Die nackte Unschuld von Katja Leonhardt Es war wie ... - Die melange
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<strong>Die</strong> <strong>nackte</strong> <strong>Unschuld</strong><br />
<strong>von</strong> <strong>Katja</strong> <strong>Leonhardt</strong><br />
<strong>Es</strong> <strong>war</strong> <strong>wie</strong> jeden Abend. Er stand vor der Wohnungstür und traute sich nicht,<br />
den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Katarina würde sich beim Klicken des<br />
Schlosses für ihn bereit machen. Einen Moment lang überlegte er, ob er<br />
einfach <strong>wie</strong>der gehen sollte, aber er hatte keine Ahnung wohin. Unwillig<br />
schloss er die Tür auf, die bereitwillig dem sanften Druck nachgab. Als er die<br />
Tür öffnete, konnte er die Stille fühlen, die sich jeden Tag mehr aufbaute. Er<br />
trat ein, hängte seine Jacke an die Garderobe und ging ins Wohnzimmer.<br />
Dort saß sie, schattenhaft, unwirklich, in die Ecke des braunen Cordsofas<br />
gedrängt. Obwohl es schon aufs Frühjahr zuging, <strong>war</strong> sie winterfest<br />
angezogen. Ein weiter blassroter Pullover über einer schlaffen blassblauen<br />
Hose. Ein Schal um den dürren Hals. Er hatte ihr vor ein paar Wochen eine<br />
Bluse geschenkt, leuchtend rot. Sie hatte sie nie angezogen und ihn nur böse<br />
angeschaut. Das sei nun wirklich nicht ihr Stil.<br />
Aus tief liegenden Augen starrte sie ihn an. Er kannte diesen Blick, er musste<br />
jetzt etwas sagen. So was <strong>wie</strong>: Hallo Schatz, ich bin <strong>wie</strong>der da. - Das kann sie<br />
selbst sehen. - Wie geht es dir? - Als ob das eine Antwort brauchte. - Also<br />
fragte er: „Na, was hast du heute gemacht?“ und er lobte sich, das „Na“ hatte<br />
fast natürlich und locker geklungen und die Frage <strong>war</strong> neu. Neu, aber nicht<br />
gut.<br />
„Was soll ICH denn schon getan haben?“<br />
Nimm dich zusammen, du müsstest es gewohnt sein, sagte er sich, hatte er<br />
denn was anderes er<strong>war</strong>tet. Seit sie ihre Arbeit hingeschmissen hatte, tat sie<br />
nicht mehr viel. Er <strong>war</strong> dagegen gewesen, dass sie kündigte, aber sie hatte<br />
gemeint, sie könne nicht mehr, das hielte sie nicht mehr aus.<br />
Er hatte sie angefleht, das sei ihre letzte Verbindung zur Außenwelt, sie solle<br />
nicht alles hinschmeißen, eine Woche nen Gelben, um alles zu sortieren. Dann<br />
würde sie das schon <strong>wie</strong>der hinkriegen. Aber sie hatte nur gesagt, sie<br />
brauche Zeit zum Gesundwerden. Er solle ihr vertrauen, ihr glauben, ihr sei es<br />
ernst. Er konnte ihr nicht mehr glauben, wollte es auch nicht mehr. Aber er<br />
hatte sie geheiratet, er musste sie lieben und schützen.<br />
„Dein <strong>Es</strong>sen ist fertig“, sagte sie. DEIN <strong>Es</strong>sen.<br />
Sie sagte immer, sie könnte nicht essen, aber eigentlich wollte sie es nicht.<br />
Willst du mit mir essen? - Sollte er das fragen? Früher hatte sie gesagt: du<br />
denkst nur an dich, du verstehst mich nicht. Jetzt sprach sie es nicht mehr<br />
aus, und er fragte auch nicht mehr, denn er hatte ohnehin nie eine Antwort<br />
darauf bekommen. Er musste jetzt essen, sein Magen knurrte. Sie hatte es<br />
gehört, ein Wunder, dass sie nicht auf seine Schwäche spuckte. Sie hatte ihm<br />
Kartoffelauflauf gemacht, mit dick Sahne und Käse und Speck. Sie kostete nie,<br />
trotzdem schmeckte es immer. Er stellte sich zum <strong>Es</strong>sen ans Fenster, setzte<br />
dann Teewasser auf, Katarina mochte Tee, so konnte er sie locken. Früher<br />
hatte er sie mit vielem locken können, mit Eiscreme und Schokolade und<br />
tiefen Küssen. Jetzt <strong>war</strong> nur noch der Tee übrig.<br />
Er schlich ins Wohnzimmer und fragte sie, ob sie einen Tee mit ihm trinken<br />
würde. Wenn sie einen guten Tag hatte, wünschte sie sich eine bestimmte<br />
Sorte, heute nickte sie nur kurz.<br />
Er ging zurück und brühte den Tee auf, ließ ihn ziehen, gab in ihre Tasse ein<br />
