Einbildungen der Realität - CCRMA
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<strong>Einbildungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Realität</strong><br />
Zur Rolle <strong>der</strong> Einbildung und <strong>Realität</strong>sflucht in zwei<br />
Theaterstücken von Botho Strauß<br />
Kurs: Deutsches Theater <strong>der</strong> 70er und 90er Jahre<br />
Dozent: Dr. Elmar Engels<br />
Von: Edgar Berdahl<br />
Abgabe: 14.08.02<br />
an <strong>der</strong> Technischen Universität Berlin<br />
WEN: 62.12.10.10<br />
Siegmunds Hof 2-4<br />
10555 Berlin<br />
(030) 39 88 11 77<br />
thatguy@uclink.berkeley.edu<br />
Studiengang: Elektrotechnik
2<br />
Inhalt<br />
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 3<br />
2 Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 4<br />
2.1 <strong>Realität</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 4<br />
2.2 Einbildung in Bezug auf Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 5<br />
2.3 Übergang in die Einbildungswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 6<br />
2.4 Stefan-Doris-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 6<br />
2.5 Das Modellflugzeug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 8<br />
3 Trilogie des Wie<strong>der</strong>sehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 8<br />
3.1 <strong>Realität</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 8<br />
3.2 Niesanfall des Felix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 9<br />
3.3 Gute Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 10<br />
3.4 Rolle <strong>der</strong> Kunst für die Kunstvereinsmitglie<strong>der</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 11<br />
3.5 Rolle <strong>der</strong> Kunst für den Direktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 12<br />
3.6 Karneval <strong>der</strong> Direktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 13<br />
4 Gefährdung <strong>der</strong> <strong>Einbildungen</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 14<br />
4.1 In Trilogie des Wie<strong>der</strong>sehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 14<br />
4.2 In Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 16<br />
4.3 Ähnlichkeiten zwischen den Stücken und <strong>der</strong> Sozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 17<br />
5 Abschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 17<br />
5.1 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 17<br />
5.2 Kunst innerhalb Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 18<br />
6 Liste <strong>der</strong> benutzten Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 20<br />
6.1 Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 20<br />
6.2 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 20
3<br />
1 Einleitung<br />
Im Kurs Deutsches Theater <strong>der</strong> 70er und 90er Jahre studierte ich Theater zum ersten Mal. Ich<br />
hatte vorher Literatur auf Deutsch und Englisch studiert, aber ich fand Theater schwieriger, da<br />
<strong>der</strong> Autor sich eher Gedanken über die Aufführung macht als über den Eindruck, den <strong>der</strong><br />
Leser bekommt, wenn er den Text liest. Das heißt, Lesen war nicht genug. Ich musste dabei<br />
auch versuchen, mir die Bühne im Kopf vorzustellen, um nichts Wichtiges zu vergessen,<br />
wenn mehrere Ereignisse gleichzeitig geschehen. Das ist natürlich beson<strong>der</strong>s schwierig bei<br />
Dramatikern wie Botho Strauß, die komplizierte Stücke schreiben. Ich hielt ein Referat über<br />
Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle, und ich las die meisten an<strong>der</strong>en Stücke. In Trilogie<br />
des Wie<strong>der</strong>sehens interessierten mich die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Rolle <strong>der</strong><br />
Kunst und die Tatsache, dass fast allem im Stück in Hinblick auf <strong>Einbildungen</strong> auf den Grund<br />
gegangen werden konnte. Deswegen entschied ich mich, in meiner Hausarbeit die zwei<br />
Stücke im Hinblick auf Einbildung zu vergleichen. Mangels Inszenierungen <strong>der</strong> zwei Stücke<br />
in Berlin ging ich an die Humboldt Universität in Berlin und die Hochschule für Film und<br />
Fernsehen in Potsdam, um filmische Aufzeichnungen anzuschauen. Die Verfilmungen waren<br />
erhellend, aber mein besseres Verständnis <strong>der</strong> Stücke stellte neue Fragen. Warum versucht ein<br />
Direktor eines Kunstvereines, ein Teil eines Gemäldes zu werden? Warum wird eine<br />
Abteilung einer Kunstausstellung „<strong>Einbildungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Realität</strong>“ genannt? Warum versucht ein<br />
Hotelbesitzer, mit einer eingebildeten Version seiner Frau zu schlafen, wenn er seit zwei<br />
Jahren nicht mehr mit seiner echten Frau geschlafen hat? Ich wollte aber eher allgemeinere<br />
Fragen stellen, und deswegen frage ich in dieser Arbeit, warum die Figuren sich<br />
Verschiedenes einbilden, ob die <strong>Einbildungen</strong> die <strong>Realität</strong> verän<strong>der</strong>n können, und ob es einen<br />
Zusammenhang zwischen ihnen und Kunst gibt. Ich frage auch in Bezug auf diese<br />
allgemeinen Fragen, ob Ähnlichkeiten zwischen den zwei Stücken etwas über die politische<br />
Einstellung des Botho Strauß erleuchten können.<br />
Es ist wichtig sich zunächst mal auf eine Bedeutung <strong>der</strong> Einbildung zu einigen, aber in <strong>der</strong><br />
Psychologie wird nur die Einbildungskraft, die Kraft <strong>Einbildungen</strong> zu produzieren, definiert.<br />
Unter Einbildungskraft verstehen die Psychologen<br />
„sowohl die abgewandelte Erinnerung von früher Wahrgenommenen als auch die<br />
Assoziation früherer Wahrnehmungsbestandteile zu neuen Gebilden sowie die<br />
Neuproduktion vorgestellter Inhalte. . . Phantasie wird zur Phantastik, je<br />
unkontrollierter sie sich <strong>Einbildungen</strong> hingibt. Dagegen sind produktives Denken<br />
und Kreativität ohne Phantasie nicht denkbar.“ 1<br />
1<br />
„Phantasie“, Meyers großes Taschenlexikon.
4<br />
Das heißt, um die <strong>Einbildungen</strong> zu verstehen, muss man auch die Wahrnehmungsbestandteile,<br />
o<strong>der</strong> <strong>Realität</strong> verstehen; deshalb wird die <strong>Realität</strong> <strong>der</strong> Theaterstücke in den Kapiteln 2.1 und<br />
3.1 erklärt. Dieses Zitat führt auch zu <strong>der</strong> Frage, <strong>der</strong> ebenfalls nachgegangen werden soll: was<br />
passiert, wenn die <strong>Einbildungen</strong> unkontrolliert o<strong>der</strong> zu wichtig für die Figuren werden?<br />
Es wird gezeigt werden, dass sich die Figuren dieser Theaterstücke verschiedene Dinge<br />
einbilden, und dass diese <strong>Einbildungen</strong> oft auf Kunst bezogen sind, wie zum Beispiel die<br />
Gemälde in Trilogie, die als „<strong>Einbildungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Realität</strong>“ betrachtet werden können. Diese<br />
<strong>Einbildungen</strong> können aber wenig in <strong>der</strong> <strong>Realität</strong> än<strong>der</strong>n, da die <strong>Realität</strong> <strong>der</strong> Figuren von<br />
äußeren Kräften beeinflusst wird. Um vor dieser <strong>Realität</strong> zu flüchten, schaffen sich die<br />
Figuren diese <strong>Einbildungen</strong>, und deswegen wehren sie sich auch um ihre <strong>Einbildungen</strong>, wenn<br />
diese gefährdet werden. Es führt dann zur Katastrophe für die Hauptfigur, wenn die<br />
<strong>Einbildungen</strong> zu wichtig für sie werden, und diese Katastrophe ist, dass die Hauptfigur<br />
angesichts äußerer Einflüsse aufgibt, damit die Gemeinschaft die Kontrolle übernehmen kann.<br />
Diese Wende könnte vielleicht als Unterstützung des Sozialismus von Strauß verstanden<br />
werden.<br />
2 Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle<br />
2.1 <strong>Realität</strong><br />
Um die Flucht vor <strong>der</strong> <strong>Realität</strong> und die Einbildung zu untersuchen, muss man zuerst die<br />
<strong>Realität</strong> verstehen, auf die sich die <strong>Einbildungen</strong> gründen. Die Handlung von<br />
Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle fängt am ersten Weihnachtstag „in diesen Jahren“ 2 an,<br />
das heißt, ungefähr 1975, als das Stück uraufgeführt wurde. Ein Hotel in Königswinter, BRD,<br />
ist <strong>der</strong> Schauplatz, an dem drei Ehepaare und ein bei einem Autounfall schwer verletzter<br />
Mann namens Karl zusammen wohnen. Es ist aber nicht beson<strong>der</strong>s leicht herauszufinden, wer<br />
mit wem verheiratet ist, da alle miteinan<strong>der</strong> Affären gehabt haben, und jetzt sind die alten<br />
Leidenschaften erstarrt. Stefan, <strong>der</strong> Hotelbesitzer und die Hauptfigur, beschreibt, wie tot die<br />
Leidenschaften seien. Sie könnten sogar in einem Museum sein:<br />
„Keine Trennungen, keine Abschiede, nein, in meinem Hotel werden alle die<br />
reizenden Herzensverbindungen sorgfältig aufbewahrt, so daß wir uns<br />
inzwischen in einem erstaunlichen Museum von Leidenschaften bewegen.“ 3<br />
Die sieben Freunde langweilen sich und streiten sich über alles Mögliche. Es scheint, ihr<br />
Leben funktioniert nicht, und Karl glaubt zu wissen warum. Er zitiert ein Forschungsergebnis<br />
einer Kommission eines wissenschaftlichen Vereins in den USA, um zu erklären, warum sie<br />
ihr Lebenssystem nicht verstehen: „’wir Menschen sind von Natur aus noch viel zu dumm,<br />
2<br />
Regieanweisungen in Bekannte Gesichter, S. 69.<br />
3<br />
Stefan in Bekannte Gesichter, S. 69-70.
