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TEODORA DIMOVA Bulgarien Geboren 1960 in Sofia ... - Traduki

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<strong>TEODORA</strong> <strong>DIMOVA</strong><br />

<strong>Bulgarien</strong><br />

© Simone Versano<br />

<strong>Geboren</strong> <strong>1960</strong> <strong>in</strong> <strong>Sofia</strong>, <strong>Bulgarien</strong>, nach ihrem Studium der Anglistik an der Universität<br />

<strong>Sofia</strong> g<strong>in</strong>g Teodora Dimova nach London, wo sie e<strong>in</strong> Aufbaustudium im Bereich Dramaturgie<br />

am Royal Court Theatre absolvierte. Sie lebt und arbeitet als Dramatiker<strong>in</strong>, Romanautor<strong>in</strong><br />

und Journalist<strong>in</strong> (Redakteur<strong>in</strong> beim Programm „Christo Botev“ des Bulgarischen<br />

Nationalradios) <strong>in</strong> <strong>Sofia</strong>.<br />

Teodora Dimova ist Autor<strong>in</strong> von mehr als e<strong>in</strong>em Dutzend Theaterstücken (auf Deutsch<br />

liegen vor: „E<strong>in</strong>e Hälfte“, „Schlangenmilch“, „Neda und die Hunde“), die auf Bühnen <strong>in</strong>und<br />

außerhalb <strong>Bulgarien</strong>s erfolgreich gespielt werden, sowie dreier Romane: „Em<strong>in</strong>e“<br />

2003, „Die Mütter“ 2005 (übersetzt <strong>in</strong>s Deutsche, Französische, Slowenische und Polnische,<br />

die Veröffentlichung <strong>in</strong> Ungarn, Italien und Tschechien steht unmittelbar bevor)<br />

sowie „Adriana“ 2007 (übersetzt <strong>in</strong>s Französische und Tschechische).<br />

Neben e<strong>in</strong>er Vielzahl nationaler Preise (wie z.B. dem Literaturpreis der Stadt <strong>Sofia</strong>, dem<br />

„Sirak Skitnik“-Preis des Bulgarischen Nationalradios, dem „Razvitie“-Literaturpreis oder<br />

dem Preis des Bulgarischen Schriftstellerverbandes) erhielt Teodora Dimova 2006 für<br />

ihren Roman „Die Mütter“ auch den Großen Preis für osteuropäische Literatur.<br />

Teodora Dimova Seite 1


Begleittext zu Teodora Dimovas Roman „Adriana“<br />

H<strong>in</strong>ter Teodora Dimovas neuem Roman steht e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressante Geschichte, deren Kenntnis<br />

zwar nicht zum Verständnis des Buches notwendig ist, die aber trotzdem vieles erklärt:<br />

Als ihr Vater, der hoch angesehene bulgarische Schriftsteller Dimităr Dimov, im Jahre<br />

1966 stirbt, ist die Autor<strong>in</strong> fünf Jahre alt. Im Archiv des Autors wird e<strong>in</strong> unvollendeter<br />

Roman entdeckt, der unter dem Titel „Roman ohne Titel“ zum ersten Mal 1967 <strong>in</strong> der<br />

Gesamtausgabe se<strong>in</strong>er Werke veröffentlicht wird. Teodora Dimova sagt über dieses Buch:<br />

„Wahrsche<strong>in</strong>lich ist dies der Roman me<strong>in</strong>es Vaters, der mich über die Jahre h<strong>in</strong>weg am<br />

meisten beschäftigt hat“. 2007 wird Dimovs Roman neu aufgelegt, und gleichzeitig ersche<strong>in</strong>t<br />

auch „Adriana“, e<strong>in</strong>e Art Fortsetzung dieses unvollendeten Werks. Teodora Dimovas<br />

Buch ist nichts anderes als e<strong>in</strong>e Liebeserklärung der Tochter an den Vater, der bulgarische<br />

Kritiker Mar<strong>in</strong> Budakov spricht sogar von e<strong>in</strong>er „l<strong>in</strong>guistischen Trance der Trauer,<br />

Vergebung und Liebe“.<br />

Hauptfigur im Roman ihres Vaters ist eben jene Adriana, e<strong>in</strong> junges Mädchen, Tochter<br />

e<strong>in</strong>es reichen bulgarischen Fabrikanten, <strong>in</strong>telligent, sensibel und schön, welches vom Luxusleben<br />

korrumpiert zu werden droht. Doch dann verliebt sich Adriana (zum ersten Mal<br />

überhaupt) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en schönen, aber armen und bereits verlobten jungen Mann. An dieser<br />

Stelle bricht Dimovs Roman ab. Und an dieser Stelle beg<strong>in</strong>nt gewissermaßen Teodora<br />

Dimovas Roman: Adriana ist mittlerweile dreiundneunzig Jahre alt, siebzig Jahre s<strong>in</strong>d<br />

vergangen, sie hat e<strong>in</strong> ganzes Leben gelebt und ist zu e<strong>in</strong>er weisen, geläuterten alten<br />

Frau geworden, von der immer noch e<strong>in</strong>e große Fasz<strong>in</strong>ation ausgeht. Mit der Adriana aus<br />

Dimităr Dimovs Roman hat sie nur e<strong>in</strong> kurzes Stück Vergangenheit und den Namen geme<strong>in</strong>sam.<br />

Teodora Dimova lässt das Leben Adrianas von e<strong>in</strong>er jungen Frau namens Jura<br />

erzählen, die e<strong>in</strong>es Abends unangekündigt im Atelier ihres Cous<strong>in</strong>s Teodor, e<strong>in</strong>em erfolgreichen<br />

Schriftsteller, auftaucht. Jura hat e<strong>in</strong>e Stelle als persönliche Assistent<strong>in</strong> bei Adriana<br />

angetreten und ist <strong>in</strong> den Bann der alten Frau geraten. Teodor, der se<strong>in</strong>er Cous<strong>in</strong>e<br />

be<strong>in</strong>ahe hörig ist, gerät mehr oder m<strong>in</strong>der unfreiwillig <strong>in</strong> die Rolle des Zuhörers.<br />

Teodora Dimovas Stil ist bereits aus dem mit dem Großen Preis für osteuropäische Literatur<br />

2006 ausgezeichneten Roman „Die Mütter“ bekannt. Ihre spezifische Erzähltechnik,<br />

die verschiedene Elemente des <strong>in</strong>neren Monologs, des Stream of consciousness und auch<br />

des Dramas aufgreift, erzeugt e<strong>in</strong>e Sogwirkung; man hat das Gefühl immer tiefer <strong>in</strong> die<br />

komplexen Beziehungsgeflechte zwischen den im Roman auftretenden Personen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gezogen<br />

zu werden, die e<strong>in</strong>en bis zum Schluss des Buches nicht mehr loslassen.<br />

Teodora Dimova Seite 2


Teodora Dimova: Adriana (Romanauszug S. 7-30 von 167)<br />

E<strong>in</strong>es Tages kam Jura – me<strong>in</strong>e wundervolle Cous<strong>in</strong>e ersten Grades, die alle Verwandten<br />

bewe<strong>in</strong>ten, weil ihre Mutter so früh verstorben war, doch ihr Vater heiratete schon sehr<br />

bald darauf e<strong>in</strong>e Witwe aus Nordwestbulgarien, und wie <strong>in</strong> den allerbeklemmendsten<br />

Märchen über Stiefmütter hörte auch er vollständig auf, sich um se<strong>in</strong>e erstgeborene<br />

Tochter zu kümmern, er hörte gänzlich auf, ihr Beachtung zu schenken, natürlich angestachelt<br />

von der Witwe aus Nordwestbulgarien, die es nach zwei Jahren des Zischen und<br />

Giftversprühens geschafft hatte, Jura zu ihrer Großmutter zu vertreiben, wonach sie erbitterte<br />

Versuche unternahm, mit e<strong>in</strong>em eigenen K<strong>in</strong>d schwanger zu werden – sie suchte<br />

allerlei Heilpraktiker, Quacksalber, Wahrsager<strong>in</strong>nen, Frauen, die Krankheiten besprechen,<br />

übers<strong>in</strong>nlich Begabte, Türk<strong>in</strong>nen und Hodschas auf, sie trank Sude, führte alle möglichen<br />

ekelerregenden Rituale durch, wie beispielsweise um Mitternacht durchs Viertel zu gehen<br />

und <strong>in</strong> den Mietshäusern Asche e<strong>in</strong>er alten Feuerstätte zu verstreuen oder e<strong>in</strong>ige Stunden<br />

vor Sonnenaufgang über e<strong>in</strong>em Topf kochenden Krauts zu hocken, damit ihre Gebärmutter<br />

dessen heilkräftige Ausdünstungen aufnahm, und trotzdem gelang es ihr nicht, e<strong>in</strong><br />

K<strong>in</strong>d zu gebären, welches die schöne Jura <strong>in</strong> den Schatten stellen würde, welches das tief<br />

verborgene Schuldgefühl ihres Vaters se<strong>in</strong>er schönen und e<strong>in</strong>zigen Tochter gegenüber<br />

mildern würde – und so, an e<strong>in</strong>em frühen Sonntagabend Mitte August, <strong>in</strong> der wie von der<br />

Pest entvölkerten Stadt, <strong>in</strong> der Leere der elenden Hitze des Sommers, von der gleichzeitig<br />

das Gehirn, das Blut und die Knochen der wenigen <strong>in</strong> der Stadt verbliebenen Sofioter<br />

erweicht wurden, an e<strong>in</strong>em solchen frühen Sommerabend, <strong>in</strong>mitten des Geruchs von<br />

Staub, Asphalt und leeren Straßen, <strong>in</strong>mitten der erhitzten Ste<strong>in</strong>e, die schlaflose Nächte<br />

vorausahnen ließen, ohne vorher auf dem Mobiltelefon anzurufen, ohne mich vorzuwarnen,<br />

dass sie vorbeikommen würde, ohne sich für ihr alarmierendes und unaufhörliches<br />

