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Ekkehard Martens Integratives Philosophieren mit hochbegabten Kindern

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<strong>Ekkehard</strong> <strong>Martens</strong><br />

„Das Schiff des Theseus“ – integratives <strong>Philosophieren</strong> <strong>mit</strong> <strong>hochbegabten</strong><br />

<strong>Kindern</strong> und Jugendlichen zwischen Denktraining und Happening<br />

<strong>Philosophieren</strong> kann beides sein: Denktraining und Happening, und beides ist zunächst<br />

durchaus begrüßenswert. Genau sprechen und argumentieren üben im Sinne eines weit<br />

verstandenen analytischen <strong>Philosophieren</strong>s kann das Denken schärfen; außerdem ist dies<br />

ein wichtiger Bestandteil des <strong>Philosophieren</strong>s und hat – wie etwa Lateinlernen - einen<br />

willkommenen, recht nützlichen Nebeneffekt: Denktraining als Mittel zu allen möglichen<br />

Zwecken. Obendrein kann das Tüfteln <strong>mit</strong> Gedanken- und Begriffen und das Austesten<br />

der eigenen intellektuellen Möglichkeiten, vor allem im sportlichen Wettstreit <strong>mit</strong><br />

anderen, auch Spaß machen: Happening als Selbstzweck. Aber auch ein lustvolles,<br />

phantasiereiches <strong>Philosophieren</strong> oder Spekulieren, was wäre wenn oder was wäre wenn<br />

gerade nicht, kann das Denken schärfen und zugleich ein Ereignis oder Erlebnis sein, das<br />

einfach Spaß macht. In beiden Fällen aber – als nützliches und lustvolles Denktraining<br />

sowie als nützliches und lustvolles Happening - bliebe das <strong>Philosophieren</strong> als Tätigkeit<br />

des Denkens, aber auch die Philosophie als vorliegendes Gedankengebäude oder als<br />

Schatzkammer des Denkens weit unterbestimmt. Man würde weder das Potential der<br />

Philosophie ausreichend ausschöpfen noch das Potential des Denkens von <strong>Kindern</strong>. Die<br />

Kinder würden sich nicht im vollen Ausmaß in ihrer Persönlichkeit entfalten können und<br />

„werden, die sie sind“. Und gerade hochbegabte Kinder und Jugendliche, die in ihrer<br />

Persönlichkeitsentwicklung oft zu einem einseitig intellektuellen, nüchternen oder im<br />

Gegenteil zu einem einseitig emotionalen, übersprudelnden Denken neigen, brauchen<br />

einen Ausgleich oder besser: eine Integration ihrer divergierenden Fähigkeiten. Was daher<br />

auch und besonders für sie hilfreich wäre, ist ein <strong>Philosophieren</strong>, das weder ein bloßes<br />

Denktraining noch ein bloßes Happening ist, sondern das sein eigenes Potential und das


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der Kinder im vollen Umfang entfaltet, und dies zum Wohl der Kinder und auch der<br />

Gesellschaft.<br />

Notwendig wäre ein integratives <strong>Philosophieren</strong>. Worin aber besteht ein integratives<br />

<strong>Philosophieren</strong>? Diese Frage möchte ich an einem Beispiel zu beantworten versuchen, am<br />

„Schiff des Theseus“, das als Frage nach der Identität zugleich ein Beitrag zum<br />

Rahmenthema ist: „Werde, der du bist“.<br />

Ich gliedere meine Ausführungen folgendermaßen:<br />

(1) Zunächst soll die Denktraining-Variante eines rein begrifflichargumentativen<br />

<strong>Philosophieren</strong>s dargestellt werden.<br />

(2) Danach folgt, gleichsam zur Erholung von der – selbst für Hochbegabte –<br />

recht anstrengenden Begriffsarbeit, die Happening-Variante eines spekulativen,<br />

phantasiereichen <strong>Philosophieren</strong>s.<br />

(3) Drittens soll in Anlehnung an ein praktisches Fallbeispiel die Integrations-<br />

