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60 Jahre Kriegsende - Vertreibung als Teil ... - Guenterposch.de

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<strong>60</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Kriegsen<strong>de</strong></strong> - <strong>Vertreibung</strong> <strong>als</strong> <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>utscher I<strong>de</strong>ntität<br />

vom Mai 2005 Aus unterschiedlichen Perspektiven blickt Europa seit Monaten <strong>60</strong> <strong>Jahre</strong> zurück. Im Mittelpunkt steht das<br />

offizielle <strong>Kriegsen<strong>de</strong></strong> am 8. Mai 1945 mit <strong>de</strong>m Grauen davor und auch danach. Theodor Heuss, <strong>de</strong>r erste <strong>de</strong>utsche<br />

Bun<strong>de</strong>spräsi<strong>de</strong>nt formulierte sehr treffend: „Erlöst und vernichtet in einem." Dieser Satz trifft am ehesten die<br />

Vielschichtigkeit.Mit En<strong>de</strong> dieses mör<strong>de</strong>rischen Zweiten Weltkrieges atmeten nicht nur die Menschen in unseren<br />

Nachbarlän<strong>de</strong>rn auf, son<strong>de</strong>rn auch für Deutsche war es die Erlösung von allgegenwärtiger Angst um Brü<strong>de</strong>r, Väter o<strong>de</strong>r Söhne im<br />

Krieg, Angst vor Bombar<strong>de</strong>ments, Angst vor <strong>de</strong>n feindlichen Truppen, Angst vor Bespitzelung und Denunziation. Das<br />

Grauen <strong>de</strong>r nation<strong>als</strong>ozialistischen Diktatur, für das Auschwitz zum Synonym wur<strong>de</strong>, fand ein En<strong>de</strong>. Damit aber waren<br />

Unmenschlichkeit und Grausamkeit an Schuldlosen noch immer nicht aus Europa verbannt. Der russische Schriftsteller<br />

und Humanist Lew Kopelew bewertete aus seiner russischen Perspektive <strong>de</strong>n 8. Mai mit <strong>de</strong>m <strong>Kriegsen<strong>de</strong></strong> <strong>als</strong><br />

zweischneidig. Er begrün<strong>de</strong>te sehr rational: „Einerseits be<strong>de</strong>utete er auch für uns die Erlösung von allen Kriegsnöten und -<br />

gefahren, mit <strong>de</strong>nen das Hitlerreich die Menschen bedroht hatte, an<strong>de</strong>rerseits aber wur<strong>de</strong> er zum Triumph eines an<strong>de</strong>ren<br />

unmenschlichen totalitären Reichs, das eigene und benachbarte Völker brutal unterdrückte.... Nun behauptete sich die<br />

sozialistische Sowjetunion ohne überflüssige Dekoration <strong>als</strong> eine imperiale, bürokratisch-polizeiliche staatskapitalistische<br />

Macht. Der Weltkrieg wur<strong>de</strong> fortgesetzt mit an<strong>de</strong>ren Mitteln, <strong>als</strong> Kalter Krieg in Europa." Kopelew sah, dass <strong>de</strong>r<br />

„wohlverdiente Rattentod Hitlers" <strong>de</strong>n westlichen europäischen Völkern wohl Erlösung brachte, dass aber „<strong>de</strong>r unverdiente,<br />

mit 30 Millionen Menschenleben bezahlte Triumph Stalins" die Welt mit neuen tödlichen Gefahren überzogen hatte, <strong>de</strong>r<br />

neue unsagbare Lei<strong>de</strong>n und Ver<strong>de</strong>rben für die Län<strong>de</strong>r in Ost- und Mitteleuropa brachte.Deutschland war von bei<strong>de</strong>m<br />

betroffen. Der westliche <strong>Teil</strong> konnte sich sehr bald <strong>als</strong> befreit fühlen. Mittel- und Ost<strong>de</strong>utschland aber gerieten unter die<br />