Kl<strong>in</strong>geln an der Gegensprechanlage zu entschuldigen, später stellte sich heraus, dass sie<br />

sich e<strong>in</strong>fach mit der Hand am Kl<strong>in</strong>gelbrett abgestützt hatte und ihr überhaupt nicht bewusst<br />

gewesen war, dass sie so alarmierend und unaufhörlich kl<strong>in</strong>gelte, ohne so freundlich<br />

zu se<strong>in</strong>, sich darüber zu <strong>in</strong>formieren, ob ich nicht vielleicht zu arbeiten hatte, ob ich<br />

nicht schrieb, ob ich nicht an e<strong>in</strong>em Artikel saß, den ich <strong>in</strong>nerhalb von zwei Stunden würde<br />

abgeben müssen, ob ich nicht e<strong>in</strong>e Verabredung hatte, ob ich nicht ausgehen wollte,<br />

ob ich nicht jemanden erwartete, ob mich nicht irgendwo jemand erwartete, ob ich nicht<br />

überhaupt andere Pläne hatte – an so e<strong>in</strong>em frühen Sommerabend kam Jura <strong>in</strong> me<strong>in</strong> Atelier<br />

gestürzt, ohne nach all diesen D<strong>in</strong>gen zu fragen, und ließ sich im bequemsten und<br />

eigentlich auch e<strong>in</strong>zigen vorhandenen Sessel nieder. Ja, Jura fragte mich überhaupt<br />

nicht, ob ich andere Pläne für den Abend und eventuell die Nacht hatte. Es kam ihr noch<br />

nicht e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> den S<strong>in</strong>n, mich zu fragen, ob ich andere Pläne für den Abend und eventuell<br />

die Nacht hatte außer mir ihren Monolog anzuhören, der <strong>in</strong> diesem Moment für den<br />

Rest me<strong>in</strong>es Leben über mich here<strong>in</strong>brechen würde. Ne<strong>in</strong>. Ne<strong>in</strong>, ich war ihr Eigentum,<br />

über das sie verfügen konnte, wann immer sie wollte und wie immer sie wollte, <strong>in</strong> Wahrheit<br />

war ich ihr Cous<strong>in</strong>, viel mehr aber e<strong>in</strong> Freund oder genauer e<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e Vertraute,<br />

der sie alles beichten konnte, e<strong>in</strong>e Schwester, ihr Freund von K<strong>in</strong>desbe<strong>in</strong>en an,<br />

seit ich denken kann, eigentlich bist du, seit ich denken kann, bei mir, Teodor, ich habe<br />

ke<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerung an mich selbst, ohne e<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerung an dich zu haben, Teodor, sagte<br />

Jura e<strong>in</strong>mal zu mir, und <strong>in</strong> diesem Augenblick wurde ich zu ihrem Krieger, ihrem Beschützer<br />

bis ans Ende der Welt. Mit ihrer animalischen Intuition erkannte sie sofort, dass<br />

sie damit unfreiwillig den entscheidenden Zug getan hatte, ich unterwarf mich ihr gerade<br />

so wie e<strong>in</strong>e irregeführte Mücke, die <strong>in</strong> ihre wasserfallartigen Haare geriet (von ihnen wird<br />

später noch die Rede se<strong>in</strong>, ich kann nicht alles gleichzeitig erzählen, nicht alles auf e<strong>in</strong>mal!),<br />

denn auch für die Mücke gab es ke<strong>in</strong> Zurück, ne<strong>in</strong>, das gab es wirklich nicht. Ich<br />

war neun Jahre älter als Jura, ich hatte bereits me<strong>in</strong> Studium abgeschlossen und me<strong>in</strong>en<br />

ersten Roman veröffentlicht, der, es schmeichelt mir, das zu sagen, sowohl von den Lesern<br />

als auch von den Kritikern sehr positiv aufgenommen wurde, der zu e<strong>in</strong>em literarischen<br />

Ereignis erklärt wurde, er verkaufte sich unerwartet gut, und unerwartet oft wurde<br />

er neu aufgelegt, was wiederum me<strong>in</strong> f<strong>in</strong>anzielles, aber nicht nur me<strong>in</strong> f<strong>in</strong>anzielles<br />

Selbstbewusstse<strong>in</strong> steigerte. Ich arbeitete als Journalist bei e<strong>in</strong>er angesehenen Zeitschrift,<br />

ich hatte e<strong>in</strong>en Bekanntenkreis, ich hatte e<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong>, ich hatte e<strong>in</strong> Atelier<br />

Teodora Dimova Seite 3


(dasselbe, <strong>in</strong> welches Jura an jenem frühen Abend im August gestürzt kam und das wieder<br />

zu verlassen sie irgendwie für lange Zeit vergaß, natürlich nicht im wortwörtlichen<br />

S<strong>in</strong>n!). Jura war sechs Jahre alt und ich fünfzehn, als sie den denkwürdigen Satz aussprach,<br />

dass sie sich nicht an ihr Leben ohne mich er<strong>in</strong>nern könne, und dann führte sie<br />

e<strong>in</strong> Ritual zwischen sich und mir durch, sie erhob mich, den Fünfzehnjährigen, <strong>in</strong> den<br />

Ritterstand und verpflichtete mich, ihr entsprechend der im jeweiligen Alter auftretenden<br />

verschiedenen Notwendigkeiten zu dienen – mit dem Auto und Sonnenbrille nach der<br />

Schule auf sie zu warten, aber so, dass alle sie sehen konnten und, noch wichtiger, sich<br />

dachten, ich sei e<strong>in</strong> Mafiaboss und sie e<strong>in</strong>e Undercoveragent<strong>in</strong>, die die geheimen Codes<br />

entschlüsseln und die Verbrecher auffliegen lassen würde, all diese Flausen hatte sie ihren<br />

Mitschülern <strong>in</strong> den Kopf gesetzt. Später im Gymnasium trat ich <strong>in</strong> der Rolle ihres<br />

Freundes auf, <strong>in</strong> den sich alle verlieben mussten und um den sie sie beneiden und den sie<br />

unbed<strong>in</strong>gt kennenlernen wollen sollten, und ich sollte natürlich extrem reserviert se<strong>in</strong> und<br />

sie nicht e<strong>in</strong>mal ansehen, sie nicht e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zigen Blickes würdigen, wenn sie <strong>in</strong> Trauben<br />

an mir vorbeig<strong>in</strong>gen und künstlich über ihre Schüler<strong>in</strong>nenscherze kicherten. Zu diesem<br />

Zweck musste ich mir e<strong>in</strong>en Bart wachsen lassen, was ich hasse, das Haar lang tragen,<br />

möglichst zu e<strong>in</strong>em Pferdeschwanz gebunden, und ausschließlich Jeanshemden tragen –<br />

genau dies war im Gymnasium Juras Idealvorstellung von e<strong>in</strong>em Freund – Typ Levi’s<br />

Jeansreklame. Ich versuchte, ihr zu erklären, dass so etwas nicht mehr modern war,<br />

dass ich ke<strong>in</strong>erlei E<strong>in</strong>druck bei ihren Mitschüler<strong>in</strong>nen h<strong>in</strong>terlassen würde, dass sich nicht<br />

nur niemand <strong>in</strong> mich verlieben, sondern dass mich auch niemand wahrnehmen würde,<br />

dass dieses Outfit schon vollkommen aus der Mode war, doch sie beharrte solange darauf,<br />

bis sie sich – zu ihrer Enttäuschung – selbst von me<strong>in</strong>en Worten überzeugte. Dann<br />

musste ich sie auf ihren Abiturball begleiten, obwohl sie genau wusste, dass ich Abiturbälle<br />

hasse, dass ich die Abiturienten selbst hasse, ihre Geschmacklosigkeit, ihre unvorstellbare<br />

Schwülstigkeit, ihr dummes Selbstbewusstse<strong>in</strong>, ihr noch dümmeres Gehupe auf<br />

den Straßen, ihre Autokorsos, ihr Geschrei geht mir auf die Nerven, wie auch ihre hässlichen<br />

Kleider, ihre schrecklichen Frisuren, ihre Locken, ihre funkelnden Ohrr<strong>in</strong>ge, ihre gezupften<br />

Augenbrauen, ihre Lackschuhe, ihre hohen Absätze, <strong>in</strong> denen sie über ihre eigenen,<br />

soeben enthaarten Be<strong>in</strong>e stolpern, mit denen sie überhaupt nicht gehen können,<br />

das geht mir ebenfalls auf die Nerven, diese ganze uns<strong>in</strong>nige feierliche Stimmung, dieser<br />

ganze Turbo-Folk, dieser Kitsch, der jedes Jahr Ende Mai durch das Land zu wirbeln beg<strong>in</strong>nt,<br />

der alle Eltern und alle Zwölftklässler quer durch alle Gymnasien <strong>Bulgarien</strong>s erfasst,<br />

geht mich auf die Nerven, dieses steife Pfauengehabe, diese papageienhafte Buntheit<br />

und Schrillheit zermürben mich, und das ausgerechnet Ende Mai, ausgerechnet Ende<br />

Mai, wenn der Flieder blüht (davor s<strong>in</strong>d es die Magnolien!), er blüht ganz plötzlich auf,<br />

und um se<strong>in</strong> Aufblühen nicht zu verpassen, muss man ihn aufmerksam beobachten, man<br />

darf sich nicht ablenken lassen, darf nicht von diesen aus Limous<strong>in</strong>en bestehenden<br />

Schleppen auf den Straßen des Landes abgelenkt werden, diesen Schleppen von glänzenden<br />

Autos und Jeeps, die wie von Elstern gestohlene Glasperlen über die Straßen des<br />

Landes rollen, aus deren Fenstern sich dicht gedrängt irgendwelche Wesen lehnen, die<br />

kichern und das Geld ihrer Eltern zum Fenster h<strong>in</strong>auswerfen, welches die Eltern selbst<br />

über Jahre h<strong>in</strong>weg werden sparen und bei den Banken abbezahlen müssen, die Eltern<br />

selbst werden im Laufe von Jahren auf viele D<strong>in</strong>ge verzichten, nur um das Geld zu sparen<br />

und es den Banken zurückzuzahlen, und dann die Fotos, die Tränen, die Blumen, die<br />

Umarmungen, der Whisky der Eltern, diese an e<strong>in</strong>e Telenovela gemahnende Sentimentalität,<br />

dieser Stolz sowohl bei den Eltern als auch bei den Abiturienten – widerlich, echt<br />

widerlich, ganz abgesehen davon, dass me<strong>in</strong> eigener Abiturball <strong>in</strong> amouröser, alkoholischer<br />

und f<strong>in</strong>anzieller H<strong>in</strong>sicht absolut katastrophal war, aber daran will ich mich erst gar<br />

nicht er<strong>in</strong>nern. Ich stand Schmiere, während Jura und ihre Freunde nachts Graffiti sprühten;<br />

ich fuhr mit ihnen zum E<strong>in</strong>kaufen nach Ilienci, <strong>in</strong>s Viertel Družba, um neue Sprühdosen<br />

zu besorgen, zu Fabriken, die Exportartikel für Italien herstellten und wo sie sich mit<br />

verbilligter Kleidung e<strong>in</strong>deckten, zu den <strong>in</strong> der Nähe von <strong>Sofia</strong> gelegenen Dörfern, wo die<br />