Variante eines umfassenden <strong>Philosophieren</strong>s illustriert werden.<br />

(4) Abschließend wird diese Variante in einem Strukturvorschlag<br />

zusammengefasst, auch als Ausblick für eine mögliche Struktur von<br />

Hochbegabtenkursen.<br />

(1) Die Denktraining-Variante<br />

Die Frage, was im Werden und Vergehen von allen Dingen, von der Welt insgesamt, aber<br />

auch von uns selber, bleibt und ob alles oder wir selber von Anfang an ein identisches<br />

Wesen haben, das sich lediglich nach und nach entfaltet und „wird, was es ist“,<br />

beschäftigt uns nicht nur lebensweltlich, etwa beim Betrachten alter Kinderfotos, beim<br />

Problem der Abtreibung oder des Klonierens. Die Frage ist seit den Vorsokratikern als


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Frage nach der Arche oder dem Prinzip von allem bis in die gegenwärtige Fachdiskussion<br />

auch eine der schwierigsten und interessantesten philosophischen Fragen. Weniger<br />

existentiell und bedrängend als bei der Frage nach der Identität einer Person geht es<br />

allerdings zunächst bei der Frage nach der Identität von Dingen zu, beispielsweise, ob ein<br />

altes Schiff, dessen Teile alle oder fast alle ausgewechselt wurden, noch dasselbe Schiff<br />

ist oder nicht. Ein solches Schiff ist beispielsweise das „Schiff des Theseus“. Es war in<br />

der Antike ursprünglich Gegenstand kultischer Verehrung. Dabei geht es aber bei<br />

genauerem Hinsehen nicht nur um die Identität eines toten Dinges, sondern zugleich um<br />

die Identität von Personen, die <strong>mit</strong> dem alten Schiff ihre Beziehung zu den Göttern und<br />

zu ihrer eigenen Geschichte durch den Wechsel der Zeiten zu sichern versuchten. Das<br />

Schiff des Theseus bedeutet oder ist für die Griechen ihr eigenes Lebensschiff.<br />

Nach der mythologischen Überlieferung war der athenische Held Theseus <strong>mit</strong> einem<br />

Schiff nach Kreta gefahren und hatte <strong>mit</strong> Hilfe des Gottes Apoll die athenischen Geiseln<br />

aus der Macht des Minotauros im Labyrinth gerettet. Als Dank schickten die Athener<br />

seitdem jährlich das alte Schiff des Theseus als Festzug zu Apolls Heiligtum auf der Insel<br />

Delos. Wie die Athener versuchten, das alte Schiff fast tausend Jahre hindurch zu<br />

erhalten, berichtet im ersten nachchristlichen Jahrhundert Plutarch in seiner Schrift<br />

Lebensbeschreibungen (I 23): „Das Schiff [... ] haben die Athener bis auf die Zeiten des<br />

Demetrios Phaleros aufbewahrt [d. h. etwa eintausend Jahre lang bis ca. 300 v. Chr., E.<br />

M.], indem sie immer statt des verfaulten Holzes neues und festes einziehen ließen. Daher<br />

pflegten in der Folge die Philosophen bei ihren Streitigkeiten über das Wachstum der<br />

Dinge sich immer auf dieses Fahrzeug zu berufen, so dass einige behaupteten, es wäre und<br />

bleibe dasselbe Schiff, andere hingegen, es wäre ein ganz anderes.“ Für die Athener ist<br />

also die Identität des Theseus-Schiffes ähnlich wichtig wie für Christen die Echtheit von<br />

Reliquien, für die Philosophen dagegen ist es Anlass für die Identitätsfrage.


