Heimat-Ort der Identität.pdf - Prof. Christoph Mäckler Architekten
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„<strong>Heimat</strong> - <strong>Ort</strong> <strong>der</strong> <strong>Identität</strong>“<br />
(<strong>Prof</strong>. <strong>Christoph</strong> <strong>Mäckler</strong>)<br />
Vortrag gehalten am 17. Juni 2002<br />
„Tag für Denkmalpflege“<br />
Kurhaus Wiesbaden<br />
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Als ich in <strong>der</strong> zweiten Hälfte <strong>der</strong> Achtzigerjahre in Berlin-Nie<strong>der</strong>schönhausen mit dem Bau <strong>der</strong><br />
Residenz <strong>der</strong> Ständigen Vertretung <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland bei <strong>der</strong> DDR begann, wurde ich<br />
beim Besuch Ostberlins mit unserer deutschen Geschichte zum ersten Mal in ungewöhnlicher Nähe<br />
und Intensität konfrontiert. Mit jedem Schritt, <strong>der</strong> mich durch diese Stadt führte, fühlte ich mehr von<br />
einem Gestern, das 1945 abgeschlossen schien und für uns damit in weiter Ferne lag und das wir, trotz<br />
<strong>der</strong> zeitlichen Nähe, nur aus dem Geschichtsbuch kannten. Es war eine mir fremde Vergangenheit, die<br />
sich hier in <strong>der</strong> Taubenstraße mit ihrem Vorkriegspflaster und den stillgelegten Straßenbahngleisen als<br />
die Vergangenheit meiner eigenen Familie darbot.<br />
Da war die von Einschüssen durchsiebte Natursteinfassade jenes Hauses hinter <strong>der</strong> Staatsbibliothek<br />
Unter den Linden, die mir jene letzten Tage des Krieges näher zu bringen schien und jenes übrig<br />
gebliebene Fassadenmosaik in <strong>der</strong> Ruine des WMF-Kaufhauses an <strong>der</strong> Leipziger Straße, dort wo<br />
meine Mutter seinerzeit die noch heute in Gebrauch befindlichen Schöpfkellen aus einer Art nicht<br />
rostendem Edelstahl gekauft hatte.<br />
Und da waren jene Reste von Kaffeehaustischen und den silbernen Tabletts des alten Café Bauers<br />
Unter den Linden, die wir bei Ausgrabungen für das Lindencorso zu Tage för<strong>der</strong>ten, und das Gebäude<br />
des Reichspropagandaministeriums, dem man den die Welt beherrschenden Reichsadler abgenommen<br />
hatte und wenige Schritte weiter das Reichsluftfahrtministerium Hermann Görings, beide Gebäude<br />
streng bewacht von Volkspolizisten und in ihrer Architektur unnahbar und gerade so erschreckend,<br />
wie man es uns im Studium gelehrt hat. Und als Jahre später die lächerlich dünn wirkenden und nicht<br />
unüberwindbar erscheinenden Einzelteile <strong>der</strong> Berliner Mauer auf LKWs aus <strong>der</strong> Stadt gefahren<br />
wurden und am Eingang des ehemaligen Reichsluftfahrtministeriums <strong>der</strong> Bundesadler zur<br />
Kennzeichnung <strong>der</strong> Außenstelle des Bundeswirtschaftsministeriums prangte, ließ ich mich spontan auf<br />
meinem Weg zur Ständigen Vertretung in Nie<strong>der</strong>schönhausen von einem Pförtner durch die<br />
Räumlichkeiten, Flure und den großen Sitzungssaal dieses Ministeriums führen, um den <strong>Ort</strong> in mich<br />
aufzunehmen, an dem knapp 50 Jahre zuvor jener Reichsfeldmarschall Göring zugegen war.<br />
Einem <strong>Ort</strong>, an dem Entscheidungen gefällt wurden, die das Leben in Europa, vor allem aber auch<br />
unser Leben in Deutschland nach 1945 bis heute tiefgreifend verän<strong>der</strong>n sollten. Lassen Sie mich dieser<br />
