wird dieses Mißverständnis – vermutlich <strong>als</strong> Folge gründlicher Untersuchungen –<br />
beseitigt. Die Beschreibung der Reaktion auf Jesu Auferstehung schließt nun mit<br />
einem Hinweis auf Pilatus. Herodes wird nicht mehr erwähnt (3 SP 198). Im<br />
Anschluß an einen deutlich erweiterten Bericht über die Ereignisse nach der<br />
Auferstehung Jesu wird Herodes (Agrippa) <strong>als</strong> eigenständige Person dargestellt und<br />
– historisch exakt – mit der Verfolgung der Apostel in Verbindung gebracht<br />
(3 SP 334).<br />
3. Verständnis für biblische Sitten: Jesu Verhalten bei der Hochzeit von Kana –<br />
Jesu unhöflich und barsch wirkende Antwort an seine Mutter in Johannes 2,4 („Was<br />
geht’s dich an, Frau, was ich tue? Meine Stunde ist noch nicht gekommen.“) wird in<br />
The Spirit of Prophecy <strong>als</strong> Tadel interpretiert: „Indem er seine Mutter tadelte, tadelt<br />
er auch eine große Gruppe von Menschen, die ihre Familien abgöttisch lieben und<br />
deren Familienbande sie am Dienst für Gott hindern. Menschliche Liebe ist eine<br />
heilige Eigenschaft, aber sie sollte unsere religiöse Erfahrung nicht beeinträchtigen<br />
noch unsere Herzen von Gott entfremden.“ (2 SP 101-102)<br />
312
INSPIRATION UND PROPHETISCHE AUTORITÄT<br />
Der Parallelabschnitt im Buch Das Leben Jesu stellt Jesu Antwort <strong>als</strong> höfliches<br />
Verhalten dar, das der damaligen Sitte entsprach: „Diese uns schroff erscheinende<br />
Antwort drückte jedoch keine Kälte oder Unhöflichkeit aus. Sie entsprach durchaus<br />
der damaligen orientalischen Gepflogenheit. Man bediente sich dieser Anrede bei<br />
Personen, denen man Achtung erweisen wollte.“ (LJ 131) Die mildere Sicht im Buch<br />
Das Leben Jesu ist zweifellos das Resultat eines veränderten Gesetzesverständnisses<br />
von Ellen White.<br />
Was sie in The Spirit of Prophecy über die Familie sagt, deutet hin auf eine<br />
gewisse Spannung zwischen Verpflichtungen, die man Menschen gegenüber, und<br />
solchen, die man Gott gegenüber hat, <strong>als</strong> ob man zwischen beiden wählen müßte. In<br />
ihrer späteren Einschätzung sieht Ellen White von einer solchen Gegenüberstellung<br />
ab und vereint unsere Verpflichtungen gegenüber Gott und der Familie, indem sie<br />
beide dem einen großen Gesetz der Liebe unterordnet. Daraus ergibt sich, daß man<br />
Gott am besten in der Familie dienen kann: „Gott wünscht, daß die Familien auf<br />
Erden ein Abbild der himmlischen Familie sind. Christliche Heime, die in<br />
Übereinstimmung mit Gottes Plan gegründet und geleitet werden, dienen am<br />
wirkungsvollsten der Bildung eines christlichen Charakters und dem Fortschritt<br />
seines Werkes.“<br />
„Ersehnen Eltern einen anderen Zustand in ihrer Familie, dann sollten sie sich<br />
ganz Gott weihen und mit ihm zusammenwirken; das würde eine Wandlung in ihrem<br />
Heim ermöglichen.“ (3 Sch 53)<br />
Der einigende Gedanke des einen großen Gesetzes der Liebe <strong>als</strong> dem natürlichen<br />
Ausdruck von Gottes Charakter läßt die Version im Buch Das Leben Jesu in einem<br />
anderen Geist sowie die Familie in einem anderen Licht erscheinen. Bis sich dieser<br />
Gedanke aber völlig durchgesetzt hat, werden Verpflichtungen Gott und der Familie<br />
gegenüber noch <strong>als</strong> Anforderungen und weniger <strong>als</strong> Liebesdienst empfunden.<br />
4. Wissenschaft und Gesundheit: Schweinefleisch, Phrenologie und Mesmerismus<br />
– Manche Autoren, die sich nachdrücklich für Ellen White einsetzten, stellten die<br />
Behauptung auf, ihre auf Visionen beruhenden Einsichten in Gesundheitsfragen<br />
seien ihrer Zeit um Jahre voraus gewesen. Die Kapitelüberschrift „Science Catches<br />
Up With a Prophet“ („Wissenschaft holt Propheten ein“) im Buch Ellen G. White:<br />
Prophet of Destiny (1972) von René Noorbergen vermittelt jedenfalls diesen<br />
Eindruck, und der Inhalt des Kapitels entspricht diesen Erwartungen. Selbst der eher<br />
nüchterne Bericht von D. E. Robinson, The Story of Our Health Message (1943),<br />
hinterläßt einen ähnlichen Eindruck, wenn wir über die erste große Vision zur<br />
Gesundheitsreform aus dem Jahre 1863 folgendes lesen: „In dieser denkwürdigen<br />
Vision wurden Grundprinzipien vermittelt, die heute etabliert und wissenschaftlich<br />
313
INSPIRATION<br />
anerkannt sind, die aber den damaligen Erkenntnisstand übertrafen.“ (S. 79)<br />
Robinson fügt jedoch hinzu, daß das, was diese Vision so bedeutsam gemacht<br />
hatte, im Grunde nicht die Formulierung korrekter Gesundheitsgrundsätze war,<br />
sondern der Gedanke, „daß es zu unseren religiösen Verpflichtungen gehört, für<br />
unseren Körper <strong>als</strong> einem ‚Tempel‘ Sorge zu tragen.“ (D. Robinson 79) Dann folgt<br />
ein Zitat von J. H. Waggoner, um diese Aussage zu stützen. Erstaunlicherweise<br />
beginnt dieses Zitat mit der Feststellung: „Wir erheben nicht den Anspruch, auf dem<br />
Gebiet gesundheitlicher Reformen Pioniere zu sein.“ (Review and Herald, 7. August<br />
1866)<br />
Stellungnahmen jüngeren Datums über die Geschichte der Gesundheitsreform<br />
und Ellen Whites Beitrag dazu haben Waggoners Standpunkt bekräftigt und gezeigt,<br />
daß die Visionen die religiöse Motivation für die Übernahme von Reformen<br />
lieferten, die bereits von anderen eingeleitet worden waren. An diesen Reformen<br />
haben Adventisten gerade deshalb mit großer Zähigkeit festgehalten, weil sie in der<br />
Erhaltung der Gesundheit eine religiöse Verpflichtung sehen.<br />
Tatsächlich ist eher zu erwarten, daß ein Prophet das Volk Gottes auf<br />
Versäumnisse hinweist, <strong>als</strong> daß er ihm neue Verpflichtungen auferlegt. Als Nathan<br />
Davids Sünde mit Batseba tadelte, war das keine neue Offenbarung. David wußte<br />
sehr genau, daß Ehebruch – zumal mit Mord verbunden – eine verwerfliche<br />
Handlung war. Aber irgendwie bewirkten der auf David weisende Finger Nathans<br />
und seine Botschaft: „Du bist der Mann!“, daß David sich neu daran erinnerte.<br />
Ein Grund für den Vertrauensverlust, den die Werke von Ellen White unter<br />
Adventisten in den letzten Jahren erlitten haben, liegt in der Entdeckung, daß sie<br />
ihrer Zeit nicht um Jahre vorauseilte, sondern daß sie durchaus ein Kind ihrer Zeit<br />
war.<br />
Interessanterweise kann diese Erkenntnis auch anhand ihrer veröffentlichten<br />
Zeugnisse mühelos gewonnen werden. Beachten wir ihr frühes Zeugnis (1858) über<br />
den Genuß von Schweinefleisch, das an zwei Glaubensgeschwister gerichtet war, die<br />
in dieser Frage bereits eine Entscheidung getroffen hatten: „Ich sah, daß eure<br />
Ansichten über Schweinefleisch keinen Schaden anrichten würden, wenn ihr sie für<br />
euch behieltet; gemäß eurem Urteil habt ihr aber aus dieser Frage einen Prüfstein<br />
gemacht, und eure Handlungsweise ließ klar erkennen, wie sehr ihr von dieser Sache<br />
überzeugt seid. Wenn Gott von seinem Volk verlangt, auf Schweinefleisch zu<br />
verzichten, so wird er es mit Leichtigkeit davon überzeugen. Er ist genauso bereit,<br />
seinen aufrichtigen Kindern mitzuteilen, was er von ihnen erwartet, wie er bereit ist,<br />
dies einzelnen Menschen zu zeigen, denen er keine Verantwortung für sein Werk<br />
übertragen hat. Falls die Gemeinde wirklich verpflichtet ist, Schweinefleisch zu<br />
314
INSPIRATION UND PROPHETISCHE AUTORITÄT<br />
meiden, wird Gott dies einer größeren Anzahl <strong>als</strong> nur zwei oder drei Menschen<br />
bekanntgeben. Er wird seiner Gemeinde zeigen, was ihre Verpflichtungen sind.“<br />
(1 T 206-207)<br />
Im Licht der Vision von 1863 kam dann die Gemeinde tatsächlich zu dem Schluß,<br />
daß man unreine Tiere (einschließlich Schweinefleisch) nicht essen sollte. Das<br />
veranlaßte James White, dem früheren Zeugnis über Schweinefleisch die folgende<br />
interessante Erklärung beizufügen: „Dieses bemerkenswerte Zeugnis wurde am 21.<br />
Oktober 1858 verfaßt, nahezu fünf Jahre vor der großen Vision von 1863, in der das<br />
Licht über die Gesundheitsreform gegeben wurde. Als die Zeit reif war, wurde dieses<br />
Thema in einer Weise vermittelt, die unser ganzes Volk aufhorchen ließ. Wie<br />
wunderbar sind die Weisheit und die Güte Gottes! Es mag genauso f<strong>als</strong>ch sein, der<br />
Gemeinde heute die Frage nach Milch, Salz und Zucker aufzudrängen, wie dam<strong>als</strong><br />
die Sache mit dem Schweinefleisch.“ (1 T 206 [Erklärung zur 2. Auflage von 1871])<br />
Hier könnte man geltend machen, daß Ellen Whites Aussage von 1858 auf<br />
ungenügender Information beruhte, daß sie mangelhaft, ja sogar f<strong>als</strong>ch war. Setzt<br />
man jedoch voraus, daß ein Wachstumsprozeß stattfand, so war die damalige<br />
Botschaft genau richtig.<br />
Bezüglich Phrenologie und Mesmerismus war es ähnlich. Die Phrenologie<br />
befaßte sich mit der Form des Schädels und seinen natürlichen Ausbuchtungen,<br />
woraus Rückschlüsse auf die Intelligenz gezogen wurden. Mesmerismus ist wohl am<br />
ehesten mit hypnotischen Praktiken gleichzusetzen. Im Jahr 1864 ließen die Eltern<br />
White ihre beiden Söhne Willie und Edson von einem Phrenologen untersuchen und<br />
erhielten für beide ermutigende Befunde. Ronald Numbers, der diesen Vorfall in<br />
einer Weise schildert, die alles andere <strong>als</strong> positiv ist (Prophetess of Health: A Study<br />
of Ellen G. White 90-91), scheint im Hinblick auf Offenbarung und Inspiration von<br />
einem absoluten „Einmal wahr, immer wahr“-Modell auszugehen, das dem eines<br />
konservativen Fundamentalisten nicht unähnlich ist. Der Unterschied besteht<br />
lediglich darin, daß Numbers Hinweise dafür liefert, daß dieses Modell und die<br />
Annahme der Irrtumslosigkeit nicht haltbar sind.<br />
Dabei stimmt durchaus seine Feststellung, daß das „Einmal wahr, immer wahr“-<br />
Modell mit den Tatsachen nicht übereinstimmt. Daraus läßt sich aber nicht schließen,<br />
daß weder Offenbarung noch Inspiration im Spiel sind. Ein Wachstums-Modell läßt<br />