4<br />

Die kultischen und metaphysisch-existentiellen Bezüge lässt allerdings der Philosoph Jay<br />

R. Rosenberg außer acht, wenn er in seinem viel gelesenen Methoden-Buch<br />

<strong>Philosophieren</strong>. Ein Handbuch für Anfänger „das Schiff des alten griechischen Seefahrers“<br />

nur kurz erwähnt (Rosenberg, 1986, S. 64) und lediglich als Paradebeispiel genauer<br />

begrifflich-logischer Analyse benutzt: Das Theseus-Schiff T ist genau aus 1000 Planken<br />

zusammengesetzt; es liegt zur Stunde 0 auf dem Dock A und soll vollständig erneuert<br />

werden (Abb. 1). Zu diesem Zweck wird stündlich eine alte Planke von T entfernt und<br />

durch eine neue ersetzt, während die alten Planken auf dem Dock B nacheinander in der<br />

Anordnung von T zusammengefügt werden. Nach genau 1000 Stunden liegt auf dem<br />

Dock A ein Schiff X aus lauter neuen Planken, auf dem Dock B dagegen ein Schiff Y aus<br />

lauter alten Planken (Abb. 2). Welches ist nun T, das „Schiff des Theseus“, ist es X oder<br />

Y?<br />

Rein kombinatorisch sind nach Rosenberg vier Antworten möglich (Abb. 3):<br />

(1) T ist X<br />

(2) T ist Y<br />

(3) T ist weder X noch Y<br />

(4) T ist X und Y.<br />

Eine Prüfung der vier Antworten führt nach Rosenbergs Analyse zu folgendem Ergebnis:<br />

- Die Antwort (4) scheidet schnell aus: X und Y sind zwei Schiffe, während T<br />

ein Schiff ist; ein Ding kann aber nicht zugleich zwei Dinge sein.<br />

- Die Antwort (3) scheidet ebenfalls schnell aus, weil man sich dabei das<br />

Verschwinden des Schiffes T beim Bau von X und Y nicht erklären könne: In<br />

welchem Bauabschnitt und auf welche Weise ist denn T verschwunden?


- Die Antwort (1) dagegen ist zunächst akzeptabel: T blieb die ganze Zeit auf<br />

Dock A und ist jetzt X, auch wenn <strong>mit</strong> ihm eine ganze Menge gemacht wurde.<br />

5<br />

- Die Antwort (2) ist ebenfalls zunächst akzeptabel: T wurde auf Dock A<br />

nacheinander zerlegt und auf Dock B nacheinander als Y wieder<br />

zusammengebaut.<br />

Bei einer näheren Prüfung gehen jedoch diese beiden zunächst akzeptablen Antworten<br />

nach Rosenberg von unhaltbaren Prämissen aus:<br />

- Die Antwort (1) (T ist X) setzt voraus, man könne das Prinzip: “Ersetzt man<br />

einen Teil eines komplexen Gegenstandes, so beeinflusst das nicht die Identität<br />

dieses Gegenstandes« beliebig oft auf denselben Gegenstand anwenden. Eine<br />

derartige Anwendung des Prinzips führt Rosenberg an Hand eines Beispiels ad<br />

absurdum: Reißt man aus Homers Wuschelkopf von 10 000 Haaren<br />

nacheinander im Laufe von 10 000 Minuten jeweils ein Haar aus, hätte Homer<br />

demnach nie eine Glatze, was aber offensichtlich nicht stimmen kann.<br />

- Aber auch die Antwort (2) (T ist Y) geht von einer unhaltbaren Prämisse<br />

aus: „Ein Ganzes ist nichts weiter als die Summe seiner Teile in einer<br />

bestimmten Anordnung“ oder genauer: “Ein Ganzes ist nichts weiter als die<br />

Summe seiner ehemaligen Teile“. Zwar waren die Planken von Y tatsächlich<br />

einmal Teile von T, aber ob Y deshalb noch das alte Schiff T ist, sei gerade die<br />

Frage.<br />

<strong>Philosophieren</strong> fängt nach Rosenberg erst dann an, wenn nicht nur bloß unterschiedliche<br />