Villen von Juras Freunde gelegen waren, ich fuhr sie dorth<strong>in</strong> oder holte sie von dort ab,<br />

ich hatte den Status ihres Privatchauffeurs und beklagte mich nicht, ich war stolz; e<strong>in</strong>es<br />

Nachts g<strong>in</strong>gen wir sogar auf den Friedhof, aber es erwies sich als nicht romantisch und<br />

abenteuerlich genug, und so waren wir gezwungen, <strong>in</strong> der nahe beim Friedhof gelegenen<br />

Teodora Dimova Seite 4


Kneipe Schnaps zu tr<strong>in</strong>ken und uns <strong>in</strong> die sich vor unseren Augen abspielende Tragödie<br />

zu verlieben, die der Kneipenwirt und se<strong>in</strong>e Geliebte mit dem allergrößten Vergnügen<br />

aufführten, ohne Anstalten zu machen, damit aufzuhören, e<strong>in</strong> dilettantisches und vorhersagbares<br />

Drama, während der von ihnen adoptierte fünfjährige kle<strong>in</strong>e Junge auf zwei<br />

gegenüber von e<strong>in</strong>ander aufgestellten Sesseln schlief, schrie, redete und we<strong>in</strong>te, und sie<br />

beruhigten und umarmten ihn, heulten dabei Rotz und Wasser, und er wand sich, wollte<br />

aufwachen, fortlaufen, raus aus dem Zigarettenrauch, raus aus dem Alkoholdunst, wahrsche<strong>in</strong>lich<br />

wollte er dorth<strong>in</strong> zurück, <strong>in</strong>s kristallene, eisige Sibirien, von wo er geholt worden<br />

war, und warum Sibirien, wirklich, warum Sibirien und wozu hatten sie ihn adoptiert,<br />

fragte ich drohend, und sie begannen erneut und immer wieder mit dem gleichen Uns<strong>in</strong>n,<br />

die immer gleichen Klischees, die sie offenbar berauschten, und Jura betrachtete sie verzückt,<br />

stellte Fragen, nickte, lächelte, wollte zum Ausdruck br<strong>in</strong>gen, wie absolut und ganz<br />

und gar sie <strong>in</strong> dieser Geschichte dr<strong>in</strong> war, ihrer Geschichte, wie unglaublich und erhaben<br />

sie sei, und ihre Blicke versuchten hartnäckig, mich davon zu überzeugen, dass e<strong>in</strong><br />

Schriftsteller an genau solche Orte gehen müsse, mit genau solchen Geschichten konfrontiert<br />

werden müsse, genau solche Charaktere beschreiben müsse, zu jedem ihrer Sätze<br />

nickte sie und sah mich beharrlich an, wollte mir noch e<strong>in</strong>mal ihre diesbezüglichen<br />

Gedanken e<strong>in</strong>flößen, ihre außergewöhnlichen Beobachtungen. Ich widersprach ihr nicht,<br />

wie gewöhnlich, und nickte ebenfalls eifrig, ich stimmte zu, weil mir unter dem E<strong>in</strong>fluss<br />

des Alkohols die Schicksale dieser beiden und ihres sibirischen K<strong>in</strong>des glänzendes Material<br />

und re<strong>in</strong>stes Gold zu se<strong>in</strong> schienen. Ich will nur sagen, dass es mich überhaupt nicht<br />

verwunderte, als Jura an jenem frühen Abend im August <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Wohnung gestürzt<br />

kam, alles um sie herum bewegte sich, funkelte, bebte vor Verblüffung und Erregung,<br />

ihre Augen waren weit aufgerissen, <strong>in</strong> ihrem Gesicht wechselten e<strong>in</strong>ander alle möglichen<br />

Ausdrücke ab, Glück oder Unglück gewannen abwechselnd die Oberhand, ich konnte<br />

nicht erahnen, was denn nun genau geschehen war entschuldige, dass ich dich fast e<strong>in</strong><br />

halbes Jahr lang nicht mehr angerufen habe, aber ich hatte e<strong>in</strong>fach überhaupt ke<strong>in</strong>e Zeit,<br />

du hast ja ke<strong>in</strong>e Ahnung, wie viele D<strong>in</strong>ge bei mir passiert s<strong>in</strong>d, ich weiß, entgegnete ich<br />

vollkommen lakonisch, ohne dieses ganze Feuer, von dem ihre Gesprächspartner für gewöhnlich<br />

angesteckt wurden, ich weiß, du hast e<strong>in</strong>e Stelle angetreten – hier ist es an der<br />

Zeit zu erläutern, dass Jura mit ihrer Großmutter zusammenlebte, die gleichzeitig auch<br />

me<strong>in</strong>e Großmutter ist, da me<strong>in</strong>e Mutter und Juras Mutter Schwestern waren. Me<strong>in</strong>e Mutter<br />

sowie auch unsere geme<strong>in</strong>same Großmutter konnten Juras Vater se<strong>in</strong>e unangebrachte<br />

Hochzeit e<strong>in</strong>fach nicht verzeihen, er sei e<strong>in</strong> <strong>in</strong> jeder Beziehung mittelmäßiger Kle<strong>in</strong>geist,<br />

so gehässig sprachen sie über ihn, er könne es sich nicht vorstellen, nach Hause zu<br />

kommen, ohne dass ihn dort e<strong>in</strong>e Zeitung, die Pantoffeln, e<strong>in</strong>e Frau, Schnaps, Salat und<br />

der Duft von frisch zubereiteten Speisen erwarteten. Alle, e<strong>in</strong>schließlich Jura, hielten die<br />

zweite Ehefrau ihres Vaters für so unsche<strong>in</strong>bar und banal, dass sie behaupteten, sie<br />

könnten sich ihr Gesicht überhaupt nicht merken, und Jura selbst sagte, dass sie nie sicher<br />

sei, ob sie, wenn sie e<strong>in</strong>ander auf der Straße trafen, die zweite Frau ihres Vaters<br />

oder irgende<strong>in</strong>e andere grüßte. An dieser zweiten Frau aus Nordwestbulgarien, wie Jura<br />

nie zu präzisieren versäumte, gab es nichts, was e<strong>in</strong>em gefallen oder auch nicht gefallen<br />

würde, was man sich merken oder was man wieder vergessen würde, was man als ihre<br />

Besonderheit hervorheben oder aber als ebensolche verschweigen würde. Irgendwie gab<br />

es überhaupt nichts, was man über sie hätte sagen können, abgesehen von ihrer unbestreitbaren<br />

Herkunft aus dem Nordwesten. Ziemlich viel Zeit hatten wir dieser Frau gewidmet,<br />

weil ich nicht wollte, dass Jura e<strong>in</strong>e ablehnende Haltung ihr gegenüber e<strong>in</strong>nahm, ich<br />

wollte, dass sie sie ruhig und ohne großes Aufhebens akzeptierte, und e<strong>in</strong>mal fragte sie<br />

mich: na gut, wie würdest du sie beschreiben? du bist doch Schriftsteller? denkst du, ihr<br />

hätte etwas besseres passieren können, als dass sie auf <strong>Sofia</strong> fährt, wie sie selbst sich<br />

auszudrücken pflegt, me<strong>in</strong>en Vater zu heiraten, ihm E<strong>in</strong>töpfe zu kochen und zu Wahrsager<strong>in</strong>nen<br />

zu gehen? was würdest du über sie sagen? Jura hatte die Eigenschaft, viele<br />

Fragen auf e<strong>in</strong>mal zu stellen, selbst zu e<strong>in</strong>er Frage zu werden, e<strong>in</strong>e Antwort abzuwarten<br />

oder auch nicht abzuwarten, je nachdem wie sie zu den von ihr angeschnittenen Themen<br />

stand. Jura spürte noch im ersten Jahr den Überdruss, den dieser übereilte Schritt ihrem<br />

Vater bereitete, se<strong>in</strong>e Verbitterung über se<strong>in</strong>en eigenen gelähmten Willen, der es ihm<br />

nicht erlauben würde umzukehren, der ihn langsam <strong>in</strong> der Vergangenheit festhalten wür-<br />

Teodora Dimova Seite 5


de und im Bedauern und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Schuldgefühlen, schon nach wenigen Jahren würde er<br />

das Gefühl haben, se<strong>in</strong> Leben verschwendet und verpfuscht zu haben, das Gefühl von<br />

fehlender Erfüllung, se<strong>in</strong> Haar würde weiß werden, er würde unnatürlich alt aussehen,<br />

vorzeitig gealtert durch den Mangel an Courage, den Mangel an Mut und Willen, den<br />

Mangel an Luft und kristallenen Morgen, se<strong>in</strong>e unwiederbr<strong>in</strong>glich verlorene Jugend und<br />

Juras Mutter, Jura als Baby, ihre Mutter und er, die Fotos würden <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Händen zittern,<br />

er würde sie an e<strong>in</strong>em geheimen Ort vor se<strong>in</strong>er Ehefrau aus dem Nordwesten verstecken,<br />

manchmal würde er sie hervorholen und über sie we<strong>in</strong>en <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en ausgeleierten<br />

