Marcion als Zeuge für ein vorkatholisches Christentum - Radikalkritik
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erste Auflage vorgebracht worden war. Ungefähr 30 Namen kommen darin vor, auch<br />
der m<strong>ein</strong>e. Freilich, anstelle <strong>ein</strong>er sachlichen Widerlegung m<strong>ein</strong>er klar vorgebrachten<br />
Bedenken [4], bekam ich <strong>als</strong> <strong>ein</strong>ziger von den Dreißig <strong>ein</strong>e Rüge, die mich fragen<br />
ließ, ob der Großmeister der deutschen Theologie nun auf dem Wege zum Großinquisitor<br />
sei.<br />
In die Tiefe ist Harna ck freilich noch weniger gegangen, <strong>als</strong> unser |7 Meyboom<br />
1888 mit sei nem Werk [5]. Die Gründe da<strong>für</strong>? Harnack fehlte es an der notwendigen<br />
Selbstkritik, um mit geliebten wissenschaftlichen Vorurteilen zu brechen. Er selber<br />
war <strong>ein</strong> so durch und durch dogmatischer Geist, dass er neue Dogmen aufstellte,<br />
die s<strong>ein</strong>e Verehrer nachbeteten, auch <strong>als</strong> deren Unhaltbarkeit längst anerkannt war.<br />
In der Vorrede zu s<strong>ein</strong>er Chronologie aus dem Jahre 1895 schreibt er: „Die älteste<br />
Literatur der Kirche ist in den Hauptpunkten und in den meisten Einzelheiten,<br />
literar-historisch betrachtet, wahrhaftig und zuverlässig … Auch die Tradition der<br />
vorkatholischen Zeit bewährt sich in der Kritik der Quellen des ältes ten <strong>Christentum</strong>s<br />
ohne Zweifel in <strong>ein</strong>er rückläufigen Bewegung zur Tradition.“ Harnack hat<br />
getan, was er konnte, um die Autorität der römischen Tradition wiederherzustellen;<br />
ich denke an s<strong>ein</strong>e Studien über den Arzt Lukas <strong>als</strong> Verfasser der Apostelgeschichte,<br />
deren Resultat der Bibelkommission in Rom so willkommen erschien, dass sie es<br />
übernahm und sich damit gegen die Ansicht ihres Hl. Hieronymus stellte.<br />
Eigene Schriften <strong>Marcion</strong>s besitzen wir nicht. Wir kennen ihn nur durch s<strong>ein</strong>e<br />
Gegner, und die sind nicht vorurteilsfrei, was uns freilich bei Kirchenmännern und<br />
Ketzern nicht erstaunt. Wie schwierig es selbst jetzt noch <strong>für</strong> Theologen, selbst protestantische,<br />
ist, in ihrem Urteil über den Ketzer objektiv zu bleiben, zeigt QUISPELs<br />
Buch Gnosis und Weltreligion, Zürich 1951, S. 48. Dort wird gesagt, dass <strong>Marcion</strong><br />
den guten Gott von dem gerechten Schöpfer und Gesetzgeber des Judentums unterschied,<br />
das AT verwarf und sich mit unglaublichem Pathos gegen Ehe und Sexualität<br />
wandte. S<strong>ein</strong> Hass gegen den Gott-Schöpfer, so Quispel weiter, verstehe<br />
sich vor dem Hintergrund von Ereignissen aus der letzten Zeit: der Hass sei „die<br />
tiefste und raffinierteste Form des Antisemitismus, die auch in Deutschland sich mit<br />
<strong>ein</strong>er Sexualneurose zu verbinden pflegte.“ <strong>Marcion</strong> wird dann auch bei Quispel,<br />
das „krankhafte Genie“ genannt. Hier ist jede wissenschaftliche Objektivität dahin.<br />
Dasselbe könnte man von allen früheren und heutigen Asketen behaupten, auch<br />
vom Hl. Franziskus. Der Hei lige von Assisi würde damit |8 kaum treffend charakterisiert<br />
s<strong>ein</strong>. Die Mischung von Anti semitismus und Sexualneurose, die Quispel<br />
<strong>Marcion</strong> andichtet und mit der er <strong>ein</strong>e große Gestalt in <strong>ein</strong>e Ecke mit Judenvergasern<br />
und Sadisten im Dritten Reich bringen will, ist r<strong>ein</strong>e Phantasie des „Christen“<br />
Quispel. K<strong>ein</strong> ernsthafter Arzt stellt <strong>ein</strong>e Diagnose über physi sche Abnormitäten,<br />
ohne den Patienten persönlich untersucht und ihn lange beobachtet zu haben. Um<br />
wieviel unangemessener mag es da ersch<strong>ein</strong>en, über 18 Jahrhunderte hinweg <strong>ein</strong>e<br />
Diagnose über die Psyche <strong>ein</strong>es Menschen zu stellen, über den wir k<strong>ein</strong>e zuverlässigen<br />
Fakten und von dem wir k<strong>ein</strong>e eigenen Schriften besitzen und dessen Leben in<br />
Dunst und Nebel gehüllt sch<strong>ein</strong>t.<br />
Die beste Quelle <strong>für</strong> die Kenntnis von <strong>Marcion</strong>s Gedankenwelt wären natürlich<br />
s<strong>ein</strong>e eige nen Werke, aber seit 400 ± haben Kirche und Staat <strong>als</strong> Bundesgenossen die<br />
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