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Einige Einzeller schwimmen durch eine Nährlösung - Die melange

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<strong>Die</strong> Protistin<br />

von Marc Drobot<br />

<strong>Einige</strong> <strong>Einzeller</strong> <strong>schwimmen</strong> von <strong>eine</strong>r <strong>Nährlösung</strong> umgeben <strong>durch</strong> den Tag. Auf <strong>eine</strong>n<br />

Objektträger gesperrt bewegen sie sich gleichmäßig und still, während Jaqueline sie <strong>durch</strong><br />

ein Lichtmikroskop beobachtet. Sie denkt: „Kein Entkommen ist möglich“ und fühlt sich<br />

ermächtigt, ihnen Namen zu geben. <strong>Die</strong> Welt dieser Amöben ist begrenzt, k<strong>eine</strong> Möglichkeit,<br />

außerhalb der Lösung zu überleben, k<strong>eine</strong> bewussten Versuche, auszubrechen. Ihr Auge<br />

hebt sich vom Okular des Mikroskops und richtet sich auf Jakob, der <strong>eine</strong> Reihe weiter an<br />

der Fensterseite des Biologieraumes sitzt und ebenfalls mit dem Anfertigen <strong>eine</strong>r möglichst<br />

detaillierten Zeichnung der untersuchten Organismen beschäftigt ist. Jaqueline betrachtet<br />

ihn. Er hat bereits <strong>eine</strong>n Namen. Als ein paar Sonnenstrahlen <strong>durch</strong> den trüben<br />

Morgenhimmel hacken, überlegt Jaqueline, ob sie mit ihm zusammenkommen sollte. Im<br />

Hinblick auf die Thematik „Protisten (<strong>Einzeller</strong>) und die ungeschlechtliche Fortpflanzung“<br />

hegt sie in diesem Punkt wesentliche Zweifel. Ihrer neuesten Theorie zufolge gaben die<br />

höher entwickelten Lebewesen - wie sie, Jakob und die anderen - die theoretische<br />

Unsterblichkeit des einzelnen Individuums auf, als sie sich innerhalb <strong>eine</strong>r Spezies zusätzlich<br />

in verschiedene Geschlechter aufteilten. Da wird Jaquelines Untätigkeit von ihrer Dozentin<br />

bemerkt und pflichtbewusst schaut sie sehr offensichtlich zurück in ihr Mikroskop. „Es würde<br />

k<strong>eine</strong> zeitlich begrenzte Lebensspanne geben, da sich wie bei den einzelligen Organismen<br />

das Elternindividuum aufteilt und jeweils zwei, an sich identisch, verjüngte Nachleben schafft.<br />

Es gäbe k<strong>eine</strong> Toten. Erfahrungen könnten vererbt werden. Alles wäre weniger dramatisch.<br />

Doch, sagt sie sich, hier haben wir die Geschlechtersorgen und die müssen nun einmal<br />

ausgearbeitet werden. Bis es niemand mehr hören kann, dieses Geschwätz. Bis sich am<br />

Ende jede Seite gefickt fühlt. Und dann, auch immer wieder, Der Tod. Nach dem Biokurs<br />

hängt sie mit Leuten vor der Mensa rum. Sie lässt sich von Jakob <strong>eine</strong> Zigarette anzünden.<br />

Im Märzlicht kommt er ihr sehr alt vor. Sie wünschte, er wäre jünger. Dann hätte sie im<br />

Märzlicht nicht dieses Gefühl, als er wäre schon fortgeschritten und sie noch Anfänger. Aber,<br />

denkt sie und saugt heißen Rauch in ihre Lungen, bald wird es Frühling werden. Und sie<br />

weiß vom letzten Jahr, dass er ihr im Mai wieder besser gefallen wird.<br />

Nachdem sie geraucht hat, nachdem die Zigarette auf dem Pflaster zertreten ist, glaubt sie<br />

nicht mehr an Vereinigung und nimmt die U-Bahn nach haus. Sie schwimmt in ihrem Habitat<br />

und fragt sich, was mit <strong>eine</strong>m Geschlecht anfangen? Also listet sie was ihr vorkommt:<br />

Geschlecht - kann falsch auferlegt sein / Geschlecht - kann Geschlechtern im Weg sein


Geschlecht - kann besessen machen / Geschlecht - kann Neid entfachen<br />

Geschlecht - kann schmerzen, weiß Gott! / Geschlecht - kann treffen Spott<br />

Geschlecht - will unterwerfen / Geschlecht - wird unterdrückt<br />

Geschlecht - sehnt sich nach anderen / Geschlecht - wird gefickt.<br />

Oder es lässt sie unwissend suchen. Und diese Suche, ist das etwa der Antrieb, der<br />

Jaqueline all die Dinge überstehen lässt? Genannte Dinge wie „Das Abwaschen“, „<strong>Die</strong><br />

Rechnungen bezahlen“, „Das am Leben anderer Teilhaben“. <strong>Die</strong>se Dinge in die Richtung<br />

<strong>eine</strong>r Antwort. Nur ist es k<strong>eine</strong>. Also lässt sie ihren Namen in <strong>eine</strong>r Suchmaschine ausfindig<br />

machen und findet alliterative „Hobbyhuren“ die in ihrem Namen schattige Geschäfte<br />

betreiben und findet nichts von <strong>eine</strong>r unsicheren jungen Frau. Jaqueline nimmt<br />

Kamillenextrakt versetztes Wasser in den Mund und gurgelt, bis es schäumt, bis sie<br />

ausspuckt, dabei denkt sie an <strong>eine</strong>n Abend, an dem Jakob sich übergeben musste, auf <strong>eine</strong>r<br />