5<br />
um unser Lebenssystem, . . . , fehlerfrei zu begreifen.“ 4 Es wird klar, dass das Lebenssystem,<br />
nämlich Kapitalismus, tatsächlich nicht verstanden wird, da <strong>der</strong> Hotelbesitzer trotz des<br />
damaligen Wirtschaftswun<strong>der</strong>s in Deutschland bankrott ist. Er meint,<br />
„im letzten Jahr standen wir ja vor dem Problem, durchschnittlich etwa<br />
zweieinhalb Gäste pro Nacht auf unsere sechsundzwanzig Betten zu verteilen . .<br />
. Menschenskind! Das sind nicht einmal zehn Prozent Platzausnutzung!“ 5<br />
Folglich muss Stefan das Hotel verkaufen, obwohl das ein Ende <strong>der</strong> Gemeinschaft bedeuten<br />
würde.<br />
Diese <strong>Realität</strong> <strong>der</strong> Unzufriedenheit im Stück entspricht auch <strong>der</strong> <strong>Realität</strong> <strong>der</strong> damaligen BRD,<br />
nämlich, dass die Leidenschaft <strong>der</strong> 68er Jahre vorbei war, und dass die Bevölkerung einfach<br />
nach Wohlstand strebte, <strong>der</strong> als Folge des Wirtschaftswun<strong>der</strong>s nicht schwierig zu erreichen<br />
war, aber dass wenig außer <strong>der</strong> Möglichkeit des Wohlstands für die Bevölkerung übrigblieb.<br />
Bekannte Gesichter und die Ähnlichkeiten zwischen den Figuren und den damaligen<br />
Westdeutschen werden zum Beispiel im Gerd Jägers Artikel „Wie sieht die Bundesrepublik<br />
heute im Drama aus?“ 6 weitgehend besprochen.<br />
2.2 Einbildung in Bezug auf Kunst<br />
Die Form <strong>der</strong> Kunst in Bekannte Gesichter ist <strong>der</strong> Tanz von Doris und Guenther. Dieser Tanz<br />
ist wichtig, da er die Freunde zusammenbringt. Sobald er anfängt, „stehen [alle] auf und<br />
gehen etwas nach hinten“ 7 , um ihn anzuschauen, obwohl er mittelmäßig ist. Hedda macht sich<br />
zum Beispiel lustig darüber, wie sich <strong>der</strong> Hals von Doris beim Tanz benimmt: „Dieser<br />
knochensteife Hals. Beim Quickstep macht [Doris] immer so – Sie macht eine groteske<br />
Halsverrenkung.“ 8 Diese Kunst bringt trotz ihrer Mittelmäßigkeit <strong>Einbildungen</strong> hervor. Als<br />
Stefan dem Tanz zuschaut, hat er den Eindruck, dass er intelligenter geworden sei 9 , und<br />
Guenther bildet sich ein, dass er und Doris eine ideale Beziehung haben, indem er den Tanz<br />
mit „Herzensangelegenheit“ beschreibt und sich vorstellt, dass er und sie den „Gipfel <strong>der</strong><br />
Harmonie“ 10 als Paar erreichen könnten, obwohl sie eigentlich mit an<strong>der</strong>en Partnern<br />
verheiratet sind. Die Wirklichkeit seiner Beziehung zu Doris wird enthüllt, als sie während<br />
des Tanzes zu Boden fällt und er ihr nicht vergibt: Doris, in ihrem Schock, erhebt sich nur<br />
langsam und entmutigt bietet sie sich Guenther in Ausgangsposition an. Guenther schlägt ihr<br />
4<br />
Karl in Bekannte Gesichter, S. 93.<br />
5<br />
Stefan in Bekannte Gesichter, S. 86.<br />
6<br />
Jäger, S. 152.<br />
7<br />
Regieanweisungen in Bekannte Gesichter, S. 77.<br />
8<br />
Hedda und Regieanweisungen in Bekannte Gesichter, S. 75.<br />
9<br />
Stefan in Bekannte Gesichter, S. 78.<br />
10<br />
Guenther in Bekannte Gesichter, S. 82.
6<br />
rechts und links ins Gesicht. 11 Diese <strong>Einbildungen</strong> sind noch nicht so kräftig, aber alles<br />
verän<strong>der</strong>t sich, als Karl die Figuren in eine Einbildungswelt verwickelt.<br />
2.3 Übergang in die Einbildungswelt<br />
Als <strong>der</strong> einzige, <strong>der</strong> nicht verheiratet ist, spielt Karl eine wichtige Rolle. Er ist nicht nur ein<br />
schwer verletzter Außenseiter, son<strong>der</strong>n er kann auch zaubern. Ein Varietélicht ist immer<br />
dabei, während er zum Beispiel Modellflugzeuge herbeifliegen lässt und Fe<strong>der</strong>n zum Glühen<br />
bringt:<br />
Alle außer Karl hocken sich auf den Fußboden. Ein Modellflugzeug kommt<br />
herbeigeflogen und kreist über ihren Köpfen. Brennende Wun<strong>der</strong>kerzen fallen zu<br />
Boden. Aus Sesseln und aus dem Sofa springen Fe<strong>der</strong>n und beginnen zu glühen. . .<br />
12<br />
Er ermöglicht eine an<strong>der</strong>e Welt, in <strong>der</strong> Einbildung und <strong>Realität</strong> sich zum Verwechseln ähnlich<br />
sind, indem er die echte Doris wegschickt um Essen zu holen und eine zweite gleich<br />
aussehende Doris schafft, die perfekt tanzen kann. Guenther, ihr Tanzpartner, meint „So gut<br />
wie heute war sie aber noch nie.“ 13 Während sie tanzen, bilden sich die an<strong>der</strong>en Verschiedenes<br />
ein. Die Vollkommenheit scheint irgendwie ansteckend. Margot sagt, „Wenn man so etwas<br />
Superschönes sieht, bild’ ich mir ein, davon wird man auch selbst wie<strong>der</strong> ein bißchen<br />
hübscher.“ 14 Dann möchte Hedda ihrer „grauen Durchschnittsnatur entkommen“: sie glaubt,<br />
einen Schlager geschrieben zu haben. Sie erklärt ihre Einbildung als den<br />
„Durchbruch, auf den ich so lange gewartet habe. Wißt ihr, ich bin doch<br />
unmusikalisch, ich kann partout nicht singen. . . . Dabei habe ich seit Jahren ein<br />
ganz bestimmtes Lied im Kopf, und ich fühle immer, das will raus. . . „ 15<br />
Es ist aber klar, dass sie nicht so weit vor <strong>der</strong> <strong>Realität</strong> ihrer Unfähigkeit zur Musik flüchten<br />
kann, weil Guenther es nicht möchte, dass sie das Lied ein zweites Mal singt. Er meint, es<br />
wäre lächerlich, und sie singt es doch kein zweites Mal.<br />
2.4 Stefan-Doris-Beziehung<br />
An <strong>der</strong> Stelle von Hedda würde Stefan wahrscheinlich doch ein zweites Mal singen, da seine<br />
Einbildung sehr wichtig für ihn ist. Er ist seit zwei Jahren impotent und schläft nicht mehr mit<br />
seiner Frau, die schwanger geworden ist, aber er schiebt die Schuld für seine Impotenz auf sie,<br />
weil sie Not und Angst vergessen habe. Er meint:<br />
11<br />
Regieanweisungen in Bekannte Gesichter, S. 78.<br />
12<br />
Regieanweisungen in Bekannte Gesichter, S. 77.<br />
13<br />
Guenther in Bekannte Gesichter, S. 92.<br />
14<br />
Margot in Bekannte Gesichter, S. 92.<br />
15<br />
Margot in Bekannte Gesichter, S. 95.