kommunistische Knute. Stalins harte Faust lag über halb Europa und raffte Millionen Menschen vieler Völker dahin und in<br />

diesem Machtbereich geschah etwas in seiner Dimension bis dahin Ungekanntes, was die katholischen Bischöfe <strong>de</strong>r USA<br />

am 17. November 1946 in einem gemeinsamen Hirtenbrief unmissverständlich geißelten. „In Europa ist etwas geschehen,<br />

was die Geschichte bis dahin noch nicht kannte. Auf Grund eines Abkommens zwischen <strong>de</strong>n Siegerstaaten wur<strong>de</strong>n<br />

Millionen von <strong>de</strong>utschen Menschen, die seit Jahrhun<strong>de</strong>rten in Osteuropa ansässig waren, von ihrer Heimatscholle<br />

vertrieben und mittellos in das Herz Deutschlands gestoßen. Die Lei<strong>de</strong>n dieser Menschen ... erzählen uns eine traurige<br />

Geschichte von <strong>de</strong>r Unmenschlichkeit solcher <strong>Vertreibung</strong>." Die Initiative zur <strong>Vertreibung</strong> ging insbeson<strong>de</strong>re von Polen<br />

und <strong>de</strong>r Tschechoslowakei aus. Stalin war ihr Mentor. Die Alliierten segneten in Potsdam diese Wünsche ab. „Human"<br />

sollte die <strong>Vertreibung</strong> geschehen, wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Potsdamer Konferenz protokolliert. Keine Re<strong>de</strong> war davon in <strong>de</strong>r Praxis:<br />

Zwangsarbeit, Lagerhaft und Folter gingen <strong>de</strong>r eigentlichen <strong>Vertreibung</strong> massenhaft voraus. Mord und Vergewaltigung<br />

waren an <strong>de</strong>r Tagesordnung.Nicht wenige Konzentrationslager wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n neuen Herren sofort weiter verwen<strong>de</strong>t.<br />

Theresienstadt und an<strong>de</strong>re Konzentrationslager waren auch nach Hitler grausam und tödlich. Von <strong>de</strong>n Ursachen her war<br />

dies auch eine Folge <strong>de</strong>r NS-Diktatur. Im Ergebnis aber waren diese Menschenrechtsverletzungen gleichermaßen<br />

unentschuldbar. Ein Historikerstreit darüber ist müßig. Es reicht, die Zeitzeugen zu hören. Je<strong>de</strong>r forsche Satz von „gerechter"<br />

Strafe für die Verbrechen Hitlers bleibt dann im H<strong>als</strong>e stecken. Im jugoslawischen Vernichtungslager Gakowo kamen<br />

innerhalb weniger Monate 8.500 Donauschwaben zu To<strong>de</strong>. Ab Mai 1947 betreute Kaplan Paul Pfuhl die Sterben<strong>de</strong>n. In<br />

seinen späteren Berichten darüber ist unter an<strong>de</strong>rem zu lesen: „Diese Häuser waren Stätten <strong>de</strong>s Grauens. Wie oft habe ich<br />

Beichte gehört und die letzte Ölung gespen<strong>de</strong>t. Ein Fall steht mir noch ganz lebendig vor Augen. Da lag eine Frau im<br />

Hausgang, ich fragte sie, ob sie nicht beichten wolle. Schroff wies sie mich ab. Sie hätte nichts zu beichten. Als ich ihr<br />

zure<strong>de</strong>te, dass wir doch alle Sün<strong>de</strong>n hätten und die Verzeihung Gottes brauchten, kann es hart über ihre Lippen: Mir hat<br />

Gott nichts zu verzeihen, höchstens habe ich ihm zu verzeihen." Für die meisten Deutschen <strong>Vertreibung</strong>s-, Deportationsund<br />