Party. Es war nicht s<strong>eine</strong> Schuld, der Eiersalat war schon etwas angegangen und er hat nun<br />

einmal <strong>eine</strong>n empfindlichen Magen. Jaqueline bemerkte Jakob als erste, nachdem er noch<br />

bleicher als sonst aus dem Badezimmer kam und fragte ihn, ob er <strong>eine</strong>n Kamillentee und<br />

Zwieback wolle. Sie hatte darauf gewartet. Er nahm widerstandslos an und ließ sie unbeirrt<br />

s<strong>eine</strong> Schwächen bemerken. Später wurde dann getanzt, die Wohnung war abgedunkelt und<br />

das Büfett in der Küche schwand. Jakob trank zuerst Tee und bald Tee mit Wodka, der ihm<br />

gut bekam. Und während die anderen hemmungslos tranken/ hemmungslos tanzten/<br />

hemmungslos Männer oder Frauen waren, in diesem Moment, da fügte sich Jakob kränkelnd<br />

ihren Anweisungen und schien ihr ehrlich der Schwächere, der Bemitleidenswertere zu sein.<br />

Damals, als sie dann s<strong>eine</strong>n Kopf hielt und s<strong>eine</strong> Schläfen massierte, da glaubte Jaqueline,<br />

sich im Dunst der Jugend in Jakob verlieben zu können. Sie hatte davon schon bei <strong>eine</strong>r<br />

früheren Begegnungen mit ihm (Party im Alexis vor 3 Wochen) <strong>eine</strong> Ahnung gehabt. Nun<br />

sah sie sich kurz <strong>durch</strong> diese Sicherheit überzeugt. Überzeugt von: Liebe existiert. Zeitgleich<br />

mit diesem Gefühl in ihr sprang Jakob auf und rannte würgend zurück aufs Klo.<br />

Jaqueline gurgelt wieder und ist dabei erstaunt, wie Erinnerungen an Dingen wie<br />

Kamillengeschmack haften können. Erinnerungen, die verloren gehen, wenn ihr Körper<br />

später zerstört werden sollte oder verfällt oder ihr Geist nicht weiter altern kann. Sie fragt<br />

sich: „Was wäre wichtig von mir, was sollten die Nachgeborenen von mir wissen?“ Als ihr<br />

nichts einfallen will isst sie ein Brot mit Quark/ ärgert sie sich den Mund zuvor gespült zu<br />

haben/ legt sie sich in ihr Bett. Es ist kurz nach 6 Uhr abends.<br />

„Ich bin an sich <strong>eine</strong> Frau“, überlegt Jaqueline, „und wenn ich Kinder habe, dann werden die<br />

nichts von mir wissen, außer ich erzählte es ihnen“. Und dazu, glaubt sie, hätte sie k<strong>eine</strong><br />

Lust. Der Einzelne mit s<strong>eine</strong>m Gelebten und s<strong>eine</strong>n Geschichten teilt sich nicht, zerteilt sich<br />

nicht weiter, der Einzelne geht immer verloren und das Geschlecht gibt nicht sie sondern


lediglich ihre Hülle weiter. Und ihr Körper, denkt sie und überlegt kurz, aufzustehen, um sich<br />

im Spiegel zu betrachten, ihr Körper? Nun ja, ist wohl auch kein Gewinn!<br />

Tage später begegnet sie Jakob im Alexis. Nach <strong>eine</strong>r erträglichen Menge Rotwein sagt sie<br />

zu ihm: „Ich hab’ nachgedacht. Wir sollten eigentlich zusammen sein!“ und Jakob fragt vom<br />

tanzen schwitzend, wie sie darauf komme. Erst dann wundert er sich über ihre Aussage. Sie<br />

sagt: „D<strong>eine</strong> Amöbenzeichnungen sehen scheiße aus.“ Jakob weiß, dass sie in diesem<br />

Punkt vermutlich recht hat nur weis er nicht was sie ihm damit sagen will. Dann erzählt sie<br />

ihm ihre Geschlechtertheorie. Er lacht nicht einmal und sagt, er müsse jetzt weiter.<br />

Mitte Mai: Jakob und Jaqueline besuchen mittlerweile unterschiedliche Kurse. Als sie sich<br />

zufällig in <strong>eine</strong>m Uni nahen Park begegnen, erinnern sich beide. Das Licht ist schön, so am<br />

frühen Nachmittag. Beide haben nichts zu tun. Da Jakob sich an diesem Abend im Alexis<br />

dann auch ein bisschen geärgert hat. Verwundert, warum er irgendwie ängstlich von ihr weg<br />

wollte, fragt er nun, da er glaubt, k<strong>eine</strong> Angst mehr haben zu müssen: „Kann ich dich<br />

küssen?“ und Jaqueline ist nicht überrascht, sie kennt das vom letzen Jahr, doch auch wenn<br />

er im Mailicht schön aussieht, Jaqueline lehnt gleichmütig ab. Sie hat für sich - vor Tagen<br />

schon - <strong>eine</strong>n Weg erdacht, ihre Erinnerungen zu vererben und Papier und Kugelschreiber<br />

helfen dabei. Sie schreibt: Jakob und ich trafen uns im Park. Er sagte, er wolle mit mir<br />

zusammen sein. Er sah sehr attraktiv aus, aber ich schickte ihn dennoch weg, obwohl ich ihn<br />

doch gern für mich gehabt hätte. Weil, ich glaube, oft bin ich <strong>eine</strong> Frau, die aber immer ein<br />

Mensch bleibt. Manchmal wäre ich gern <strong>eine</strong> Amöbe. - 14. Mai 2...

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