Dieser Artikel als PDF - Schweizerisches Rotes Kreuz
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Von Rettern und Geretteten<br />
Kaiserslautern, ein Morgen im Jahr 1940: Die neunjährige Margot Wicki-Schwarzschild wird mit<br />
ihrer Familie von deutschen Nazis nach Frankreich deportiert. Ihr Vater ist Jude, die Mutter<br />
Katholikin. Am 4. Dezember 2004 erzählte sie, im Zuge der Vortragsreihe «Humanitäre Schweiz<br />
von 1933-45» an der Uni Basel, von ihren Erlebnissen <strong>als</strong> Verfolgte.<br />
Die Vortragsreihe und Ausstellung «Humanitäre Schweiz von 1933-45» setzte sich vom Oktober bis<br />
Dezember 2003 mit der Idee und Realität der humanitären Schweiz während des Zweiten Weltkrieges<br />
auseinander. Die Flüchtlingshilfe während der Vorkriegs- und Kriegszeit gehört zu den noch immer heiss<br />
diskutierten Themen. Die Rolle der schweizerischen Hilfswerke und der Einsatz ihrer freiwilligen<br />
Mitarbeiter zwischen 1933 und 1945 sei bisher noch nicht ausdiskutiert worden, meinte Projektleiterin<br />
Helena Kanyar-Becker.<br />
Das Thema des fünften Abends hiess «Die Retter und die Geretteten». Die begleitende Ausstellung war<br />
gut dokumentiert. Ihr konnten wesentliche Informationen entnommen werden. So auch, dass während<br />
des Bürgerkrieges in Spanien (1936 bis 1939) die «Ayuda Suiza» vor allem bedrohten Kindern half. Nach<br />
dem Ende des spanischen Bürgerkriegs verlagerte sich die Schweizer Hilfstätigkeit nach Südfrankreich,<br />
wo spanische Flüchtlinge interniert wurden.<br />
Seit Frühling 1940 leitete dort Maurice Dubois, der Erfahrungen aus Spanien mitbrachte, die SAK<br />
(Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für kriegsgeschädigte Kinder). Die SAK entstand Anfang 1940 aus<br />
17 Hilfsorganisationen. Etwa 40 junge freiwillige Helferinnen und Helfer aus der Schweiz betreuten<br />
Spanier, Juden, Roma und Sinti, Staatenlose und französische politische Häftlinge in den Sammellagern.<br />
Sie eröffneten städtische Verteilzentren, gründeten Kinder- und Mütterheime, wo sie auch Geburtshilfe<br />
leisteten<br />
Die Rolle des Schweizerischen Roten <strong>Kreuz</strong>es<br />
In der Basler Ausstellung wurden Dokumente über Internierungslager, Kinder- und Mütterheime in<br />
Südfrankreich (1940 bis 1944) dargestellt. In den berüchtigten Lagern Gurs, Rivesaltes, Récébédou,<br />
Vernet bewahrten die Krankenschwestern Friedel Bohny-Reiter, Elsbeth Kaser, Elsa Ruth und andere<br />
Kinder und Erwachsene vor dem Hungertod, kleideten sie, unterstützten sie moralisch und pflegten die<br />
Kranken. Sie retteten zahlreiche Juden vor den Transporten in die Konzentrationslager der Nazis. In den<br />
Heimen überlebten Hunderte von spanischen, jüdischen, aber auch französischen Kindern den Krieg.<br />
Viele Mitarbeiter der SAK bewegten sich zwischen Legalität und Illegalität. Um die Menschen vor der<br />
Vichy-Regierung und der Gestapo beschützen zu können, durften sie die Schweizer Neutralität nicht<br />
wortgetreu anwenden. Als das Schweizerische Rote <strong>Kreuz</strong> Ende 1941 die Leitung der SAK übernahm,<br />
verlangte es von den Helferinnen und Helfern strikte «Zurückhaltung». Die Konflikte zwischen der SRK-<br />
Verwaltung und den Freiwilligen endeten oft tragisch. Einige wurden suspendiert und zurück in die<br />
Schweiz geschickt.<br />
Das SRK veranstaltete 1998 eine Konferenz zu dieser Problematik, rehabilitierte die geschädigten<br />
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und nimmt teil an der Neubewertung der Rolle des humanitären<br />
Schweizer Engagements von 1933 bis 1945. Offizielle Schweizer Auszeichnungen für die ehemaligen<br />
Helfer blieben jedoch aus.<br />
Von Schweizern in Südfrankreich gerettet<br />
Über die Zeit im Camp de Gurs in Südfrankreich sagte die dam<strong>als</strong> neunjährige Margot Wicki-<br />
Schwarzschild: «Eine schreckliche Zeit. Das Lager versank im Schlamm, in jede Baracke wurden 60 bis<br />
90 Menschen gepfercht. Wir litten an Hunger, Ungeziefer und versanken in Trostlosigkeit. Wir kamen uns<br />