Lageropfer aber war Gott oft die einzige Zuflucht, ja <strong>de</strong>r Rettungsanker in ihrem fast unerträglichen Leben, in ihrem<br />

entwurzelten Dasein.Über viele <strong>Jahre</strong> hinweg, bis fast in die fünfziger <strong>Jahre</strong>, gab es keine Fragen nach individueller Schuld<br />

o<strong>de</strong>r Verantwortung. Es reichte aus, <strong>de</strong>utscher Volksangehöriger zu sein, ob Säugling o<strong>de</strong>r Greis, Mann o<strong>de</strong>r Frau. Alle<br />

wur<strong>de</strong>n in eine unmenschliche Kollektivhaftung genommen, wenn sie nicht das Glück hatten, in West- o<strong>de</strong>r<br />

Mittel<strong>de</strong>utschland ihre Heimat zu haben.Bis zum <strong>Jahre</strong> 1950 fan<strong>de</strong>n acht Millionen Heimatvertriebene und Flüchtlinge in<br />

<strong>de</strong>n westlichen Besatzungszonen Aufnahme. Vier Millionen in Mittel<strong>de</strong>utschland. Die Einglie<strong>de</strong>rung so vieler seelisch<br />

und teils auch körperlich verwun<strong>de</strong>ter und erschöpfter Menschen schien nach 1945 schier unmöglich. Das Land lag in<br />

Trümmern. Ein fünf <strong>Jahre</strong> währen<strong>de</strong>s Bombar<strong>de</strong>ment hatte mehr <strong>als</strong> tausend Städte und Ortschaften überwiegend <strong>de</strong>m<br />

Erdbo<strong>de</strong>n gleichgemacht. Aus <strong>de</strong>n ö<strong>de</strong>n Fensterhöhlen schaute das Grauen.Zu <strong>de</strong>n obdachlosen, verarmten und<br />

hungern<strong>de</strong>n Einheimischen strömten schon ab 1944 Millionen und Abermillionen <strong>de</strong>utsche Flüchtlinge und Vertriebene aus<br />

ganz Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Sie kamen aus <strong>de</strong>n baltischen Län<strong>de</strong>rn, aus Rumänien, Jugoslawien, Ungarn, Polen,<br />

<strong>de</strong>r Sowjetunion und <strong>de</strong>r Tschechoslowakei, aus <strong>de</strong>n Län<strong>de</strong>rn, in <strong>de</strong>nen sie seit Jahrhun<strong>de</strong>rten sie<strong>de</strong>lten. Einige aus <strong>de</strong>n<br />

Gebieten, in die sie von Hitler umgesie<strong>de</strong>lt wor<strong>de</strong>n waren. Und sie kamen aus <strong>de</strong>m Osten Deutschlands, <strong>de</strong>r heute zu<br />

Polen und Russland gehört. Ohne je<strong>de</strong> Habe, heimatlos, verzweifelt, aber mit <strong>de</strong>r trügerischen Hoffnung im Herzen auf<br />

Rückkehr.Wie sollte, wie konnte dieses kumulierte menschliche Elend zu einer stabilen Demokratie führen? Das war völlig<br />

unvorstellbar. Stalin hatte gehofft, dass die Millionen Vertriebenen das ohnehin danie<strong>de</strong>rliegen<strong>de</strong> Deutschland<br />

<strong>de</strong>stabilisieren wür<strong>de</strong>n und auch West<strong>de</strong>utschland unweigerlich in die Arme <strong>de</strong>s Kommunismus treiben wür<strong>de</strong>.Konrad<br />

A<strong>de</strong>nauer, <strong>de</strong>r erste <strong>de</strong>utsche Bun<strong>de</strong>skanzler, war sich <strong>de</strong>ssen bewusst. Zu Beginn seiner Kanzlerschaft 1949 stellte er<br />

fest: „Ehe es nicht gelingt, <strong>de</strong>n Treibsand <strong>de</strong>r Millionen von Flüchtlingen durch ausreichen<strong>de</strong>n Wohnungsbau und<br />