sich dagegen recht gut mit den Tatsachen vereinbaren. Wenn es einen Gott gibt, dem<br />
Gesundheit und Wohlergehen seiner Kinder am Herzen liegen, wird er sie allmählich<br />
zu größerer Erkenntnis führen.<br />
Rechnet man mit dem Einfluß der Kultur auf die Welt des Propheten und auf<br />
seine Zuhörerschaft, so ist zu erwarten, daß seine Botschaft Bestandteile enthält, die<br />
315
INSPIRATION<br />
dem Kriterium der absoluten Wahrheit nicht standhalten können. Berücksichtigt man<br />
aber die zur Zeit der Botschaft herrschenden Umstände, so sind solche Elemente<br />
durchaus verständlich.<br />
Der Besuch von Ellen White bei einem Phrenologen entspricht dem, was sie 1862<br />
schrieb: „Phrenologie und Mesmerismus werden allzu sehr verherrlicht. Sie haben<br />
zwar ihren berechtigten Platz, aber Satan benutzt sie <strong>als</strong> seine machtvollen<br />
Werkzeuge, um Seelen zu täuschen und zu vernichten.“ (1 T 296; eigene<br />
Hervorhebung)<br />
Würden wir aufgrund dessen, was wir heute wissen, noch sagen, daß Phrenologie<br />
und Mesmerismus ihren „berechtigten Platz“ haben? Wahrscheinlich nicht. Beachten<br />
wir jedoch, wie jene Sätze in der revidierten Ausgabe von 1884 lauten: „Die<br />
Wissenschaften, die sich mit dem menschlichen Geist befassen, werden allzu sehr<br />
verherrlicht. Sie haben zwar ihren berechtigten Platz, aber Satan benutzt sie <strong>als</strong> seine<br />
machtvollen Werkzeuge, um Seelen zu täuschen und zu vernichten.“ (ST, 6.<br />
November 1884; eigene Hervorhebung)<br />
Traditionsgemäß lassen sich diese Aussagen wie folgt erklären: (1) Ein Autor<br />
oder eine Autorin ist immer in Übereinstimmung mit sich selbst, und (2) eine<br />
verständliche Aussage erklärt eine solche, die problematisch ist. Was Ellen White<br />
<strong>als</strong>o 1884 sagte (und das erscheint uns ja gut verständlich) ist nichts anderes <strong>als</strong> das,<br />
was sie eigentlich 1862 schon sagen wollte.<br />
Eine solche Argumentation aber verdeckt das Wachstumsprinzip und läßt uns nur<br />
schwer verstehen, weshalb Ellen White mit ihren Söhnen zu einem Phrenologen<br />
ging. Mir scheint, wir stehen auf festerem Boden, wenn wir uns bewußt machen, daß<br />
sie 1862 die Auswirkungen von Phrenologie und Mesmerismus noch nicht kannte,<br />
genauso wenig wie sie 1858 etwas über die Folgen des Genusses von<br />
Schweinefleisch wußte. Aber mit fortschreitender Zeit, durch vermehrtes Studium<br />
sowie durch zusätzliche Offenbarungen vertiefte sich ihr Verständnis der<br />
„Wissenschaften des Geistes“. Ihre letzte Stellungnahme empfinden wir <strong>als</strong> völlig<br />
angemessen.<br />
5. Wissenschaft: Astronomie – D. M. Canright gewährt uns einen weiteren<br />
Einblick in das populäre Denken bezüglich Offenbarung und Inspiration. Nachdem<br />
er die Adventgemeinde verlassen hatte, war er der Gemeinschaft und besonders Ellen<br />
White gegenüber äußerst kritisch eingestellt. Eines der Kapitel in seinem 1919<br />
veröffentlichten Buch Life of Mrs. E. G. White bezieht sich auf eine Vision, die Ellen<br />
White im Jahr 1846 erhalten hatte. Diese Vision diente dazu, den Schiffskapitän<br />
Joseph Bates, der der Astronomie sehr zugetan war, von der Zuverlässigkeit der<br />
prophetischen Gabe von Ellen White zu überzeugen.<br />
316
INSPIRATION UND PROPHETISCHE AUTORITÄT<br />
Canright stützt sich auf J. N. Loughboroughs Beschreibung dieses Ereignisses<br />
und zitiert ihn wie folgt: „Anläßlich der oben genannten Konferenz [in Topsham,<br />
Maine, 1846] waren wir eines Abends im Haus von Herrn Curtiss versammelt. In<br />
Gegenwart von Bruder [Kapitän] Bates, der bezüglich der Gesichte von Ellen White<br />
noch eine unentschlossene Haltung einnahm, erhielt Ellen White eine Vision und<br />
begann über die Sterne zu sprechen. Begeistert beschrieb sie gürtelartige rosafarbene<br />
Gebilde, die einen der Planeten umgaben, und fügte hinzu: ‚Ich sehe vier Monde.‘<br />
‚Oh,‘ sagte Bruder Bates, ‚sie sieht Jupiter!‘ Dann bewegte sie sich in einer Weise,<br />
<strong>als</strong> ob sie durch das Weltall wandern würde, beschrieb weitere Gürtel und Ringe in<br />
ihrer wunderschönen Vielfalt und sagte dann: ‚Ich sehe sieben Monde.‘ Bruder Bates<br />
rief aus: ‚Sie beschreibt Saturn.‘ Dann verwies sie auf Uranus mit seinen sechs<br />
Monden; schließlich folgte eine wunderbare Schilderung des ‚offenen Himmels‘.“<br />
(Loughborough 258, zitiert in Canright, Life of Mrs. E. G. White 277)<br />
Canright räumt ein, daß Bates durch diese Vision überzeugt wurde, bestreitet<br />
aber, daß sie von Gott kam, da Frau White lediglich das „sah, was ihre Zeitgenossen<br />
im allgemeinen glaubten und untereinander beredeten,“ nicht aber, was sich später<br />
<strong>als</strong> wahr erweisen sollte. Seine Logik ist bemerkenswert: „Hätte Gott ihr diese<br />
Vision über die Planeten und die dazugehörige Anzahl Monde gegeben, so hätte er<br />
ihr in jedem Fall die korrekte Anzahl vermittelt, so daß sie hätte offenbaren können,<br />
was Astronomen ihrer Zeit nicht wußten, was aber später bekannt wurde. Damit hätte<br />
bewiesen werden können, daß ihre Visionen von Gott kamen.“ (Ebd., 277-278)<br />
Canright zitiert dann wissenschaftliche Autoritäten, deren Aussagen ihm 1919 zur<br />
Verfügung standen, um zu belegen, wieviele Monde in Wirklichkeit zu den<br />
verschiedenen Planeten gehören. Canright konnte nicht wissen, daß bis in unsere Zeit<br />
hinein immer wieder neue Entdeckungen gemacht würden.<br />
Eine Stichprobe aus einigen Nachschlagewerken verdeutlicht, wie riskant der<br />
Versuch ist, den Wagen der Offenbarung an das Zugpferd der Wissenschaft<br />
anzukoppeln – und umgekehrt. Bei Jupiter und Saturn beispielsweise ist die Anzahl<br />
der Monde vom jeweiligen Erscheinungsjahr der betreffenden Publikation abhängig.<br />
(Die in der nachstehenden Tabelle aufgeführte Anzahl von Monden stammt aus<br />
folgenden Quellen: 1919: Canright; 1966: Encyclopaedia Britannica; 1977: World<br />
Book Encyclopedia; 1985: Friedlander, Astronomy; 1989: Newsweek 4. September<br />
1989)<br />
1846 1919 1966 1977 1985 1989<br />
Jupiter 4 9 12 13,14 16 16<br />
317
INSPIRATION<br />
Saturn 8 10 9 (10) 10 17 20<br />
Da wissenschaftliche Lehrbücher schnell veralten, stellt sich hier eine<br />
interessante Frage: Zu welchem Zeitpunkt soll eine Offenbarung mit der<br />
Wissenschaft übereinstimmen? Vielleicht sollte uns diese Frage nicht allzu stark<br />
beschäftigen. Offenbarung hat es mit praktischen Belangen zu tun. Falls der Herr<br />
beispielsweise Ellen White die 16 Monde des Jupiter sowie die 20 Monde des Saturn<br />
gezeigt hätte (siehe Newsweek-Artikel vom 4.9.1989 von Sharon Begley und Mary<br />
Hager, „A Fantastic Voyage to Neptune“), hätte Joseph Bates diese Vision<br />
vermutlich anhand der Fakten bewertet, die ihm dam<strong>als</strong> bekannt waren (Jupiter mit<br />
4 und Saturn mit 8 Monden) – und somit die Prophetin widerlegt.<br />
Die Beschränkungen von Zeit und Umständen, von Kultur und menschlichem<br />
Wissen bilden gewisse Grenzen, innerhalb derer Offenbarung wirksam werden kann.<br />
Wenn Jesus, Gottes höchste Offenbarung, Menschengestalt annahm, „um jeden zu<br />
erreichen“ (1 FG 20), dürfen wir uns fragen, ob dieses Prinzip nicht auch auf alle<br />
geringeren Offenbarungen anwendbar ist. Das würde bedeuten, daß, obwohl wir<br />
keine absolute wissenschaftliche Gültigkeit für prophetische Botschaften<br />
beanspruchen können, doch ihr praktischer Wert bedeutend erhöht wird. Zu einem<br />
guten Unterricht gehören immer einleuchtende Illustrationen, die konkret,<br />
verständlich und dem Bedürfnis des Lernenden angepaßt sind. Sie weisen auf die<br />
Wahrheit hin, sind aber nicht mit ihr selber zu verwechseln.<br />
Zusammenfassend bin ich der Meinung, daß wir gerade von wissenschaftlichen<br />
und historischen Aussagen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt <strong>als</strong> „wohlbekannt<br />
und allgemein bestätigt“ gelten, erwarten können, daß sie von einem inspirierten<br />
Verfasser in späteren Auflagen „verbessert“ werden, sofern neue Informationen<br />
vorliegen. Ob es nun um die Zahl der Israeliten geht, die Ägypten verließen, oder um<br />
die Anzahl der Monde, die um Saturn und Jupiter kreisen – immer sehen wir uns<br />
„wohlbekannten und allgemein bestätigten“ Tatsachen gegenüber, die aufgrund<br />
flüchtiger Lektüre schnell Anerkennung finden, eben gerade weil sie so bekannt und<br />
allgemein anerkannt sind.<br />
So wie wir die Anzahl der Monde, die um Jupiter oder Saturn kreisen, nach den<br />
Erkenntnissen von 1846 oder 1919 heute nicht mehr akzeptieren können, so ist es<br />
auch sinnvoll, die Zahl der am Exodus beteiligten Menschen neu zu überdenken,<br />
selbst wenn wir uns dabei bewußt sind, daß einige vor dem „rutschigen Abhang“<br />
zurückschrecken. Wenn es uns aber gelingt, die Tatsache des Exodus von der Frage<br />
zu trennen, wie viele Menschen daran beteiligt waren, werden wir die grundlegenden<br />
Merkmale eines konservativen biblischen Glaubens aufrechterhalten können und<br />
318
INSPIRATION UND PROPHETISCHE AUTORITÄT<br />
gleichzeitig in der Lage sein, uns stärker auf die wesentliche Botschaft der Bibel und<br />
ihre praktische Anwendung im Leben der Gläubigen zu konzentrieren.<br />
Dabei haben wir die Gefahr des „rutschigen Abhangs“ sehr ernst zu nehmen.<br />
Geistliches Leben kann nur in der Überzeugung gedeihen, daß wir uns auf unseren<br />
Glauben verlassen können. Im 19. Jahrhundert erwiesen sich die voreiligen<br />
Reaktionen auf wissenschaftliche Befunde <strong>als</strong> schädlich für den Glauben. Ellen<br />
White wies auf diese Gefahr hin. Solange Gläubige bezüglich der Dokumente, die<br />
von inspirierten Schreibern verfaßt werden, das „Alles-oder-nichts-Prinzip“<br />
anwenden, kann ihnen der „rutschige Abhang“ leicht zum Verhängnis werden. Und<br />
seien wir offen: Es wird immer mehr <strong>als</strong> genug Gläubige geben, die in diese<br />
Richtung tendieren! Das bedeutet, daß wir sehr vorsichtig vorgehen müssen.<br />