persönlichen Erfahrung, die mir unsere jüngste Vergangenheit auf so einfache Weise näher zu bringen<br />
vermochte und mich eintauchen ließ in eine Zeit, die mich bis dahin wie die Zeit eines an<strong>der</strong>en Landes<br />
anmutete, lassen Sie mich dieser Erfahrung den folgenden Satz Dieter Hoffmann Axthelms<br />
gegenüberstellen: (ich zitiere)<br />
„Ich will wissen, wo Hegel gelebt hat, nicht wie sein Hausflur aussah.“<br />
Dieses Wort steht im Wi<strong>der</strong>spruch meiner persönlichen Erfahrungen, heißt dies doch, dass wir nur die<br />
Fassade und nicht die dahinter liegenden Räume benötigen, o<strong>der</strong>, dass wir die Geschichte auf eine<br />
Gedenktafel am <strong>Ort</strong> des Geschehens reduzieren könnten.<br />
2
Und um es vorweg zu nehmen: Wenn wir uns mit einem <strong>Ort</strong> identifizieren wollen, ihn als Teil unserer<br />
Geschichte verstehen und als Teil unseres Zuhauses akzeptieren wollen, benötigen wir mehr als nur<br />
eine Gedenktafel im öffentlichen Raum.<br />
Im Folgenden möchte ich Ihnen drei Häuser des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts vorstellen und den Versuch<br />
unternehmen, <strong>der</strong>en unter-schiedlichen Wert in Bezug auf die Identifikation mit dem <strong>Ort</strong> für uns und<br />
nachfolgende Generationen aufzuzeigen.<br />
Da ist zunächst ein rotes Haus auf <strong>der</strong> Insel Capri, fertiggestellt 1942 von einem gewissen Kurt Erich<br />
Suckert, <strong>der</strong> sich 1926 mit 28 Jahren das Pseudonym Curzio Malaparte zulegte. Es ist ein Bauwerk,<br />
das weniger durch seine räumliche Disposition als durch seine einmalige Lage auf den Felsklippen <strong>der</strong><br />
Insel Capri im Mittelmeer und durch seine dunkelrote Farbe, die unser Auge im klaren Licht <strong>der</strong><br />
mediterranen Sonne in Kombination mit dem Azurblau des Wassers begeistert. Und es ist seine Form<br />
mit dem schwanzartig zulaufenden Treppenlauf und einer Geschichte, in <strong>der</strong> irgendwo Jean-Luc<br />
Godard und Brigitte Bardot und das faschistische Italien unter Mussolini vorkommen.<br />
Dann gibt es als zweites ein weißes Haus in <strong>der</strong> ehemaligen Tschechoslowakei, 1929 von Mies van<br />
<strong>der</strong> Rohe in Brünn für Fritz und Grete Tugendhat errichtet, ein Haus an einem steilen Hang in ähnlich<br />
exponierter Lage über <strong>der</strong> Stadt liegend, mit Blick auf das Schloss Spielberg, ein Haus mit einem<br />
fließenden Raum und <strong>der</strong> berühmt gewordenen Onyx-Wand und den vernickelten kreuzförmigen<br />
Stahlstützen, ein Haus das zur gleichen Zeit wie <strong>der</strong> Barcelona Pavillon entstand und für die Mo<strong>der</strong>ne<br />
trotzdem ein fast wichtigeres Bauwerk ist, weil es als Wohnhaus konzipiert und genutzt wurde. Ein<br />
Haus, das vor allem durch den <strong>Architekten</strong>namen und sein architektonisch räumliches Konzept im<br />
Inneren für die Geschichtsschreibung von beson<strong>der</strong>er Bedeutung ist und in dessen Geschichte <strong>der</strong><br />
Flugzeugkonstrukteur Willi Messerschmidt und die Rote Armee eine Rolle spielen.<br />
Als drittes sei ein ockergelbes Haus in Deutschland aus dem Jahre 1951 benannt, dessen Vorbild das<br />
Goethe-Haus aus dem 18. Jahrhun<strong>der</strong>t ist, ein Nachbau, inner-städtisch im Zentrum <strong>der</strong> Stadt<br />
Frankfurt am Main gelegen, ein ehemaliges Wohnhaus, das, wie das vorbeschriebene rote und weiße<br />