Kleidungsstücken, diesen Kleidungsstücken, die, egal wie oft man sie auch wusch und<br />

auslüftete, immer nach Kraut, nach irgendwelchen Heilmitteln und alten Feuerstätten<br />

rochen. Jura fühlte schweigsam und ruhig mit ihm, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Gegenwart aber tat sie so,<br />

als bemerkte sie es nicht, sie schnitt das Thema nicht an, sie schonte ihn und liebkoste<br />

ihn mit ihren Augen, mit ihrer Anwesenheit, mit ihrem Lachen, wenn er sie anstarrte,<br />

wenn er erschüttert raunte „wie ist es nur möglich, dass du ihr so ähnlich siehst!“, er war<br />

erst 45, und er sah resigniert und kaputt aus, Jura wusste nicht, was sie anderes für ihn<br />

tun sollte, außer ihn anzulächeln und ihm über sich selbst zu erzählen, so als sei es ihr<br />

sehr wichtig, se<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung zu hören, ihn um Rat zu fragen, das war das e<strong>in</strong>zige, was sie<br />

für ihren Vater tun konnte, immer noch besser, er lebt mit se<strong>in</strong>er zweiten Ehefrau zusammen,<br />

mit ihrem doppelt durchtränkten Witwen- und Witwertum, als dass er mit mir<br />

lebt, dachte sich Jura und fühlte sich wohl bei unserer Großmutter, nach der sie benannt<br />

war, e<strong>in</strong>er ruhigen, strahlenden und lächelnden Großmutter, die Jura morgens Krapfen<br />

machte, die bügelte, wusch und sich voller Verzückung um ihre bezaubernde Enkel<strong>in</strong><br />

kümmerte. Natürlich liebte unsere Großmutter Jura mehr. Manchmal hatte ich das Gefühl,<br />

dass auch me<strong>in</strong>e Mutter und me<strong>in</strong> Vater Jura mehr liebten. Irgendwie liebten alle<br />

Jura mehr als mich. Alle umsorgten sie, sie saugte sie an und trug sie irgendwo mit sich<br />

h<strong>in</strong>, übrigens tat sie das mit uns allen. Und eben von unserer geme<strong>in</strong>samen Großmutter<br />

hatte ich erfahren, dass Jura e<strong>in</strong>e Stelle angetreten hatte. Ich hatte mich gewundert, wie<br />

es se<strong>in</strong> konnte, dass Jura zu so unpassender Zeit zu arbeiten begann, wie sie es zu den<br />

Vorlesungen schaffen wollte, ganz offensichtlich würde sie nicht h<strong>in</strong>gehen, aber das teilte<br />

ich weder me<strong>in</strong>er Großmutter noch me<strong>in</strong>er Mutter mit, um sie nicht zu beunruhigen, ich<br />

wusste e<strong>in</strong>fach, dass Jura früher oder später auftauchen und sich auf mich stürzen würde,<br />

ich betete nur darum, dass es irgendwie ohne größere Erschütterungen vor sich gehen<br />

möge. Jura studierte im dritten Jahr Anglistik an der Universität <strong>Sofia</strong>, sie gehörte zu<br />

den vielversprechendsten Student<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> ihrem Semester, aber sie maß dem ke<strong>in</strong>e besondere<br />

Bedeutung bei, so als läge die fast perfekte Beherrschung der englischen Sprache<br />

und Literatur <strong>in</strong> der Natur der D<strong>in</strong>ge, es war etwas, was sich von selbst verstand.<br />

Jura und ihre Großmutter lebten von der Rente der Großmutter, von dem beschämend<br />

wenigen Geld, das Juras Vater ihr gab, und von der Miete e<strong>in</strong>es der Zimmer der Wohnung,<br />

das sie an Student<strong>in</strong>nen untervermieteten. Es war ganz klar, dass ihnen das Geld<br />

nicht reichte. Außerdem wollte Jura nach England gehen, denn ich liebe alles Englische!<br />

und schon seit langem träumte sie davon, Geld für diese Reise zusammenzubekommen.<br />

So, dass sie mitten im Semester begann, sich Arbeit zu suchen. Ich habe begonnen, mir<br />

Arbeit zu suchen, Teodor, denn du weißt doch ja, ja, ich weiß! Ich weiß! Ich weiß!, unterbrach<br />

ich sie ununterbrochen, lief im Wohnzimmer auf und ab, so als sei ich wahns<strong>in</strong>nig<br />

beschäftigt, sah ihr nicht <strong>in</strong> die Augen, stand herum, tat zerstreut oder von etwas<br />

anderem vere<strong>in</strong>nahmt, ich wollte ihr zeigen, dass sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em äußerst unpassenden Moment<br />

gekommen war, dass sie zum<strong>in</strong>dest auf dem Mobiltelefon hätte anrufen können,<br />

dass sie e<strong>in</strong>fach unverschämt war, dass es mir leid tat, es ihr so direkt zu sagen, aber<br />

dass sie e<strong>in</strong>e unverschämte Person war und ich weder Zeit hatte noch <strong>in</strong> der Stimmung<br />

war, sie bis zum Ende anzuhören, me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach hätte sie das alles aus me<strong>in</strong>en<br />

Gesten herauslesen können, aus dem nervösen Rauchen, aus me<strong>in</strong>em auf und ab Gehen,<br />

dauernd schaute ich auf me<strong>in</strong> Mobiltelefon, so als würde ich e<strong>in</strong>en Anruf erwarten, oder<br />

ich drückte <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Zorn ziellos auf die Knöpfe, so als schickte ich e<strong>in</strong>e SMS, ich war<br />

verärgert, zornig, wütend, ich dachte, dass ich es diesmal nicht aushalten und explodieren<br />

und ihr sagen würde, dass sie schrecklich unerzogen ist, ganz extrem, ja sogar brutal<br />

unerzogen, dass wir uns für morgen verabreden könnten, aber nicht jetzt! ich wollte ihr<br />

sagen, dass man nicht auf diese Weise an der Wechselsprechanlage läuten kann, nicht<br />

Teodora Dimova Seite 6


mit se<strong>in</strong>er ganzen Unverfrorenheit <strong>in</strong> e<strong>in</strong> fremdes Haus e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen kann, ich wollte ihr<br />

sagen, wie ruhig und glücklich ich während dieser sechs oder sieben Monate gewesen<br />

war, <strong>in</strong> denen sie arbeitete, wie ich gespürt hatte, was es bedeutet, sich selbst zu gehören,<br />

nur sich selbst und se<strong>in</strong>em Bekanntenkreis, se<strong>in</strong>en Freunden, ich wollte ihr sagen,<br />

dass ich mich immer um sie gekümmert hatte, immer auf sie aufgepasst hatte, als wäre<br />

sie me<strong>in</strong>e Tochter gewesen, und dass sie doch schon groß war, sie war ke<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>d<br />

mehr, ich wollte all diese D<strong>in</strong>ge aussprechen und wusste nicht, womit ich beg<strong>in</strong>nen sollte<br />

wenn du soviel Wert darauf legst, kann ich auch sofort wieder gehen, Teodor, dann werde<br />

ich dir nichts erzählen, raunte sie, natürlich, sie raunte gedämpft, so als hätte sie ihre<br />

Flügel angelegt, am Körper versteckt, mit zur Seite geneigtem Kopf, der Heiligensche<strong>in</strong><br />

ihrer Haare (davon wird später noch die Rede se<strong>in</strong>) flackerte <strong>in</strong> den Sonnenstrahlen des<br />

frühen Augustabends auf und h<strong>in</strong>terließ e<strong>in</strong>e Vorahnung von der nächsten stickigen und<br />

schlaflosen Nacht, <strong>in</strong> solchen Momenten tat es e<strong>in</strong>em so leid um Jura, so sanft, ruhig und<br />

erleuchtet, Jura, me<strong>in</strong> Gott, Jura, ich will überhaupt nicht, dass du gehst, verzeih, wenn<br />

ich e<strong>in</strong> wenig zerstreut gewesen b<strong>in</strong>, ich habe viel zu tun, ich b<strong>in</strong> nervös, soll ich dir e<strong>in</strong>en<br />

Kaffee kochen, so kam es immer, absolut immer endete es auf diese Weise, und ich unterwarf<br />

mich ihrem Willen, ihren unwiderstehlichen E<strong>in</strong>fällen. Der Raum um sie herum<br />

schwoll plötzlich erneut von Farben, Begeisterung und Leiden an, ihre engelsgleiche Ruhe<br />

verschwand für e<strong>in</strong>en Augenblick, als wäre sie nie dagewesen, natürlich, Teodor, mach<br />

gleich e<strong>in</strong>e ganze Kanne Kaffee, weil wir sie brauchen werden, ich habe dir viel zu erzählen,<br />

so vieles, Teodor, dass du es nicht glauben wirst!<br />

Natürlich, natürlich gab es ke<strong>in</strong>en dümmeren Menschen als mich! Das habe ich schon<br />

immer gewusst. Es gelang mir nicht, mit den unverfrorenen Menschen fertigzuwerden,<br />

mit jenen, die sich <strong>in</strong> der Schlange vordrängen, jenen, die an der Ampel zu früh losfahren,<br />

jenen, die dich nach de<strong>in</strong>en Honoraren ausfragen, jenen, denen du die Wohnfläche<br />

de<strong>in</strong>es Ateliers mitteilst, jenen, die neugierig waren auf die Auflagenhöhe me<strong>in</strong>es Romans<br />

und me<strong>in</strong> konkretes monatliches E<strong>in</strong>kommen, auf das Honorar für die Kolumnen, die ich<br />

schrieb, auf den Preis für Plomben bei me<strong>in</strong>em Zahnarzt, wo ich den Sommer verbr<strong>in</strong>gen<br />

würde, welcher Marke me<strong>in</strong>e Schuhe waren und wieviel genau me<strong>in</strong> neuer Anzug gekostet<br />

hatte, wo ich ihn gekauft hatte und ob ich Rabatte nutzte? Es gelang mir nicht, mit<br />

diesen Menschen fertigzuwerden, und gegen jede Logik lieferte ich ihnen die ganzen f<strong>in</strong>anziellen<br />

Informationen über mich selbst, doch dadurch fühlten weder sie noch ich uns<br />

besser, aber ich befriedigte ihre ungesunde Neugier, trotz der Pe<strong>in</strong>lichkeit, des Schwitzens<br />

und der Übelkeit, die mir diese Räudigkeit verursachte. Es gelang mir nicht, mit den<br />

gewöhnlichen Aufdr<strong>in</strong>glichen fertigzuwerden und sie im Zaum zu halten, wie sollte ich mir<br />

da wünschen, mit Jura fertigzuwerden! Jura und die D<strong>in</strong>ge, die ihr <strong>in</strong> den letzten sechs<br />

Monaten passiert waren! Jura und die Musik, die Farben, die Inspiration um sie herum!<br />

