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Mai 2006 · Nummer 22 Aufbruchstimmung »Leipzig ist anders«

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H 1 Glückliche Gewinner: Ilija Trojanow, Ragni Maria Geschwend und Franz Schuh, frisch gekürte Träger des Preises der Leipziger Buchmesse H 2 Fantastisches Vergnügen:<br />

Junge Messebesucher in den Kostümen ihrer Comic-Helden H 3 Stars zum Anfassen: US-Kult-Autor Bret Easton Ellis auf dem Blauen Sofa<br />

H1 Entertainer im Bann der Buchstaben: Schauspiel-Star Heiner Lauterbach und Pop-Barde Heinz Rudolf Kunze H2 Kreativität entdecken: Die Schule der Phantasie<br />

unterm Dach der Glashalle H3 Die Stadt als Bühne: Leipzig las fast überall – auch im Ausstellungszentrum des Kroch-Hochhauses<br />

H1 Brückenbauer: Juri Andruchowytsch, Träger des Leipziger Buchpreises zur europäischen Verständigung, eröffnet das Café Europa H2 Publikumsliebling: Die israelische<br />

Autorin Zeruya Shalev erobert die Herzen der Leipziger im Sturm H3 Russen-Disko: Wladimir und Olga Kaminer lassen es in der Moritzbastei krachen<br />

Die Leipziger Leichtigkeit<br />

Die junge deutschsprachige Literatur präsentierte sich<br />

auf der Leipziger Buchmesse so vital wie lange nicht,<br />

eine nach mageren Jahren Morgenluft witternde Branche<br />

zeigte sich gut aufgelegt. Beste Voraussetzungen<br />

für ein ausgelassenes, viertägiges Fest der Bücher.<br />

Café Europa: Schneeregen im März, der Winter hatte Leipzig<br />

im Griff. Dass dennoch eine der schönsten Buchmesse-Eröffnungen<br />

seit langen zu erleben war, festlich, poetisch und politisch zugleich,<br />

war Ingo Schulze und Juri Andruchowytsch zu danken. Schulze war<br />

der ideale Laudator für seinen Freund, der mit dem <strong>»Leipzig</strong>er Buchpreis<br />

zur Europäischen Verständigung« ausgezeichnet wurde. Schulzes<br />

imaginierte Reise in die Heimat seines Compagnons und Andruchowytschs<br />

als Dankrede verkleidete Philippika wider die EU-<br />

Abschottungspolitik hoben den Abend weit über die üblichen<br />

Eröffnungs-Rituale. Standing ovations im Gewandhaus. Andruchowytsch,<br />

der in den kommenden Tagen von Podium zu Podium eilte,<br />

im Halbstundentakt Interviews gab und nebenbei noch eine Anthologie<br />

mit ukrainischer Lyrik unter dem schönen Titel »Vorwärts, ihr<br />

Kampfschildkröten!« vorstellte, war einer der Stars der Messe. Dass<br />

seine Autoren-Kollegen aus dem Ländern Mittel- und Osteuropas,<br />

darunter mit Bora Cosic, Dzevad Karahasan und Slawenka Drakulic<br />

gleich drei frühere Pre<strong>ist</strong>räger, diesmal so zahlreich wie selten in<br />

Leipzig Flagge zeigten, <strong>ist</strong> auch Ergebnis der kontinuierlichen Netzwerkarbeit<br />