7<br />
„Doris ist nicht mehr wie früher. . . Sie wissen doch, wie man sich lieben lernt. .<br />
. Aus Angst, aus nackter Angst. . . Und warum man sich küßt? Aus Atemnot [im<br />
Luftschutzkeller], ja, die gemeinsame Atemnot öffnet uns die Lippen<br />
füreinan<strong>der</strong>. . . Doris hat das alles wohl vergessen.“ 16<br />
Seine Wirklichkeit ist untragbar, da er nicht nur mit <strong>der</strong> <strong>Realität</strong> seiner Impotenz und <strong>der</strong><br />
Schwangerschaft seiner Frau son<strong>der</strong>n auch mit dem Verkauf seines Hotels umgehen muss.<br />
Deswegen möchte er vor seiner <strong>Realität</strong> flüchten und sich eine Einbildung schaffen. Stefan ist<br />
<strong>der</strong> einzige, <strong>der</strong> erkennt, dass die von Karl gezauberte Doris nicht seine echte Frau ist. Er<br />
findet das und die Tatsache, dass sie gut tanzt, reizvoll. Als er sie dann eine Spionin nennt und<br />
versucht, die Einbildung seiner vollkommenen Frau zu verwirklichen, indem er mit ihr<br />
schlafen würde, wird sie „vom Erdboden verschluckt.“ 17 Die Rückkehr <strong>der</strong> <strong>Realität</strong> bringt<br />
auch die Schwangerschaft <strong>der</strong> echten Doris und den notwendigen aber unangenehmen<br />
Verkauf des Hotels wie<strong>der</strong> mit. Die Einbildung ist so wichtig für ihn, dass die Rückkehr <strong>der</strong><br />
<strong>Realität</strong> zur Katastrophe führt. Die Einbildung kann die Wirklichkeit also nicht wesentlich<br />
genug verän<strong>der</strong>n, um ihm eine bleibende vollkommene Frau zu produzieren, und als das von<br />
Karl gezauberte Modellflugzeug noch einmal über dem Saal geflogen kommt, geht Stefan ab,<br />
um sich für immer in die Kühltruhe zu legen. 18<br />
Doris bildet sich genau das Gegenteil ein—nicht dass Stefan beson<strong>der</strong>s reizvoll sei, son<strong>der</strong>n<br />
dass sie trotz seiner Impotenz von ihm schwanger geworden sei, und dass sie eine Familie<br />
bilden. Sie meint, sie habe sich einfach an ihn gedrückt, während er geschlafen hat, aber es<br />
hört sich unwahrscheinlich an.<br />
„Du weißt wahrscheinlich nicht, daß du nachts, wenn du tief schläfst, dann ist<br />
da unten manchmal alles in bester Ordnung, ja – Sie macht eine kleine Faust<br />
so stark. . . Und da hab’ ich gedacht: jetzt darfst du ihn nicht aufwecken, sonst<br />
ist es gleich wie<strong>der</strong> vorbei. . . ich hab’ mich an dich gedrückt, Stefan, ganz<br />
fest, und du bist nicht einmal aufgewacht dabei. . . „ 19<br />
Stefan sagt überhaupt nichts über diese angeblich von ihm verursachte Schwangerschaft, als<br />
Doris ihn darüber zum ersten Mal informiert. Wenn er ihr glauben würde, dann würde er<br />
etwas dazu sagen, ob er dabei doch aufgewacht wäre, nichts gefühlt hat, usw. Deshalb kann<br />
angenommen werden, dass sie in diesem Fall nicht zu glauben ist und nicht von Stefan<br />
schwanger geworden ist.<br />
Dass das Kind von Stefan sei, bildet sich Doris ein, da es ihr viel bequemer ist, vor <strong>der</strong><br />
<strong>Realität</strong> zu flüchten, indem sie sich vorstellt, dass sie und Stefan zusammen eine traditionelle<br />
16<br />
Stefan in Bekannte Gesichter, S. 103.<br />
17<br />
Regieanweisungen in Bekannte Gesichter, S. 105.<br />
18<br />
Regieanweisungen in Bekannte Gesichter, S. 107.<br />
19<br />
Doris in Bekannte Gesichter, S. 106.
8<br />
Familie haben könnten. Auch ihre Einbildung hält <strong>der</strong> <strong>Realität</strong> nicht stand und kann die<br />
Wirklichkeit nicht verän<strong>der</strong>n. Es kann keine traditionelle Familie entstehen, wenn <strong>der</strong> Vater<br />
nicht dabei ist. Sie wird traurig über seinen Tod—sie versucht ihn sogar mit ihrem Atem<br />
aufzutauen, aber man vermutet, dass sie sich erholen wird, da ihre Einbildung nicht so wichtig<br />
für sie war wie die Stefans für ihn. Am Ende des Stückes sieht es aus, als ob alles wie<strong>der</strong><br />
normal werden wird. Guenther möchte wie<strong>der</strong> mit ihr tanzen: „Doris – ich bitte dich:<br />
Quickstep! Laß uns anfangen. . . Komm her, ich bitte dich.“ 20<br />
2.5 Das Modellflugzeug in <strong>der</strong> Einbildungswelt<br />
Man vermutet, dass das von Karl erzeugte Modellflugzeug wichtig für das Verständnis des<br />
Stückes ist, da es mehrmals während des Zauberns auftaucht und in <strong>der</strong> Inszenierung von Fred<br />
Berndt in Berlin 21 , unter an<strong>der</strong>em, erschreckend groß war und quer durch den Zuschauerraum<br />
flog. Man merkt auch, das Modellflugzeug fliegt, als Stefan den Saal zum letzten Mal verlässt<br />
und geht, um sich in die Kühltruhe zu legen. An dieser Stelle wird vielleicht auch etwas Böses<br />
mit <strong>der</strong> Dunkelheit angedeutet, da Dunkelheit oft das Böse vertritt: „Das Licht nimmt ab. Das<br />
Modellflugzeug kommt geflogen und kreist über dem leeren Saal. Es wird dunkel.“ 22 Das<br />
Modellflugzeug könnte als Metapher für Ikarus’ Flug zur Sonne 23 erklärt werden. Die<br />
Geschichte von Ikarus ist, dass sein Vater ihm aus Wachs gefertigte Flügel gibt aber ihn davor<br />
warnt, dass er nicht zu hoch fliegen darf. Ikarus versucht es trotzdem und stürzt ins Meer, weil<br />
die Hitze <strong>der</strong> Sonne das Wachs schmelzen lässt 24 . Stefan versucht auch, zu weit über sich<br />
hinaus zu gehen, indem er vor <strong>der</strong> <strong>Realität</strong> flüchtet und sich seine eigene <strong>Realität</strong> einbildet.<br />
Deswegen muss seine <strong>Realität</strong>sflucht auch in einer Katastrophe enden.<br />
3 Trilogie des Wie<strong>der</strong>sehens<br />
3.1 <strong>Realität</strong><br />
Die Figuren in Trilogie des Wie<strong>der</strong>sehens ähneln denen von Bekannte Gesichter. Das sind<br />
meistens Paare, und obwohl es in Trilogie klarer ist, wer mit wem eine wenigstens semifeste<br />
Beziehung hat, kann man doch sehen, dass sie unzufrieden sind, da sie manchmal versuchen,<br />
zusätzliche Mann-Frau-Beziehungen aufzubauen. Der Schauplatz ist ein Kunstverein, wo es<br />
eine Vorbesichtigung <strong>der</strong> Ausstellung „Kapitalistischer Realismus“ gibt. Im Stück gibt es<br />
keinen Tanz, aber die Gemälde in <strong>der</strong> Ausstellung übernehmen dann die Rolle <strong>der</strong> Kunst, die<br />
gleichzeitig die Mitglie<strong>der</strong> des Vereins zusammenbringt und <strong>Einbildungen</strong> hervorbringt. Die<br />
Mitglie<strong>der</strong> des Kunstvereins kommen und gehen, schauen sich die Bil<strong>der</strong> an und reden<br />
20<br />
Guenther in Bekannte Gesichter, S. 109.<br />
21<br />
Inszenierung von Fred Berndt an <strong>der</strong> Freien Volksbühne in Berlin. 12/83.<br />
22<br />
Regieanweisungen in Bekannte Gesichter, S. 107.<br />
23<br />
Sandhack, S. 32-33.<br />
24<br />
„Ikarus“, Meyers Universallexikon.