Ich bin jedoch davon überzeugt, daß die stabile Gesetzespyramide des Einen, der<br />
Zwei und der Zehn mit den ihr innewohnenden ewiggültigen Grundsätzen<br />
Adventisten vor einem Abgleiten und einem verderblichen „Domino-Effekt“<br />
bewahren kann. Uns wurde <strong>als</strong> Vermächtnis ein dauerhaftes Fundament übermittelt,<br />
das nicht ins Wanken gerät. Der Versuch, dieser festen Grundlage gewisse<br />
historische Einzelheiten hinzuzufügen oder sie mit den kurzlebigen Launen der<br />
Wissenschaft zu belasten, könnte unseren Glauben akut gefährden.<br />
Das Kapitel „Geheimnisse der Bibel“ im Buch Erziehung von Ellen White warnt<br />
uns vor einer dogmatischen und starren Haltung und fordert uns auf, unserem<br />
Schöpfer vielmehr mit Ehrfurcht zu begegnen. „Wir haben keine Ursache, Gottes<br />
Wort anzuzweifeln, weil wir die Rätsel seiner Vorsehung nicht verstehen können. In<br />
der natürlichen Welt sind wir ständig von Wundern umgeben, die über unsere<br />
Fassungskraft hinausgehen. Sollte es uns dann überraschen, auch im geistlichen<br />
Bereich auf unergründliche Geheimnisse zu stoßen? Die Schwierigkeit liegt einzig<br />
und allein in der Schwäche und in der Begrenztheit des menschlichen Verstands.“ (E<br />
157)<br />
Der „rutschige Abhang“ ist eine Funktion unseres schwachen und begrenzten<br />
Verstands. In Kapitel 21 wurden Wege aufgezeigt, die helfen sollen, dieser Gefahr<br />
zu entgehen. Im gleichen Kapitel werden wir auf eine andere Gefahr hingewiesen,<br />
die uns droht, wenn wir es versäumen, Raum zu schaffen für den sorgfältig<br />
prüfenden (analytischen) Leser, nämlich das „Rehabeam-Prinzip“.<br />
Als Israel von Rehabeam, dem königlichen Nachfolger Salomos,<br />
Steuererleichterungen erbat, erwies dieser sich <strong>als</strong> unnachgiebig und drohte, die<br />
Steuerlast noch zu erhöhen. Der Kommentar von Ellen White dazu läßt aufhorchen:<br />
„Hätten Rehabeam und seine unerfahrenen Ratgeber Verständnis für den göttlichen<br />
Willen mit Israel gezeigt, so würden sie der Bitte des Volkes um entschiedene<br />
319
Reform in der Verwaltung des Landes Gehör geschenkt haben. Als sich ihnen<br />
während der Versammlung in Sichem die Gelegenheit dazu bot, vermochten sie die<br />
Auswirkungen ihrer Handlungsweise nicht zu beurteilen und schwächten für immer<br />
ihren Einfluß auf einen großen Teil des Volkes.“ (PK 62)<br />
Im Licht der oben angeführten Sachverhalte könnte gerade das Unvermögen, die<br />
Auswirkungen der eigenen Handlungsweise zu erkennen, den Einfluß von Ellen<br />
White auf einen großen Teil der Gemeinde nachhaltig und für immer schwächen. Ich<br />
glaube, es wäre tragisch, wenn wir die Anerkennung ihres prophetischen Amtes<br />
davon abhängig machen würden, ob ihre Aussagen über Wissenschaft und<br />
Geschichte unfehlbar sind oder nicht. Wenn wir unsere Hausaufgaben gewissenhaft<br />
erledigen, werden wir auch in der Lage sein, die Autorität der Boten Gottes<br />
hochzuhalten, ohne sie zu Gefangenen eines bestimmten Weltbilds zu machen.<br />
Anhang E<br />
Einstellungen zum Thema Exodus<br />
Es gibt drei Grundanschauungen bezüglich der geschichtlichen Aussagen der<br />
Bibel:<br />
Die rationalistische oder naturalistische Sicht – Bei dieser Sicht wird die Bibel<br />
<strong>als</strong> ein rein menschliches Buch verstanden. Da sie aber auch ein religiöses Buch ist,<br />
gilt das in ihr enthaltene historische Material <strong>als</strong> hochgradig suspekt; das heißt, es<br />
wird nur dann <strong>als</strong> vertrauenswürdig betrachtet, wenn es durch außerbiblische Quellen<br />
bestätigt werden kann.<br />
Die supernaturalistische Sicht – Die Bibel wird <strong>als</strong> ein göttliches Buch anerkannt.<br />
Obwohl Gott menschliche Werkzeuge benutzt, übernimmt er die Verantwortung für<br />
ihre geschichtlichen Aussagen, so daß es die Bibel ist, die geschichtliche Ereignisse<br />
beglaubigt, nicht umgekehrt.<br />
Die inkarnationstheologische Sicht – Die Bibel verbindet Göttliches und<br />
Menschliches miteinander und ist ein zuverlässiger Berichterstatter der in ihr<br />
aufgezeichneten Ereignisse. Obwohl gewisse historische Einzelheiten durch<br />
menschliche Schwächen beeinträchtigt sein können, entscheiden Gläubige im<br />
Zweifelsfall zugunsten der Bibel und vertrauen ihrem Inhalt – es sei denn, daß gute<br />
Gründe dagegen vorliegen. Diese „guten Gründe“ dürften meist der Schrift selbst<br />
entstammen – zum Beispiel bei Paralleldarstellungen –, da für große Teile der Schrift<br />
keine außerbiblischen Quellen verfügbar sind.<br />
Das folgende Beispiel aus dem Buch Geschichte Israels von Martin Noth ist eine<br />
320
EINSTELLUNGEN ZUM THEMA EXODUS<br />
kompromißlos rationalistische Sicht bezüglich des Auszugs aus Ägypten. Noth<br />
schließt jede Möglichkeit einer wunderwirkenden Kraft aus und hält die in der<br />
Schrift beschriebenen Ereignisse nur dann für wahr, wenn sie durch außerbiblische<br />
Quellen belegt sind.<br />
Das andere methodische Extrem wird anhand eines Zitats von Leon Wood<br />
dargestellt. Es geht von der Annahme aus, daß die Bibel eine genaue, irrtumslose und<br />
göttlich verbürgte Beschreibung historischer Ereignisse enthält. Der gesamte Inhalt<br />
der Bibel – vom groben Überblick bis zur kleinsten Einzelheit – wird <strong>als</strong> wahr<br />
betrachtet, unabhängig davon, ob außerbiblische Belege dafür sprechen oder nicht.<br />
Die in diesem Buch vertretene inkarnationstheologische Sicht steht zwischen<br />
diesen beiden Extremen. Sie anerkennt eine menschliche und eine göttliche Seite und<br />
erachtet die biblischen Wunder <strong>als</strong> wahr, weil die Bibel sie berichtet. Einerseits<br />
bedarf es keines außerbiblischen Beweises, um das Zeugnis der Schrift anzunehmen,<br />
weil im Zweifelsfall zugunsten der Bibel entschieden wird. Andererseits bedeutet das<br />
nicht, daß die biblische Darstellung den außerbiblischen Ereignissen gewissermaßen<br />
aufgezwungen wird. Das Inkarnationsmodells erkennt an, daß die menschliche Seite<br />
der inspirierten Schreiber und ihrer Leser von Gott geradezu verlangt, seine<br />
Offenbarung dem Propheten sowie dessen Zuhörerschaft anzupassen. So betrachtet<br />
sind manche „wohlbekannten und allgemein bestätigten Tatbestände“<br />
möglicherweise <strong>als</strong> f<strong>als</strong>ch einzustufen, können jedoch nicht sofort berichtigt werden,<br />
da Menschen zu jedem gegebenen Zeitpunkt nur eine begrenzte Anzahl von<br />
Veränderungen verkraften können.<br />
Wenn wir in der Bibel auf kulturbedingte Elemente stoßen, sollten wir sie deshalb<br />
mit großer Sorgfalt behandeln, so daß sie weder einen alles beherrschenden<br />
Stellenwert erhalten noch zu einem Glaubensverlust führen.<br />
Die rationalistische Sicht<br />
„Überhaupt aber ist es unsachgemäß, die Frage zu stellen, welche von den<br />
israelitischen Stämmen in Ägypten gewesen seien. Denn die Stämme haben sich erst<br />
auf dem Boden des Kulturlandes zu festen Größen konstituiert und da auch erst ihre<br />
Namen erhalten, wie es für einige von ihnen positiv nachweisbar und danach für die<br />
übrigen wenigstens zu vermuten ist. In Ägypten hat es <strong>als</strong>o die späteren Stämme<br />
noch gar nicht gegeben. Damit wird für uns die Frage, wer denn eigentlich in<br />
Ägypten gewesen sei, nur um so schwerer beantwortbar; und wir können nicht mehr<br />
sagen, <strong>als</strong> daß es Elemente waren, die dann in die mit der Landnahme sich<br />
formierenden Stämme eingingen, wahrscheinlich nicht nur in einen einzelnen Stamm<br />
321
INSPIRATION<br />
und vielleicht nicht einmal nur in eine einzelne Stämmegruppe, sondern in den<br />
großen Bereich der israelitischen Stämme überhaupt. Man wird vermuten dürfen, daß<br />
die Abwanderer nach Ägypten schon vorher einen Zusammenhang mit den an den<br />
Rändern des palästinischen Kulturlandes sich aufhaltenden und vielleicht durch den<br />
Weidewechsel zu diesem Kulturlande bereits in Beziehung getretenen Wanderhirten,<br />
die dann im Laufe der Zeit die israelitischen Stämme bildeten, gehabt hatten und daß<br />
sie nach der Errettung aus Ägypten wieder in diesen Kreis zurückkehrten. Auf<br />
welchem Wege das geschah, entzieht sich völlig unserer Kenntnis, da der im<br />
Pentateuch mehr nur vorausgesetzte <strong>als</strong> wirklich fixierte Wanderweg der aus<br />
Ägypten abziehenden Israeliten auf der nachträglichen Verknüpfung der<br />
verschiedenen großen Erzählungsthemen und nicht auf ursprünglicher Überlieferung<br />
beruht. Nach Durchqueren der Sinaiwüste gelangten jedenfalls die aus Ägypten<br />
kommenden Elemente in den Bereich der im Umkreis um Palästina lebenden und<br />
dieses Land begehrenden Sippen, mit denen sie wahrscheinlich verwandt waren, und<br />
brachten zu ihnen die Kunde von dem Gotteswunder am Meer, die sie alle so<br />
mächtig ergriff, daß sie sie allenthalben weitererzählten und ihren Nachkommen<br />
weitergaben, so <strong>als</strong> wäre es ihnen allen gemeinsam begegnet. So wurde das<br />
Bekenntnis zu dem Gott, der sich durch die Errettung aus der Hand der Ägypter<br />
sichtbarlich und herrlich manifestiert hatte, zu einem gemeinsamen Besitz ganz<br />
Israels und zu einer Grundlage seines Glaubens, der in der Institution des sakralen<br />
Zwölfstämmeverbandes unter dem Schutze des verbindlichen Gottesrechtes lebendig<br />
war.“ (Noth 113)<br />
Die supernaturalistische Sicht<br />
Der Haltung von Noth kann die von Leon Wood, einem evangelikalen Autor,<br />
entgegengestellt werden. Aus den folgenden Zitaten wird erkennbar, wie Wood mit<br />
rationalen Schwierigkeiten zu ringen hat. Diese ergeben sich aus der<br />
offensichtlichen, auf Schriftaussagen beruhenden Schlußfolgerung, daß zwei<br />
Millionen Menschen von Ägypten auszogen. Schließlich werden seine rationalen<br />
Bedenken durch die Überzeugung, die Bibel sei unfehlbar, überwunden.<br />
„Diese Wiederholung der Zahl 600.000 an verschiedenen Stellen deutet klar<br />
