Frühere Standpunkte <strong>Das</strong> Herz trinkt mein Blut. (Ernst Jandl)
1 Als ich sechs war, wurde die Partei gegründet. Jetzt bin ich vierunddreißig Jahre älter. Ich habe mir einen Standpunkt erarbeitet. Meine Berliner Großehern waren vorher in der SPD. Mein Großvater war SPD- Abgeordneter in der Weimarer Republik und Mitglied der Roten Lehrergewerkschaft. Unter Hitler wurde er sofort entlassen als Rektor. Deshalb, und weil meine Großeltern nach dem Krieg in unserem Teil Berlins wohnten, wurden sie zu Mitgliedern unserer Partei: ein Händedruck, zwei in die Kamera blickende Gesichter, eine Luftaufnahme von zwei <strong>Demo</strong>nstrationszügen, die sich an der Straßengabelung vereinigen. Mein Großvater starb ein Jahr später, nierenkrank, zu Hause. Wir hatten noch zu wenig Krankenhäuser. Meine Großmutter starb zehn Jahre danach. Sie war die erste, die in meiner Gegenwart an Gott zweifelte. So viele Menschen und nur dieser Eine? Sie blieben die einzigen Mitglieder der Partei in meiner Familie. Partei war für mich als Kind: Etwas Undurchschaubares. Man wusste nie, ob der nicht drin war. Die ist wohl auch drin. Man fragte nie direkt. In den ersten Jahren trug man das Parteiabzeichen nicht so häufig wie einige Jahre danach. Mehr so wie heutzutage. <strong>Das</strong> Parteiabzeichen meiner Großmutter lag in ihrer Schmuck- Kassette. Ich erinnere mich, dass die Kassiererin einmal fragte, ob meine Großmutter noch ein zweites brauche, und meine Großmutter verneinte. Partei war für mich: Für die Russen sein, die um ihre Sperrgebiete grüne Holzzäune nagelten, mit Glühbirnen um die roten Sterne am Eingang, für stumm marschierende Soldatenkolonnen in den Straßen. Russisch lernen. Die Russisch-Lehrerin war immer die Fortschrittlichste. Partei war für mich einmal: Fahnenappelle, bei denen der Direktor mit Blauhemd, Pioniertuch und Parteiabzeichen eine Rede hielt, zum Schluss: Seid bereit, und wir: Immer bereit. Von ihm erhielten wir unsere Auszeichnungen, ein Abzeichen mit Urkunde. In der Gewerkschaftsgruppe zwanzig Jahre später war das Lob mit einer materiellen Stimulierung verbunden, einer Prämie oder einer Reise, weiter höher mit einem Preis und viel Geld, dann nur noch mit einem Orden. Der Höchste aber legte zwei Finger auf die Schulter des zu Lobenden, umgab ihn mit Weihe. Wollte dieser noch tauschen mit den anderen? Aber auch die Strenge änderte sich. Sie nahm nach oben hin ab. Der Höchste konnte sogar Ausnahmen machen. Ich sah, wie man alles erklären konnte. Ich lernte, mir schon zu denken, wie man alles wieder erklären wird. Partei war für mich: Entweder die ganze Familie war dafür oder keiner. Wenn der Vater