Schaffung entsprechen<strong>de</strong>r Arbeitsmöglichkeiten in festen Grund zu verwan<strong>de</strong>ln, ist eine stabile innere Ordnung in<br />

Deutschland nicht gewährleistet". In <strong>de</strong>r Aufnahme und Einglie<strong>de</strong>rung dieser riesigen Menschenmasse sah er eines <strong>de</strong>r<br />

drängendsten Probleme <strong>de</strong>r jungen west<strong>de</strong>utschen Demokratie.Eines <strong>de</strong>r ersten überhaupt vom Deutschen Bun<strong>de</strong>stag<br />

verabschie<strong>de</strong>ten Gesetze war <strong>de</strong>shalb das Soforthilfegesetz vom September 1949. Von Gewicht war auch das<br />

Lastenausgleichsgesetz von 1952. Mit <strong>de</strong>m Bun<strong>de</strong>s-Vertriebenen- und Flüchtlingsgesetz vom 19. Mai 1953 war die so<br />

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genannte Kriegsfolgengesetzgebung vorläufig abgeschlossen. Dieses Gesetz geht über die sozialen Aspekte weit hinaus.<br />

Es hatte und hat <strong>de</strong>n Sinn, <strong>de</strong>n Deutschen aus <strong>de</strong>m Osten einen angemessenen Platz in <strong>de</strong>r hier heimischen<br />

Gesellschaft zu gewährleisten. Der wirtschaftlichen Einglie<strong>de</strong>rung zu Beginn <strong>de</strong>r 50er <strong>Jahre</strong> und <strong>de</strong>r ersten Sicherung<br />

wenigstens elementarster Grundbedürfnisse sollte nun die gesellschaftliche Einglie<strong>de</strong>rung folgen. Integration, nicht<br />

Assimilation war und ist das Ziel dieses Gesetzes. Das sind die i<strong>de</strong>ellen Grundgedanken von Einglie<strong>de</strong>rungspolitik, die<br />

<strong>de</strong>n Vertriebenen nicht mit bloßer Caritas, son<strong>de</strong>rn mit Solidarität und Gleichberechtigung begegnen will. Den grausamen<br />

Kriegs- und Nachkriegsverlusten Deutschlands stehen auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite unschätzbare Gewinne <strong>de</strong>r<br />

Aufnahmegesellschaft gegenüber, auch wenn diese das zunächst überhaupt nicht so gesehen hat: Das unsichtbare<br />

Fluchtgepäck <strong>de</strong>r Vertriebenen, ihr technisches, handwerkliches o<strong>de</strong>r aka<strong>de</strong>misches know how, ihre sieben-,<br />

achthun<strong>de</strong>rtjährige kulturelle Erfahrung im Neben- und Miteinan<strong>de</strong>r mit ihren slawischen, madjarischen, baltischen o<strong>de</strong>r<br />

rumänischen Nachbarn hat Deutschland nachhaltig geprägt - Erfahrungen, die in Verbindung mit vielfacher<br />

Mehrsprachigkeit in keinem an<strong>de</strong>ren westlichen Industriestaat so verdichtet sind wie in Deutschland! Die<br />

Heimatvertriebenen haben interkulturelle Kompetenz mitgebracht. Und sie haben <strong>als</strong> unsichtbares Fluchtgepäck ihre<br />

kulturelle I<strong>de</strong>ntität eingebracht. Nichts, was sofort sichtbar gewesen wäre, son<strong>de</strong>rn das, was in Kopf und Herzen<br />

mitgetragen wur<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>r Heimat hierher.Das Kulturgut <strong>de</strong>r Vertriebenen ist unverzichtbarer <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntität <strong>de</strong>s ganzen<br />

<strong>de</strong>utschen Volkes. Das Erbe <strong>de</strong>r Karlsuniversität in Prag hat unser Volk genauso geprägt wie das <strong>de</strong>r Universitäten<br />