9<br />
miteinan<strong>der</strong>, aber ihre Begegnungen sind nur teilweise zufällig. Man muss ihre Gespräche und<br />
Begegnungen sorgfältig untersuchen, um die Figuren gut kennen zulernen. Angeblich weil die<br />
Ausstellung schlecht organisiert sei, verbietet <strong>der</strong> Vorstand des Kunstvereins die Ausstellung,<br />
und als Folge ordnen die anwesenden Mitglie<strong>der</strong> die Ausstellung neu, um Kiepert, ein<br />
beson<strong>der</strong>s mächtiges Mitglied des Vorstands, zu überzeugen, dass die Ausstellung doch in<br />
Ordnung ist.<br />
Die Figuren wurden wie<strong>der</strong>um als den Bürgern in <strong>der</strong> damaligen BRD sehr ähnlich<br />
empfunden. Helmut Schödel schrieb zum Beispiel damals im Jahr 1977: „Das waren richtig<br />
lebendige, man möchte fast sagen . . . ganz normale Menschen, nachprüfbar, mit einer<br />
glaubwürdigen Biographie.“ 25<br />
3.2 Niesanfall des Felix<br />
Vieles wird auch in Trilogie des Wie<strong>der</strong>sehens eingebildet. Ein beson<strong>der</strong>s erhellendes Beispiel<br />
ist <strong>der</strong> Niesanfall des Felix, ein Verkaufsleiter. Während er ein Brötchen isst, fällt das<br />
Roastbeef herunter und die Sauce auf sein Hemd. Er findet es peinlich und möchte zur<br />
Toilette gehen, um es auszuwaschen, aber Richard erwischt ihn in dem Moment und will ihm<br />
unbedingt einen Roman nacherzählen. Richard fängt schon an, aber Felix reagiert kaum, außer<br />
damit, dass er zu niesen anfängt. Er meint, es sei Heuschnupfen, aber es gibt natürlich keinen<br />
Blütenstaub im Museum. Seine Erklärung bezeugt auch, dass seine Einbildung des Niesens<br />
mit <strong>der</strong> Kunst zusammenhängt.<br />
„Zum ersten Mal in diesem Sommer. Ich fahre schon seit Wochen nicht mehr<br />
ins Grüne. Noch nie gehört, daß jemand Heuschnupfen im Museum kriegt. Ich<br />
brauche nur Getreide auf einem Bild zu sehen, schon geht’s los.“ 26<br />
Man könnte sich auch fragen, warum er sich das Niesen einbildet. Katrin Kazubko antwortet<br />
auf diese Frage, dass das Niesen als eine Entwertung von Richard zu deuten sei, da Felix die<br />
Situation mit Richard untragbar findet. Sie sagt:<br />
„Die Entwertung kann jedoch ihrerseits als eine Reaktion auf Richards Verhalten<br />
interpretiert werden, wobei sich scheinbar psychische Störungen erkennen lassen,<br />
die jedoch nicht notwendigerweise die Manifestation eines kranken Geistes zu<br />
sein brauchen, son<strong>der</strong>n viel eher die einzig mögliche Reaktion auf einen<br />
absurden o<strong>der</strong> untragbaren Kontext sind.“ 27<br />
Felix flüchtet vor <strong>der</strong> untragbaren <strong>Realität</strong>, dass Richard mit ihm reden möchte, und als<br />
Ergebnis bildet er sich ein, dass er niesen müsse, und dies verän<strong>der</strong>t die Wirklichkeit wie<strong>der</strong><br />
in dem Sinne, dass er tatsächlich krank ist. Er meint, „Einbildung, mag sein. Aber <strong>der</strong> Effekt<br />
25<br />
Schödel, S. 36.<br />
26<br />
Felix in Trilogie, S. 329.<br />
27<br />
Kazubko, S. 25.
10<br />
ist <strong>der</strong>selbe. Ich muß niesen.“ 28 Dies ist das einzige Mal in den Stücken, dass eine Einbildung<br />
die <strong>Realität</strong> verän<strong>der</strong>t, aber die Wirkung selbst ist nicht beson<strong>der</strong>s wichtig, da das Niesen nur<br />
zeitweilig ist. Sonst lässt Strauß in diesen zwei Stücken keine Wirkung <strong>der</strong> Einbildung auf die<br />
<strong>Realität</strong> zu, im Gegenteil, es lässt die <strong>Einbildungen</strong> gnadenlos an <strong>der</strong> <strong>Realität</strong> zerschellen.<br />
3.3 Gute Gesellschaft<br />
Der Kunstdirektor Moritz leidet auch an <strong>Einbildungen</strong>. Er erklärt,<br />
„Am laufenden Band, <strong>Einbildungen</strong>, Sinnestrug. Rechts und links an den<br />
Blickfeldrän<strong>der</strong>n tauchen Figuren auf, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt.<br />
Kommen und gehen und rufen mir zu. Ich bin geneigt, ihnen zu folgen, ich folge<br />
ihnen und gehe manchmal die seltsamsten Wege.“ 29<br />
Er meint, dass er wegen Übermüdung gestört sei, und obwohl wir wenig über ihn wissen,<br />
außer über die Ausstellung und seine Beziehung zu Susanne, eines <strong>der</strong> Kunstvereinsmitglie<strong>der</strong><br />
bei <strong>der</strong> Vorbesichtigung, scheint es aber wahrscheinlich, dass diese komplizierte und<br />
anstrengende Beziehung die Ursache ist.<br />
Sie flüchtet ständig vor ihm, obwohl sie ihn liebt. Zum Beispiel sagt Susanne am Anfang des<br />
Stückes, als Moritz sie findet: „Fassen Sie mich nicht an! Kscht! Finger weg! Mein Gott –<br />
kann man mich denn nicht in Ruhe lassen?! Was wollen Sie? Was?!“ 30 Er fragt sie dann, ob<br />
sie mit ihm schlafen möchte, und sie verneint 31 , obwohl sie doch gerne mit ihm schlafen<br />
würde. Das erklärt sie Peter, dem Schriftsteller, später, nachdem sie sich umkleidet: „Hören<br />
Sie, lieber Peter, die Erfahrung [mit jemandem zu schlafen] ist es nicht; das bißchen Hoffnung<br />
ist es, das sich so herausgeputzt hat. Die Erfahrung, lei<strong>der</strong>, ist es nicht. . . „ 32 Es ist auch klar,<br />
dass sie Moritz an dieser Stelle meint, da sie ihn liebt und die an<strong>der</strong>en Kunstvereinsmitglie<strong>der</strong><br />
meistens ignoriert. Einmal erklärt sie denen doch, wie sehr sie ihn liebt und macht sich damit<br />
lächerlich, da die an<strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong> des Kunstvereins wissen, was für eine ungesunde<br />
Beziehung sie mit Moritz hat. Sie schreit ganz laut, „Ja, ich habe mich tief verloren in diesen<br />
undeutlichen Menschen [Moritz]. Daß Ihr es alle hört: ich liebe ihn. . . „ 33 Eine solche<br />
Beziehung würde die meisten Leute anstrengen und übermüdet machen.<br />
Moritz bildet sich auch ein, dass er eine gesunde Beziehung mit ihr haben könne. Er fragt sie,<br />
„Laß uns zusammenbleiben und gute Gesellschaft leisten. Heißt es nicht so?“ Aber sie zeigt,<br />
dass die Einbildung einer gesunden Beziehung die <strong>Realität</strong> nicht verän<strong>der</strong>n kann, indem sie<br />
28<br />
Felix in Trilogie, S. 329.<br />
29<br />
Moritz in Trilogie, S. 392.<br />
30<br />
Susanne in Trilogie, S. 316.<br />
31<br />
Susanne in Trilogie, S. 322.<br />
32<br />
Susanne in Trilogie, S. 362.<br />
33<br />
Susanne in Trilogie, S. 369.
