Erwiderung Olga Martynova ... - Bad Gandersheim
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<strong>Olga</strong> <strong>Martynova</strong><br />
DANKESREDE ANLÄSSLICH DER VERLEIHUNG DES ROSWITHA-VON-<br />
GANDERSHEIM-PREISES<br />
Dass die erste deutsche Dichterin eine Stiftsdame oder eine Nonne war, versteht<br />
sich von selbst. Wie hätte es im 10. Jahrhundert anders sein können, in dem die<br />
Klöster die Bewahrungsstätten für Künste und Wissenschaften waren. Für die<br />
Dichterin, Mystikerin und Nonne Roswitha von <strong>Gandersheim</strong> waren das Geistige und<br />
das Geistliche gleichbedeutend. Das eine wurde durch das andere bestimmt und<br />
wahrgenommen. In den vergangenen zehn Jahrhunderten hat die Beziehung<br />
zwischen dem Geistigen und dem Geistlichen viele Wandlungen erfahren. Es gab<br />
sowohl Zeiten der gegenseitigen Bereicherung als auch Epochen der<br />
wechselseitigen Bekämpfung und Unterdrückung.<br />
Ich bin geboren und aufgewachsen in einer Welt, in der sich Atheismus, Religion,<br />
Denken und Literatur in einer ungewöhnlichen Konstellation befanden. Vom Staat<br />
wurde die Religion unterdrückt und der Atheismus verordnet. Religiös zu sein, war<br />
folglich ein Zeichen von Unabhängigkeit. Der Freigeist also war kein Atheist mehr,<br />
sondern ein Gläubiger. Die Bibel nahm eine prominente Stelle ein auf der Liste der<br />
Bücher, die begehrt, aber kaum zu bekommen waren. Es kam vor, dass sie nur für<br />
eine Nacht bei jemandem ausgeliehen werden konnte und ab und zu tatsächlich in<br />
einer Nacht durchgelesen wurde. Heute, da die Kirche in Russland nicht mehr<br />
verfolgt wird, sondern wieder (wie vor der Oktoberrevolution) eher zu mächtig ist, ist<br />
die umgekehrte Realität der kommunistischen Zeit kaum noch vorstellbar. Ich<br />
vermute sogar, dass nicht einmal alle jungen Russen mir Glauben schenken würden.<br />
Wie sich Freiheit und Unfreiheit zueinander verhalten, welche Seite gerade den<br />
Zwang und welche den Widerstand repräsentiert – die Literatur registriert das auf<br />
ihre besondere Weise. In der unfreien sowjetischen Welt gab es freie Dichtung.<br />
Meine ältere Freundin Jelena Schwarz, die 2010 gestorben ist, war ein Star der<br />
Leningrader inoffiziellen Literatur. Heute gehören ihre Gedichte zur modernen<br />
Klassik. Sie war es, die mir erzählt hat, wie sie – noch fast ein Kind – die Bibel für<br />
eine Nacht bekommen - und gelesen! - hatte. Es gibt einen guten Grund, warum ich<br />
jetzt, im Zusammenhang mit Roswitha von <strong>Gandersheim</strong>, an sie denke und über sie<br />
erzähle. Ihr Opus Magnum heißt „Werke und Tage von Lavinia, der Nonne aus dem<br />
Orden der Beschneidung des Herzens“. Das ist ein Versroman über Lavinia, die –<br />
genau wie Roswitha von <strong>Gandersheim</strong> – eine Nonne, eine Mystikerin und eine<br />
Dichterin war. Jelena Schwarz erschuf für ihre Protagonistin ein Kloster, in dem alle<br />
Religionen der Welt nebeneinander weiden, wie Löwe, Schaf und Jäger im<br />
Paradiesgarten: Dieses Kloster ist eine synkretistische Utopie, ein aus tiefster<br />
Unfreiheit entstandener Befreiungstraum. Jelena Schwarz, die der launischen und<br />
widersprüchlichen Nonne und Dichterin Lavinia die Stimme lieh, war nicht weniger<br />
launisch und widersprüchlich. Sie missachtete nicht nur die sowjetische Ideologie.<br />
Sie unterwarf sich keinen Regeln und erklärte ihre eigenen Gesetze. Wenn sie zum<br />
Beispiel in einem Gedicht den von der katholischen Kirche verbrannten Philosophen<br />
Giordano Bruno zu einem Heiligen erklärt, gleicht sie ihrer Lavinia, die so<br />
unkonventionell und eigensinnig war, dass sie sogar von den anderen Schwestern<br />
aus dem Märchenkloster verstoßen wurde.