Das verhieß zum<strong>in</strong>dest zwei Stunden, vielleicht auch drei! und vielleicht bis Mitternacht!<br />

und diese schamlos vielsagende Kanne Kaffee! e<strong>in</strong>e Kanne Kaffee! murmelte ich, während<br />

ich die Kaffeemasch<strong>in</strong>e vorbereitete, ich goss die Milch <strong>in</strong> die kle<strong>in</strong>e Kanne, holte<br />

den Honig heraus und legte zwei Löffelchen zu den zwei Tassen auf dem Tablett, das ich<br />

bald <strong>in</strong>s Wohnzimmer tragen und auf das Tischchen vor Jura stellen würde. Sie habe unserer<br />

Großmutter immer noch nichts erzählt, unsere Großmutter wisse noch immer von<br />

nichts, ebenso wenig me<strong>in</strong>e Mutter, weil Jura wollte, dass ich der erste war, dem sie es<br />

erzählte, hörte ich sie <strong>in</strong> der Küche, während die Kaffeemasch<strong>in</strong>e zischte und Kaffeeduft<br />

verbreitete, ich wisse doch, dass sie schon seit Ewigkeiten auf der Suche nach Arbeit gewesen<br />

sei, und dann e<strong>in</strong>es Tages vor e<strong>in</strong>igen Monaten habe sie gar nicht gewusst, wie sie<br />

auf e<strong>in</strong>mal an der Universität genau vor die Anschlagtafel mit den Studentenjobs geraten<br />

war, jetzt sei ihr schon bewusst, dass es be<strong>in</strong>ahe so war, als hätte sie jemand dorth<strong>in</strong><br />

geführt, um sie auf diese Tafel aufmerksam zu machen, denn diese Tafel bef<strong>in</strong>de sich im<br />

h<strong>in</strong>tersten W<strong>in</strong>kel der Universität, Teodor, wenn dich nicht jemand absichtlich h<strong>in</strong>führt,<br />

dann ist es unmöglich, sie zu entdecken, nicht e<strong>in</strong>mal dann, wenn du den Weg aufgezeichnet<br />

bekommen hast, und ich stand ganz alle<strong>in</strong> vor dieser Tafel und das genau an<br />

dem Tag, an dem ich fest beschlossen hatte, mir e<strong>in</strong>e Arbeit zu suchen, ganz gleich was<br />

für e<strong>in</strong>e es auch sei. Die Stellenanzeige Adrianas sei das erste gewesen, worauf sie an<br />

der Anschlagtafel für Studentenjobs gestoßen sei. Die Anzeige habe folgenden Wortlaut<br />

gehabt: ältere Frau sucht junges Mädchen als Begleiter<strong>in</strong>. Intelligenz, Beherrschung von<br />

Teodora Dimova Seite 7


Fremdsprachen, Allgeme<strong>in</strong>bildung, gute Manieren, Charme, Diskretion und e<strong>in</strong> sonniges<br />

Gemüt – dies seien die D<strong>in</strong>ge, auf die die ältere Dame am meisten Wert legte. Prov<strong>in</strong>zielle,<br />

unverschämte und dicke Mädchen würden erst gar nicht zum Vorstellungsgespräch<br />

e<strong>in</strong>geladen. Auch solche nicht, die nicht die notwendige korrekte Aussprache der bulgarischen<br />

Sprache beherrschten. Bewerbungen unter ... Und es folgte die Nummer e<strong>in</strong>es Mobiltelefons.<br />

Jura habe <strong>in</strong>nerlich über diese Anzeige gelacht. Das erste, was ihr durch den<br />

S<strong>in</strong>n gegangen sei, war: sonst noch was?! Ich werde diese prätentiöse ältere Dame sicherlich<br />

nicht anrufen! Und sie machte sich daran, die anderen Anzeigen zu lesen: Arbeit<br />

bei McDonald’s, vier Stunden am Tag, Telefonist<strong>in</strong> bei CityCall, Animateur während des<br />

Sommers <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Ferienlager am Meer, Kellner<strong>in</strong> im Restaurant „Divaka“, 12 Stunden<br />

am Tag, Saisonarbeit bei e<strong>in</strong>er archäologischen Grabung während des Sommers. Ihr Blick<br />

sei unfreiwillig erneut zur Anzeige der älteren Dame zurückgewandert. Ihre Hand habe<br />

von alle<strong>in</strong> die Mobilnummer auf e<strong>in</strong>en Zettel geschrieben, den sie <strong>in</strong> ihrem Rucksack gefunden<br />

hatte, sie sei vor das Universitätsgebäude h<strong>in</strong>aus gegangen und noch auf der<br />

„Šipka“-Straße hätte sie die soeben notierte Nummer angerufen. E<strong>in</strong>e Männerstimme<br />

habe sich gemeldet. Er habe erklärt, dass er von der Anwaltskanzlei sei, deren Klient<strong>in</strong><br />

die ältere Dame seit Ewigkeiten sei. Die Kanzlei habe die Aufgabe übernommen, e<strong>in</strong>e<br />

passende Begleiter<strong>in</strong> für die ältere Dame zu f<strong>in</strong>den. Die Bewerber<strong>in</strong>nen bekämen e<strong>in</strong>en<br />

Term<strong>in</strong> für e<strong>in</strong> Vorstellungsgespräch im Büro der Firma. Die von der Firma gutgeheißenen<br />

Kandidat<strong>in</strong>nen – nicht mehr als e<strong>in</strong> paar – würden dann der älteren Dame vorgestellt<br />

werden. Die endgültige Auswahl und die Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen h<strong>in</strong>gen letztlich natürlich<br />

nur von ihr ab. Ob Jura e<strong>in</strong>verstanden sei, am Donnerstag um drei im Büro der Firma<br />

vorstellig zu werden? Jura schwieg. Ob diese Uhrzeit der jungen Dame genehm sei oder<br />

ob sie e<strong>in</strong>e andere vorzöge? Jura habe geantwortet, das sei schon okay. Dann dachte ich<br />

daran, dich anzurufen, Teodor, und dir zu erzählen, dass ich zu diesem Vorstellungsgespräch<br />

gehen würde, aber ich weiß nicht, warum ich dich nicht angerufen habe, ich kann<br />

mich wirklich nicht er<strong>in</strong>nern, aber dafür, bitteschön, b<strong>in</strong> ich jetzt ganz hier, Jura sprach<br />

immer so, ich war an ihre Wortstellung und ihre Ausdrucksweise gewöhnt, wie könntest<br />

du nicht ganz hier se<strong>in</strong>? fragte ich sie, und sie brach natürlich <strong>in</strong> Gelächter aus, aber<br />

nicht lang und verschwenderisch, wie für gewöhnlich, sie erlag nicht dem Zauber ihres<br />

eigenen Lachens, weil sie es eilig hatte, sie hatte ke<strong>in</strong>e Zeit, die aufgeregten Gesten, das<br />

Funkeln der Augen, das Schütteln ihrer Haare (von ihnen wird später die Rede se<strong>in</strong>)<br />

sprachen von Eile und Ungeduld, und am vere<strong>in</strong>barten Tag zur vere<strong>in</strong>barten Stunde habe<br />

sie sich <strong>in</strong> der Anwaltskanzlei e<strong>in</strong>gefunden. Die Kanzlei bef<strong>in</strong>de sich <strong>in</strong> derselben Straße<br />

wie die amerikanische Botschaft und habe drei oder vier Etagen, sie könne sich nicht so<br />

genau er<strong>in</strong>nern. Alles dort sei aus Marmor gewesen, glänzende Fenster- und Türrahmen,<br />

getöntes Glas, Palmen und von der Decke herabhängende Schl<strong>in</strong>gpflanzen, supermodernes<br />

Design, Stille, Parfüm, Gedämpftheit, schöne Frauen und Männer <strong>in</strong> sehr teuren Anzügen.<br />

Jura habe zum ersten Mal so e<strong>in</strong>en Ort gesehen, wenn man von den amerikanischen<br />

Filmen absah und nicht nur die amerikanischen, Teodor, du weißt doch, die Banditen<br />

<strong>in</strong> Lederjacken und Bullen vom Typ Jean Reno, du weißt doch, wie sehr ich ihn mag,<br />

wie verliebt ich <strong>in</strong> ihn b<strong>in</strong>, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e mediterrane Schönheit. Jura hatte sogar e<strong>in</strong> Poster<br />

von Jean Reno <strong>in</strong> ihrem Zimmer hängen. Das Poster störte mich nicht so sehr, aber se<strong>in</strong>e<br />

Schönheit – mal wüstenhaft, mal bedu<strong>in</strong>isch, mal biblisch, und jetzt auch mediterran, das<br />

machte mich rasend, aber ich hatte ke<strong>in</strong>e Zeit über die genremäßigen Schönheitstypen<br />

zu diskutieren, weil Jura wie e<strong>in</strong> Masch<strong>in</strong>engewehr und gleichzeitig völlig zielgerichtet<br />

sprach. Sie habe das Gefühl gehabt, dass sich <strong>in</strong> diesem Büro jeden Augenblick e<strong>in</strong>e Actionszene<br />

abspielen würde, dass sie nicht zu e<strong>in</strong>em Vorstellungsgespräch gehen, sondern<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e dieser Serien h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gezogen werden würde mit vielen Verfolgungsjagden und<br />

doppeltem oder gar dreifachem Happy-End. Jura hatte schw<strong>in</strong>dlig machendes feuerrotes<br />

lockiges Haar, während des Sommers behauptete sie für gewöhnlich, sie würde es mit<br />

Sicherheit am nächsten Tag endlich abschneiden lassen, weil sie nicht mehr mit diesem<br />

Schafspelz auf ihrem Kopf herumlaufen könne, sie halte es nicht mehr länger aus, solche<br />

Haare zu haben, sie wolle sich e<strong>in</strong>e Glatze schneiden lassen wie S<strong>in</strong>éad O’Connor, damit<br />

sie nicht gezwungen wäre, morgens diese abartigen Haare e<strong>in</strong>e halbe Stunde lang zu<br />

frisieren, sie behauptete, dass ihr Haar sie so sehr quälte, wie sie bis zu diesem Zeitpunkt<br />

noch niemand gequält hätte, dass sie früher oder später aufhören würde, Rück-<br />

Teodora Dimova Seite 8


sicht darauf zu nehmen, das Haar reichte bis zur Mitte ihres Rückens, ständig schwebte<br />

und wickelte es sich um sie wie e<strong>in</strong>e Wolke. Immer drohte Jura ihrem Haar, immer wollte<br />

sie es von sich entfernen, nie konnte sie sich dazu entschließen, es war so dicht, lockig<br />

und widerspenstig, dass es viel mehr e<strong>in</strong>er Perücke glich als natürlichem Haar, es war so<br />

backste<strong>in</strong>rot wie e<strong>in</strong> Feuer, das um ihr bleiches Gesicht herum loderte, um ihre schönen<br />