Meinungen äußert, etwa die vier Antworten (1) bis (4), sondern wenn man sie in ihren<br />

Prämissen herausarbeitet und begrifflich-argumentativ prüft, auch ohne abschließende<br />

Antworten zu finden. An diesem Punkt befindet er sich in bester sokratischer Gesellschaft


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des „Rechenschaftgebens“. Allerdings verengt er das Rechenschaftgeben auf die<br />

begrifflich-argumentative Analyse und erfüllt da<strong>mit</strong> lediglich eine notwendige, aber keine<br />

hinreichende Bedingung des <strong>Philosophieren</strong>s. Das <strong>Philosophieren</strong> im sokratischen Sinne<br />

ist mehr. Es bezieht sich – mindestens – auch auf eine konkrete Problemlage So bezieht<br />

sich etwa die Frage nach der Tapferkeit auf die Werteunsicherheit der Homerischen Welt<br />

nach dem Peloponnesischen Krieg oder die Frage nach der Identität vom „Schiff des<br />

Theseus“ auf ein konkretes kultisches Selbstverständnis der Athener. Wenn man aber<br />

<strong>mit</strong> Rosenberg das »Schiff des Theseus« von seinen kultischen oder metaphysischexistentiellen<br />

Bezügen isoliert, wird es leicht zu einem auswechselbaren Übungsbeispiel<br />

sophistisch-scholastischer Methodenschärfe, das man als interaktives Computerspiel<br />

alleine oder <strong>mit</strong> anderen zusammen spielen könnte. Was ist die Alternative?<br />

(2) Die Happening-Variante<br />

Gareth Matthews berichtet in seinem Buch Philosophische Gespräche <strong>mit</strong> <strong>Kindern</strong><br />

(Matthews 1989), wie er sich ein Jahr lang wöchentlich zu einer freiwilligen<br />

Philosophiestunde <strong>mit</strong> einer kleinen Gruppe von Acht- bis Zehnjährigen an der<br />

Musikschule in Edinburgh (Schottland) traf. Zu Stundenbeginn legte er den <strong>Kindern</strong><br />

meistens den Anfang einer von ihm selbst verfassten Geschichte vor, die zum<br />

Weiterdenken reizt, und las ihnen später den Schluss der Geschichte vor, wie er ihn als<br />

Ergebnis der gemeinsamen Überlegungen für sie zusammengefasst hatte. Aus dem Schiff<br />

des Theseus ist bei Matthews in dem Kapitel Das Schiff das um 1840 gesunkene und erst<br />

1982 wieder gehobene Segelschiff »Maria Magdalena« geworden, das im Museum zu<br />

besichtigen ist. Von der »Maria Magdalena« sind »fast alle« Planken ersetzt worden - ist<br />

es noch das alte Schiff oder bloß eine Kopie?<br />

Anders als bei Rosenberg ist nicht eine abstrakte »Identitätsfrage« <strong>mit</strong> einem beliebigen<br />

Übungsbeispiel der Ausgangspunkt eines monologischen <strong>Philosophieren</strong>s, sondern ein


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konkretes Beispiel, das sich die Kinder im gemeinsamen Dialog lebhaft vorstellen können.<br />

In der von Matthews vorgelesenen Geschichte kann sich etwa Fred die gefährlichen<br />

Schlachten lebhaft vorstellen, die das alte Schiff durchgemacht hat, und er wäre sicher<br />

selber gerne als Schiffsjunge dabei gewesen. Immerhin hätte er auf diese Weise an den<br />

spannenden Abenteuern der „Maria Magdalena“ teilnehmen können. Man kann sich leicht<br />

ausmalen, wie aufgeschlossene, geistig bewegliche Kinder schnell ins Erzählen kommen<br />

können, wenn man sie auffordert sich zu überlegen, was alles auf dem alten Schiff<br />

passiert ist oder hätte passieren können. Schnell kommen sie auch auf ähnliche Beispiele,<br />

etwa auf das uralte Fahrrad des Vaters, <strong>mit</strong> dem er bereits als Kind Riesentouren<br />

unernommen hatte und das unterdessen kaum noch ein altes Teil hat; oder man kommt auf<br />

den geplanten Wiederaufbau des alten Berliner Schlosses, von dem kaum mehr ein alter<br />

