Grillparzer und Katona - EPA
Grillparzer und Katona - EPA
Grillparzer und Katona - EPA
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
124 ERNST JOSEPH GORLICH<br />
Welche Mißverständnisse! Welche hochmütige herabsetzende Beurteilung der dichterischen<br />
Fähigkeiten eines Volkes, das in dem gleichen Augenblick, in dem GRILLPARZER<br />
diese Sätze niederschrieb, bereits eine Reihe hervorragender Dichter hervorgebracht<br />
hatte; eine Zeit, in der schon der geniale ALEXANDER PETŐFI wirkte <strong>und</strong> in der bereits<br />
JOSEPH KATONA (1791—1830), Ungarns größter Dramatiker des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />
gestorben war. GRILLPARZER hat diesen literarischen Aufschwung des ungarischen<br />
Geistes überhaupt nicht wahrgenommen.<br />
*<br />
Ist es ein Zufall der Geschichte, ein Possenspiel des Augenblicks, daß GRILLPARZER<br />
<strong>und</strong> KATONA im gleichen Jahr geboren wurden? GRILLPARZER, der Sohn des k. k.<br />
Hof- <strong>und</strong> Gerichtsadvokaten, aus gutbürgerlichem Haus; KATONA, das Kind eines<br />
armen Proletariers, eines Webers aus dem ungarischen Städtchen Kecskemét. Erst<br />
ein Jahr vorher ist JOSEPH II. gestorben; knapp ein Jahr später wird LEOPOLD IL,<br />
einer der aufgeklärtesten Fürsten Europas ebenfalls die Augen schließen. Jener<br />
LEOPOLD II. (Großherzog von Toscana 1765—1790, Kaiser 1790—1792), der erst in<br />
der jüngsten Geschichtsschreibung in seiner ganzen Größe erkannt wurde, der bereit<br />
war, der neuen Zeit das zu geben, was ihr zukam <strong>und</strong> dessen „Reformatio Leopoldina"<br />
noch der sterbende MARTINOVICS, als „ungarischer Jakobiner" zum Tod<br />
verurteilt, zu vertreten erklärte 4 . In Österreich <strong>und</strong> in Ungarn folgte nach LEOPOLDS<br />
IL Tod die Reaktion, die sich zwar während der napoleonischen Kriege nicht so<br />
bemerkbar machte, aber nach dem Ende des Wiener Kongresses 1815 mit aller Deutlichkeit<br />
hervortrat. Wohl hatten KAROLINE PICHLER <strong>und</strong> ihr Kreis, vor allem auch<br />
JOSEPH VON HORMAYR, der später nach Bayern ging <strong>und</strong> der erbitterte Gegner des<br />
Metternich'schen Systems wurde, auf die Traditionen der im habsburgischen Völkerreich<br />
vereinigten Nationen hingewiesen: man begann tschechische, ungarische, „illyrische"<br />
(= südslawische) Stoffe zu behandeln, aber man blieb bei Äußerlichkeiten, bei<br />
farbigem, exotisch erscheinendem Kolorit, bei innerer Fremdheit. Man hielt — wie<br />
GRILLPARZER — für Vergangenheit, was in Wirklichkeit Zukunft war. Sicherlich, die<br />
mittelalterlichen Reiche Ungarn <strong>und</strong> Böhmen waren Feudalstaaten gewesen <strong>und</strong> keine<br />
modernen Nationalstaaten, für die sie von Tschechen <strong>und</strong> Ungarn des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
in romantischer Verklärung gehalten v/urden, aber sie boten diesen beiden<br />
Völkern jene Vorbilder, durch die sie aus dem Kreis der „geschichtslosen" Nationen<br />
hervorgehoben wurden. In Ungarn <strong>und</strong> Böhmen gab es alte staatliche Traditionen,<br />
die man nur zu neuem Leben zu erwecken brauchte.<br />
Was in Österreich als „Vormärz" oder kulturell als „Biedermeier" bezeichnet wird 5 ,<br />
4<br />
SILAGI, DENIS Ungarn <strong>und</strong> der geheime Mitarbeiterkreis Kaiser Leopolds IL München<br />
1961 <strong>und</strong> "WANGERMANN, ERNST From Joseph IL to Jacobin Trials. London 1959.<br />
5 Der Biedermeier-Begriff wurde auf literargeschichtlichem Gebiet zuerst eingeführt von<br />
BIETAK, WILHELM Das Lebensgefühl des österreichischen Biedermeiers in der österreichischen<br />
Dichtung. Leipzig 1931. Schon ERNST ALKER hat ihn lebhaft bekämpft (ALKER, ERNST<br />
Geschichte der deutschen Dichtung seit Goethes Tod. Band 1. Stuttgart 1949, S. 131).<br />
Die Biedermeierdeutung BIETAKS weist — den dreißiger Jahren entsprechend — „reaktionäre"<br />
Züge auf. Demgegenüber könnte sich nur eine andere Biedermeierdeutung behaupten,<br />
die sich aber nur auf die Literatur der Donauländer bezöge, <strong>und</strong> deren Wesenszüge<br />
josephinische Gedankenwelt, barocke Tradition <strong>und</strong> romantische Formensprache wären