darauf hin, daß es sich nicht um einen Abschreibfehler handelt, wie liberale Ausleger<br />
so oft behaupten. Diese Zahl ist enorm groß und bedeutet, daß mit der<br />
Wüstenwanderung riesige Probleme verbunden waren. Aber sie muß aufgrund der<br />
vorhandenen Aussagen akzeptiert werden. Gott, der durch Mose wirkte, war fähig,<br />
diese Probleme zu meistern.“ (Leon Wood 131 [Fußnote])<br />
322
EINSTELLUNGEN ZUM THEMA EXODUS<br />
Ausgehend von der Überzeugung, daß zwei Millionen Menschen betroffen waren,<br />
kommt Wood zu dem Schluß, daß der Weg durch das Meer mindestens eine Meile<br />
(1,6 km) breit gewesen sein muß, da ja alle Israeliten während einer einzigen Nacht<br />
hindurch marschieren mußten. Die begleitende Fußnote wirft ein Licht auf die innere<br />
Spannung, die entsteht, wenn das natürliche Empfinden mit den Vorgaben des<br />
supernaturalistisch verstandenen Textes in Konflikt gerät: „Ein auf dem Marsch<br />
befindliches Zwei-Millionen-Volk, das sich in Reihen von 10 nebeneinander<br />
marschierenden Personen mit einem Reihenabstand von 5 Fuß [1,5 m] fortbewegt,<br />
ergibt eine Gesamtlänge von 190 Meilen [300 km]. Auch wenn wir uns vorstellen,<br />
daß der Marschweg etwa so breit wie eine moderne Autobahn war, wären die ersten<br />
Israeliten schon in Kanaan eingetroffen, bevor sich die letzten in Bewegung gesetzt<br />
hätten, und das hätte mehrere Tage gedauert.“ (Wood 133 [Fußnote])<br />
Die inkarnationstheologische Sicht<br />
Ein auf dem Inkarnationsprinzip beruhendes Modell läßt in Bereichen von relativ<br />
geringer Bedeutung menschliche Unzulänglichkeiten gelten. Damit vereinbar wäre<br />
beispielsweise, daß der Exodus <strong>als</strong> Tatsache feststeht, während dies für die Anzahl<br />
der daran Beteiligten nicht der Fall ist.<br />
Wie in Kapitel 19 besprochen, steht uns eine andere Möglichkeit offen, um dem<br />
Zahlenproblem im Alten Testament besser beizukommen. Sie besteht darin, daß wir<br />
die Mehrdeutigkeit des hebräischen Wortes für „tausend“ in unsere Überlegungen<br />
einbeziehen (es kann sowohl Rind, Sippschaft/Stadt, Oberhaupt/Fürst <strong>als</strong> auch die<br />
Zahl 1.000 bedeuten).<br />
Philosophisch betrachtet sind die beiden Extrempositionen viel eindeutiger <strong>als</strong><br />
das Inkarnationsmodell, denn sie besagen, daß das Buch entweder menschlich oder<br />
göttlich ist. Aber das Inkarnationsmodell erlaubt uns, den Bibeltext <strong>als</strong> solchen, den<br />
außerbiblischen Befund sowie die Bedürfnisse des christlichen Erfahrungsbereichs<br />
gleicherweise ernst zu nehmen. Und weil dieses Modell vom Text und nicht von<br />
einer philosophischen a priori-Vorstellung ausgeht, kann es sich der Ausleger<br />
leisten, sowohl dem Text, dem außerbiblischen Befund, wie auch der religiösen<br />
Erfahrung Genüge zu leisten.<br />
323
Anhang F<br />
Sind Meinungsverschiedenheiten<br />
fruchtbar oder schädlich?<br />
Übersicht: Ellen White macht einige bedeutsame Aussagen zu dieser Frage.<br />
Konservative Einstellung: Mangelndes Schriftstudium führt zu einer<br />
konservativen Haltung und zur Vermeidung jeglicher Diskussion (2 Sch 281-282).<br />
Im Widerspruch zum Propheten: Ellen White ist nicht ganz einverstanden mit<br />
E. J. Waggoners Schriftauslegung, betrachtet ihn aber <strong>als</strong> treuen Glaubensbruder,<br />
dessen Botschaft voll übereinstimmt mit dem, was der Herr ihr über Jahre hinweg<br />
offenbart hat (Manuskript 15, 1888).<br />
Vielfalt: So wie die Vielfalt in der Schrift derjenigen unter den Menschen<br />
entspricht, so werden Schüler daraus Nutzen ziehen, wenn sie mehr <strong>als</strong> einen<br />
Bibellehrer haben (CT 432-433).<br />
Einheit: Eine einheitliche Auslegung aller Schriftstellen ist keine Voraussetzung<br />
für die Einheit der Gemeinde (Manuskript 24, 1892).<br />
324<br />
Konservative Einstellung<br />
„Wenn Gottes Kinder in der Gnade wachsen, werden sie auch beständig ein klareres<br />
Verständnis seines Wortes gewinnen. In seinen heiligen Wahrheiten werden sie neue<br />
Erkenntnis und Schönheit finden. So war es zu allen Zeiten in der Geschichte der<br />
Gemeinde, und so wird es bis ans Ende bleiben. Doch wo das geistliche Leben<br />
abnimmt, herrscht stets die Neigung, im Suchen nach Erkenntnis der Wahrheit<br />
nachzulassen. Die Menschen geben sich mit der Erkenntnis zufrieden, die sie bereits<br />
aus dem Worte Gottes empfangen haben, und vernachlässigen ein weiteres Suchen<br />
in der Schrift. Sie erstarren geistlich und trachten danach, Aussprachen aus dem<br />
Wege zu gehen. – Die Tatsache, daß es unter dem Volke Gottes keine<br />
Lehrstreitigkeiten und keine Gärung gibt, sollte nicht <strong>als</strong> schlüssiger Beweis dafür<br />
gelten, daß es an der gesunden Lehre festhält. Die Befürchtung ist berechtigt, daß es<br />
Wahrheit und Irrtum nicht deutlich unterscheiden kann. Wenn durch das Suchen in<br />
der Schrift keine neuen Fragen und keine Meinungsverschiedenheiten aufkommen,<br />
durch die Menschen veranlaßt werden, selbst in der Bibel zu forschen, um sicher zu<br />
sein, daß sie die Wahrheit besitzen, dann wird es wie in früheren Zeiten viele geben,<br />
die sich an Überlieferungen halten und die nicht wissen, was sie anbeten.“ (2 Sch
MEINUNGSVERSCHIEDENHEITEN<br />
281.282)<br />
Im Widerspruch zum Propheten<br />
„Aufruf zu vertieftem Schriftstudium“, 1. 11. 1888, Minneapolis, Minnesota:<br />
„Liebe Brüder, die ihr zur Generalkonferenz versammelt seid!<br />
Ich bitte euch inständig, eine christliche Gesinnung zu bekunden. Laßt keine<br />
starren Vorurteile aufkommen, denn wir sollten bereit sein, die Schrift mit<br />
Unvoreingenommenheit, Ehrfurcht und Offenheit zu untersuchen. Sollte es<br />
Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung der Schrift geben, so gebührt es<br />
sich, darüber zu beten. Persönliche Gefühle dürfen weder unsere Worte noch unser<br />
Urteil beeinflussen. Solltet ihr das Licht, das euch Gott sendet, zurückweisen, wird<br />
dies den Geist Gottes betrüben.<br />
Dr. Waggoner hat ohne Umschweife zu uns gesprochen. Seine Aussagen<br />
enthalten kostbares Licht. Einiges, was er bezüglich des Gesetzes im Galaterbrief<br />
gesagt hat, falls ich ihn richtig verstehe, stimmt mit meinem bisherigen Verständnis<br />
dieses Themas nicht überein. Aber Wahrheit wird keinen Schaden leiden durch<br />
nähere Untersuchung; deswegen bitte ich euch um Christi willen, euch zur<br />
lebendigen Quelle zu begeben und Gott im Gebet und in Demut anzurufen. Jeder<br />
sollte sich bewußt sein, daß ihm das Vorrecht zuteil wird, die Schrift für sich selbst<br />
zu erforschen, und dies sollte mit der ernsten Bitte geschehen, daß Gott ihm das<br />
richtige Verständnis für sein Wort schenken möge, damit er aufgrund klarer<br />
Schriftbelege wissen kann, was Wahrheit ist.<br />
Ich möchte einen demütigen Geist haben und bin bereit, mich wie ein Kind<br />
belehren zu lassen. Es hat dem Herrn gefallen, mir großes Licht zu geben, und doch<br />
weiß ich, daß er auch andere Menschen führt und ihnen die Geheimnisse seines<br />
Wortes öffnet. Ich wünsche jeden Lichtstrahl zu empfangen, den Gott mir sendet,<br />
auch wenn dieses Licht durch den schwächsten seiner Diener verkündet wird.<br />
In einer Sache bin ich mir sicher: Als Christen seid ihr nicht berechtigt, gegenüber<br />
Dr. Waggoner Gefühle der Feindschaft, der Unfreundlichkeit und der<br />
Voreingenommenheit zu hegen. Er hat seine Ansichten in klarer, freimütiger Weise<br />
vorgetragen, wie es sich für einen Christen geziemt. Wenn er im Irrtum ist, so solltet<br />
ihr versuchen, ihm in einer ruhigen und vernünftigen Weise im Geiste Christi anhand<br />
des Wortes Gottes zu zeigen, wo er mit dessen Lehren nicht übereinstimmt. Wenn ihr<br />
dazu nicht in der Lage seid, so habt ihr <strong>als</strong> Christen kein Recht, ihn des Irrtums zu<br />
bezichtigen, zu kritisieren, im Geheimen zu agitieren und andere durch eure<br />
Einwände negativ zu beeinflussen. So pflegt Satan zu handeln.<br />
Gewisse Bibelauslegungen von Dr. Waggoner halte ich nicht für richtig. Aber ich<br />
325
INSPIRATION<br />
bin überzeugt, daß er völlig ehrlich ist in seinen Anschauungen; ich respektiere seine<br />
Haltung und behandle ihn <strong>als</strong> einen christlichen Ehrenmann. Ich habe keinen Grund<br />
anzunehmen, daß Gott ihn für weniger wert hält <strong>als</strong> irgendeinen meiner<br />
Glaubensbrüder, und ich betrachte ihn <strong>als</strong> meinen Bruder in Christus, solange es<br />
keinen Beweis für seine Unwürdigkeit gibt. Die Tatsache, daß einige seiner<br />
Ansichten über die Bibel von euren oder meinen Überzeugungen abweichen, gibt uns<br />
kein Recht, ihn <strong>als</strong> einen Übeltäter oder gefährlichen Menschen zu behandeln und<br />
zur Zielscheibe ungerechter Kritik werden zu lassen. Wir dürfen gegen ihn oder<br />
seine Lehren nicht die Stimme des Tadels erheben, es sei denn, wir können<br />
gewichtige Gründe dafür anführen und ihm klar aufzeigen, daß er im Irrtum ist.<br />
Niemand sollte sich frei fühlen, einen kämpferischen Geist walten zu lassen.<br />
Einige wünschen eine sofortige Entscheidung darüber, was die richtige Ansicht<br />
bezüglich der angesprochenen Frage ist. Da dies auch dem Wunsche von Bruder B.<br />
[gemeint ist George I. Butler, der Präsident der Generalkonferenz] entspricht, wird<br />
nun vorgeschlagen, dieses Problem sofort zu lösen. Aber sind wir überhaupt<br />
innerlich vorbereitet, eine solche Entscheidung zu treffen? Ich kann einem solchen<br />
Vorgehen nicht zustimmen, weil unsere Brüder von einem Geist beseelt sind, der<br />
sehr gefühlsbetont und impulsiv ist, und der ihr Urteil maßgeblich beeinflußt.<br />
Solange diese Erregung anhält, sind sie nicht fähig, sichere Entscheidungen zu<br />
treffen.<br />
Ich weiß, daß es gefährlich wäre, Dr. Waggoners Ansichten <strong>als</strong> völlig f<strong>als</strong>ch zu<br />
brandmarken. Daran würde der Feind Gefallen finden. Ich sehe die wunderbare<br />
Wahrheit in seiner Darstellung der Gerechtigkeit Christi in Verbindung mit dem<br />