Königsberg, Breslau, Dorpat, Czernowitz o<strong>de</strong>r Hei<strong>de</strong>lberg, Tübingen, Marburg, München, Leipzig o<strong>de</strong>r Berlin. Das zu<br />

ignorieren hieße, geistige Wurzeln kappen. So war es weise, dass die junge Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland die<br />

Verantwortung für das gesamte kulturelle Erbe unabhängig von Grenzen und von staatlicher Zugehörigkeit hervorhoben.<br />

„Bund und Län<strong>de</strong>r haben das Kulturgut <strong>de</strong>r <strong>Vertreibung</strong>sgebiete in <strong>de</strong>m Bewusstsein <strong>de</strong>r Vertriebenen und Flüchtlinge, <strong>de</strong>s<br />

gesamten <strong>de</strong>utschen Volkes und <strong>de</strong>s Auslan<strong>de</strong>s zu erhalten, Archive, Museen und Bibliotheken zu sichern, zu ergänzen<br />

und auszuwerten, sowie Einrichtungen <strong>de</strong>s Kunstschaffens und <strong>de</strong>r Ausbildung sicherzustellen und zu för<strong>de</strong>rn. Sie haben<br />

Wissenschaft und Forschung bei <strong>de</strong>r Erfüllung <strong>de</strong>r Aufgaben, die sich aus <strong>de</strong>r <strong>Vertreibung</strong> und <strong>de</strong>r Einglie<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r<br />

Vertriebenen und Flüchtlinge ergeben, sowie die Weiterentwicklung <strong>de</strong>r Kulturleistungen <strong>de</strong>r Vertriebenen und Flüchtlinge<br />

zu för<strong>de</strong>rn". Dieser gesetzliche Auftrag ist geboren aus <strong>de</strong>r Erkenntnis, dass es ein gemeinsames kulturelles Fundament<br />

gibt. Hier liegt heute manches im Argen und im Bewusstsein <strong>de</strong>r Menschen ist es nicht.Die schönsten Seiten unseres<br />

Vaterlan<strong>de</strong>s sind in seinem kulturellen Reichtum mit vielen unterschiedlichen Facetten zu fin<strong>de</strong>n. In schöpferischem Geist<br />

erwuchsen über die Jahrhun<strong>de</strong>rte Musik, Literatur, Philosophie, Baukunst und Malerei. Und herausragen<strong>de</strong> Köpfe hatten<br />

ihre Heimat in <strong>de</strong>n <strong>Vertreibung</strong>sgebieten. Namen wie Immanuel Kant, Käthe Kollwitz, Arthur Schopenhauer o<strong>de</strong>r Adalbert<br />

Stifter sind einige Beispiele dafür.Heute, <strong>60</strong> <strong>Jahre</strong> nach Beginn <strong>de</strong>r gezielten Massenvertreibungen kann man von einer<br />

alles in allem gelungenen Einglie<strong>de</strong>rung von weit über zwölf Millionen Vertriebenen und vier Millionen Aussiedlern in die<br />

<strong>de</strong>utsche Gesellschaft sprechen. Vieles, was in <strong>de</strong>n 50er <strong>Jahre</strong>n noch dringend und drängend war, ist es eben heute nicht<br />

mehr - dank <strong>de</strong>r Einglie<strong>de</strong>rungsleistung, die die Vertriebenen, die Aussiedler und die Einheimischen gemeinsam erbracht<br />

haben. Diese großartige Gemeinschaftsleistung war und ist nahezu ein Wun<strong>de</strong>r. Erst daraus konnte Frie<strong>de</strong>n und<br />

Wohlstand in Deutschland und Europa erwachsen.Der französische Politikwissenschaftler Alfred Grosser hat die<br />