wenig kaltes Wasser dazu, damit sie sich nicht die Zunge verbrannte.<br />
Katarina kam auf dicken Socken in die Küche gewackelt und kauerte sich auf
die Küchenbank. Ihre Gelenke wollen den Körper verlassen, dachte er,<br />
deshalb machen sie sich dick und wackeln so <strong>von</strong> einer Seite zur andern, sie<br />
wollen auch weg.<br />
Er stellte die Tasse vor ihr auf den Tisch. Sie sah heute noch schlechter aus.<br />
Sie roch an der Tasse. Jetzt sieht sie gierig aus, dachte er, vielleicht ist es ein<br />
Anfang. Aber dann fing sie <strong>wie</strong>der an. Sie starrte mit trüben Augen aus dem<br />
Fenster und er wollte sie <strong>wie</strong>der zu sich auf den Schoß nehmen <strong>wie</strong> früher, als<br />
er ihren weichen Körper an sich gepresst hatte und sie beide dachten, dass<br />
alles immer gut wird, wenn sie nur zusammen sind. Und damals hatte er ihre<br />
Brüste gespürt und ihren schönen breiten Hintern und deshalb wollte er sie<br />
jetzt nicht mehr auf seinem Schoß haben, weil ihre spitzen Gesäßknochen ihm<br />
an den Oberschenkeln schmerzen würden, weil er ihre Rippen statt ihre<br />
Brüste spüren würde.<br />
Er sah sie an und wollte sie voll stopfen, wollte ihr alles, was sie so anekelte,<br />
die vielen Kalorien, tief in den Hals stopfen, sie zum Schlucken zwingen, sie<br />
nudeln <strong>wie</strong> eine Gans mit Fett und Sahne und Eis und Pudding. Und er würde<br />
sie zwingen alles zu verdauen, jedes Gramm würde auf ihren Hüften landen,<br />
bis sie <strong>wie</strong>der stark <strong>war</strong> und gesund und fröhlich.<br />
„Willst du denn nichts essen, es wird dir gut tun“, sagte er, und ‚du wirst dann<br />
viel schöner sein als jetzt’, dachte er, aber sie sch<strong>wie</strong>g nur verstockt und<br />
starrte auf ihre Skeletthände.<br />
Er hatte dieses Schweigen nicht verdient, sie konnte das nicht mit ihm<br />
machen. Er riss sie hoch, trug sie ins Badezimmer, vorbei an dem Zimmer, das<br />
einmal ein Kinderzimmer hätte werden sollen. Wehr dich, dachte er, lass dir<br />
das nicht gefallen, lass dich nicht tragen <strong>wie</strong> ein Püppchen, wehr dich.<br />
Im Badezimmer stellte er sie vorsichtig ab, begann sie zu entkleiden,<br />
behutsam, aber zügig, Stück für Stück, die Strümpfe, die Hose, den Pullover,<br />
die geblümte Unterwäsche. Jetzt würde er sie aufwecken können, jetzt würde<br />
sie sich sehen können, <strong>wie</strong> er sie sah.<br />
Eine Hand um ihren knochigen feuchtkalten Leib hielt er sie vor dem Spiegel<br />
fest, zeigte auf ihr Spiegelbild. Schau dich an, schau dir meine Augen an,<br />
wenn ich dich so sehe, schau dich an, da, deine Knochen, sie kommen bald<br />
durch die Haut, du bist krank, bald bist du nichts mehr, hör auf, hör auf, hör<br />
auf.<br />
Dann brach Katarina zusammen. <strong>Die</strong> Ärzte hatten sie ge<strong>war</strong>nt. Jetzt müsste<br />
schnell Hilfe her, sonst <strong>war</strong> alles zu spät. Koma oder Tod. Tot. Er müsste den<br />
Notarzt rufen. Er stand. Sie fraß jetzt ihr eigenes Gehirn auf. Er stand.<br />
Dann begann er sie <strong>wie</strong>der anzuziehen. Stück für Stück, Socken,<br />
Unterwäsche, Hosen, Pullover. Ließ sie zu Boden gleiten. Ging raus, zog die<br />
Schuhe an, den Mantel, nahm den Schlüssel und ging. Zu dem kleinen<br />
Italiener an der Ecke würde er gehen, dort kannte man ihn. Eine kleine Pizza,<br />
ein Wein und ein längeres Gespräch mit dem Kellner, der würde sich dann<br />
später an ihn erinnern. Dann noch ein Bier in der Stammkneipe.<br />
In 5 oder 6 Stunden würde er zurückkommen, den Krankenwagen rufen, man<br />
würde ihm herzliches Beileid wünschen. Dann würde er seine<br />
Sch<strong>wie</strong>germutter anrufen, sie würde weinen, aber ihm sagen, dass ja alle<br />
schon auf so etwas gefasst <strong>war</strong>en. Dann noch ein paar Freunde und<br />
Verwandte anrufen, die auch alle darauf gefasst <strong>war</strong>en.<br />
Alle würden zur Beerdingung kommen.