Gesetz, wie er uns dies vorgetragen hat. Viele von euch sagen: Es ist Licht und<br />
Wahrheit. Und doch habt ihr das alles bisher nie in diesem Lichte dargestellt. Wäre<br />
es nicht möglich, daß er dank ernsthaftem Schriftstudium und unter Gebet noch<br />
größeres Licht zu einigen Punkten erhalten hat? Das, was hier vorgetragen wurde,<br />
stimmt völlig mit dem Licht überein, das mir Gott durch all die Jahre meiner<br />
Erfahrung hindurch offenbart hat. Wenn unsere Prediger diese so klar vorgetragene<br />
Lehre annehmen würden, nämlich die Gerechtigkeit Christi in Verbindung mit dem<br />
Gesetz – und ich weiß, sie sollten diese Lehre annehmen – so würden ihre Vorurteile<br />
nicht dominieren, und die Menschen würden Speise zur rechten Zeit erhalten. Laßt<br />
uns zur Bibel greifen und uns mit demütigem Bitten und aufnahmewilligem Geist<br />
dem großen Lehrer der Welt zuwenden; laßt uns wie David beten: ‚Öffne mir die<br />
Augen, daß ich sehe die Wunder an deinem Gesetz.‘ (Psalm 119,18)<br />
Es gibt meines Erachtens keine Entschuldigung für die gereizte Stimmung, wie<br />
sie bei dieser Versammlung aufgekommen ist. Ich habe hier zum ersten Mal<br />
326
MEINUNGSVERSCHIEDENHEITEN<br />
Gelegenheit gehabt, mir zu diesem Thema etwas anzuhören. Ich habe hierüber weder<br />
mit meinem Sohn W. C. White noch mit Dr. Waggoner oder mit Bruder A. T. Jones<br />
gesprochen. Auf dieser Konferenz habe ich zum ersten Mal gehört, wie Dr.<br />
Waggoner seine Auffassung begründet. Die von eurem Präsidenten in Battle Creek<br />
stammenden Botschaften sind darauf angelegt, euch zu bewegen, voreilige<br />
Entscheidungen zu treffen und starre Positionen einzunehmen; ich möchte euch<br />
jedoch davor warnen. Ihr besitzt momentan nicht die nötige Ruhe; viele wissen<br />
überhaupt nicht, was sie glauben sollen. Es ist gefährlich, Entscheidungen über<br />
irgendwelche Streitpunkte zu treffen, ohne daß wir zuvor alle Seiten des Problems<br />
unvoreingenommen betrachtet haben. Erregte Gemüter führen zu voreiligen<br />
Schritten. Sicher sind viele mit f<strong>als</strong>chen Eindrücken und verkehrten Ansichten zu<br />
dieser Versammlung gekommen. Sie machen sich Vorstellungen, die nicht auf<br />
Wahrheit gegründet sind. Selbst wenn die Ansicht, die wir bisher über die beiden<br />
Gesetze gehabt haben, der Wahrheit entspricht, so wird doch der Geist der Wahrheit<br />
keine der Maßnahmen gutheißen, die viele von euch zur Verteidigung dieser Ansicht<br />
ergreifen möchten. Der Geist, der mit der Wahrheit verbunden ist, muß dem Geiste<br />
dessen entsprechen, der der Urheber aller Wahrheit ist.“ (Manuskript 15, 1888<br />
[Auszug])<br />
Vielfalt<br />
„An unseren Schulen sollte der Bibelunterricht für die Jugend nicht jahrelang auf<br />
einen einzigen Lehrer beschränkt bleiben. Obwohl ein Lehrer durchaus fähig sein<br />
mag, die Wahrheit darzulegen, ist den Schülern doch nicht am besten gedient, wenn<br />
sie von einem Trimester zum andern und von einem Jahr zum andern in ihrem<br />
Studium des Wortes Gottes nur von einem einzigen Menschen geleitet werden.<br />
Verschiedene Lehrer sollten sich in diese Aufgabe teilen, wenn vielleicht auch nicht<br />
alle ein umfassendes Schriftverständnis besitzen. Wenn sich mehrere auf unseren<br />
größeren Schulen für den Bibelunterricht zusammentun, können Schüler von den<br />
Fähigkeiten mehrerer Leute profitieren.<br />
Weshalb brauchen wir einen Matthäus, einen Markus, einen Lukas, einen<br />
Johannes, einen Paulus und all die anderen Bibelschreiber, welche über Leben und<br />
Wirken des Erlösers Zeugnis abgelegt haben? Weshalb hätte nicht einer der Jünger<br />
ein umfassendes Dokument erstellen und uns einen zusammenhängenden Bericht<br />
über Christi irdisches Leben geben können? Weshalb weist der eine Schreiber auf<br />
Dinge hin, die ein anderer gar nicht erwähnt? Und wenn alle diese Aspekte wichtig<br />
sind, weshalb werden sie nicht von all diesen Schreibern erwähnt? Dies geschieht<br />
327
INSPIRATION<br />
deshalb, weil das menschliche Denken so unterschiedlich ist. Nicht alle verstehen die<br />
Dinge in genau derselben Weise. Gewisse Wahrheiten können einige Menschen viel<br />
stärker beeindrucken <strong>als</strong> andere.<br />
Dasselbe Prinzip gilt für Vortragsredner. Der eine schildert gewisse Aspekte sehr<br />
eingehend, während andere rasch darüber hinweggehen oder sie gar nicht erwähnen.<br />
Die gesamte Wahrheit kann von verschiedenen Personen klarer dargestellt werden<br />
<strong>als</strong> von einer einzigen Person. Die Evangelien unterscheiden sich voneinander, aber<br />
die in ihnen enthaltenen Berichte bilden zusammen ein harmonisches Ganzes.<br />
In diesem Sinne beeindruckt der Herr nicht alle auf dieselbe Weise. Durch<br />
ungewöhnliche Erfahrungen und spezielle Umstände gibt er einigen, die sich mit<br />
seinem Worte befassen, Einsichten in Wahrheiten, die andere nicht erfassen können.<br />
Auch ein hochqualifizierter Lehrer kann versäumen, den gesamten vorgesehenen<br />
Lehrstoff zu vermitteln.<br />
Es wäre sehr vorteilhaft für unsere Schulen, wenn häufig Versammlungen<br />
stattfinden könnten, bei denen sich alle Lehrer im Studium des Wortes Gottes<br />
vereinen. Sie sollten dann in der Schrift forschen, wie es die eifrigen Bewohner von<br />
Beröa getan hatten. Sie müssen bereit sein, alle vorgefaßten Meinungen<br />
unterzuordnen. Die Bibel soll ihnen <strong>als</strong> Lehrbuch dienen, und indem sie Schriftwort<br />
mit Schriftwort vergleichen, muß ihnen klar werden, was sie ihren Schülern<br />
beibringen beziehungsweise wie sie diese bedürfnisgerecht ausbilden sollten.<br />
Der Erfolg der Lehrer wird zum großen Teil von dem Geist abhängen, in welchem<br />
sie ihr Werk durchführen. Laßt keinen Kampfgeist aufkommen; jeder soll stattdessen<br />
ernsthaft um das Licht und die Erkenntnis bitten, deren er bedarf.“ („The Bible<br />
Teacher“, CT 432.433 [Auszug])<br />
Einheit<br />
„Christus betete, daß seine Jünger eins seien, so wie er und sein Vater eins sind.<br />
Worin besteht diese Einheit? Dieses Einssein ist nicht deshalb vorhanden, weil jeder<br />
dieselbe Einstellung und dasselbe Temperament hat und genau so denkt wie der<br />
andere. Nicht alle sind gleich intelligent. Nicht alle haben dieselbe Erfahrung. In<br />
einer Glaubensgemeinschaft gibt es unterschiedliche Gaben und vielfältige<br />
Erfahrungen. In weltlichen Angelegenheiten gibt es eine Vielzahl von Formen des<br />
Managements, aber diese Unterschiede in der Arbeitsweise und im Einsatz<br />
persönlicher Fähigkeiten schaffen weder Zwietracht noch Uneinigkeit noch Spaltung.<br />
Jemand mag große Schriftkenntnis besitzen, und gewisse Bibelabschnitte mögen<br />
ihm besonders wertvoll erscheinen; jemand anders betrachtet andere Abschnitte <strong>als</strong><br />
328
MEINUNGSVERSCHIEDENHEITEN<br />
besonders wichtig, und so wird der eine den einen Punkt und der andere einen andern<br />
Punkt hervorheben, und beide sind vielleicht von größtem Wert. Dies alles entspricht<br />
der göttlichen Ordnung. Aber angenommen, jemand würde einen bestimmten<br />
Schriftabschnitt f<strong>als</strong>ch auslegen – sollte dies zu Uneinigkeit und Spaltung führen?<br />
Das sei ferne! Wir können <strong>als</strong>o nicht behaupten, die Einheit der Gemeinde bestehe<br />
darin, daß jeder Bibeltext in genau derselben Weise verstanden wird. Die<br />
G e m e i n s c h a f t m a g E n t s c h l ü s s e ü b e r E n t s c h l ü s s e f a s s e n , u m<br />
Meinungsverschiedenheiten auszumerzen, aber wir können dem Verstand und dem<br />
Willen keinen Zwang antun, noch auf diese Weise Differenzen beseitigen. Solche<br />
Beschlüsse mögen Uneinigkeit verbergen, aber sie können sie nicht auslöschen und<br />
vollkommene Einigkeit herbeiführen. Nichts kann die Einheit in der Gemeinde<br />
besser gewährleisten <strong>als</strong> ein Geist christlicher Nachsicht. Satan kann Zwietracht<br />
säen; Christus allein kann im Widerstreit stehende Parteien einigen. Möge somit jede<br />
Seele die Schule Christi aufsuchen und von Christus lernen, der sich selbst <strong>als</strong><br />
sanftmütig und von Herzen demütig bezeichnet. Christus verspricht uns, wenn wir<br />
von ihm lernen, daß unsere Sorgen weichen und wir Ruhe für unsere Seelen finden<br />
werden.<br />
Die großen Wahrheiten des Wortes Gottes sind so klar ausgedrückt, daß niemand<br />
sie aus Versehen mißzuverstehen braucht. Wenn ihr <strong>als</strong> einzelne Gemeindeglieder<br />
Gott über alles liebt und euren Nächsten wie euch selbst, bedarf es keiner großen<br />
Anstrengung, um Einheit zu erlangen, denn dann werdet ihr <strong>als</strong> natürliche Folge<br />
untereinander eins sein in Christus.“ (Manuskript 24, 1892 [MS Release Nr. 898,<br />
Auszug])<br />
329
Anhang G<br />
Ein autobiographischer Literaturhinweis<br />
Die in diesem Buch verstreuten autobiographischen Bemerkungen regen zu<br />
entsprechenden Hinweisen über Quellenmaterial und Literaturverzeichnis an. Wie<br />
Tertius, der am Ende eines paulinischen Briefes noch eine persönliche Notiz<br />
anbrachte (Römer 16,22), so kann auch ich der Versuchung nicht widerstehen, zum<br />
Schluß ein persönliches Wort anzufügen, auch wenn es mein eigenes Buch betrifft.<br />
Der formale Grund für diese persönliche Anmerkung liegt darin, daß ich mich für<br />
das Fehlen eines umfassenden Quellennachweises zum weiteren Studium<br />
entschuldigen beziehungsweise rechtfertigen möchte. Und da ich mich im<br />
Zusammenhang mit dem unpersönlichsten und technischsten Teil des Buches,<br />
nämlich dem Literaturverzeichnis, sehr persönlich äußern möchte, verlangt dies<br />
geradezu eine Erklärung.<br />
Auf den ersten Blick mag meine Apologie recht selbstbewußt und forsch<br />
erscheinen, ganz im klassischen Sinn des Wortes Apologie <strong>als</strong> „Verteidigung“ oder<br />
„Rechtfertigung“: Was ich getan habe, habe ich bewußt und mit Bedacht getan. Aber<br />
meine Apologie vermischt sich auch mit der populäreren Bedeutung von Apologie<br />