Haus, heute eine Art Museum für interessierte Besucher ist. Ein Haus, das im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t als eines<br />
<strong>der</strong> elegantesten seiner Zeit galt und dies, obwohl im Inneren bis auf ein großzügiges Treppenhaus<br />
architektonisch nichts Bemerkenswertes zu verzeichnen war. Ein Haus, das, an<strong>der</strong>s als das weiße und<br />
das rote Haus, ausschließlich durch den Namen Goethe unter Denkmalschutz gestellt wurde.<br />
Welches <strong>der</strong> drei Häuser mag für uns nun im Sinne einer Identifikation mit unserer Geschichte das<br />
Bedeutendste sein:<br />
das Rote von Kurt Erich Suckert, Sohn des Deutschen Erwin Suckert und Evelina Perelli,<br />
das Weiße, als Produkt des deutschen <strong>Architekten</strong> Ludwig Mies van <strong>der</strong> Rohe, o<strong>der</strong> das Ockergelbe,<br />
an dessen <strong>Ort</strong> Johann Wolfgang von Goethe einmal wohnte?<br />
In allen drei Bauwerken, und das ist ihnen gemein, steckt ein Stück deutscher Geschichte.<br />
3
In allen drei Bauwerken steckt auch ein gewisser Mystizismus und, jedes für sich genommen, macht<br />
den <strong>Ort</strong>, an dem es errichtet ist, zu etwas Beson<strong>der</strong>em, Beachtenswertem und Unverwechselbarem.<br />
Wir lieben das rote Haus als einen <strong>Ort</strong> <strong>der</strong> Poesie,<br />
wir schätzen das weiße Haus als <strong>Ort</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne,<br />
ein Stück kultureller <strong>Heimat</strong> aber scheint sich mir nur im <strong>Ort</strong> des ockergelben Hauses wie<strong>der</strong>zufinden.<br />
Und eben dies macht es uns zum Bedeutendsten <strong>der</strong> drei Häuser, obwohl es mit Sicherheit das für die<br />
Baukultur uninteressanteste Gebäude ist, ist es doch nur noch <strong>der</strong> <strong>Ort</strong>, an dem und nicht das Haus in<br />
dem Goethe einmal lebte.<br />
Nichts in <strong>der</strong> heutigen Umgebung hatte Goethe mit seinen eigenen Augen sehen können, wurde doch<br />
das gesamte mittelalterliche Zentrum Frankfurts in <strong>der</strong> Nacht des 22. März 1944, also an Goethes<br />
Todestag, durch Brandbomben vernichtet.<br />
Das Haus selbst, in jener Nacht ebenfalls bis auf die Grundmauern zerstört, ist ein not-dürftig<br />
zusammengezimmertes Nachkriegshaus und nicht einmal das negativ beladene Wort des<br />
„Zusammenzimmerns“ hält bei genauer Betrachtung dem kritischen Urteil des Betrachters stand,<br />
wurden beim Wie<strong>der</strong>aufbau doch Stahlträger in das Holzfachwerk eingefügt, um die Konstruktion<br />
zum Halten zu bringen.<br />
Und nicht einmal als Goethes Geburtshaus kann man das Gebäude bezeichnen, basiert doch das<br />
heutige Bild auf einem Totalumbau des Jahres 1756, also aus einer Zeit in <strong>der</strong> Johann Wolfgang als<br />
schon siebenjähriger Bub durch Frankfurts Gassen streifte.<br />
Und auch von dem ursprünglichen Mobiliar des Hauses ist kaum etwas geblieben, war Goethe doch<br />
nach Weimar, seine Mutter aber an die Frankfurter Hauptwache gezogen und das Haus darüber in<br />
Vergessenheit geraten, bis es die Grün<strong>der</strong> des Freien Deutschen Hochstifts 1859 wie<strong>der</strong> ins<br />
Bewusstsein ihrer Zeitgenossen rückten.<br />
Und so irren wir durch die Räume des ockergelben Hauses von 1951 und unsere Augen suchen nach<br />