11<br />
antwortet, „Ja. Im Märchen.“ 34 Sie können diese Einbildung nicht verwirklichen, weil es den<br />
äußeren Einfluss von an<strong>der</strong>en möglichen Partnern gibt, und Moritz versucht manchmal mit<br />
an<strong>der</strong>en möglichen Partnern Mann-Frau-Beziehungen aufzubauen, obwohl er eigentlich keine<br />
Interesse daran hat. Sein Versuch mit Ruth, <strong>der</strong> Frau des Arztes, scheitert folgen<strong>der</strong>maßen,<br />
nachdem er und sie die Ausstellung verlassen und in ein Bahnhofshotel gehen: er “stand eine<br />
Weile am offenen Fenster des Hotelzimmers und [hat sich] den Sturm angesehen.“ 35 „Genau<br />
genommen, hat er [Ruth dann] nach wenigen Minuten gebeten zu gehen.“ 36 Dieser Versuch,<br />
obwohl er fehlschlägt, macht Treue zwischen Moritz und Susanne unmöglich, welche<br />
erfor<strong>der</strong>lich für eine ideale Beziehung, in <strong>der</strong> man sich gute Gesellschaft leisten könnte, wäre.<br />
3.4 Rolle <strong>der</strong> Kunst für die Kunstvereinsmitglie<strong>der</strong><br />
Wie beim Tanz in Bekannte Gesichter, bringt die Kunst die Figuren zusammen. Die<br />
Mitglie<strong>der</strong> des Kunstvereins sind alle ziemlich unterschiedlich und würden sich sonst<br />
wahrscheinlich nicht treffen. Einige wissen zum Beispiel mehr über Kunst als an<strong>der</strong>e. Ruth<br />
interessiert sich nicht mehr dafür, und Lothar, ihr geschiedener Mann, kann zur Zeit damit<br />
nicht viel anfangen. Er ist nicht in <strong>der</strong> richtigen Stimmung 37 . Sie reden eigentlich eher über<br />
ihre persönlichen Probleme als über die Gemälde. Für an<strong>der</strong>e besitzt Kunst eine<br />
Verbindungskraft. Kunst brachte Felix und seine Freundin Marlies, die Malerin, zusammen,<br />
da er sich eingebildet hatte, dass er wegen ihrer Kunst ein beson<strong>der</strong>es Interesse für sie hätte.<br />
Er meint, „ich dachte einmal, bei dir, bei einer Kunstschaffenden würde mich das mythische<br />
Interesse an schönen Dingen, das ich verspüre, auch an einen Menschen fesseln können,“ 38<br />
aber Felix gibt zu, dass seine Einbildung die <strong>Realität</strong> nicht verän<strong>der</strong>t, da er ihre Kunst immer<br />
noch nicht versteht, und dass er deswegen seine eigenen Träume nicht emanzipieren kann.<br />
Marlies und Richard, <strong>der</strong> für einen Drucker überraschend viel über Kunst weiß, zeigen aber,<br />
dass sie Ahnung von Kunst haben, indem sie die Neuordnung <strong>der</strong> Ausstellung dirigieren.<br />
An<strong>der</strong>e Mitglie<strong>der</strong> betrachten die Kunst eher wie ein Tor o<strong>der</strong> Fenster in eine an<strong>der</strong>e Welt.<br />
Viviane meinte, wie schön ein Gemälde sei, and Martin antwortet, „Ja. Wie aus einem<br />
Fenster.“ 39 Peter, <strong>der</strong> intelligente aber oft ignorierte Schriftsteller, versteht ein Gemälde als<br />
eine Stelle, wo es die Wirklichkeit nicht mehr gibt. Er erklärt, „Wo ein Bild ist, hat die<br />
Wirklichkeit ein Loch. Wo ein Zeichen herrscht, hat das bezeichnete Ding nicht auch noch<br />
34<br />
Moritz und Susanne in Trilogie, S. 385.<br />
35<br />
Moritz in Trilogie, S. 385.<br />
36<br />
Ruth in Trilogie, S. 398.<br />
37<br />
Ruth und Lothar in Trilogie, S. 363.<br />
38<br />
Felix, in Trilogie S. 343.<br />
39<br />
Viviane und Martin in Trilogie, S. 319.
12<br />
Platz.“ 40 An <strong>der</strong> Stelle des Gemäldes gäbe es nach Peters Meinung keine Wirklichkeit mehr.<br />
Was könnte es sonst geben? Es gibt viele mögliche Antworten auf diese Frage, aber eine<br />
sinnvolle Antwort wäre Einbildung, o<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Definition her, die von <strong>der</strong> Einbildungskraft<br />
„vorgestellte[n] Inhalte“, die sich auf die Wahrnehmung <strong>der</strong> <strong>Realität</strong> eines Menschen, in<br />
diesem Fall des Künstlers, beziehen 41 . Das heißt, die Gemälde sind <strong>Einbildungen</strong> <strong>der</strong> von dem<br />
jeweiligen Künstler wahrgenommenen <strong>Realität</strong>. Als weiteren Beweis für diese These, kann<br />
man sich den Titel einer Abteilung <strong>der</strong> neugeordneten Ausstellung anschauen. Sie wird<br />
„<strong>Einbildungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Realität</strong>“ benannt, und Strauß betont diesen Titel, indem er ihn im letzten<br />
Satz des Stückes auftauchen lässt, als Richard die Neuordnung erklärt 42 .<br />
3.5 Rolle <strong>der</strong> Kunst für den Direktor<br />
Um die Rolle <strong>der</strong> Kunst zu beleuchten, soll natürlich auch die Meinung des Direktors<br />
untersucht werden. Moritz hat die Stücke für die Ausstellung selbst ausgewählt und die<br />
Ausstellung benannt. Der Titel lautet „Kapitalistischer Realismus“, und Moritz erklärt ihn:<br />
„Diese Künstler sind doch alle, wie sie da sind, ohne Ausnahme, je<strong>der</strong> gegen<br />
alle, sind sie verbissene Einzelkämpfer, ein heroisches Ich neben dem an<strong>der</strong>en.<br />
Die haben je<strong>der</strong> sein eigenes Weltbild im Kopf und das malen sie auch. Ich<br />
sehe überhaupt keine Zusammenhänge. Gibt es auch nicht. Ich dachte, das<br />
zeige ich jetzt in krasser Form, daß keiner irgend etwas mit dem an<strong>der</strong>en zu tun<br />
hat.. . . „ 43<br />
Das heißt, die Gemälde sind kapitalistisch, in dem Sinne, dass die Maler alle Einzelkämpfer<br />
und heroische Ichs sind, und diese Einzelkämpfer malen dann im Stil des Realismus.<br />
Realismus kann dann definiert werden als „wahrheitsgetreue Aneignung, Wertung o<strong>der</strong><br />
Gestaltung <strong>der</strong> Wirklichkeit, zur Deutung des Wesens.“ 44 Die Gemälde sind folglich nur<br />
Gestaltungen <strong>der</strong> Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit selbst, und das ähnelt Peters<br />
Auffassung, dass die Bil<strong>der</strong> Löcher in <strong>der</strong> Wirklichkeit seien. Wenn man sich die Definition<br />
<strong>der</strong> Einbildungskraft noch einmal anschaut und erkennt, dass sie „die Assoziation früherer<br />
Wahrnehmungsbestandteile zu neuen Gebilden“ 45 sei, dann kann man ein ähnliches<br />
Verständnis für die Gemälde wie im Kapitel 3.4 ableiten, nämlich dass die Gemälde<br />
Gestaltungen <strong>der</strong> von den Künstlern wahrgenommenen <strong>Realität</strong> sind, o<strong>der</strong> wie<strong>der</strong>um<br />
<strong>Einbildungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Realität</strong> sind, die jedoch auch kapitalistisch sind – sie hängen also nicht<br />
zusammen.<br />
40<br />
Peter in Trilogie, S. 398.<br />
41<br />
Siehe Definition <strong>der</strong> Einbildungskraft und <strong>der</strong> Phantasie in <strong>der</strong> Einleitung.<br />
42<br />
Richard in Trilogie, S. 402.<br />
43<br />
Moritz in Trilogie, S. 369-370.<br />
44<br />
„Realismus“, Meyers Universallexikon.<br />
45<br />
Siehe Definition <strong>der</strong> Einbildungskraft und <strong>der</strong> Phantasie in <strong>der</strong> Einleitung.