Mandelaugen herum, ihre Augen hatten die Farbe von Haselnüssen, hellbraun, auch von<br />

ihnen wurde Licht ausgestrahlt – sie waren leuchtend, tief, klug, so wie auch ihr Körper<br />

war – gelenkig und zart, großgewachsen, stark und gleichfalls irgendwie klug. Sogar von<br />

ihrem Körper wurden Intelligenz und Helligkeit ausgestrahlt. Es war nicht der muskulöse,<br />

gut erhaltene, tra<strong>in</strong>ierte und absolut wohlproportionierte Körper e<strong>in</strong>es Topmodels zum<br />

Beispiel. Begänne man, diesen Körper distanziert und ruhig zu betrachten, könnte man<br />

e<strong>in</strong>e ganze Reihe von Unzulänglichkeiten entdecken, wie beispielsweise, dass ihr Brustkorb<br />

zu stark entwickelt war, dass ihre Brüste trotzdem e<strong>in</strong>e Idee kle<strong>in</strong>er waren, als logisch<br />

gewesen wäre, dass ihre Taille überhaupt nicht wie gemeißelt aussah, so wie es bei<br />

den anderen Mädchen der Fall war, die ihren Bauchnabel offen zeigten, aber nicht e<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>ziges dieser Details störte den Gesamte<strong>in</strong>druck von Juras Körper, me<strong>in</strong>er Cous<strong>in</strong>e, den<br />

E<strong>in</strong>druck von Fasz<strong>in</strong>ation und Unwiderstehlichkeit ihres Körpers. Jura machte großen E<strong>in</strong>druck<br />

auf die Menschen, aber sie war es gewohnt, weder war sie stolz noch ärgerte sie<br />

sich über die starren und prüfenden Blicke von Männern und auch Frauen, es war derselbe<br />

Effekt, den auch irgende<strong>in</strong> schönes und seltenes Tier hervorruft, dass du berühren<br />

willst, doch gleichzeitig hast du Angst, du möchtest dich ihm nähern und es streicheln<br />

und se<strong>in</strong> Freund werden, ihm sofort de<strong>in</strong>e Liebe gestehen, ihm sagen, dass du es schon<br />

früher gesehen hast, dass du wahrsche<strong>in</strong>lich von ihm geträumt hast, dass du es sehr gut<br />

kennst, aber du stehst stumm und wie verste<strong>in</strong>ert vor dieser Naturersche<strong>in</strong>ung, die Jura<br />

war. Wenn wir geme<strong>in</strong>sam durch die Straßen g<strong>in</strong>gen, spürte ich die neidischen Blicke<br />

aller, die dachten, Jura sei me<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong>, ich spürte den augenblicklichen Magnetismus,<br />

mit dem sie die Orte bestrahlte, zu denen ich sie führte, ich spürte die Anziehung, die sie<br />

bei ihrer Umgebung weckte, und dann fragte ich mich oft, ob Gott mich damit bestrafen<br />

hatte wollen, <strong>in</strong>dem er mir Jura als Cous<strong>in</strong>e gegeben hatte, oder im Gegenteil – ob er<br />

mich davor bewahrt hatte, auf ewig <strong>in</strong> diese Frau verliebt zu se<strong>in</strong>. Nicht lang, nachdem<br />

sie sich beim Wachmann im Büro angemeldet hatte, und nicht lang, nachdem sie die Anwaltskanzlei<br />

betreten hatte, sei Jura <strong>in</strong> das Büro des Chefs dieser Kanzlei gebeten worden,<br />

sie sei plötzlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em riesigen Büro mit Ledermöbeln gestanden, vor e<strong>in</strong>em riesigen<br />

Schreibtisch aus e<strong>in</strong>em ungewöhnlich hellen Holz, erneut sei alles <strong>in</strong> Grün versunken<br />

gewesen, und Jura sei es sogar so vorgekommen, als könnte sie Vogelgezwitscher und<br />

das Rauschen e<strong>in</strong>es Bachs hören, wenn sie sich nur e<strong>in</strong> wenig anstrengte. Es habe nicht<br />

ausgesehen wie e<strong>in</strong> Büro und sei doch e<strong>in</strong> Büro gewesen. H<strong>in</strong>ter dem Schreibtisch habe<br />

e<strong>in</strong> Mann <strong>in</strong> den Fünfzigern gestanden, se<strong>in</strong> Haar sei grau meliert gewesen, nur im Hemd,<br />

und se<strong>in</strong>e Krawatte habe e<strong>in</strong> wenig schief gesessen, und die Ärmel seien bis zu den Ellenbogen<br />

aufgekrempelt gewesen, vollkommen unbeweglich habe er sie angesehen. Guten<br />

Tag, sie habe sich ihm vorgestellt, doch er habe ihren Gruß nicht erwidert, und so sei<br />

sie wie angewurzelt <strong>in</strong> der Tür stehengeblieben, guten Tag, ich habe e<strong>in</strong>en Term<strong>in</strong> für e<strong>in</strong><br />

Vorstellungsgespräch mit Ihnen, es geht um die Stellenanzeige der älteren Dame, aber<br />

er habe erneut nicht geantwortet, er habe ihr direkt <strong>in</strong>s Gesicht gesehen und geschwiegen,<br />

ist es jetzt vielleicht ungünstig? habe Jura gefragt, sie habe mit rasender Geschw<strong>in</strong>digkeit<br />

den Boden unter den Füßen verloren, sie sei <strong>in</strong> die Tiefe gestürzt und <strong>in</strong> dieses<br />

Grün e<strong>in</strong>getaucht, vielleicht ist es besser, wenn ich noch e<strong>in</strong>mal morgen oder an e<strong>in</strong>em<br />

anderen Tag wiederkomme? habe sie gesagt und e<strong>in</strong>en Schritt zurück gemacht, und dann<br />

sei der unbewegliche Mann gleichsam h<strong>in</strong>ter dem Schreibtisch hervorgesprungen und auf<br />

sie zugestürzt und habe begonnen, ihr die Hand zu schütteln: Simeon, habe er sich vorgestellt,<br />

angenehm, Simeonov, sehr angenehm, setzen Sie sich doch, nehmen sie Platz,<br />

Tee, Kaffee oder Saft? Wenn Sie e<strong>in</strong> Glas Wasser hätten, habe Jura geantwortet, und er<br />

habe begonnen zu wiederholen: e<strong>in</strong> Glas Wasser! e<strong>in</strong> Glas Wasser, natürlich, e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong><br />

Glas Wasser! Me<strong>in</strong> Gott, e<strong>in</strong> Glas Wasser! und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Augenblick habe er die Hände an<br />

die Schläfen gelegt und irgendwie fortgefahren sich im Kreis zu drehen und fortzufahren<br />

mit „e<strong>in</strong> Glas Wasser“! Eigentlich, jetzt sei Jura nervös geworden, will ich ke<strong>in</strong> Wasser,<br />

ich will überhaupt ke<strong>in</strong> Wasser, ich habe wirklich ke<strong>in</strong>en Durst, entschuldigen Sie bitte,<br />

Teodora Dimova Seite 9


machen Sie sich ke<strong>in</strong>e Umstände, ich bitte Sie! Ne<strong>in</strong>, ne<strong>in</strong>, ne<strong>in</strong>! habe er gesagt, auf ke<strong>in</strong>en<br />

Fall! e<strong>in</strong> Glas Wasser! mit Eis oder ohne Eis, M<strong>in</strong>eralwasser? mit Zitrone? was für<br />

e<strong>in</strong>e Marke Wasser tr<strong>in</strong>ken Sie? Jura sei noch nervöser geworden, sie habe nicht gewusst,<br />

was sie antworten sollte, sie habe sich an ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Marke von M<strong>in</strong>eralwasser<br />

er<strong>in</strong>nern können, es sei ihr auch nicht e<strong>in</strong>gefallen, wie sie es bevorzugen sollte, ob mit<br />

Eis, ob ohne Eis oder mit Zitrone, sie sei nicht sicher gewesen, was weniger Nervosität<br />

und weniger Aufregung bei ihrem Gastgeber hervorrufen würde, ob es ihn nicht noch<br />

mehr <strong>in</strong> Schwierigkeiten br<strong>in</strong>gen würde, wenn sie es ohne Eis verlangte? Ohne Eis? er<br />

habe sich ihr mit starrem Blick genähert, ohne Eis? habe er wiederholt, als könne er die<br />

Bedeutung dieser Wörter nicht fassen, ohne Eis? habe er erneut gesagt, se<strong>in</strong>e Augen seien<br />

starr auf sie gerichtet gewesen, sie habe wahrsche<strong>in</strong>lich <strong>in</strong>st<strong>in</strong>ktiv zur Tür gesehen,<br />

nach Hilfe suchend, sie habe e<strong>in</strong>en Menschen vor sich gehabt, mit dem etwas zu passieren<br />

schien, noch habe sie nicht begriffen, was es war, dann sei er auf e<strong>in</strong>mal schrecklich<br />

verlegen geworden, vielleicht habe er sich plötzlich selbst gesehen, so als stünde er neben<br />

sich, vielleicht sei ihm die Lage bewusst geworden, <strong>in</strong> der er sich befand, vielleicht<br />

sei er sich auf e<strong>in</strong>mal lächerlich vorgekommen und es sei ihm pe<strong>in</strong>lich gewesen. So als<br />

handelte es sich um e<strong>in</strong>en großen Willensakt, um e<strong>in</strong>e unerträglichen Pflicht oder e<strong>in</strong>e<br />

Bürde, die er auf sich nehmen musste, so habe ihn dieses Glas enorm <strong>in</strong> Schwierigkeiten<br />

gebracht, weil er aus dem e<strong>in</strong>en oder anderen Grund die Sekretär<strong>in</strong> nicht habe rufen wollen<br />

und gleichzeitig gewusst habe, dass es <strong>in</strong> der M<strong>in</strong>ibar alles andere gab, nur ke<strong>in</strong> Wasser.<br />