Integration <strong>de</strong>r Vertriebenen und Flüchtlinge <strong>als</strong> die größte sozial- und wirtschaftspolitische Aufgabe bezeichnet, die von <strong>de</strong>r<br />

Bun<strong>de</strong>srepublik gemeistert wor<strong>de</strong>n sei. Dem kann man nur zustimmen. Dennoch wird in <strong>de</strong>r Darstellung <strong>de</strong>r<br />

Nachkriegsgeschichte Deutschlands diese grandiose Leistung praktisch nicht benannt, son<strong>de</strong>rn überwiegend ignoriert.<br />

Warum aber konnte diese Herkulesaufgabe gelingen? Die Aufnahme einer solch großen Zahl von Menschen in so kurzer<br />

Zeit hätte schon ein intaktes Staatswesen vor kaum lösbare Probleme gestellt.Zweierlei hat dazu beigetragen. Der erste<br />

Grund: Die Heimatvertriebenen haben nicht Rachegedanken kultiviert, son<strong>de</strong>rn immer und immer wie<strong>de</strong>r manifestiert,<br />

dass sie Versöhnung wollen mit <strong>de</strong>n Staaten und <strong>de</strong>n Menschen, die sie vertrieben haben. Und in <strong>de</strong>r schon legendären<br />

Charta von 1950 zu<strong>de</strong>m artikuliert: „Wir wer<strong>de</strong>n durch harte, unermüdliche Arbeit teilnehmen am Wie<strong>de</strong>raufbau<br />

Deutschlands und Europas". Aber auch in <strong>de</strong>r DDR haben die Vertriebenen unter ganz an<strong>de</strong>ren, viel schwierigeren<br />

Bedingungen ihren Beitrag zum Aufbau geleistet. Obwohl sie sich nicht zusammenschließen durften, keine Not- und<br />

Trostgemeinschaften bil<strong>de</strong>n konnten wie die Vertriebenen im Westen Deutschlands.Der zweite Grund, warum unsere<br />

Demokratie eine Chance hatte, zu wachsen und stabil zu wer<strong>de</strong>n: Die Parteien <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland<br />

unterstützten über zwei Jahrzehnte einmütig die Anliegen <strong>de</strong>r Vertriebenen und waren sich ihrer Verantwortung sehr<br />

bewusst. Nicht nur Bun<strong>de</strong>skanzler A<strong>de</strong>nauer, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>r Fraktionsvorsitzen<strong>de</strong> <strong>de</strong>r sozial<strong>de</strong>mokratischen<br />

Opposition, Kurt Schumacher, und Erich Ollenhauer <strong>als</strong> Parteivorsitzen<strong>de</strong>r stan<strong>de</strong>n an <strong>de</strong>r Seite <strong>de</strong>r Heimatvertriebenen<br />

und mit ihnen <strong>de</strong>r frei<strong>de</strong>mokratische Bun<strong>de</strong>spräsi<strong>de</strong>nt Theodor Heuss.Doch En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r <strong>60</strong>-er <strong>Jahre</strong> wan<strong>de</strong>lte sich das<br />

Klima. Es kam zu einem Prozess <strong>de</strong>r Entsolidarisierung großer <strong>Teil</strong>e <strong>de</strong>r politischen Klasse, insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r politisch<br />

links Stehen<strong>de</strong>n gegenüber <strong>de</strong>n Vertriebenen. Ein Mantel <strong>de</strong>s Schweigens und Verschweigens begann sich über<br />

Deutschland zu legen, durchbrochen durch verbale Attacken auf Vertriebene.Selbstkritisch stellte Bun<strong>de</strong>sinnenminister<br />