<strong>der</strong> Authentizität eines verloren gegangenen <strong>Ort</strong>es. Vielleicht zeigen die Räume etwas von dem, wie es<br />
gewesen sein könnte zu Goethes Zeiten, etwas Zeitgeschichtliches also, aber zeigen sie mehr?<br />
Allein das Foto <strong>der</strong> Ruine von 1944 gibt uns Gewissheit, dass die ausgetretenen Stufen am Eingang<br />
des Hauses und die beiden rechten Fenster des Erdgeschosses mit ihren Sandsteingewänden und<br />
Gittern Originale sein müssen, es sei denn, man hätte auch sie in deutscher Gründlichkeit beim<br />
Wie<strong>der</strong>aufbau rekonstruiert.<br />
Ja, wir wollen wissen, wie „Hegels Hausflur“ aussah!<br />
Es ist eben diese <strong>Identität</strong> eines <strong>Ort</strong>es, die uns das sichere Gefühl von Tradition vermittelt, auf das<br />
aufbauend wir unsere Zukunft gestalten und nicht ausschließlich das wissenschaftliche Bild einer<br />
scheinbar anonymen Geschichte, einer Geschichte von Vorfahren, die wir nicht als unsere Vorfahren<br />
wahrnehmen.<br />
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Es ist die <strong>Identität</strong>, die Authentizität des <strong>Ort</strong>es, dem wir das Gefühl von Tradition, das Gefühl von<br />
einem Zuhause zu entreißen suchen, ein Gefühl, das wir in den letzten<br />
50 Jahren auf unsere eigenen vier Wände beschränkt haben und das im öffentlichen Raum als<br />
„<strong>Heimat</strong>“ umschrieben war.<br />
Und eben dieser Gedanke von <strong>Heimat</strong>, von Zuhause, scheint mir, muss zukünftig eine beson<strong>der</strong>e Rolle<br />
im Aufgabenbereich <strong>der</strong> Architektur und des Städtebaus innehaben. <strong>Heimat</strong> sei hierbei nicht<br />
verstanden als ein nur emotional auf die Vergangenheit bezogenes, verschwommenes Gefühl, son<strong>der</strong>n<br />
als inhaltliche Auseinan<strong>der</strong>setzung um die Gestaltung menschenwürdiger Verhältnisse in unserem<br />
Land, aufbauend auf Vorhandenem, Gebautem und Erlebtem früherer Generationen.<br />
Nicht nur das Einzelgebäude als Zeitzeuge einer beson<strong>der</strong>en Architektur, eines Stils o<strong>der</strong> einer<br />
einmaligen Bautechnik, nicht nur das rote, weiße o<strong>der</strong> ockergelbe Haus sind schützenswert.<br />
In einer Zeit, in <strong>der</strong> wir jährlich 60 Mio. Tonnen Bauschutt produzieren und in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Bauherr als<br />
verantwortlich handeln<strong>der</strong> Hausbesitzer eher zur Ausnahme geworden ist,<br />
in einer Zeit, in <strong>der</strong> unsere Städte noch immer an den Zerstörungen des Krieges, und schlimmer noch,<br />
an den Folgen des sogenannten „Wie<strong>der</strong>aufbaus“, <strong>der</strong> nur scheinbar ein Wie<strong>der</strong>aufbau war, leiden,<br />
in einer Zeit, in <strong>der</strong> die Architektur mehr und mehr von anonymen Architekturbüros, den sogenannten<br />
3 Buchstaben-Büros bestimmt wird, <strong>der</strong>en Qualität sich ausschließlich über die Qualität des<br />
angestellten Mitarbeiters bestimmt,<br />
in einer Zeit, in <strong>der</strong> dem Gestaltungsbedürfnis des freien <strong>Architekten</strong> darüber hinaus keine Grenzen<br />
gesetzt sind, in einer solchen Zeit muss <strong>der</strong> Architektur und dem Städtebau eine an<strong>der</strong>e Rolle<br />
zukommen, eine Rolle, die den baukulturellen Gesamtzusammenhang eines <strong>Ort</strong>es höher bewertet als<br />