M<strong>in</strong>eralwasser? habe er irgendwie ungläubig gefragt. Sie ziehen wahrsche<strong>in</strong>lich M<strong>in</strong>eralwasser<br />

vor? und er sei vor Jura stehengeblieben mit se<strong>in</strong>em verwirrten Gesichtsausdruck,<br />

mit se<strong>in</strong>er ganzen Hilflosigkeit, von der er schon vorausgeahnt hatte, dass sie e<strong>in</strong>treten<br />

würde, weil er immer noch gedacht hatte, dass es e<strong>in</strong>en Ausweg gab, dass er ihr<br />

auch Leitungswasser e<strong>in</strong>schenken könnte. Oh, habe Jura gesagt, als sie die Situation auf<br />

e<strong>in</strong>mal irgendwie erfasste, das hat überhaupt ke<strong>in</strong>e Bedeutung, eigentlich ziehe ich Leitungswasser<br />

sogar vor, falls Ihnen das ke<strong>in</strong>e Umstände macht, ja, ich ziehe Leitungswasser<br />

vor. Natürlich, habe Simeon erleichtert geantwortet, habe sich den Schweiß von der<br />

Stirn gewischt, e<strong>in</strong>e Tür geöffnet und sei kurz darauf mit e<strong>in</strong>em Glas Wasser zurückgekehrt,<br />

welches er auf das Tischchen vor Jura gestellt habe. Ich danke Ihnen, habe sie<br />

gesagt, und er habe sich ihr gegenüber <strong>in</strong> den Sessel gesetzt. Er habe sie angesehen,<br />

während sie zwei, drei Schlucke Wasser trank, danach habe sie das Glas auf den Tisch<br />

zurückgestellt, dann habe er sich die Hand vor die Augen gehalten und begonnen, lange<br />

se<strong>in</strong>e Schläfen zu reiben. Ich muss e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>stellungsgespräch mit Ihnen durchführen, habe<br />

er plötzlich gesagt. Ja, habe Jura umgänglich geantwortet, ja, deshalb b<strong>in</strong> ich doch hier.<br />

Ich muss Sie über Ihr Leben ausfragen, über Ihre Angewohnheiten, Ihre Vorlieben, über<br />

alles ... Ja, habe Jura erneut liebenswürdig entgegnet, ich b<strong>in</strong> bereit, auf Ihre Fragen zu<br />

antworten, und sie habe zu lachen begonnen. Dann habe Simeon sie erneut angesehen.<br />

Genauer gesagt habe er sich eher überwunden, sie erneut anzusehen. Er habe ihr zugesehen,<br />

wie sie lachte. Danach habe sie das Wort ergriffen. Er habe ihr zugesehen, wie sie<br />

sprach – dass sie zum ersten Mal bei e<strong>in</strong>em Vorstellungsgespräch sei, dass die Anzeige<br />

an der Anschlagtafel für Studentenjobs an der Universität ihr am Anfang sehr prätentiös<br />

vorgekommen sei, sie sogar zum Lachen gebracht habe, aber dann habe sie ihr Interesse<br />

geweckt, sie habe ihm auch noch erklärt, dass sie gezwungen sei zu arbeiten, weil sie mit<br />

ihrer Großmutter zusammenlebe, dass ihre Mutter gestorben sei und dass ihr Vater wieder<br />

geheiratet habe und se<strong>in</strong>e zweite Frau aus Nordwestbulgarien stamme, dass sie Anglistik<br />

an der Universität studiere, sie habe das englische Gymnasium absolviert, aber sie<br />

spreche auch Französisch, dass sie die Philologie bisher überhaupt nicht <strong>in</strong>teressant f<strong>in</strong>de,<br />

dass sie sich e<strong>in</strong> wenig zw<strong>in</strong>gen müsse zu lernen, aber sie wisse nicht, was sie anderes<br />

machen wolle, sie wisse nicht, was sie werden wolle, sie wisse nicht, was sie arbeiten<br />

wolle, aber wie dem auch sei, sie freue sich darüber, dass sie Student<strong>in</strong> sei, darüber,<br />

dass sie <strong>in</strong>teressante Kommilitonen habe, dass sie Freunde habe, dass sie geme<strong>in</strong>sam<br />

ausgehen würden, sie freue sich auch über ihre Großmutter, die sehr lieb sei und e<strong>in</strong>e<br />

Frau mit Ausstrahlung, und die beiden verstünden sich sehr gut, sie sei nicht sicher, ob<br />

sie e<strong>in</strong>e umfassende Allgeme<strong>in</strong>bildung besitze, aber immerh<strong>in</strong> gehe sie gern <strong>in</strong>s Theater,<br />

sie gehe auch oft zu Konzerten, sie blättere die Bildbände ihrer Großmutter durch, haupt-<br />

Teodora Dimova<br />

Seite<br />

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sächlich französischer Impressionismus, besonders gefalle ihr van Gogh, als sie <strong>in</strong> Paris<br />

auf Exkursion gewesen sei, habe sie sogar im Museum der Impressionisten zu we<strong>in</strong>en<br />

begonnen, als sie vor dem Selbstportrait <strong>in</strong> Blau von van Gogh gestanden habe. Sie sei<br />

im Saal gestanden und habe gewe<strong>in</strong>t, sie habe weder weggehen können noch länger vor<br />

diesem Bild stehenbleiben, weil die Tränen über ihr Gesicht geflossen seien, und sie<br />

selbst habe nicht gewusst, warum, die Leute hätten sie verwundert angesehen und e<strong>in</strong>en<br />

Bogen um sie gemacht, sie habe e<strong>in</strong>e Rührung <strong>in</strong> ihrem ganzen Körper gespürt, <strong>in</strong> jeder<br />

Faser me<strong>in</strong>es Körpers war Rührung über dieses Selbstportrait von van Gogh <strong>in</strong> Blau, weil<br />

dort se<strong>in</strong>e ganze Verrücktheit zum Vorsche<strong>in</strong> kommt und die Demut angesichts dieser<br />

Verrücktheit und se<strong>in</strong>e Ausweglosigkeit und dieses durchdr<strong>in</strong>gende, brennende Blau, so<br />

fehl am Platz <strong>in</strong> der Trauer, dass es sie noch verhängnisvoller und unerträglicher macht,<br />

habe Jura gesagt, und der Mann ihr gegenüber habe sie unbeweglich angesehen, ich b<strong>in</strong><br />

wohl e<strong>in</strong> bisschen zu sehr <strong>in</strong>s Reden gekommen, sei Jura verlegen geworden, das ist<br />

me<strong>in</strong>e Unzulänglichkeit, müssen Sie wissen, dass ich manchmal vom Hundertsten <strong>in</strong>s<br />

Tausendste komme und nicht aufhören kann, me<strong>in</strong>e Großmutter und me<strong>in</strong> Vater und<br />

me<strong>in</strong> Cous<strong>in</strong> und besonders me<strong>in</strong>e Stiefmutter ärgern sich sehr darüber und sagen mir<br />

direkt, los, fass dich kurz, oder sie geben mir irgende<strong>in</strong> anderes Zeichen, damit ich aufhöre.<br />

Ich denke, diesem Simeonov standen <strong>in</strong> dem Moment Tränen <strong>in</strong> den Augen, sagte<br />

Jura zu mir, aber ich b<strong>in</strong> nicht ganz sicher, weil er mit e<strong>in</strong>er abrupten Bewegung aus dem<br />

Sessel aufstand und erneut dort h<strong>in</strong>ausg<strong>in</strong>g, von wo er vor kurzem das Wasser geholt<br />

hatte. Sicherlich wird er mir e<strong>in</strong> neues Glas Wasser holen, habe sich Jura gedacht, doch<br />

er sei mit e<strong>in</strong>er Flasche Whisky und zwei Gläsern zurückgekehrt, <strong>in</strong> denen sich jeweils e<strong>in</strong><br />

Eiswürfel befunden habe, und ohne zu fragen, ob Jura Whisky tr<strong>in</strong>kt oder nicht, habe er<br />

<strong>in</strong> beide Gläser gleich hoch e<strong>in</strong>geschenkt, habe ihr das e<strong>in</strong>e gereicht und se<strong>in</strong>es auf Ex<br />

geleert, ohne ihr vorher zuzuprosten. Wollen Sie me<strong>in</strong>e Frau werden? habe Simeonov<br />

geraunt, er habe zermürbt ausgesehen, blass, zerzaust wie e<strong>in</strong> Mensch vor der Exekution.<br />

Ja, ich weiß, es ist verrückt, verrückt ist es, habe er fortgefahren. Manchmal überkommt<br />

uns die Verrücktheit e<strong>in</strong>fach so, wie aus dem Nichts. Antworten Sie mir nicht, ich<br />

bitte Sie, antworten Sie mir nicht, was es auch sei, die Frage bleibt bestehen, sie wird<br />

ewig bestehen bleiben, sie kann nicht mehr zurückgenommen werden, aber antworten<br />

Sie mir nicht, weil Sie mich nicht kennen, Sie wissen nichts über mich, nichts. Manchmal<br />

entlädt sich plötzlich etwas über uns. Das ist es. Ich weiß nicht, ob es Ihnen schon e<strong>in</strong>mal<br />

passiert ist. Sie s<strong>in</strong>d viel zu jung, als dass Ihnen solche Entladungen passieren könnten,<br />

diese Plötzlichkeiten kommen bei so jungen Menschen noch nicht vor, und Sie s<strong>in</strong>d<br />

ja noch e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d. Jura. Jura. Ist das Ihr voller Name, ist das Ihr richtiger Name? und noch<br />

bevor sie habe antworten können, habe er schon zu we<strong>in</strong>en begonnen gehabt. Jetzt habe<br />

er es nicht mehr versteckt. Er sei nicht aus dem Sessel aufgestanden, er sei nicht durch<br />

jene Tür h<strong>in</strong>ausgegangen, er habe e<strong>in</strong>fach die Augen mit den Händen verdeckt und zu<br />

schluchzen begonnen. Jetzt habe wiederum Jura absolut erstarrt dagesessen und nicht<br />

gewusst, was sie tun sollte. Sie wäre am liebsten im Erdboden versunken. Und gleichzeitig<br />

sei es so gewesen, als würde alles wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Film vor ihr ablaufen. Als sei dies e<strong>in</strong><br />

Hirngesp<strong>in</strong>st, als passierte es nicht ihr, sondern <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Film, den sie anschaute. Jeden<br />