<strong>als</strong> einem „Ausdruck des Bedauerns“ oder sogar der „Entschuldigung“. Das Fehlen<br />
eines umfassenden oder wenigstens ausgewählten Quellenverzeichnisses kann<br />
zugegebenermaßen <strong>als</strong> Schwäche betrachtet werden. (Das am Ende des Buches<br />
aufgeführte Literaturverzeichnis beschränkt sich auf die in diesem Werk verwendeten<br />
Quellen.) Denn ausreichend informierte Leser wissen nur zu gut, daß jedes Kapitel<br />
mit einem kleinen Senfkorn verglichen werden kann, dem ein großes<br />
Wachstumspotential zu eigen ist. Ein Verzeichnis entsprechender Quellen könnte<br />
dieses so wichtige Wachstum fördern. Dazu möchte ich mich gleich noch äußern.<br />
Zunächst will ich allerdings selbstbewußt und forsch sein, denn ich glaube, daß<br />
das Fehlen eines solchen Verzeichnisses von Vorteil sein kann – dann nämlich, wenn<br />
meine Leser durch dieses Buch ermutigt werden, sich in ihrem persönlichen<br />
Erfahrungsbereich aktiv mit der Bibel auseinanderzusetzen. Ich selbst wurde<br />
während meiner College-Ausbildung durch die Lehrmethode von J. Paul Grove stark<br />
beeinflußt. In all den Jahren ist meine Dankbarkeit nur gewachsen. Er bat uns, die<br />
Bibel zu lesen. Wir lasen das Matthäusevangelium. Keine Kommentare. Allmählich<br />
begannen wir, die Stimme von Matthäus herauszuhören. Das war spannend. Obwohl<br />
ich heute Bibelkommentare benutze und sie äußerst nützlich finde, weiß ich doch,<br />
330
EIN AUTOBIOGRAPHISCHER LITERATURHINWEIS<br />
daß das Lesen der Bibel ohne Kommentare echten Gewinn bringt.<br />
In meinem College-Bibelkurs, der das vorliegende Buch mitgeprägt hat, bestand ich<br />
darauf, daß meine Studenten zunächst die Bibel allein und nicht Bücher über die<br />
Bibel lasen. Bestimmt ist beides von Nutzen – das Buch, das ihr in eurer Hand haltet,<br />
ist nicht die Bibel, sondern handelt von der Bibel. Bücher über die Bibel sollten<br />
Gottes Volk jedoch zur Bibel zurückführen, zumal wir die Wichtigkeit der Bibel<br />
immer wieder unterstrichen haben.<br />
Während meines Jahres <strong>als</strong> Austauschlehrer am Seminar Marienhöhe in<br />
Deutschland beobachtete ich mit ungutem Gefühl, wie begabte Anwärter auf das<br />
Predigtamt die qualifizierte und schwierige Sekundärliteratur zur Grundlage ihrer<br />
Studien machten. Sie mißtrauten ihrer eigenen Fähigkeit, die Bibel zu lesen und<br />
anzuwenden; dafür zogen sie es vor, sich auf berühmte Autoritäten zu verlassen.<br />
Wie in manchen Gesprächen deutlich wurde, waren sie dann, wenn sie ihr<br />
Predigtamt antraten, oft ziemlich frustriert, da zwischen dem, was sie im Studium<br />
gelernt hatten, und den Bedürfnissen der Gemeinde eine große Kluft bestand. Sie<br />
wußten nicht, wie sie den Gemeinden die Heilige Schrift in ihrer praktischen<br />
Bedeutung verständlich machen sollten. Infolgedessen verwarfen einige von ihnen<br />
das am Seminar Erlernte und griffen auf frühere Erfahrungen zurück. Andere,<br />
darunter auch sehr Begabte, gaben das Predigtamt auf und kehrten sogar mitunter der<br />
Adventgemeinde den Rücken.<br />
So begann ich Lehrpläne auszuarbeiten, die die Studenten nicht nur an die Schrift<br />
heranführten, sondern auch die Verwendung anderer Quellen am Anfang weitgehend<br />
ausschlossen. Sie fühlten sich zwar verunsichert bei dem Gedanken, Arbeiten<br />
schreiben zu müssen, ohne entsprechende Autoritäten zitieren zu können. Aber ich<br />
beruhigte sie und bestand darauf, sie sollten sich allein mit der Schrift<br />
auseinandersetzen. Meine deutschen Studenten aus jener Zeit werden sich an mein<br />
Augenzwinkern und den oft zitierten Satz erinnern: „Die Bibel ist auch ein gutes<br />
Buch.“ Und ihr ungutes Gefühl schwand, <strong>als</strong> sie schließlich selbst erlebten, welcher<br />
praktische Nutzen im eigenständigen Bibelstudium liegt. Ich erinnere mich lebhaft an<br />
den erstaunten Ausruf eines begabten Schülers, der mehr <strong>als</strong> andere besorgt war über<br />
das Fehlen einschlägiger Autoritäten zur Absicherung seiner Ansichten: „Jetzt<br />
beginne ich zu verstehen,“ sagte er, „wie man <strong>als</strong> Prediger das Bibelstudium für die<br />
Gemeindeglieder interessant und praktisch gestalten kann.“<br />
Mir war, <strong>als</strong> hörte ich ein inniges „Amen!“ aus dem Mund von Ellen White: „Wir<br />
dürfen die Meinung von Bibelauslegern nicht <strong>als</strong> die Stimme Gottes betrachten; sie<br />
sind irrende sterbliche Menschen wie wir auch. Gott hat uns mit denselben<br />
Verstandeskräften ausgestattet wie sie. Wir sollten die Bibel <strong>als</strong> ihren eigenen<br />
331
INSPIRATION<br />
Ausleger betrachten.“ (TM 106)<br />
Welcher Stellenwert kommt dann aber der Sekundärliteratur zu? Ein wesentlicher!<br />
Zunächst liefert sie uns zusätzliche wertvolle Fakten und Informationen. Und mehr<br />
<strong>als</strong> das: Eine Sekundärquelle gibt Aufschluß darüber, wie eine andere Person die<br />
Fakten interpretiert und empfunden hat. In gewissem Sinn wird eine Sekundärquelle<br />
damit zu einer Primärquelle, aber aus einer ganz anderen Perspektive, nämlich der<br />
der persönlichen Erfahrung. Unsere Fähigkeit, diese erfahrungsgemäße Perspektive<br />
zu verstehen, wird uns nicht nur behilflich sein, die Schrift auszulegen, sondern auch<br />
unsere weltweite Mission zu erfüllen. Je mehr „Erfahrungen“ wir uns zu eigen<br />
machen, um so fähiger werden wir, das Evangelium mit Griechen und Nichtgriechen,<br />
Weisen und Nichtweisen zu teilen (Römer 1,14).<br />
Ellen White brachte ein ähnliches Anliegen mit ihrer Forderung zum Ausdruck,<br />
daß Schüler an unseren Schulen mehr <strong>als</strong> nur einen Bibellehrer haben sollten.<br />
Interessanterweise begründet sie ihre Ansicht mit der Vielfalt der Bibelautoren:<br />
„Weshalb brauchen wir einen Matthäus, einen Markus, einen Lukas, einen Johannes,<br />
einen Paulus und all die anderen Bibelschreiber?,“ fragt sie. „Weil das menschliche<br />
Denken so unterschiedlich ist ... Auch ein hochqualifizierter Lehrer kann versäumen,<br />
den gesamten vorgesehenen Lehrstoff zu vermitteln.“ (CT 432.433)<br />
Was die Verwendung von Sekundärliteratur für das Bibelstudium betrifft, möchte<br />
ich aus praktischer Sicht folgendes vorschlagen. Ich finde es wichtig, die Ansichten<br />
von der „linken“ wie von der „rechten“ Seite zu Rate zu ziehen – sowohl von einer<br />
„liberalen“ Quelle, die die menschlichen Aspekte der Schrift untersucht, sowie von<br />
einer „konservativen“ Quelle, die die göttliche Komponente hervorhebt. Der<br />
„Kritiker“ hat manchmal eine präzisere Analyse anzubieten, <strong>als</strong> die<br />
Glaubensverteidiger zugestehen möchten. Umgekehrt weist der „Gläubige“ mitunter<br />
auf Lösungen hin, die überzeugender sind <strong>als</strong> die von den „Kritikern“ angebotenen<br />
Schlußfolgerungen. Was beispielsweise Bibellexika betrifft, so halte ich mit<br />
Vorliebe The Interpreter’s Dictionary of the Bible oder Harper’s Bible Dictionary in<br />
meiner linken und The New Bible Dictionary oder The Seventh-day Adventist Bible<br />
Dictionary in der rechten Hand. Das Wissen um die jeweilige theologische Prägung<br />
dieser Lexika schützt uns vor einer allzu pessimistischen Analyse ebenso wie vor<br />
einer allzu optimistischen Synthese. Ein solches Vorgehen bringt näher an das Ziel,<br />
das Jesus mit uns im Auge hat: Ihr „werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit<br />
wird euch frei machen.“ (Johannes 8,32)<br />
Es gibt noch einen Grund, weshalb ich mich entschlossen habe, Angaben über<br />
Sekundärquellen auf ein Minimum zu beschränken. Er steht im Zusammenhang mit<br />
der Art und Weise, wie sich ernsthaft gläubige Menschen gegenüber<br />
332
EIN AUTOBIOGRAPHISCHER LITERATURHINWEIS<br />
„nichtbiblischem“ Quellenmaterial verhalten. Jahrelange Polemik hat uns dazu<br />
geführt, jene lästigen Befunde, die aus „liberalen“ Quellen stammen, total zu<br />
verwerfen, auch wenn die Fakten in der Bibel schmerzvoll, aber unzweideutig sind.<br />
Sollte es ein gläubiger Mensch wagen, auf diesen lästigen Befund hinzuweisen, so<br />
steht häufig sein guter Ruf in der Glaubensgemeinschaft auf dem Spiel, da jene<br />
Fakten <strong>als</strong> die Waffen des Feindes empfunden werden. Und wenn jener Gläubige<br />
dann von seiner Gemeinde ausgegrenzt wird, kann sich Mut rasch in Bitterkeit und<br />
Groll verwandeln. Auf der anderen Seite sehen die Glieder der Gemeinde, die den<br />
„Abtrünnigen“ abgewiesen haben, keinerlei Veranlassung, sich ernsthaft mit den<br />
Fakten zu befassen, da der ehem<strong>als</strong> „Gläubige“ ja inzwischen sowieso abgefallen ist.<br />
Das traditionelle Inspirationsverständnis mit seiner Tendenz zur Irrtumslosigkeit<br />
hat dazu geführt, daß es vor allem „liberale“ Kreise sind, die auf innerhalb der<br />
Schrift befindliche Belege gegen die Irrtumslosigkeit hingewiesen haben. In diesem<br />
Buch habe ich zu zeigen versucht, wie Ellen White mit aller Sorgfalt einen riskanten<br />
Mittelweg einschlägt. Sie erkannte das menschliche Element in der Schrift, glaubte<br />
und erlebte aber nach wie vor deren Kraft <strong>als</strong> Wort Gottes. Da ich Vertrauen zu Ellen<br />
White habe, und weil sie für die Adventbewegung zentrale Bedeutung hat, habe ich<br />
mir immer gesagt: Wenn sie die offenkundigen Tatsachen sehen und trotzdem<br />
glauben konnte, dann kann ich das auch. Und ihr könnt es ebenso.<br />
Daraus ergibt sich für uns Adventisten eine echte Chance. Mit Gottes Hilfe<br />
können wir den besagten Mittelweg zuversichtlich beschreiten. Wir können ein<br />
Inkarnationsmodell der Inspiration vorweisen, das uns die Möglichkeit gibt, Gott von<br />
ganzem Herzen anzubeten und uns untereinander aufrichtig zu lieben – gerade eben<br />
weil wir die ganze Schrift in Betracht ziehen, omnis Scriptura (2. Timotheus 3,16).<br />
Ich weiß, daß nicht alle „Liberalen“ so schlecht sind, wie es ihnen von den<br />
„Konservativen“ angelastet wird. Viele von ihnen werden schlicht „der Zweifelsucht<br />