Otto Schily 1999 in seiner Re<strong>de</strong> im Berliner Dom fest: „Die politische Linke hat in <strong>de</strong>r Vergangenheit, das lässt sich lei<strong>de</strong>r<br />

nicht bestreiten, zeitweise über die <strong>Vertreibung</strong>sverbrechen, über das millionenfache Leid, das <strong>de</strong>n Vertriebenen zugefügt<br />

wur<strong>de</strong>, hinweggesehen, sei es aus Desinteresse, sei es aus Ängstlichkeit vor <strong>de</strong>m Vorwurf, <strong>als</strong> Revanchist gescholten zu<br />

wer<strong>de</strong>n, o<strong>de</strong>r sei es in <strong>de</strong>m Irrglauben, durch Verschweigen und Verdrängen eher <strong>de</strong>n Weg zu einem Ausgleich mit<br />

unseren Nachbarn im Osten zu erreichen. Dieses Verhalten war Ausdruck von Mutlosigkeit und Zaghaftigkeit.<br />

Inzwischen wissen wir, dass wir nur dann, wenn wir <strong>de</strong>n Mut zu einer klaren Sprache aufbringen und <strong>de</strong>r Wahrheit ins<br />

Gesicht sehen, die Grundlage für ein gutes und friedliches Miteinan<strong>de</strong>r fin<strong>de</strong>n können". Auch wenn bis heute noch nicht<br />

je<strong>de</strong>r davon zu überzeugen war, so gibt es immerhin eine lebendige Diskussion, <strong>de</strong>r sich kein Medium verschließt.Dem<br />

objektiven Sachverhalt <strong>de</strong>r völligen gewaltsamen Umformung <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Nachkriegsgesellschaften durch die<br />

Aufnahme soziokulturell, religiös o<strong>de</strong>r dialektal teilweise total von <strong>de</strong>n Aufnahmeregionen unterschie<strong>de</strong>nen Vertriebenen<br />

stand über sehr lange Zeit eine subjektive Wahrnehmungsverweigerung dieser ganz Deutschland und das gesamte<br />

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Deutsche Volk betreffen<strong>de</strong>n einschnei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Katastrophe gegenüber. Das Thema <strong>Vertreibung</strong> wur<strong>de</strong> primär <strong>als</strong> soziales<br />

Problem gesehen und nicht <strong>als</strong> <strong>de</strong>utsche I<strong>de</strong>ntitätsfrage.Nur wenige begriffen bereits in <strong>de</strong>n 50er <strong>Jahre</strong>n, was die<br />

<strong>Vertreibung</strong> und die Aufnahme Millionen ost- und su<strong>de</strong>ten- und südost<strong>de</strong>utscher Heimatvertriebener in West- und <strong>de</strong>m<br />

damaligen Mittel<strong>de</strong>utschland be<strong>de</strong>utete. Der Soziologe Eugen Lemberg beschrieb schon 1950 <strong>de</strong>n unter<br />

tumultuarischen, von Not und Mangel bestimmten Nachkriegsverhältnissen verlaufen<strong>de</strong>n und oft auch konfliktreichen<br />

Prozeß <strong>als</strong> die „Entstehung eines neuen Volkes aus Binnen<strong>de</strong>utschen und Ostvertriebenen", <strong>als</strong>o gewissermaßen <strong>als</strong><br />

intraethnische Ethnomorphose. Niem<strong>als</strong> seit <strong>de</strong>m Augsburger Religionsfrie<strong>de</strong>n 1555 o<strong>de</strong>r seit <strong>de</strong>m Dreißigjährigen Krieg<br />

waren die <strong>de</strong>mographischen und konfessionellen Verhältnisse in Deutschland <strong>de</strong>rmaßen umgestürzt wor<strong>de</strong>n.Wir sind noch<br />

sehr weit entfernt von einer gemeinsamen Erinnerungskultur, die diesen <strong>Teil</strong> <strong>de</strong>utscher Geschichte integrativ umfasst,<br />

und erst recht von einer europäischen. Aber alle Facetten unserer Geschichte gehören zur gesamt<strong>de</strong>utschen I<strong>de</strong>ntität. Im<br />

Bewusstsein ist das bis heute nicht.<br />

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