Stein übriggeblieben ist, wie übrigens auch vom Kölner Dom nicht. Den <strong>Kindern</strong> fallen<br />

aber nicht nur haufenweise Beispiele ein, sondern sie haben auch Ideen, warum es sich<br />

noch um das alte Schiff handelt oder nicht. Und sie können ihre Einfälle mehr oder<br />

weniger scharfsinnig verteidigen. Die Stunde wird zu einem lustigen Happening des<br />

Geschichten-Erzählens oder geistigen Fingerhakelns. Natürlich bleibt es in der durchaus<br />

lebhaften Kindergruppe bei Gareth Matthews nicht bei einem derartigen Happening.<br />

Inwiefern nicht?<br />

(3) Die Integrations-Variante<br />

Nach den ersten Brainstorming spitzte Matthews noch einmal das Problem der<br />

vorgelesenen Geschichte hartnäckig auf die Frage zu: „Altes oder nachgebautes Schiff?“<br />

Er beschränkte sich anschließend nach Art der »(neo-)sokratischen Methode« von Nelson<br />

und Heckmann darauf, auf den roten Faden zu achten, einzelne Antworten festzuhalten,<br />

auf Widersprüche und begriffliche Unklarheiten aufmerksam zu machen sowie konkrete<br />

Beispiele für die einzelnen Behauptungen zu fordern.


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Die Kinder ließen sich auf recht komplizierte Begriffsklärungen und Argumente ein, oft<br />

in lebhaften Auseinandersetzungen innerhalb der Gruppe. Dabei vertraten sie im Laufe der<br />

Diskussion insgesamt vier Positionen, inwiefern es sich noch um dasselbe Schiff handeln<br />

könnte (Abb. 4):<br />

(a) ein paar alte Planken reichen noch<br />

(b) »der Geist« des alten Schiffes muss noch vorhanden sein<br />

(c) der Kiel als wichtigster Teil ist ausschlaggebend<br />

(d) es kommt auf den kontinuierlichen Umbau an.<br />

Ähnlich wie Rosenberg, wenn auch nicht <strong>mit</strong> derselben Perfektion, deckten auch die<br />

Kinder die Voraussetzungen und Schwächen der verschiedenen Positionen auf und<br />

korrigierten sie zum Teil:<br />

- Die Ablehnung von (a) erfolgte ohne weitere Erklärungen. Offensichtlich<br />

war den <strong>Kindern</strong> das logische Problem von »Homers Wuschelkopf« intuitiv<br />

klar, wann genau der Wuschelkopf aufhört und die Glatze anfängt, so dass für<br />

sie »ein paar alte Planken« genauso wenig eine Antwort war wie »ein paar<br />

Haare«.<br />

- Auf Freds kurz hingeworfenen Antwort (b) vom „Geist“ oder der<br />

Atmosphäre des alten Schiffes gingen die Kinder allerdings auch nicht näher<br />

ein; und ein Nachhaken hätte den flüssigen Gesprächsverlauf leicht stoppen<br />

können.<br />

- Vielmehr steuerten sie schnell auf die neue Antwort (c) vom Kiel als<br />

wichtigstem Teil zu. Als Matthews nach einigem Durcheinander fragte, für<br />

wen denn der Kiel ebenfalls der wichtigste Teil sei, hoben alle Kinder


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zustimmend die Hände. Allerdings wurde ihre anfängliche Sicherheit nach<br />

und nach erschüttert. Zunächst gab ein Junge zu bedenken, dass man den Kiel<br />

ja nicht sehen könne. Sein Gegenargument wurde jedoch durch das Argument<br />

entkräftet, das Schiff sei auch dann das alte Schiff, wenn man seinen alten<br />