Als ich die wunderbare Nachricht vom Roswitha-von-<strong>Gandersheim</strong>-Preis erhielt,<br />
musste ich sofort an die andere dichtende Nonne denken, an Lavinia. Ich kann gar<br />
nicht sagen, wie persönlich mir der Roswitha-von-<strong>Gandersheim</strong>-Preis da plötzlich<br />
vorkam. Das ist wie ein Gruß und Segen von meiner großen Freundin, die mir wie<br />
eine große Schwester war.<br />
Wenn ich an Roswitha von <strong>Gandersheim</strong> denke, stelle ich mir die geistige Karte<br />
Europas von damals vor: Ein weites dunkles Feld, auf dem leuchtende Punkte zu<br />
erkennen sind: die Schreiber-Mönche; die jüdischen Gelehrten; die griechischen<br />
Einsiedler in ihren Höhlenzellen mit den Fresken, die zu atmen scheinen; die<br />
arabischen Wissenschaftler, die die Zahlen aus Indien mitgebracht hatten, welche<br />
ungefähr ab Roswithas Zeit allmählich zu den Christen kamen. Das ist kein<br />
idyllisches Bild. Kein Märchenkloster von Jelena Schwarz. Diese leuchtenden Punkte<br />
waren nicht alle friedlich und hassten einander oft in einer Intoleranz, die immer mit<br />
einem großen Glauben verbunden war. Aber ohne sie könnten wir heute vielleicht<br />
nicht einmal von Toleranz träumen.<br />
Tausend Jahre sind vergangen. Das Wissen, das damals ein kostbares Gut war, ist<br />
viel zugänglicher geworden. Die Legende vom Märtyrer Pelagius zum Beispiel<br />
konnte von Roswitha von <strong>Gandersheim</strong> nur geschrieben werden, weil ein Prälat aus<br />
Spanien von ihm berichtete, weil ihr ein Reisender aus Córdoba begegnete, der<br />
einige weitere Details wusste, weil sie am Hof des Kaisers Ottos I. einen Gesandten<br />
des Kalifen Abd ar-Rahmans III. traf. Und all das Jahrzehnte nach Pelagius’<br />
Martyrium. Heute könnten sie ein paar Mausklicks auf ein Sujet bringen.<br />
Mit den vielen errungenen Freiheiten und Möglichkeiten kann man leicht zu einem<br />
passiven Konsumenten des Überangebots werden: Wenn die Wurzel des Wissens<br />
nicht mehr bitter ist, dann werden die Früchte schnell langweilig. Dichtung, Religion<br />
und Wissenschaft sind heute keine Verbündeten mehr, sie wissen fast nicht mehr<br />
von einander. Der Mensch weiß kaum noch, wohin mit seinem geistigen Leben, das<br />
von der Wissenschaft sogar für illusorisch erklärt wurde.<br />
Wieder ein dunkles Feld? Und die leuchtenden Punkte? Einer dieser Punkte ist eine<br />
dichtende und Dichtung lesende Gemeinschaft. Die elektronische Vernetzung dieser<br />
Gemeinde möchte ich mir gerne als ein virtuelles Dichterstift vorstellen. Wozu<br />
braucht man uns? Wozu sind wir gut, wenn die Stellung eines Dichters heute<br />
zwischen „geduldet“ und „nicht beachtet“ oszilliert?<br />
Nur die Verfeinerung und Erfrischung der Sprache kann einem Menschen helfen,<br />
sich in diesen Unmengen von freigelassenen Informationen wieder zu finden und die<br />
neuen Möglichkeiten zu nutzen, statt von ihnen erstickt zu werden.<br />
Ein neuer Gedanke sucht immer nach Worten, um verkörpert zu werden. Diese<br />
ihrerseits kommen dienstfertig herbei, und da lauert die Gefahr, dass der Gedanke in<br />
einen falschen Wortkörper hineinspringt. Die fertigen Sätze sind jederzeit bereit,<br />
einen neugeborenen Gedanken zu verschlingen. Die Aufgabe eines Dichters ist, das<br />
Denken vor den verbrauchten, abgenutzten Schemata zu schützen, neue<br />
Formulierungsmöglichkeiten zu zeigen. Sonst denken wir alle Gedanken, die nicht<br />
die unseren sind; unterwerfen uns fremden Gesetzen; geben unseren freien Willen
auf. Die Sprache ist ein Instrument, das die Dichter immer wieder justieren und<br />
präzisieren müssen.<br />
Der Verfeinerung der Sprache verdanke ich die Möglichkeit, heute diesen<br />
Unterschied zwischen geistig und geistlich benennen zu können, den es zur Zeit der<br />
Roswitha von <strong>Gandersheim</strong> noch gar nicht gab. Das ist eine in der deutschen<br />
Sprache sehr späte Unterscheidung. Dass Roswitha, deren genuine Sprache<br />
Deutsch war, ihre Werke auf Latein schrieb, ist ein weiteres Zeichen der inneren<br />
Verwandtschaft mit mir, die ich in zwei Sprachen lebe. Formulieren heißt<br />
Verwandeln. Das ist eine ethische und philosophische Angelegenheit, die mit<br />
ästhetischen, formalen Mitteln zu behandeln ist. Dass Roswitha von <strong>Gandersheim</strong><br />
die Komödien von Terenz, die aus ihrer Sicht schön, aber unkeusch und unchristlich<br />
waren, in Werke verwandelte, die ihrer und ihrer Zeit Vorstellung vom<br />
Angemessenen entsprachen, ist eben diese Formulierungsarbeit. Roswitha zeigt sich<br />
als eine mutige Frau, die nicht vor dem Unangemessenen zurückschreckt: Sie<br />
behauptet, sie müsse gegen Schamesröte weiterschreiben, wenn von Verführung<br />
und Bordell die Rede ist. Und sie schreibt im ehrgeizigen Wettbewerb mit ihrem<br />
heidnischen Vorgänger. Damit nahm sie die Aufgabe eines jeden Dichters auf sich:<br />
die Welt aufs Neue zu formulieren. Jede Epoche bringt ihre eigenen Gefahren und<br />
stellt ihre Dichter vor neue Probleme. Ich glaube, dass die Sprache immer noch ein<br />
großes Potenzial hat, dass sie immer noch ein Mittel zur Selbsterkenntnis und zum<br />
Weltverständnis sein kann.<br />
Als all diese Gedanken zu mir kamen, war ich selbst überrascht, wie wichtig mir<br />
Roswitha von <strong>Gandersheim</strong> erschien. Ich bedanke mich herzlich für diesen Preis, der<br />
mir eine große Freude und eine große Ehre ist.