den Einzelbau als Zeitdokument.<br />
Wir benötigen eine Architektur, die sich mehr dem städtischen Ensemble denn <strong>der</strong> Selbstdarstellung<br />
widmet,<br />
eine Architektur, die sich von scheinbar avantgardistischen Strömungen befreit und sich die<br />
Baugeschichte als Grundlage ihrer Ausformung zu eigen macht, ohne sich stilistisch anzubie<strong>der</strong>n.<br />
Dabei ist es wichtig, zu erkennen, dass <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne eine gesellschaftspolitische Dimension<br />
innewohnt, die eine stilistische Übernahme vergangener Bauepochen grundsätzlich ausschließt.<br />
Auszuschließen dagegen aber sind nicht jene Bauelemente und Konstruktionen, die die Mo<strong>der</strong>ne als<br />
unzeitgemäß und damit unzulässig verwarf. Sie zu erforschen und in unsere Zeit <strong>der</strong> Nachmo<strong>der</strong>ne zu<br />
übersetzen, empfinden wir als eine große Herausfor<strong>der</strong>ung.<br />
Und so beschäftigen wir uns seit einigen Jahren mit <strong>der</strong> Konstruktion unter-schiedlicher Dachformen,<br />
mit Dachgauben, Fenstergewänden, Fensterläden und <strong>der</strong> Ausbildung von Erkern. Wir versuchen uns<br />
in <strong>der</strong> Anlage des Vollmauerwerkes mit <strong>der</strong> Erfahrung, dass komplizierte Fensteranschlüsse,<br />
Hinterlüftungen, Abfangen von Vormauerschalen das aufwändige Unsichtbarmachen von Dehnfugen<br />
entfallen können, wir erforschen die Anmutung des steinmetztechnisch bearbeiteten Natursteins und<br />
die Wirkung verschiedener Steinformate und <strong>der</strong> unterschiedlichen Verbände des Ziegelmauerwerkes,<br />
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tauschen den Balkon gegen die Loggia, die Aufstän<strong>der</strong>ung des Bauwerkes gegen den Arkadenraum<br />
die Stütze gegen die Säule und den Pfeiler und ersetzen den Dreh-/ Kippbeschlag des Fensters durch<br />
den einen einfachen Lüftungsflügel und vieles mehr.<br />
All dies gibt uns die Möglichkeit, differenzierter auf den jeweiligen <strong>Ort</strong>, an dem neue Architektur<br />
entsteht, einzugehen und in Selbstverständlichkeit zu reagieren.<br />
Von großer Wichtigkeit für die Tradition eines <strong>Ort</strong>es scheint uns auch die Wahl <strong>der</strong> Materialien und<br />
<strong>der</strong>en perfekte Verarbeitung in selbstverständliche Formen zu sein.<br />
Erst sie garantieren Beständigkeit über Generationen und damit eine örtliche Tradition, die öffentlich<br />
wahrgenommen werden kann. Viele unserer europäischen Plätze haben sich in ihrem Äußeren seit<br />
Generationen kaum geän<strong>der</strong>t. Ihr Äußeres hat Tradition, <strong>der</strong> <strong>Ort</strong> hat Tradition und er hat eine eigene<br />
<strong>Identität</strong>, ein Wie<strong>der</strong>-erkennungswert, <strong>der</strong> für das Wohlbefinden des Menschen von unmessbarem<br />
Wert ist.<br />
Man kann den <strong>Ort</strong> <strong>der</strong> örtlichen Tradition am besten am eigenen Wohnzimmer ablesen. Um sich wohl<br />
zu fühlen, um sich zu Hause zu fühlen, spielt die Beständigkeit <strong>der</strong> Anordnung des Mobiliars, die<br />
Beständigkeit seiner Farbe, seiner Form und seiner Materialität eine unbedingte Rolle. Kein Mensch<br />
än<strong>der</strong>t ununterbrochen das Aussehen seines Zuhauses, ohne dass dies eine Auswirkung auf sein<br />
persönliches Wohlbefinden hätte. Lässt sich diese örtliche Tradition über das Wohnzimmer hinaus auf<br />