Kiel nicht sehen könne. Man hat dann allerdings kein sichtbares<br />

Entscheidungskriterium mehr, wie Matthews nachträglich das erste Argument<br />

stützt. Offensichtlich aus diesem Grund schien daraufhin einem Mädchen die<br />

gut sichtbare Kajüte das Wichtigste am alten Schiff zu sein. Diese allerdings,<br />

so entgegneten andere Kinder, sei nur ein Teil auf dem Schiff und nicht des<br />

Schiffes.<br />

- Schließlich kam jemand auf die Idee, den problematischen Ansatz <strong>mit</strong> der -<br />

fachphilosophisch gesprochen – Unterscheidung von Substanz und Akzidenz<br />

oder von wesentlich und unwesentlich fallen zu lassen und statt dessen (d) den<br />

allmählichen Umbau zu betonen: Solange man das Schiff nach und nach<br />

ausbessert und irgendwelche alte Teile übrigbleiben, ist es noch das alte<br />

Schiff. Allerdings erwiderte sofort ein anderes Kind, dass ein beliebiger alter<br />

Holzsplitter doch nicht für das alte Schiff ausschlaggebend sein könne.<br />

Wenn man ein philosophisches Gespräch nicht steuern möchte, bleiben verschiedene<br />

interessante Denkmöglichkeit ungedacht, etwa die Idee, die Antwort <strong>mit</strong> dem<br />

wesentlichen Schiffskiel <strong>mit</strong> der Antwort vom allmählichen Umbau zusammen zu<br />

nehmen; oder die platonische Antwort, ob das alte „Aussehen“ (eidos) oder der Bauplan<br />

des Schiffes entscheidend sei. Auch Matthews' Hoffnung, dass die Kinder von selber auf<br />

die Frage kommen würden, was denn nicht nur am alten Schiff, sondern auch an unserem<br />

Körper oder an unserer Person <strong>mit</strong> ihrem Charakter, ihren Einstellungen oder Gefühlen<br />

trotz aller Veränderungen unverändert dasselbe bliebe, erfüllte sich nicht. Kann man etwa,


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so ließe sich fragen, jemanden lebenslänglich für eine Tat bestrafen, dessen identischer<br />

Täter er möglicherweise nach einiger Zeit gar nicht mehr ist? Oder umgekehrt: Liegen<br />

schon sämtliche Eigenschaften von Anfang an keimhaft in uns vor? Werden wir<br />

allmählich, die wir im Kern immer schon sind? Vielleicht könnten im Einzelfall<br />

inhaltliche Impulse das Gespräch durchaus bereichern.<br />

Aber zurück zum Fallbeispiel: inwiefern handelt es sich hierbei weder um ein bloßes<br />

Denktraining noch um ein bloßes Happening, sondern um ein integratives <strong>Philosophieren</strong>?<br />

(4) Strukturvorschlag<br />

In dem hier nur kur skizzierten praktischen Fallbeispiel von Gareth Matthews lassen sich<br />

einige der Methoden erkennen, die ein integratives <strong>Philosophieren</strong> mehr oder weniger<br />

deutlich auszeichnen (vgl. <strong>Martens</strong> 1999, 2003):<br />

- Bezug auf konkrete Erfahrungen oder Beispiele („Maria Magdalena“)<br />

- Deutungen äußern und hören (die vier Positionen)<br />

- begriffliche Klärungen vornehmen (wichtigster Teil)<br />

- Argumente kontrovers diskutieren (Dialog)<br />

- Spekulationen oder Spinnereien wagen („Geist“ des Schiffes)..<br />

Diese fünf Methoden lassen sich in einem Strukturvorschlag zusammenfassen (Abb. 5, 6).<br />

