Aufbau der württembergischen Bildungspyramide war zudem – wie sich im Rückblick zeigt – jene entscheidende Weichenstellung, die aus Württemberg das Volk der Dichter und Denker gemacht hat. Protestantische Führungsmacht Württemberg Württemberg war erst 1534 für die Reformation gewonnen worden und – dank seiner rigiden Umgestaltung – rasch zum evangelischen Musterstaat geworden. Ihm fielen schon früh Führungsaufgaben zu. So wurde etwa von hier aus der einzige ernsthafte Versuch unternommen, die Glaubensspaltung doch noch zu überwinden. Eine württembergische Delegation besuchte – auch für weitere evangelische Gebiete sprechend – das Konzil von Trient, um dort ihre Sache zu vertreten. Als sie nicht angehört wurde, trat die Festschreibung des neuen Glaubens immer mehr in den Vordergrund. Dazu trug bei, dass sich das kleine Württemberg dauernd in bedrängter Diaspora-Situation befand und sich ständig in seiner Existenz bedroht fühlte. Deshalb wurde der neue Glaube schon 1565 durch einen „Landtagsabschied“ verfassungsrechtlich abgesichert. Es gibt ein eigenes württembergisches Glaubensbekenntnis, die „Confessio Virtembergica“. Über 200 Jahre gab es – wiederum nur für Württemberg – einen eigenen Kalender, weil man 1582 den „papistischen“ Gregorianischen Kalender nicht übernehmen mochte. Der Pietismus setzt die Reformation fort Ab dem späten 17. Jahrhundert wurde der Pietismus in Württemberg heimisch. Mit seiner Bindung an das Wort der Heiligen Schrift, der Betonung des persönlichen Glaubens und einem davon geprägten Leben hat er Anliegen der Reformation aufgräbnisgarten der Brüdergemeinde Korntal gibt gleichsam Anschauungsunterricht über evangelische Missionsarbeit in aller Welt. Es fällt auf, wie viel universal gebildete Männer den württembergischen Pietismus geprägt haben: Der fromme und hoch gelehrte Johann Albrecht Bengel (1687 – 1752), der als Klosterpräzeptor von Denkendorf Generationen von Pfarrern ausbildete, war – wie viele seiner Schüler – ein Bibeltheologe von Rang. Das Universalgenie Friedrich Christoph Oetinger (1702 – 1782) beherrschte mühelos das gesamte Wissen seiner Zeit einschließlich der Naturwissenschaften. Philipp Matthäus Hahn (1739 – 1790) ersann Weltspitzenleistungen der Mechanik, um seinen Mitmenschen im Zeitalter der Aufklärung die Vollkommenheit der Schöpfung Gottes anschaulich zu machen. Der Bengel- Schüler Johann Friedrich Flattich (1713 – 1797) war ein pädagogisches Naturtalent. Der Pietismus kam als Untergrundbewegung ins Land; er wurde lange von staatlicher und kirchlicher Obrigkeit argwöhnisch beäugt und es gab Lehrzuchtvergenommen und weitergeführt. Ihm ist die Bibel der Liebesbrief Gottes an die Menschen und die Summe aller göttlichen und menschlichen Weisheit. Das Studieren und Forschen in der Schrift „wie es sich verhielte“ hat dann Württemberg zum Volk der Tüftler und Erfinder gemacht. Bis heute kommen die meisten Patentanmeldungen in Deutschland aus Württemberg. Der Pietismus will lebendigen Glauben; er soll gelehrt, gelebt und weiter gegeben werden – so früh und so gut wie möglich. Daher kommt es zu – einst als revolutionär angesehenen – Neuerungen. Kinder kommen neu in den Blick: schon ab 1691 wird der Kindergottesdienst eingeführt und ab 1723 die Konfirmation nach vorausgegangener, gründlicher katechetischer Unterweisung. Frauen erhalten einen neuen Stellenwert: sie dichten Lieder, schreiben Briefe, führen Tagebuch und ihnen werden Aufgaben mit Eigenverantwortung übertragen. Auch damit hat der Pietismus den Weg in die Moderne gebahnt. Bibelerkenntnisse wurden ganz praktisch im Alltag umgesetzt. Aus dem Schöpfungsbericht las man etwa ab, dass Gott auch die Tiere erschaffen habe und sie deshalb als Mitgeschöpfe zu betrachten und zu behandeln sind. Über solchen Überlegungen kam es zum Tierschutz und 1837 gründete der Pfarrer, Pietist und Liederdichter Albert Knapp in Cannstatt den ersten Tierschutzverein der Welt. Weil Gottes Gnadenzusage jedem Einzelnen gilt, ist es auch jeder Einzelne wert, gerettet zu werden: daher entstanden eine Vielzahl von „Rettungseinrichten“ für Menschen, um die sich zuvor kaum jemand gekümmert hatte. Sie wenden sich etwa an „gefallene Mädchen“ (ledige Mütter) Straffällige, Verwahrloste und Behinderte. Die Geschichte der Diakonie in Württemberg kann ohne den Pietismus nicht geschrieben werden. Schließlich wird erstmals im evangelischen Bereich der Missionsbefehl „Gehet hin in alle Welt“ ernst genommen: ausgerechnet das Binnenland Württemberg wurde zu einem Zentrum der Weltmission. Der Befahren etwa gegen Christoph Oetinger und Philipp Matthäus Hahn. Es dauerte seine Zeit, bis man zu einem nicht immer spannungsfreien Miteinander gefunden hatte: zum Vorteil von beiden. „Kirche ohne Pietismus verflacht, Pietismus ohne Kirche verengt“ sagt dazu der frühere Landesbischof Theo Sorg. Das Leben in der Verantwortung vor Gott, Fleiß, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, das Nachdenken, das Probieren, die Sorgfalt, die unausgesetzte Selbstprüfung im Glauben und das Wissen um die eigene Verantwortung haben sich auch auf das wirtschaftliche Leben des Landes ausgewirkt. So ist die wirtschaftliche Entwicklung Württembergs ohne den Pietismus nicht zu denken. Die meisten der frühen Unternehmerfamilien kommen aus dem Pietismus, seine Stammgebiete sind die Zentren der Industrialisierung. Obgleich zu keiner Zeit mehr als sieben bis acht Prozent der Einwohner Württembergs dem Pietismus zugerechnet werden können, haben sie Land und Leute verändert. Reformation und Pietismus haben Württemberg zu dem gemacht, was es heute ist. Reformation und Pietismus haben Württemberg zu dem gemacht, was es heute ist. 6 7