der Messe: Der ge<strong>ist</strong>ige Ost-West-Transfer gibt ihr Kontur<br />

und intellektuelle Strahlkraft. Ob im »Café Europa«, traditionell<br />

Bühne für das Autorenspecial der Messe, oder dem »Forum kleine<br />

Sprachen, große Literaturen«: Vielstimmigkeit war Programm. Immer<br />

konturenreicher treten die ehemals hinterm eisernen Vorhang vergessenen<br />

Länder mit ihren Eigenheiten ins Bewußtsein. Der Blick nach<br />

Osten: Vielleicht war er noch nie so spannend wie heute. Der Messe<br />

bescherte er einige der interessantesten, überraschendsten Momente.<br />

Hoffnungszeichen: 126 000 Besucher kamen nach Leipzig,<br />

17 Prozent mehr als im letzten Jahr. Ein neuer Rekord. Am Messesamstag<br />

wurden die Hallen regelrecht gestürmt: Mehr als 50 000<br />

Besucher, schoben sich durch die Drehkreuze. Doch wichtiger als<br />

Rekordzahlen sind die Signale, die von Leipzig ausgehen: Hier<br />

brummt nicht nur die Eventmaschine rund um’s Buch – Inhalte und<br />

Entdeckungen, die Begegnung mit Autorinnen und Autoren sind<br />

nach wie vor wichtiger als schrille Inszenierungen.<br />

»Am Anfang war das Wort, nicht die Zahl« – das wußte schon der<br />

Vollblutverleger Kurt Wolff. Einmal mehr hat sich bewiesen, dass<br />

von Büchern eine ungebrochene Faszination ausgeht. Die Messebuchhändler,<br />

erstmals mit Filialen in allen vier Hallen vertreten, freuten<br />

sich abermals über gestiegene Umsätze. Das hübsche Trio der Tagesbestseller<br />

am Sonntag: Heiner Lauterbach, Daniel Kehlmann und die<br />

Erinnerungen des in Ehren ergrauten Pink-Floyd-Drummers Nick<br />

Mason. Trotz kalter Temperaturen und Schneeregen also Frühlingsgefühle<br />

und gute Stimmung rund um die Glashalle. Die in den letzten<br />

Jahren arg gebeutelte Branche zeigte sich im ohnehin stets entspannten<br />

Leipzig gut aufgelegt, ja fröhlich. Auf einem Markt, der wie<br />

kein zweiter von Stimmungen, Prognosen, der selffulfilling prophety<br />

seiner »Pferdeflüsterer« lebt, ein Mut machendes Zeichen.<br />

Bücher im Rampenlicht: Autoren, Verleger, Großkritiker –<br />

keiner wollte fehlen, als am Messedonnerstag unter der weitgespannten<br />

Kuppel der Glashalle zum zweiten Mal der »Preis der Leipziger<br />

Buchmesse« vergeben wurde. Ein Preis, der sich nicht mehr<br />

rechtfertigen muß und bereits jetzt zu den wichtigsten in Deutschland<br />

zählt. Spannend blieb es bis zuletzt: Mit der Wahl von Ilija Trojanows<br />

so opulenten wie klugen Abenteuerroman »Der Weltensammler«,<br />

Franz Schuhs Essayband »Schwere Vorwürfe, schmutzige<br />

Wäsche« und Ragni Maria Gschwends kongenialer Übersetzung von<br />

Antonio Morescos Roman »Aufbrüche« war die Jury unter ihrem<br />

Vorsitzenden Martin Lüdke dem Motto von Karl Kraus gefolgt: »In<br />

zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige.« Nicht<br />

nur die fünf Nominierten der Belletr<strong>ist</strong>ik-Sparte des Preises vermitteln<br />

einen lebhaften Eindruck von der Formenvielfalt und Themen-<br />

Bandbreite der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur in diesem<br />

Frühjahr. Mit Autoren wie Ilija Trojanow oder Feridun Zaimoglu hat<br />

sie ihre Fenster zur Welt weit geöffnet – und bege<strong>ist</strong>ert Kritik, Buchhandel<br />

und Lesepublikum in seltener Eintracht.<br />

Stars von morgen: Im vorab als Geheimtipp gehandelten,<br />

beim »Preis der Leipziger Buchmesse« leer ausgegangenen Leipziger<br />

Lokalmatador Clemens Meyer schlägt das Herz eines Boxers. Der<br />

womöglich einzige nahezu ganzkörpertätowierte Schriftsteller<br />

Deutschlands nahm die Niederlage sportlich. Seine überfüllten Auftritte<br />

bei der Langen Leipziger Lesenacht (L3) und anderntags im<br />

»Laden für Nichts« sind schon jetzt Messe-Legende. Ähnlich wie die<br />

Lesenacht in der Moritzbastei selbst: Gleich 40 junge und ganz junge<br />

Autoren – von DLL-Absolventen wie Kr<strong>ist</strong>of Magnusson und Juli Zeh<br />

bis zu Katharina Hacker oder Bachmann-Pre<strong>ist</strong>räger Jan Peter Bremer<br />