vor <strong>als</strong> der Abschaum der Menschheit.» Nach einiger Zeit wurde die Familie nach Rivesaltes gebracht,
wo die Zustände ebenso schlimm waren. Einziger Lichtblick waren die Baracken der SAK, die 1942 vom<br />
SRK übernommen wurden. Die Krankenschwestern Elsbeth Kasser, Friedel Bohny-Reiter schufen dort<br />
Inseln der Normalität im Meer des Grauens. Unter anderem dank Spenden aus der Schweiz.<br />
Als im Herbst 1942 die Deportation in die Konzentrationslager in Osteuropa drohte, gelang es Friedel<br />
Bohny-Reiter im letzten Moment, die Mutter und die Töchter Schwarzschild zu retten. Dabei verstiess sie<br />
gegen die SRK-Richtlinien, die Neutralität verlangten. Die Spur des Vaters verliert sich 1943 in<br />
Auschwitz. Nach dem Krieg zog Margot Wicki-Schwarzschild mit ihren Töchtern nach Deutschland<br />
zurück. Sie liess sich zur Dolmetscherin ausbilden und heiratete einen Schweizer. Heute lebt sie in der<br />
Nähe von Basel.<br />
Margot Wicki-Schwarzschild strich in ihrem Vortrag hervor, dass sie der Schweiz äusserst dankbar sei;<br />
und betonte, dass sie sehr froh über die Ausstellung in Basel sei, welche die humanitäre Seite der<br />
Schweiz zeigt. Dies, nachdem Jahre lang nur die Schuld der offiziellen Schweiz ein Thema gewesen sei.<br />
Abschliessend führte Margot Wicki-Schwarzschild aus, dass Veranstaltungen gegen das Vergessen<br />
wichtig seien; dass es aber ebenso nötig sei, eine Brücke zu schlagen zur heutigen Leidensgeschichte<br />
von Millionen von Menschen auf dieser Welt. Ihr Anliegen: «Hinschauen statt wegschauen».<br />
Des Retters Sicht<br />
Schweizer Zivildienst-Leistende im Dienst der SAK retteten von 1941 bis 1944 das Leben vieler Kinder.<br />
So auch der Lehrer August Bohny. Inmitten der nationalistischen Kriegswirren fanden Friedel Reiter und<br />
August Bohny unter dem Dach der SAK zusammen und begannen, ihr gemeinsames Leben aufzubauen.<br />
Obwohl Bohny in seiner Jugend den Militärdienst in der Schweiz absolvierte, wollte er etwas anderes tun,<br />
<strong>als</strong> das Land mit Waffen zu verteidigen. Er suchte nach einem grösseren Sinn. 1941 erhielt er eine<br />
Genehmigung zu einem Auslandsaufenthalt.<br />
Nach mehreren Stationen in Frankreich fand Bohny schliesslich nach Le Chambon-sûr-Lignon, wo er drei<br />
Kinderheimen, einer Werkstatt und einer Landwirtschaftsschule vorstand. Dies bis 1944. 800 bis 1000<br />
Kinder konnten in dieser Zeit von diesen Einrichtungen profitieren. Darunter befanden sich etwa 180<br />
jüdische, spanische, aber auch französische „Sozialfälle“. «Die Razzien machten uns oft sehr besorgt»,<br />
erzählte Bohny, «eines Tages wollte die französische Vichy-Polizei 72 Flüchtlinge abholen, zur<br />
Überprüfung der Papiere, wie sie sagten. Da gelang es mir durch puren Bluff, etwas Zeit<br />
herauszuschinden. Die Kinder konnten wir inzwischen auf nahe liegenden Bauernhöfen verstecken.»<br />
[red/ps/hk]<br />
Kasten<br />
Schweizerinnen halfen in Südfrankreich<br />
An der Universität Basel setzten sich vom Oktober bis Dezember 2003 eine Vortragsreihe und<br />
Ausstellung «Humanitäre Schweiz von 1933-45» mit der humanitären Schweiz während des Zweiten<br />
Weltkrieges auseinander. Die Flüchtlingshilfe während der Vorkriegs- und Kriegszeit gehört zu den noch<br />
immer heiss diskutierten Themen. Die Rolle der schweizerischen Hilfswerke und der Einsatz ihrer<br />
freiwilligen Mitarbeiter zwischen 1933 und 1945 sei bisher noch nicht ausdiskutiert worden, meinte<br />
Projektleiterin Helena Kanyar-Becker.<br />
In der Basler Ausstellung wurden Dokumente über Internierungslager, Kinder- und Mütterheime in<br />
Südfrankreich (1940 bis 1944) dargestellt. In den berüchtigten Lagern Gurs, Rivesaltes, Récébédou,<br />
Vernet bewahrten die Krankenschwestern Friedel Bohny-Reiter, Elsbeth Kaser, Elsa Ruth und andere<br />
Kinder und Erwachsene vor dem Hungertod, kleideten sie, unterstützten sie moralisch und pflegten die<br />
Kranken. Sie retteten zahlreiche Juden vor den Transporten in die Konzentrationslager der Nazis. In den<br />
Heimen überlebten Hunderte von spanischen, jüdischen, aber auch französischen Kindern den Krieg.