Hierzu einige knappe Erläuterungen:<br />

- die Methoden sind der Sache nach nicht voneinander zu trennen („Dein<br />

Zimmer ist heute wieder mal ein Saustall!“)<br />

- sie lassen sich in Spurenelementen bereits bei kleineren <strong>Kindern</strong> vorfinden<br />

und können schrittweise eingeübt und ausdrücklich gelernt werden


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- sie enthalten nicht nur formale Kunstgriffe, sondern auch eine inhaltliche<br />

Materialkunde (Deutungsmuster)<br />

- sie sind zugleich Mittel (zum Einüben von Sozialverhalten und<br />

Demokratiefähigkeit) und Selbstzweck (als Persönlichkeitsentwicklung)<br />

- analog zu lesen, schreiben und rechnen ist methodisch philosophieren eine<br />

elementare Kulturtechnik.<br />

- philosophiehistorisch lassen sich die fünf Methoden beispielsweise in Platons<br />

sokratischen Frühdialogen wiederfinden (quer zur Unterscheidung<br />

mündlich/schriftlich)<br />

- schließlich lassen sie sich systematisch von den elementaren Sprech- und<br />

Reflexionshandlungen des Beschreibens, Deutens, Klärens, Bestreitens und<br />

Phantasierens her begründen – die einzelnen philosophischen Richtungen sind<br />

dann lediglich hoch elaborierte Ausprägungen hiervon<br />

<strong>Philosophieren</strong> als elementare Kulturtechnik, so möchte ich abschließend<br />

behaupten, empfiehlt sich auch und besonders für längerfristig angelegte Kurse <strong>mit</strong><br />

<strong>hochbegabten</strong> <strong>Kindern</strong> und Jugendlichen:<br />

- um ihr Denkpotential umfassend auszuschöpfen und zu fördern<br />

- um verlässliche Methoden des Denkens zu üben statt scheinbar sichere<br />

Gedanken anzustreben<br />

- um einer Haarspalterei, aber auch einer „Laberei“ vorzubeugen<br />

- und um handwerklich gekonnt zu arbeiten, etwa <strong>mit</strong> Hilfe eines (allmählich<br />

in der Gruppe zu entwickelnden) Werkzeugkastens.<br />

Ein derartiger Werkzeugkasten könnte die simplen Fragen bearbeiten helfen:


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- Was sehe ich?<br />

- Was ist das?<br />

- Was meine ich da<strong>mit</strong>?<br />

- Warum meine ich das und stimmt das?<br />

- Was wäre wenn oder wenn nicht...?<br />

Wie jeder Werkzeugkasten ist allerdings auch der Werkzeugkasten des <strong>Philosophieren</strong>s für<br />

jeden einzelnen Fall anders und nur <strong>mit</strong> viel Geschick zu benutzen. Sonst bliebe es doch<br />

wieder beim mechanischen Denktraining oder beim chaotischen Happening, statt durch ein<br />

integratives <strong>Philosophieren</strong> sich selbst im Umgang <strong>mit</strong>einander und <strong>mit</strong> der Welt zu erproben<br />

und zu entwickeln.<br />

Zitierte Literatur<br />

<strong>Ekkehard</strong> <strong>Martens</strong>, <strong>Philosophieren</strong> <strong>mit</strong> <strong>Kindern</strong>. Eine Einführung in die Philosophie.<br />

Stuttgart: Reclam 1999<br />

ders., Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts. <strong>Philosophieren</strong> als elementare<br />

Kulturtechnik. Hannover: Siebert 2003<br />

Gareth B. Matthews, Philosophische Gespräche <strong>mit</strong> <strong>Kindern</strong>. Berlin: Freese 1989<br />

Jay F. Rosenberg, <strong>Philosophieren</strong>. Ein Handbuch für Anfänger. Frankfurt/M.: Klostermann<br />

1986.

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