13<br />
Man möchte auch fragen, warum die Künstler ihre <strong>Einbildungen</strong> gemalt haben. Diese<br />
komplizierte Frage würde die Grenzen dieser Arbeit überschreiten, aber Monika Sandhack hat<br />
die Frage schon beantwortet und wird deswegen hier zitiert:<br />
„Viele <strong>der</strong> in Gesprächen erwähnten Gemälde lassen sich einordnen in jene<br />
hyperrealistische Malerei des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts, die die Wahrnehmung von<br />
Wirklichkeit, das Auflösen <strong>der</strong> ihr selbst gesetzten Grenzen vor allem, anschaulich<br />
machen will. Die Fotomalkunst eines Gerhard Richter, die Spiegelbil<strong>der</strong> von<br />
Michelangelo Pistoletto, wie auch die Täuschungsbil<strong>der</strong> Willard F. Midgettes<br />
berichten von <strong>der</strong> Schwierigkeit im Umgang mit einer <strong>Realität</strong>, die sich eindeutig<br />
nicht mehr erschließen läßt.“ 46<br />
Das heißt, die Maler haben gemalt, da sie Schwierigkeit im Umgang mit <strong>der</strong> nicht eindeutigen<br />
<strong>Realität</strong> empfunden haben. Das kann dann als <strong>Realität</strong>sflucht interpretiert werden, da sie<br />
gemalt haben, um weg von <strong>der</strong> nicht eindeutig erschließbaren <strong>Realität</strong> zu kommen und in ihre<br />
eigene Welt <strong>der</strong> Einbildung eintreten zu können.<br />
3.6 Karneval <strong>der</strong> Direktoren<br />
Moritz, als Direktor des Kunstvereins, hat natürlich eine enge Beziehung zu den Gemälden.<br />
Der Wärter <strong>der</strong> Ausstellung erkennt diese Tatsache und auch dass Moritz sich selbst und die<br />
Gemälde als Objekte des gleichen Typs versteht. Der Wärter meint, „Sie lieben die Gemälde,<br />
ich weiß es. Und man sieht es doch. Sie hängen an ihnen wie an<strong>der</strong>e Menschen an<br />
Menschen.“ 47 Zum Gemälde „Karneval <strong>der</strong> Direktoren“ hat die Hauptfigur Moritz eine<br />
beson<strong>der</strong>e Beziehung, und um diese Beziehung zu begreifen, muss man auch wissen, wer<br />
Kiepert ist. Er ist <strong>der</strong> mysteriöse Chef des Moritz, <strong>der</strong> kein einziges Wort im Stück sagt,<br />
obwohl er zweimal anwesend ist, um die neue und die alte Ausstellung zu sehen. In <strong>der</strong><br />
filmischen Aufzeichnung <strong>der</strong> Inszenierung von Peter Stein 48 ist sein erster Auftritt beson<strong>der</strong>s<br />
anschaulich. Die Mitglie<strong>der</strong> verstecken sich in <strong>der</strong> Ecke des Vereins wie nervöse Tiere,<br />
während Kiepert, mit dem Rücken zu den Zuschauern, sich die Gemälde ansieht 49 . Dann<br />
verlässt er den Verein, ohne ein einziges Wort zu sagen, um die Ausstellung zu verbieten.<br />
Richard erklärt den Grund für das Verbot. Der Grund sei das Gemälde „Karneval <strong>der</strong><br />
Direktoren“: „Sehen Sie sich’s mal genauer an. Da erkennen Sie ganz deutlich Kiepert,<br />
Kiepert und seinen Chef, die sind haargenau porträtiert, gewissermaßen in einer sehr<br />
verfänglichen Lage.“ 50 Keine genauere Beschreibung dieser Lage findet sich im Text, und<br />
deswegen ist dieses Gemälde unterschiedlich in den verschiedenen Inszenierungen, aber an<br />
46<br />
Sandhack, S. 35-36.<br />
47<br />
Wärter in Trilogie, S. 383-384.<br />
48<br />
Von Peter Stein an <strong>der</strong> Schaubühne am Halleschen Ufer, Berlin. Filmische Aufzeichnung <strong>der</strong> Inszenierung.<br />
132 Min. 1978.<br />
49<br />
Dies würde <strong>der</strong> Regieanweisungen in Trilogie, S. 366 entsprechen.<br />
50<br />
Richard in Trilogie, S. 366.
14<br />
dieser Stelle wird Peter Steins Inszenierung noch einmal benutzt. In <strong>der</strong> Steinschen<br />
Inszenierung stellt das Gemälde ein einfaches Bild von zwei Männern dar, die sich umarmen<br />
und tun, als ob sie sich gleich küssen. Dies könnte eine Beleidigung für Kiepert bedeuten und<br />
ist angeblich <strong>der</strong> Grund des Verbots, obwohl Kiepert im Verbotsbrief schreibt, dass Moritz<br />
die Ausstellung zu schlecht organisiert 51 und zu viele Gemälde von früheren Ausstellungen<br />
wie<strong>der</strong> benutzt habe.<br />
Am Ende <strong>der</strong> filmischen Aufzeichnung versucht Moritz selber zum Kunststück zu werden und<br />
dadurch in die Einbildungswelt einzutreten. Kurz bevor Kiepert zurückkehrt, um die<br />
Neuordnung anzuschauen, umwickelt Moritz sich mit Tesakrepp das Gesicht und Hände,<br />
damit er nicht sprechen kann und hilflos ist. Dann, mit Hilfe von Susanne, setzt er den<br />
„Karneval <strong>der</strong> Direktoren“ hinter sich auf den Stuhl und sich selbst davor, an die Stelle einer<br />
<strong>der</strong> Figuren. Es ist nicht klar in <strong>der</strong> Aufzeichnung, welche Figur, Kiepert o<strong>der</strong> Kieperts Chef,<br />
er im Bild abdeckt, aber das ist auch eigentlich gleichgültig. In beiden Fällen wäre die<br />
Situation symbolisch für die Ausnutzung von Moritz: er fühlt sich kraftlos im Vergleich zur<br />
äußeren Macht des mysteriösen Kiepert. Obwohl Moritz ein Künstler ist, in dem Sinne dass er<br />
die Ausstellung entwickelt, darf er mit <strong>der</strong> Kunst nicht das ausdrücken, was er möchte wegen<br />
dieses Einflusses von Kiepert. Es erscheint dabei unwahrscheinlich, dass Kiepert Moritz in<br />
<strong>der</strong> Zukunft weiter anstellen wird, weil Moritz ein solches Getue um den „Karneval <strong>der</strong><br />
Direktoren“ verursacht, und man kann das Ganze als eine Katastrophe für Moritz verstehen,<br />
eine Katastrophe als Ergebnis <strong>der</strong> Tatsache, dass die Gemälde, o<strong>der</strong> <strong>Einbildungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Realität</strong>,<br />
zu wichtig für ihn sind. Die Kunst versagt für Moritz, und er kann nicht länger vor <strong>der</strong><br />
<strong>Realität</strong> flüchten, dass er sich nicht so sehr auf seine Kunst als Ausstellungsentwickler<br />
verlassen darf.<br />
4 Gefährdung <strong>der</strong> <strong>Einbildungen</strong><br />
4.1 in Trilogie des Wie<strong>der</strong>sehens<br />
Es ist auch interessant zu betrachten, was im allgemeinen passiert, wenn äußere Einflüsse die<br />
<strong>Einbildungen</strong> <strong>der</strong> Figuren gefährden. Kläuschen und insbeson<strong>der</strong>e seine Kamera vertreten<br />
eine solche Gefährdung. Als das einzige Kind im Stück weist er auf, dass die kurzfristigen<br />
Mann-Frau-Beziehungen doch etwas produzieren können, aber das Produkt ist überflüssig<br />
und benimmt sich schlecht. Als Ergebnis mag niemand ihn. Seine Mutter verbringt die<br />
meisten Zeit mit dem Versuch ihn zu kontrollieren, damit nicht alles durcheinan<strong>der</strong> kommt,<br />
aber manchmal trennen sie sich, und dann fängt Kläuschen an. Zum Beispiel zeigt er seine<br />
Narben Susanne und verlangt Geld dafür: „Sieh mal unter meinen Kopf. Da ist ein roter Riß.<br />
51<br />
Moritz gibt selbst zu, dass es keine Zusammenhänge gibt. Siehe Kapitel 3.5.
15<br />
Ich bin in ein Drahtseil gelaufen, als meine Mutter mich zum Essen gerufen hat. Gib mir<br />
Geld.“ 52 Das ist genauso unangemessen wie ihre Reaktion: sie bewirft ihn mit Geld. Nur<br />
Franz ist nett genug zu ihm, um ein Gespräch anzufangen, aber nur aus dem Grund, dass<br />
Franz mit Kläuschens Mutter zum Abendessen ausgehen möchte. Die „Polaroid SX-70“<br />
Kamera von Kläuschen ist beson<strong>der</strong>s bedeutungsvoll, indem sie den äußeren Einfluss <strong>der</strong><br />
Technologie vertritt, die niemand außer den Kin<strong>der</strong>n wirklich versteht, aber wichtiger noch<br />
ist, dass diese Kamera genaue Abbildungen <strong>der</strong> <strong>Realität</strong> produziert, die im Gegensatz zu<br />
<strong>Einbildungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Realität</strong> stehen. Das heißt, sie erlaubt keine <strong>Realität</strong>sflucht, da sie die<br />
Wahrheit darstellt. Franz nennt sie zum Beispiel einen „Teufelskasten“ 53 , und in <strong>der</strong><br />
Verfilmung <strong>der</strong> Steinschen Inszenierung gibt es eine beson<strong>der</strong>s erschütternde Szene, die mit<br />
<strong>der</strong> Kamera zusammenhängt. Als Moritz Susannes Hand zärtlich küsst, kommt Kläuschen und<br />
macht plötzlich ein Foto im geringen Abstand von dem Paar. Moritz ärgert sich, da Kläuschen<br />
etwas Intimes stört, und als Kläuschen sich weigert, das Foto herauszugeben, kämpfen die<br />
Beiden um das Foto. Kläuschen hat natürlich keine Chance gegen den erwachsenen Mann,<br />
aber er kämpft hartnäckig, und deswegen dauert es eine Weile, bevor Moritz es endlich<br />
schafft, ihm das Foto gewaltsam zu entreißen 54 . Moritz muss wirklich doch ein bisschen<br />
verzweifelt sein, um so mit einem kleinen elf-jährigen Kind um ein Foto zu kämpfen, welches<br />
einfach die Wahrheit seiner Beziehung mit Susanne bloß stellt. Es scheint, <strong>Realität</strong>sflucht ist<br />
schwieriger, wenn alles vollständig dokumentiert wird.<br />
Die Ausstellung, die aus den „<strong>Einbildungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Realität</strong>“ besteht, wird auch durch einen<br />
äußeren Einfluss gefährdet, nämlich von Kiepert, <strong>der</strong> interessanterweise <strong>der</strong> Vater Kläuschens<br />
ist—die äußeren Einflüsse im Stück gehören zusammen. Moritz gibt einfach auf, da er Ruhe<br />
haben möchte, und lässt Richard die Ausstellung neu ordnen. Er sagt, „Laß mich in Ruhe,<br />
Richard. Mach du, was du für richtig hältst, Richard. Mach du es. Mach, was du willst,<br />
Richard. Ganz nach deinem Belieben.“ Das tut Richard auch, aber nicht alleine, son<strong>der</strong>n er<br />
und Marlies zusammen entscheiden, wo die Gemälde hingehören, und die an<strong>der</strong>en<br />
Vereinsmitglie<strong>der</strong> helfen dann beim Aufhängen, währenddessen Moritz sich zu einem<br />
Verlierer erklärt: „Nun bin ich ein Verlierer, Susanne.“ 55 Es ist überraschend, dass Moritz so<br />
leicht kapituliert. Die meisten Leute würden wahrscheinlich eher auf Ruhe verzichten, anstatt<br />
den eigenen Job zu verlieren, aber Moritz ist wirklich ein Verlierer, und er ist vielleicht auch<br />
müde davon, immer davor flüchten zu müssen, dass seine Ausstellung nicht akzeptiert wird.<br />
52<br />
Kläuschen in Trilogie, S. 318.<br />
53<br />
Franz in Trilogie, S. 325.<br />
54<br />
Dies würde <strong>der</strong> Regieanweisungen in Trilogie, S. 348 entsprechen.<br />
55<br />
Moritz in Trilogie, S. 386.