Augenblick würden die Banditen mit gezückten Pistolen here<strong>in</strong>kommen. Die Verfolgungsjagd<br />

würde beg<strong>in</strong>nen, das Quietschen von Reifen, es könnte auch passieren, dass man<br />

sie erschießt. Kann ich jetzt gehen, habe Jura gefragt, während die Schultern des Mannes<br />

gegenüber von ihr immer noch bebten, während das Haar ihm <strong>in</strong>s Gesicht gefallen war,<br />

während er se<strong>in</strong>e Schläfen mit der Hand massierte. Ja, lassen Sie mir Ihre Kontaktdaten<br />

da, ich werde mich sehr bald bei Ihnen melden. Sie habe ihm die Nummer ihres Mobiltelefons<br />

diktiert. Er habe sie direkt <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Mobiltelefon e<strong>in</strong>gespeichert und augenblicklich<br />

gewählt. Und das ist me<strong>in</strong>e Nummer, habe er gesagt, falls Sie mich anrufen wollen, zu<br />

jeder Zeit, worum es auch gehen mag, ich b<strong>in</strong> bereits für immer <strong>in</strong> Sie verliebt, verloren<br />

<strong>in</strong> Ihnen, habe er gesagt, ohne sie anzusehen, se<strong>in</strong>e Stimme sei ganz rau und nicht wiederzuerkennen<br />

gewesen, er habe sich noch e<strong>in</strong>mal aus der Whiskyflasche e<strong>in</strong>geschenkt,<br />

auf Wiedersehen, habe Jura gesagt, entschuldigen Sie, ich hatte nicht angenommen,<br />

dass ... habe sie verblüfft, ihre eigene Stimme zu hören, gesagt, und hier habe sie selbst<br />

schon nicht mehr gewusst, was sie nicht angenommen hatte, sie habe nicht gewusst,<br />

Teodora Dimova<br />

Seite<br />

11


was sie weiter sagen sollte, sie habe nicht gewusst, was sie denken und fühlen sollte,<br />

weil <strong>in</strong> ihrem Solarplexus e<strong>in</strong>e riesige Leere aufgetreten sei, die sich mit Mitleid für diesen<br />

Simeon füllte, der ihr gegenübersaß und we<strong>in</strong>te, diese Leere habe sie dazu gebracht, ihn<br />

zu umarmen und ihm zu sagen, ja, wenn me<strong>in</strong>e Zeit gekommen ist, e<strong>in</strong>e Ehefrau zu werden,<br />

dann werde ich Ihre Ehefrau werden, Ihre, und nicht die e<strong>in</strong>es anderen, aber jetzt<br />

ist es noch zu früh für mich, e<strong>in</strong>e Ehefrau zu werden, noch b<strong>in</strong> ich e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d, Sie haben es<br />

doch selbst gesagt, ich muss noch älter werden, bis ich reif für e<strong>in</strong>e Ehe b<strong>in</strong>, und gleichzeitig<br />

sei es so dumm gewesen, diesen Uns<strong>in</strong>n zu reden, genau das habe wie e<strong>in</strong> Film<br />

gewirkt, wie e<strong>in</strong> geschmackloser amerikanischer Film, aber nicht wie die Wahrheit, sicherlich<br />

ist dieser Simeon sehr krank, habe sie sich gedacht, sich plötzlich umgedreht<br />

und das Büro verlassen, Jura verstummte so plötzlich wie sie dieser Geschichte freien<br />

Lauf gelassen hatte, sie hatte sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Atemzug erzählt, so als hätte sie gleichzeitig<br />

alle D<strong>in</strong>ge erzählt, oder zum<strong>in</strong>dest kam es mir so vor, dieser Simeon und das Glas Wasser,<br />

mit Eis oder ohne Eis, mit Zitrone, das Büro, die Anzeige, die sie im h<strong>in</strong>tersten W<strong>in</strong>kel<br />

der Universität gefunden hatte, die Kakteen und Schl<strong>in</strong>gpflanzen im Büro neben der<br />

amerikanischen Botschaft, alles hatte sich <strong>in</strong> mir irgendwie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>s verwandelt. Vielleicht<br />

eher <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Klumpen. Irgende<strong>in</strong> Klumpen, ja. Aber das wusste ich noch nicht. Jura wartete<br />

den Effekt, den ihre Erzählung auf mich haben würde, ab. Ich hatte mir e<strong>in</strong>e Zigarette<br />

angezündet, ich rauchte, ich schwieg, ich starrte das leere Display me<strong>in</strong>es Mobiltelefons<br />

an. E<strong>in</strong>e halbe Stunde später habe Simeon sie angerufen und gebeten, ihm zu verzeihen.<br />

Was soll ich Ihnen verzeihen, habe Jura gefragt. Me<strong>in</strong> ungeheuerliches Benehmen.<br />

Ich war nicht Herr me<strong>in</strong>er S<strong>in</strong>ne. Und ich b<strong>in</strong> es immer noch nicht. Aber die Frage<br />

bleibt bestehen, Jura, die Frage bleibt bestehen. Sie können mir e<strong>in</strong>zig dann antworten,<br />

wenn Sie bereit s<strong>in</strong>d, mir positiv darauf zu antworten. Nur dann können Sie kommen und<br />

mir antworten. Wenn Sie glauben, mir negativ antworten zu müssen, dann antworten Sie<br />

mir besser gar nicht, wie dem auch sei, ke<strong>in</strong>e Art von negativer Antwort wird akzeptiert<br />

werden, und die Frage, ob Sie me<strong>in</strong>e Frau werden wollen, wird weiterbestehen. Jawohl,<br />

diese Frage wird bis zu dem Moment weiterbestehen, <strong>in</strong> dem Sie me<strong>in</strong>e Frau werden.<br />

Diese Frage wird erst dann zu existieren aufhören, wenn Sie als me<strong>in</strong>e Ehefrau e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames<br />

Leben mit mir beg<strong>in</strong>nen. Ihr Treffen mit der älteren Dame, bei der Sie sich<br />

beworben haben, ist morgen früh um zehn. Ihre potentielle Arbeitgeber<strong>in</strong> wohnt im selben<br />

Haus wie die Anwaltskanzlei, nur im dritten und letzten Stock. Ich bitte Sie, pünktlich<br />

zu se<strong>in</strong>. Adriana hasst Verspätungen. Adriana? habe Jura verwundert wiederholt. Heißt so<br />

die ältere Dame? Adriana? Ja, sie heißt Adriana, habe Simeon entgegnet, und es sei jene<br />

pe<strong>in</strong>liche Stille e<strong>in</strong>getreten, <strong>in</strong> der sich der Raum vor lauter Anwesenheit aufheizt, die<br />

Worte aber abwesend s<strong>in</strong>d. Hallo, Jura, haben Sie gehört? habe Simeon gefragt, und Jura<br />

sei es so vorgekommen, als würde se<strong>in</strong>e Stimme erneut zerbrechen, als würde man ihn<br />

erneut wie von sehr weit her hören. Ja, ja, ich höre Sie, habe sie geantwortet, und wieder<br />

habe sie das Bedürfnis gehabt, ihm etwas Schönes und Warmes zu sagen, etwas,<br />

was ihn stärker machen würde, das se<strong>in</strong>en Zusammenbruch <strong>in</strong> jenem Ledersessel abwenden<br />

würde, das untröstliche E<strong>in</strong>schenken von Whisky, etwas, das das Fallen se<strong>in</strong>es<br />

silbrigen Haares <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Gesicht abwenden würde, das das langsame Reiben der Schläfen<br />

abwenden würde, das das Unglück aus se<strong>in</strong>em Leben tilgen würde. Aber Jura habe nicht<br />

gewusst, was sie sagen sollte, sie habe überhaupt ke<strong>in</strong>e Vorstellung davon gehabt, was<br />

sie zu diesem völlig und vollkommen unbekannten Mann hätte sagen können. Ich habe<br />

e<strong>in</strong>e Familie, e<strong>in</strong>e Frau und zwei Söhne, wahrsche<strong>in</strong>lich <strong>in</strong> Ihrem Alter. Me<strong>in</strong>e Frau ist<br />

Alkoholiker<strong>in</strong>, unsere Ehe ist seit langem e<strong>in</strong>e Katastrophe, ich habe zufällige Affären mit<br />

Sekretär<strong>in</strong>nen aus dem Büro, unsere Söhne studieren im Ausland und vermeiden es, zu<br />

uns nach Hause zurückzukommen. Spätestens <strong>in</strong> drei Monaten werde ich geschieden<br />

se<strong>in</strong>. Ich werde auf Sie warten. Ich will mich um Sie kümmern, Sie beschützen. Nichts<br />

anderes kann ich tun. Ich werde warten. Und dann habe er e<strong>in</strong>fach aufgelegt. Und Jura<br />

habe nicht weitergehen können. Sie sei mitten auf dem Boulevard gestanden und habe<br />

nicht weitergehen können. So traf ich im Laufe von zwei Tagen durch e<strong>in</strong>e ganz zufällige<br />

Annonce die zwei wichtigsten Menschen <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben, Teodor. Was willst du damit<br />

sagen? (die Trockenheit im Hals, natürlich!) Welche zwei wichtigsten Menschen <strong>in</strong> de<strong>in</strong>em<br />

Leben? Simeon und Adriana, die du überhaupt nicht kennst, me<strong>in</strong> Gott, Teodor! Das Le-<br />

Teodora Dimova<br />

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en ist so seltsam! Schrecklich viele D<strong>in</strong>ge s<strong>in</strong>d passiert – ich darf nur nichts übereilen,<br />

um dir alles <strong>in</strong> Ruhe erzählen zu können. Sieh mich nicht so fe<strong>in</strong>dselig an, ich bitte dich.<br />

Wenn du mich so fe<strong>in</strong>dselig ansiehst, vergesse ich sogar die Wörter. Du schwitzt, ist dir<br />

warm? Soll ich das Fenster aufmachen? Du rauchst zu viel. Wenn du willst, werde ich<br />

gehen. So ist es gut, lächle. Übertreibe nur nicht mit dem Wodka im Tomatensaft. Ne<strong>in</strong>,<br />

ich will nicht, danke, ich habe ohneh<strong>in</strong> dauernd das Gefühl, betrunken zu se<strong>in</strong>. Eher noch<br />

e<strong>in</strong>en Kaffee. Danke. Ich fühle mich immer ruhig und sicher, wenn ich mit dir Kaffee tr<strong>in</strong>ke.<br />

Er duftet herrlich. Ich danke dir wirklich.<br />

aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann<br />

Teodora Dimova<br />

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