in die Arme getrieben“ durch die „Irrtümer der allgemein verbreiteten theologischen<br />
Auffassungen,“ um mit Ellen White zu sprechen (Der große Kampf 528). Auf der<br />
anderen Seite sind viele „Konservative“ nicht halb so engstirnig wie es die<br />
„Liberalen“ häufig darstellen. Sie schätzen einfach ihre Beziehung zu Gott so hoch<br />
ein, daß es für sie unannehmbar ist, die Bibel wie ein gewöhnliches menschliches<br />
Buch zu behandeln.<br />
Gibt es eine Möglichkeit der gegenseitigen Annäherung und Übereinstimmung?<br />
Ich glaube schon. Einige kritische Stellungnahmen zu meinem Buch Who’s Afraid of<br />
the Old Testament God? sind diesbezüglich recht aufschlußreich. In jenem Buch bin<br />
ich ähnlich vorgegangen wie in dem vorliegenden Werk, obwohl das vielleicht<br />
dam<strong>als</strong> nicht so deutlich zum Ausdruck kam. Ich habe aber bereits dam<strong>als</strong> meine<br />
333
INSPIRATION<br />
konservative Haltung zum Ausdruck gebracht und dafür plädiert, daß wir die Sicht<br />
der Geschichte einfach so annehmen sollten, wie es das Alte Testament selbst<br />
vorgibt. Dabei gehe ich bewußt das Risiko ein, daß meine Einstellung für einige<br />
meiner Berufskollegen allzu konservativ, für meine konservativen Freunde jedoch<br />
gefährlich liberal anmutet (Thompson, Who’s Afraid? 28).<br />
Natürlich haben manche Kritiker nicht erkannt, was die beiden Standpunkte<br />
verbindet. So schreibt Richard Coggins, das Buch sei „für einige anziehend; andere<br />
aber, speziell weniger konservativ Gesinnte, müssen damit rechnen, daß sich ihre<br />
Schwierigkeiten noch vergrößern.“ (Theological Book Review, 1:3 [Mai 1989] 6) In<br />
einem persönlichen Schreiben an mich (2. Mai 1990) stellt C. S. Rodd, Herausgeber<br />
der Expository Times, fest: „Für einige sind Sie zu ehrlich; für andere sind Sie allzu<br />
sehr darauf bedacht, das Alte Testament zu verteidigen.“ Joseph Robinson, der das<br />
Buch in Church Times besprach (28. April 1989, S. 6) wies einerseits darauf hin, daß<br />
für mich die Bezeichnung ‚konservativ‘„auf diejenigen anwendbar erscheint, die eine<br />
nahezu fundamentalistische Sicht über Autorität und Inspiration der Schrift<br />
vertreten.“ Andererseits fügt er etwas hinzu, was ich aus dem Munde von einem der<br />
Kritiker zu hören gehofft hatte: „Am Ende scheint Herrn Thompsons<br />
Konservatismus ungefähr dort zu landen, wo die Liberalen auch hingelangt sind.“<br />
Großartig! Sprüche und Prediger Seite an Seite, wie es auch in der Bibel der Fall ist.<br />
Der Unterschied besteht natürlich darin, daß diese „Liberalen“ und „Konservativen“<br />
von ganzem Herzen Gott anbeten und die Schrift verehren. Und sie sind ernsthaft<br />
bestrebt, einander in Christus zu verstehen. Das ist eine geeignete Formel für eine<br />
weltweite Kirche und für eine globale Strategie, die bestrebt ist, den Bedürfnissen<br />
von Griechen und Nichtgriechen, Weisen und Nichtweisen gerecht zu werden<br />
(Römer 1,14).<br />
Ganz bewußt habe ich in meinem Buch Who‘s Afraid? fast keine<br />
Sekundärliteratur angeführt. Mindestens ein adventistischer Prediger hat dies <strong>als</strong><br />
positiv empfunden. Er schrieb: „Besonders beeindruckt war ich von der Tatsache,<br />
daß Du keine Fußnoten verwendet hast. Du hast dich ausschließlich auf die Bibel<br />
bezogen. Das ist erfrischend.“<br />
So mag es wenigstens in gewisser Hinsicht gute Gründe dafür geben, mit der<br />
Zitierung von Sekundärliteratur zurückhaltend zu sein. Aber das bringt mich nun<br />
zum weniger selbstbewußten Teil meiner Apologie, der von Bedauern und<br />
Entschuldigung gekennzeichnet ist und – fast möchte ich sagen – eine gewisse<br />
Niedergeschlagenheit meinerseits zum Ausdruck bringt. Ich glaube im Grunde schon,<br />
daß dieses Buch so zusammengestellt werden könnte, daß es den Leser einerseits zur<br />
Schrift hinführt, ihn aber andererseits mit Quellenmaterial für das weitere Studium<br />
334
EIN AUTOBIOGRAPHISCHER LITERATURHINWEIS<br />
bekannt macht. Dann wäre es ein besseres Buch; jedenfalls ein gutes Buch. Aber ich<br />
habe keine Zeit dafür aufgewendet. Ich konnte mich nicht dazu durchringen.<br />
Weshalb?<br />
Damit ein Buch wie das vorliegende erscheinen kann, muß jemand bereit sein, es zu<br />
schreiben, muß ein Verlag da sein, der es herausgibt, und eine Gemeinschaft, die<br />
nach Ansicht verantwortungsbewußter Christen bereit ist, das Buch anzunehmen.<br />
Allzu gern würde ich glauben, daß die Zeit hierfür gekommen ist. Aber können wir<br />
bis zur Aufrichtung des Reiches Gottes in solchen Belangen je sicher sein?<br />
Angesichts der potentiellen Brisanz dieses Buches kann ich meine eigene<br />
Unsicherheit in zwei völlig unterschiedliche Aussagen von Ellen White kleiden. Im<br />
Zusammenhang mit der Gesundheitsreform empfiehlt sie Zurückhaltung: „Wir<br />
dürfen nicht schneller vorangehen, <strong>als</strong> diejenigen folgen können, die in ihrem<br />
Gewissen und Denken von der Richtigkeit unserer Lehren überzeugt sind. Wir<br />
müssen die Menschen dort abholen, wo sie stehen. Einige von uns haben viele Jahre<br />
gebraucht, um zu unseren gegenwärtigen Ansichten über Gesundheitsreform zu<br />
gelangen ... Gäben wir den Leuten soviel Zeit, wie wir selber benötigten, um unseren<br />
heutigen Erkenntnisstand zu erreichen, würden wir ihnen mit viel Geduld begegnen<br />
und sie Schritt für Schritt voranschreiten lassen, bis auch sie auf dem sicheren Boden<br />
der Gesundheitsreform Fuß gefaßt haben. Aber wir sollten sehr vorsichtig sein und<br />
nicht zu schnell vorgehen, damit wir nicht gezwungen sind, manche Schritte rückgängig<br />
zu machen. Wenn es um Reformen geht, ist es besser, unser Ziel um einen<br />
Schritt zu verfehlen <strong>als</strong> einen Schritt darüber hinauszugehen. Und sollten wir dabei<br />
Fehler machen, dann immer zugunsten der Menschen.“ (3 T 20.21) Da ich meine<br />
Gemeinde liebe, ist auch mir daran gelegen, daß sich etwaige Fehler meinerseits<br />
zugunsten der Menschen auswirken.<br />
Auf der anderen Seite mahnt Ellen White zu angemessener Eile. Ich denke dabei<br />
an ihre gegenüber J. N. Andrews geäußerte Kritik. „Hinsichtlich des Buches History<br />
of the Sabbath von Bruder Andrews sah ich, daß dieses Werk zu lange<br />
hinausgezögert wurde. Andere Bücher mit irreführendem Inhalt setzten sich durch<br />
und versperrten den Weg, und so wurden durch gegenteilige Ansichten<br />
unnötigerweise Vorurteile geschaffen. Ich sah, daß dadurch viel verloren geht.<br />
Nachdem die erste Auflage vergriffen war, hätte er Verbesserungen anbringen<br />
können; doch er ging viel zu perfektionistisch vor. Diese Verzögerung entsprach<br />
nicht dem Willen Gottes.“ (3 SM 97)<br />
Und so habe ich mich ans Schreiben gemacht.<br />
Wenn adventistische Akademiker wirklich der Adventgemeinde dienen möchten,<br />
müssen sie sowohl mit der Gemeinde <strong>als</strong> auch mit der wissenschaftlichen Welt<br />
335
INSPIRATION<br />
Kontakt pflegen. Im Hinblick auf alle akademisch geschulten Adventisten, die ihr<br />
Leben in den Dienst der Gemeinde gestellt haben, hoffe ich, daß meine Gemeinde<br />
unseren Schmerz – ja sogar unsere Schuldgefühle – versteht, die entstehen, wenn wir<br />
unsere Kräfte voll für die Gemeinde einsetzen und deshalb unseren<br />
wissenschaftlichen Auftrag vernachlässigen. Für mich werden diese Ideale durch<br />
Ellen Whites Beschreibung von Wyklif in unvergeßlicher Weise zum Ausdruck<br />
gebracht: „Wyklif erhielt eine gute Erziehung. Für ihn galt die Furcht des Herrn <strong>als</strong><br />
der Weisheit Anfang. Er war auf der Universität seiner inbrünstigen Frömmigkeit,<br />
seiner hervorragenden Talente und seiner gründlichen Gelehrsamkeit wegen bekannt.<br />
In seinem Wissensdrang suchte er jeden Zweig der Wissenschaft kennenzulernen. Er<br />
wurde mit den Gedanken der Scholastik, mit den Glaubensvorschriften der Kirche<br />
und den bürgerlichen Gesetzen, besonders denen seines eigenen Landes, vertraut<br />
gemacht. In seiner späteren Arbeit trat der Wert seiner genossenen Schulung klar<br />
zutage. Seine gründliche Kenntnis der spekulativen Philosophie seiner Zeit befähigte<br />
ihn, deren Irrtümer bloßzustellen, und durch seine Studien der Landes- und<br />
Kirchenrechte war er vorbereitet, sich an dem großen Kampf um die bürgerliche und<br />
religiöse Freiheit zu beteiligen. Während er die dem Wort Gottes entnommenen<br />
Waffen zu führen verstand, hatte er sich auch die Geisteswelt der Schulen erarbeitet<br />
und war mit der Kampfesweise der Gelehrten vertraut. Dank seiner natürlichen<br />
Anlagen und dem Umfang und der Gründlichkeit seines Wissens erwarb er sich die<br />
Achtung von Freund und Feind. Wyklifs Anhänger sahen mit Genugtuung, daß er<br />
unter den tonangebenden Geistern der Nation einen führenden Platz einnahm, und<br />
seinen Feinden war es nicht möglich, die Sache der Erneuerung durch Bloßstellen<br />
irgendeiner Unwissenheit oder Schwäche ihres Verteidigers in Verruf zu bringen.“<br />
(GK 80)<br />
Es ist eine geradezu beängstigende Aufgabe, auf wissenschaftlichem Gebiet<br />
kompetent zu werden (und zu bleiben) und gleichzeitig, wie Wyklif, die<br />
vertrauensvolle Unterstützung gläubiger Gemeindeglieder zu behalten. Sollen<br />
adventistische Wissenschaftler in Wyklifs Fußtapfen wandeln, muß die<br />
Adventgemeinde die Forschungsarbeit, die Wyklif leistete, prinzipiell zu würdigen<br />
lernen. Das setzt ein ernsthaftes Interesse am Studium der Bibel wie auch an der<br />
intellektuellen Entwicklung voraus. Wird einer dieser beiden Faktoren<br />
vernachlässigt, so bedeutet das, daß die Adventgemeinde wie auch deren<br />
Wissenschaftler in Gefahr sind.<br />
Ohne die Adventgemeinde über Gebühr kritisieren zu wollen, muß ich doch<br />
feststellen, daß unsere Entschlossenheit zum Studium der Bibel sowie zur<br />
intellektuellen Entwicklung dringend eines neuen Ansporns bedarf. Diese beiden<br />
336
EIN AUTOBIOGRAPHISCHER LITERATURHINWEIS<br />