16<br />
Er versucht sogar nicht wirklich, sein Konzept <strong>der</strong> Ausstellung zu verteidigen; er gibt einfach<br />
zu, dass es keine Zusammenhänge gibt 56 . Er findet auch, dass die neue Ausstellung genau so<br />
bedeutungsvoll wie seine ist. Er meint, „Verän<strong>der</strong>t hat sich im Grunde nichts.“ 57 Wenn seine<br />
Ausstellung beliebig neugeordnet werden kann und immer noch die gleiche Bedeutung hat,<br />
und wenn seine Erklärung für die Ausstellung nicht akzeptiert wird, hat die Ausstellung dann<br />
eigentlich nur eine geringe Bedeutung bzw. Wirkung auf die <strong>Realität</strong>. Das heißt, die<br />
Ausstellung, die aus den „<strong>Einbildungen</strong> <strong>der</strong> <strong>Realität</strong>“ besteht, verän<strong>der</strong>t die <strong>Realität</strong> kaum.<br />
Man könnte noch einmal sagen, dass Einbildung keine wesentliche Wirkung auf die <strong>Realität</strong><br />
hat, und man kann auch sehen, dass die Ausstellungsversion von Moritz platzt nicht nur<br />
wegen Kieperts Einfluss son<strong>der</strong>n auch als Folge <strong>der</strong> eigenen Unlust von Moritz, seine<br />
Ausstellung gegen den äußeren Einfluss Kieperts weiter zu verteidigen.<br />
4.2 In Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle<br />
Wie Moritz gibt Stefan von Bekannte Gesichter auch einfach auf angesichts eines äußeren<br />
Einflusses; in diesem Fall ist <strong>der</strong> äußere Einfluss das Bedürfnis mit dem Kapitalismus<br />
umzugehen. Das heißt, Werbung für das Hotel zu finden, damit tatsächlich Gäste kommen,<br />
und, wichtiger noch und im Gegensatz zu seinen bei ihm wohnenden Freunden, für den<br />
Besuch zahlen. Stefan akzeptiert seine Unfähigkeit mit dem Kapitalismus umzugehen:<br />
„Eigentum macht mich krank.“ 58 „Ich halte dieses Privatbesitzertum nicht länger aus. Ich will<br />
nicht mehr selbstständig sein.“ 59 Vor allem möchte Stefan das Hotel an das<br />
Bundesinnenministerium verkaufen, damit die Schulden auch übernommen werden. Dies ist<br />
das Ergebnis des Handelns von Dieter, einem seiner Freunde, <strong>der</strong> für das<br />
Bundesinnenministerium arbeitet, und wäre als Verkauf an die Regierung die größte mögliche<br />
Nie<strong>der</strong>lage in einem kapitalistischen System.<br />
Dieser Verkauf gefährdet natürlich die Gemeinschaft dieses Freundeskreises sowie den Tanz,<br />
<strong>der</strong> als Kunst die <strong>Einbildungen</strong> <strong>der</strong> Figuren hervorbringt. Guenther, <strong>der</strong> Tänzer und ein<br />
Freund von Stefan, ist natürlich entsetzt, und möchte die Gemeinschaft verteidigen, indem er<br />
eine echte Gemeinschaft vorschlägt: „Nie<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> herrschenden Untätigkeit! Ich for<strong>der</strong>e<br />
gleiches Eigentumsrecht für uns alle! ‚Stefans Hof’ ist unser Hof!“ 60 Es wird allerdings nicht<br />
klar, was genau mit dem Hotel passiert, aber Stefan kann es nicht mehr verkaufen, weil er tot<br />
ist. Deswegen wäre es möglich, dass die Gemeinschaft trotzdem weiter leben würde, obwohl<br />
die <strong>Einbildungen</strong> <strong>der</strong> Figuren die <strong>Realität</strong> wenig verän<strong>der</strong>n könnten, da Doris nicht mehr<br />
56<br />
Moritz in Trilogie, S. 369.<br />
57<br />
Moritz in Trilogie, S. 393.<br />
58<br />
Stefan in Bekannte Gesichter, S. 87.<br />
59<br />
Stefan in Bekannte Gesichter, S. 89.<br />
60<br />
Guenther in Bekannte Gesichter, S. 97.
17<br />
tanzen darf wegen ihrer Schwangerschaft und da Hedda immer noch nur schlecht singen kann.<br />
Stefan als Toter kann natürlich seine <strong>Einbildungen</strong> auch nicht verwirklichen.<br />
4.3 Ähnlichkeiten zwischen den Stücken und <strong>der</strong> Sozialismus<br />
Strauß schrieb die zwei behandelten Theaterstücke nacheinan<strong>der</strong> 61 , und deswegen ist es nicht<br />
überraschend, dass sie viele Ähnlichkeiten aufweisen, aber es ist beson<strong>der</strong>s interessant, dass<br />
die Handlungen sich beide folgen<strong>der</strong>maßen entwickeln. Zuerst führt Strauß die <strong>Realität</strong> vor,<br />
welche in den beiden Stücken ein Museum von alten Leidenschaften ist. Dann enthüllt er die<br />
<strong>Einbildungen</strong> <strong>der</strong> Figuren. Diese <strong>Einbildungen</strong> hängen mit Kunst und zwischenmenschlichen<br />
Beziehungen zusammen. Im nächsten Schritt lässt Strauß die <strong>Einbildungen</strong> von äußeren<br />
Einflüssen gefährdet werden, und schließlich gibt es eine Wende, in <strong>der</strong> die Hauptfigur, die<br />
die Gruppe früher geführt hat, aufgibt, damit die Gemeinschaft die Kontrolle übernehmen<br />
kann. Die Gemeinschaft lebt dann weiter, aber ohne die Hauptfigur. Das heißt, <strong>der</strong><br />
Kapitalismus scheitert in dem Sinne, dass die Hauptfigur aufgibt, und <strong>der</strong> Sozialismus<br />
übernimmt die Kontrolle. Dies geschieht in den beiden Stücken: in Trilogie wird das Konzept<br />
des kapitalistischen Realismus mit den Einzelkämpfern ohne Zusammenhänge nicht<br />
akzeptiert, aber die Gemeinschaft ordnet die Ausstellung neu. In Bekannte Gesichter geht das<br />
Privatbesitzertum mit Stefan zugrunde, aber die Gemeinschaft lebt ohne seinen alten Führer<br />
weiter. Das könnte man als Unterstützung von Botho Strauß für den Sozialismus<br />
interpretieren. Zu dieser Zeit schrieb er auch, dass man etwas Politisches aus Texten schließen<br />
kann, auch wenn <strong>der</strong> Autor es nicht meint. Er drückte sich so aus:<br />
„kein Text existiert, <strong>der</strong> nicht Mehr über seinen Autor aussagt, als dieser von sich<br />
aus sagt; kein Text, <strong>der</strong> nicht Mehr zu verstehen gibt, als <strong>der</strong> Autor selbst darunter<br />
verstanden hat – ich meine daraus folgt, daß dieses Mehr eines Textes in erster<br />
Linie von einer politischen Lektüre erschlossen werden kann.“ 62<br />
5 Abschluss<br />
5.1 Zusammenfassung<br />
Es ist gezeigt worden, dass Einbildung eine wichtige Rolle für die Figuren dieser<br />
Theaterstücke spielt, und dass sie eine enge Beziehung zur Kunst hat – nämlich dass die<br />
Kunst oft <strong>Einbildungen</strong> hervorbringt und dass die Gemälde in Trilogie als „<strong>Einbildungen</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Realität</strong>“ betrachtet werden können. Die <strong>Einbildungen</strong> können die <strong>Realität</strong> im Wesentlichen<br />
nicht verän<strong>der</strong>n und sind Ergebnisse <strong>der</strong> <strong>Realität</strong>sflucht, da die Figuren mit ihrer Wirklichkeit<br />
nicht zufrieden sind. Diese <strong>Einbildungen</strong> führen dann zur Katastrophe für die Hauptfigur, zum<br />
Beispiel zum Tod im Fall Stefans o<strong>der</strong>, im Fall des Moritz, zum Versagen seiner Ausstellung<br />
61<br />
Uraufführungen: Bekannte Gesichter im Württembergisches Staatstheater Stuttgart in 1975 und Trilogie im<br />
Deutschen Schauspielhaus Hamburg in 1977.<br />
62<br />
Theorie <strong>der</strong> Drohung, S. 98.