– präsentierten sich einem bege<strong>ist</strong>erten Publikum. Viele von denen,<br />

die den Lesungen in der »MB«, in Clubs mit so seltsamen Namen<br />

wie »Cortex«, »Weezie«, »Nato«, »Freitagsbar« oder »Horns Erben«<br />

gebannt folgten, oft dichtgedrängt stehend wie bei einem Rockkonzert,<br />

und anschließend in den Morgen tanzten, sind keine passionierten<br />

Buchkäufer. Noch nicht? Während in den Feuilletons über<br />

richtiges Leben und Lesen debattiert wird, lassen die Leipziger Nächte<br />

die Grenzen zwischen beidem vergessen.<br />

Mekka für Independents: Seit die Kurt-Wolff-Stiftung ihren<br />

deutschlandweit einzigartigen Verlegerpreis in die Welt brachte,<br />

muss Katharina Wagenbach-Wolff eine Art Pre<strong>ist</strong>rägerin der Herzen<br />

gewesen sein. Nun, im sechsten Jahr, war es wirklich soweit. Ihre<br />

Friedenauer Presse, der, wie Laudator Michael Krüger meinte,<br />

eigentlich ein »Nobelpreis für Buchkultur« gebühre, erhielt den Kurt-<br />

Wolff-Preis <strong>2006</strong>. In der landläufigen Branchenrhetorik nennt man<br />

kleine Häuser wie die Friedenauer Presse oder die mit dem Anerkennungspreis<br />

ausgezeichneten Kookbooks der Daniela Seel<br />

»Nischenverlage«. Katharina Wagenbach-Wolff erscheint die architektonische<br />

Bedeutung des Wortes »Nische« wesentlich passender:<br />

»Eine kleine Erweiterung des Raumes.« Das nahmen die Davids der<br />

Branche in Leipzig wörtlich – sie sind es, die der Messe Zuwächse<br />

bei der Zahl der Einzelaussteller bescherten. Mit 774 stieg sie um<br />

satte 10 Prozent – so viel wie in 16 Nachwende-Messejahren nicht.<br />

Die Leseinsel junger Verlage, um die sich erstmals 11 Independentverlage<br />

gemeinsam präsentierten, war an allen vier Messetagen<br />

dicht umlagert, die geführten Rundgängen über die kleine Agora<br />

hoffnungslos ausgebucht. Inzwischen denken die beteiligten Verlage<br />

darüber nach, ob man thematische Führungen, die für Buchhändler,<br />

Journal<strong>ist</strong>en und interessiertes Publikum Schneisen ins Messedickicht<br />

schlagen, nicht gezielt ausbauen sollte.<br />

Junges Standbein: Kein Zweifel, Themen wie Bildung, Integration<br />

oder Leseförderung stehen zur Zeit weit oben auf der gesellschaftspolitischen<br />

Agenda. Früh hat Leipzig das Segment »Kinder –<br />

Jugend – Bildung« als Kernthema der Messe aufs Schild gehoben<br />

und konsequent ausgebaut. Ein Viertel der gesamten Messefläche<br />

gehörte in diesem Jahr den Buchkäufern von morgen. Wie sowohl<br />

Kinder- und Jugendbuchverlage als auch Bildungsanbieter auf Tuchfühlung<br />

mit der heiß umworbenen jungen Zielgruppe gehen können,<br />

wie »Bildung« und »Buch« intelligent zu verknüpfen sind, war in

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