Elemente gehören eng zusammen. Die Adventgemeinde ist eine wachsende,<br />
dynamische, internationale Bewegung, die enormen Herausforderungen ausgesetzt<br />
ist. Eine gute gemeinschaftliche Zusammenarbeit mit dem Ziel, diesen<br />
Herausforderungen zu begegnen, läßt die Gemeindezugehörigkeit zu einem<br />
spannenden Erlebnis werden.<br />
337
INSPIRATION<br />
Setzen wir alle Mosaiksteine zusammen, so ergibt sich daraus das Bild einer Kirche,<br />
die eher durch Aktivität <strong>als</strong> durch Reflexion besticht. Es gibt deutliche Anzeichen<br />
dafür, daß unser Umgang mit der Schrift bedenklich oberflächlich geworden ist. Das<br />
von Richard Schwarz verfaßte Textbuch über die Geschichte der Adventbewegung<br />
mit dem Titel Light Bearers to the Remnant enthält ein Kapitel mit der Überschrift<br />
„Still a Bible-oriented Church“ („Immer noch eine bibelorientierte Gemeinde“).<br />
Während in diesem Kapitel die Bibelkonferenzen von 1952 und 1974 besprochen<br />
werden (mit einer kurzen Rückschau auf diejenige von 1919), fehlt jeder Hinweis auf<br />
die sieben Bände des Seventh-Day Adventist Bible Commentary (1953-1957) oder<br />
auf das Seventh-Day Adventist Bible Dictionary (1960, 1979). Diese Unterlassungen<br />
sind bedauerlich, lassen vielleicht aber gerade die Haltung gegenüber der Schrift<br />
erkennen, die sich innerhalb der Adventbewegung herausgebildet hat: ein<br />
periodisches und öffentliches Bekenntnis, daß die Bibel von grundlegender<br />
Wichtigkeit ist, aber ohne entsprechende Betonung eines ernsthaften<br />
Schriftstudiums. Die Seminarthemen der Predigertagungen, die den<br />
Generalkonferenz-Sitzungen jeweils vorangehen, können <strong>als</strong> weitere Symptome<br />
derselben Krankheit gewertet werden, vor allem, wenn sie das Interesse der<br />
Predigerschaft widerspiegeln sollten. Bezogen auf die beiden Generalkonferenz-<br />
Sitzungen von 1985 und 1990 (die Predigertagung von 1995 entfiel) war nur eines<br />
von insgesamt mehr <strong>als</strong> 70 Seminaren direkt der Auslegung der Schrift gewidmet.<br />
Zwar gibt es in unseren Reihen ermutigende Hinweise dafür, daß wir uns<br />
biblischen Fragen sowie intellektuellen Herausforderungen erneut verpflichtet<br />
fühlen. Trotzdem dürfen wir das Dilemma nicht übersehen, dem adventistische<br />
Verlage heutzutage ausgesetzt sind, ein Dilemma, das genauso erschreckend (und<br />
kostspielig!) ist wie das der adventistischen Akademiker. Denn wenn viele<br />
aufmerksame Leser es aufgegeben haben, sich beim adventistischen Buchhandel mit<br />
Literatur einzudecken, wie können sie später von unserer Gemeinschaft wieder dazu<br />
gebracht werden, die mutigen neuen Bücher zu kaufen, die vielleicht die Antwort auf<br />
ihre Gebete sind? Es ist ein Teufelskreis, mit dem sich unsere Gemeinschaft auf<br />
verschiedenen Ebenen auseinandersetzen muß.<br />
Ernsthafte Bücher – auch solche, die gut lesbar sind – erhalten in unserer<br />
Gemeinschaft oft nicht die nötige Aufmerksamkeit. Als Beispiel erwähne ich das<br />
Buch Light Bearers von Schwarz, das 1979 herauskam und <strong>als</strong> wichtiger Beitrag zu<br />
einer zuverlässigen historischen Darstellung der Adventbewegung zu verstehen ist.<br />
Doch anläßlich der Generalkonferenz von 1980 fand das Buch keine Erwähnung und<br />
erlitt ironischerweise dasselbe Schicksal wie der adventistische Bibelkommentar und<br />
die Enzyklopädie im Buch Light Bearers to the Remnant.<br />
338
EIN AUTOBIOGRAPHISCHER LITERATURHINWEIS<br />
Abgesehen von der allgemeinen Tendenz unserer Zeit, Betriebsamkeit höher<br />
einzustufen <strong>als</strong> Besinnung, sollten wir uns fragen, ob es für die Vernachlässigung der<br />
Schrift seitens der Adventisten noch andere Gründe gibt. Meine Sichtweise <strong>als</strong><br />
Adventist der vierten Generation läßt mich vermuten, daß die Furcht <strong>als</strong> ein<br />
Hauptgrund anzusehen ist.<br />
Der Chefredakteur des adventistischen Bibelkommentars, F. D. Nichol, sprach 1952<br />
von einem modernen „Angriff“ auf die Bibel, der einigen adventistischen Predigern<br />
„manchmal Angst einjagt“ (Schwarz 615). Und einiges von dem, was in diesem Buch<br />
erwähnt wird, hat – obwohl für den Unvoreingenommenen völlig einleuchtend – in<br />
der Vergangenheit zu dieser Angst beigetragen, denn es paßte nicht in das<br />
traditionelle Bild über das Wesen der Inspiration.<br />
Müssen wir uns denn fürchten? Bestimmt nicht, falls wir unser<br />
Inspirationskonzept von der Bibel her – der ganzen Bibel (omnis Scriptura) –<br />
bestimmen lassen anstatt von einem vorgefaßten Inspirationsverständnis auszugehen.<br />
In diesem Buch habe ich ein Modell vorgeschlagen, von dem ich glaube, daß es sich<br />
auf die gesamte Bibel anwenden läßt. Bis wir von einem solchen Modell ausgehen,<br />
werden es viele vorziehen, die Bibel zu verteidigen anstatt sie zu erforschen; dabei<br />
kann es dann leicht geschehen, daß unser Studium von jenem Angstgefühl bedroht<br />
wird, das schon Nichol erwähnte.<br />
Es ist für mich beinahe zur Leidenschaft geworden, ein solches Modell zu<br />
entwickeln und Wege zu finden, um es der Gemeinde zugänglich zu machen.<br />
Angespornt hat mich dabei die Beschreibung von Wyklif, dem Meister in Fragen der<br />
Schrift sowie dem Kenner der damaligen Wissenschaft. Verschiedene<br />
Schlüsselerlebnisse haben zu meinem heutigen Erkenntnisstand geführt. Stück für<br />
Stück haben sich die einzelnen Teile zusammengefügt. Als ich in den frühen 70er<br />
Jahren in Schottland studierte, öffnete mir das Studium des Alten Testaments die<br />
Augen für das Wirken Gottes innerhalb der verschiedenen Kulturkreise. Wie sollte<br />
ich diese Einsichten meiner Gemeinde übermitteln? Nur indem ich mir über mein<br />
eigenes Erbe Klarheit verschaffte. So widmete ich in den späteren 70er Jahren meine<br />
Aufmerksamkeit der Geschichte der Adventgmeinde und den Erfahrungen von Ellen<br />
White. Sorgfältig las ich ihre Zeugnisse und setzte die Entwicklung ihrer christlichen<br />
Erfahrung in Beziehung zu der Entwicklung ihrer Theologie. Mein Jahr <strong>als</strong><br />
Austauschlehrer in Deutschland (1980-81) ließ mich das Wechselspiel zwischen<br />
Kultur und Temperament tiefer empfinden. Ich kann diese fruchtbaren Erfahrungen<br />
jetzt vielseitig verwerten, je nach der Rolle, die ich <strong>als</strong> Ehemann, Vater, Prediger,<br />
Lehrer und Administrator gespielt habe. Jede dieser Rollen vermittelt eine andere<br />
Perspektive bei der Beobachtung, wie sich Menschen einer Autorität sowie anderen<br />
339
INSPIRATION<br />
Menschen gegenüber verhalten. Kurz gesagt: ich bin überzeugt, daß die Vielfalt der<br />
Schrift den Schlüssel zu ihrer Einheit sowie zur Einheit der Gemeinde darstellt.<br />
Wenn das in diesem Buch beschriebene Modell eine gemeinsame Basis bilden<br />
kann, zu der sich alle Adventisten bekennen, können wir unsere Kräfte besser darauf<br />
ausrichten, uns gegenseitig zu verstehen und die Welt (im richtigen Sinn) zu lieben,<br />
anstatt uns gegenseitig zu bekämpfen und der Welt davonzulaufen. Dann können<br />
künftige Publikationen über die Inspiration und die Schrift mit bedeutenden Zitaten<br />
von adventistischen Autoren – den befreiten Wyklif-Nachfolgern unter uns –<br />
bereichert werden, wie auch von solchen der gesamten wissenschaftlichen Welt. Die<br />
Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten wird neuen Auftrieb und<br />
Selbstvertrauen verspüren, weil unser Glaube nicht durch kritische Fragen<br />
verunsichert wird und ins Wanken gerät. Auch unsere intellektuelle Integrität wird<br />
nicht gefährdet, denn wir wissen uns gehalten durch unser tiefempfundenes<br />
Bekenntnis des Glaubens an unsern Schöpfer und Erlöser.<br />
340
Literaturverzeichnis<br />
Achtemeier, Paul, editor. Harper’s Bible Dictionary. San Francisco: Harper & Row,<br />
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_____. Der große Kampf zwischen Licht und Finsternis. Hamburg: Advent-Verlag,<br />
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Ellen G. White - Literatur (Englisch)<br />
White, Ellen G. Counsels to Parents and Teachers. Mountain View, California:<br />
Pacific Press Publishing Association, 1943.<br />
_____. Counsels to Writers and Editors. Nashville, Tennessee: Southern Publishing<br />
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1980.<br />
_____. Spirit of Prophecy, vols. 1-4. Washington, D. C.: Review and Herald, 1969.<br />
_____. Spiritual Gifts, vols. 1-4. Washington, D. C.: Review and Herald, 1944-45.<br />
_____. Testimonies for the Church, vols. 1-9. Mountain View, California: Pacific<br />
Press Publishing Association, 1948.<br />
_____. Testimonies to Ministers and Gospel Workers. Mountain View, California:<br />
Pacific Press Publishing Association, 1962.<br />
345
Abkürzungsverzeichnis<br />
Bibelzitate sind – falls nicht anders vermerkt – der revidierten Lutherbibel (1984)<br />
entnommen. Ansonsten bedeutet:<br />
ElbÜ<br />
GNB<br />
HfA<br />
JB<br />
Revidierte Elberfelder Bibel<br />
Gute Nachricht Bibel<br />
Hoffnung für Alle<br />
Jerusalemer Bibel<br />
IDB<br />
SDABC<br />
SDABD<br />
The Interpreter’s Dictionary of the Bible<br />
The Seventh-day Adventist Bible Commentary<br />
The Seventh-day Adventist Bible Dictionary<br />
Abkürzungen der Ellen G. White - Literatur<br />
BL<br />
Das bessere Leben<br />
CT<br />
Counsels to Parents and Teachers<br />
CWE<br />
Counsels to Writers and Editors<br />
E<br />
Erziehung<br />
1 FG Für die Gemeinde geschrieben, Band 1<br />
FS<br />
Frühe Schriften<br />
GK<br />
Der große Kampf<br />
LJ<br />
Das Leben Jesu<br />
PK<br />
Propheten und Könige<br />
PP<br />
Patriarchen und Propheten<br />
1 Sch - 3 Sch Aus der Schatzkammer der Zeugnisse, Band 1-3<br />
SG<br />
Spiritual Gifts<br />
1 SM - 3 SM Selected Messages, vols. 1-3<br />
1 SP - 4 SP Spirit of Prophecy, vols. 1-4<br />
ST<br />
Signs of the Times<br />
1 T - 9 T Testimonies for the Church, vols. 1-9<br />
TM<br />
Testimonies to Ministers and Gospel Workers<br />
346