18<br />
und zur wahrscheinlichen Entlassung, wenn die <strong>Einbildungen</strong> zu wichtig für die Hauptfigur<br />
werden. Es wurde auch gezeigt, dass Botho Strauß vielleicht den Sozialismus zur Zeit des<br />
Schreibens dieser Stücke unterstützt hat, da die Katastrophe eine Wende verursacht, in <strong>der</strong> die<br />
Hauptfigur aufgibt, damit eine Gemeinschaft die Kontrolle übernehmen kann.<br />
5.2 Kunst innerhalb Kunst<br />
Als offene Frage bleibt, ob es eine an<strong>der</strong>e Ebene <strong>der</strong> Einbildung in diesen Texten gibt. Der<br />
Tanz und die Gemälde sind doch wichtige Bestandteile dieser Theaterstücke. Man könnte sie<br />
als Kunst innerhalb Kunst beschreiben, o<strong>der</strong> indem man die Theaterstücke als Produkte <strong>der</strong><br />
Einbildungskraft des Botho Strauß betrachtet, als <strong>Einbildungen</strong> einer eingebildeten <strong>Realität</strong><br />
innerhalb <strong>der</strong> äußeren Einbildung des Botho Strauß, o<strong>der</strong> lieber einfacher, als <strong>Einbildungen</strong><br />
innerhalb <strong>Einbildungen</strong> beschreiben.<br />
Man könnte sich danach fragen, wie sich Strauß alles eingebildet hat. Eine mögliche Antwort<br />
wäre, dass er etwas sagen wollte, und dass er dann nur die Umgebung entwickeln musste, um<br />
das sagen zu können. Er meinte einmal im Gespräch über Trilogie mit Katrin Kazubko:<br />
„Ich habe einfach nur nach einem Ort gesucht, an dem ein natürliches Kommen<br />
und Gehen auf <strong>der</strong> Bühne möglich ist. Die Atmosphäre einer Ausstellung ist doch<br />
merkwürdig: die Menschen gehen aneinan<strong>der</strong> vorbei, treffen sich und trennen<br />
sich. 63<br />
Das Hotelfoyer in Bekannte Gesichter hat eine ähnliche Funktion <strong>der</strong> Darstellung des<br />
Kommens und des Gehens, sowie das Foyer in Schlußchor, ein an<strong>der</strong>es Theaterstück von<br />
Strauß, das allerdings viel später geschrieben und 1991 uraufgeführt wurde.<br />
Eine an<strong>der</strong>e Frage wäre auch, warum er sich mit seiner Einbildungskraft die Theaterstücke hat<br />
einfallen lassen. Man könnte sich vorstellen, dass er die Zuschauer schockieren wollte,<br />
ähnlich wie beim Verfremdungseffekt von Bertolt Brecht 64 , um die Wirklichkeit zu verän<strong>der</strong>n.<br />
Einige Ereignisse in den Stücken sind zwar schockierend, zum Beispiel als Viviane in<br />
Trilogie das Bewusstsein verliert und umkippt. Die an<strong>der</strong>en Vereinsmitglie<strong>der</strong> wissen, dass<br />
sie allmählich an Krebs stirbt, und hätten die Situation als einen möglichen Notfall behandeln<br />
sollen, aber sie bleiben ruhig und lassen Viviane am Boden liegen, während einer Vivianes<br />
Mann holt, um ihm zu sagen, dass ihr schlecht geworden sei.<br />
Es ist aber wahrscheinlich übertrieben, den Verfremdungseffekt einzubeziehen, beson<strong>der</strong>s im<br />
Hinblick darauf, dass es in <strong>der</strong> ersten Einbildungs- und Kunstebene gezeigt worden ist, dass<br />
die Kunst wenig im Gegensatz zu den äußeren Einflüssen verän<strong>der</strong>n kann. Deshalb kann diese<br />
Frage hier nicht beantwortet werden.<br />
63<br />
Kazubko, S. 20.<br />
64 „episches Theater“, Meyers Universallexikon.
19<br />
Was passiert dann, wenn die <strong>Einbildungen</strong> von Strauß selber gefährdet werden? Er schlägt<br />
zurück. Das hieß in einem Fall, die Polizei wird geholt. Sie war bei <strong>der</strong> Uraufführung von<br />
Trilogie dabei, für den Fall, dass die Figuren zu viel Unruhe im Publikum verursacht hätten.<br />
Kein Vorfall trat auf, aber die Kritiker fanden die Anwesenheit <strong>der</strong> Polizei ironisch. Einer<br />
schrieb, „Diese Wirklichkeit voll grimmiger Ironie war wie ein vorweggenommener<br />
Szeneneklat aus einem noch ungeschriebenen Stück von Botho Strauß.“ 65 Gemälde innerhalb<br />
Theater innerhalb Polizeitheater! Vielleicht wird er das noch irgendwann in einem<br />
Theaterstück einbringen, aber ich glaube, dass drei Ebenen von Kunst zu viel für die<br />
Zuschauer wären. Zwei waren schon genug, dass ich eine Hausarbeit über sie schreiben<br />
konnte.<br />
65<br />
Wagner, S. 23.
20<br />
6 Liste <strong>der</strong> benutzten Literatur<br />
6.1 Primärliteratur<br />
Strauß, Botho. „Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle“, in: Theaterstücke 1972-1978, 2.<br />
Auflage. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 2000. S. 67-110.<br />
Strauß, Botho. „Schlußchor“, in: Theaterstücke II. Carl Hanser Verlag, München und Wien, 1991,<br />
S. 411-464.<br />
Strauß, Botho. „Theorie <strong>der</strong> Drohung“, in: Marlenes Schwester. Zwei Erzählungen, Deutscher<br />
Taschenbuch Verlag, München, 1977.<br />
Strauß, Botho. „Trilogie des Wie<strong>der</strong>sehens“, in: Theaterstücke 1972-1978, 2. Auflage. Deutscher<br />
Taschenbuch Verlag, München, 2000. S. 311-402.<br />
6.2 Sekundärliteratur<br />
Jäger, Gerd. „Wie sieht die Bundesrepublik heute im Drama aus?“, in: Theater heute, 1974,<br />
Jahresson<strong>der</strong>heft, S. 152-155. (Zu: „Bekannte Gesichter“)<br />
Kazubko, Katrin. „Der alltägliche Wahnsinn“, in: Text + Kritik: Zeitschrift für Literatur. Heft 81.<br />
Hrgv. Heinz Ludwig Arnold. edition text + kritik, München, 1984, S. 20-30. (Zu:<br />
„Trilogie“)<br />
Sandhack, Monika. Jenseits des Rätsels: Versuch einer Spurensicherung im dramatischen Werk<br />
von Botho Strauß. Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main, 1986.<br />
Schödel, Helmut. „Kapitalistischer Realismus“, in: Theater heute, 1977, H. 7, S. 31-36. (Zu:<br />
„Trilogie“)<br />
Wagner, Klaus. „Sommergäste im Kunstverein“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.5.1977.<br />
S. 23. (Zu: „Trilogie“)<br />
„Phantasie“, Meyers großes Taschenlexikon. VEB Bibliographisches Institut, Leipzig, 1992.<br />
„Realismus“, Meyers Universallexikon. VEB Bibliographisches Institut, Leipzig, 1981.