das Haus, in dem sich das Wohnzimmer befindet, auf die Straße, den Platz o<strong>der</strong> gar den <strong>Ort</strong> hin<br />
ausdehnen, steigt das persönliche Wohlbefinden des Stadtbewohners um ein Vielfaches.<br />
Doch während wir auf die Beständigkeit unseres persönlichen Zuhauses selbstverständlich Einfluss<br />
nehmen, scheinen uns die politischen Werkzeuge für die Einflussnahme auf die Beständigkeit <strong>der</strong><br />
örtlichen Tradition, <strong>der</strong> Straße, des Platzes o<strong>der</strong> gar eines gesamten <strong>Ort</strong>es zu fehlen.<br />
Sie sind uns abhanden gekommen, weil uns das Bewusstsein für den Wert <strong>der</strong> Beständigkeit des <strong>Ort</strong>es,<br />
für den Wert von Hegels Hausflur abhanden gekommen ist.<br />
Obwohl man ohne Mühe die Regeln für den Erhalt und die Alterungsfähigkeit von Bauwerken<br />
aufzuzählen vermag, scheint die Gesellschaft über diese Gesetzmäßigkeiten wenig informiert zu sein.<br />
Wie sonst ließen sich die vielen architektonischen Fehlgriffe in unseren Städten und <strong>der</strong> Abriss von<br />
nicht einmal 40 Jahre alten Gebäuden erklären?<br />
Während wir dem funktionalen Städtebau unsere ganze Aufmerksamkeit widmen, bleiben die Wahl<br />
und die Verarbeitung des Materials eines Bauwerkes und dessen architektonisches Erscheinungsbild<br />
völlig unberücksichtigt und dies obwohl ein jedes Haus im Zusammenspiel mit den Nachbarhäusern<br />
das städtebauliche Gesamtbild einer Straße o<strong>der</strong> eines Platzes prägt.<br />
Wir beachten die Höhe eines Hauses, ob eine Fassade aber aus Sandstein, rotem Ziegel, Putz o<strong>der</strong> aus<br />
Spiegelglas errichtet ist, entzieht sich dem öffentlichen Interesse.<br />
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Man überlässt es vielmehr dem <strong>Architekten</strong>, seine Vorstellungen frei zu realisieren und überlässt die<br />
städtebauliche Qualität und die Chance, eine örtliche Tradition zu stärken, damit dem Zufall.<br />
Und eben hier kommt <strong>der</strong> Denkmalpflege eine beson<strong>der</strong>e Rolle zu, denn zumindest an <strong>Ort</strong>en von<br />
historischer Bedeutung sollten wir über Gestaltungssatzungen auf die Integration von Neubauten in<br />
das Ensemble einwirken. Nicht <strong>der</strong> architektonische Alleingang des Einzelhauses, son<strong>der</strong>n die<br />
architektonische Gestalt, die sich dem Wohle des Gesamtbauwerkes, des Platzes o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Straße<br />
einfügt, schafft eine erkennbare <strong>Identität</strong>. Die Addition <strong>der</strong> sich einer Gestaltungssatzung<br />
unterordnenden Bauwerke gibt <strong>der</strong> Gesamtgestaltung dieser Plätze eine gestalterische Kraft, die weit<br />
über die Gestaltungsmöglichkeiten des Einzelbauwerkes hinausgehen.<br />
Das Einzelbauwerk profitiert damit also vom Gesamterscheinungsbild des Platzes.<br />
Und die Geschichte, die die Tradition dieses Platzes bis heute bestimmte, bildet die Grundlage <strong>der</strong><br />
aufzustellenden Gestaltungskriterien.<br />
Die Gestaltungssatzung ist ein politisches Instrument, das die bisherigen Baugesetze ergänzt und<br />
erweitert und Stadtparlamente in die Lage versetzt, fachlich fundierte Entscheidungen im Bereich des<br />
Städtebaus zu treffen.<br />
In einer Zeit, in <strong>der</strong> die Tradition <strong>der</strong> Platzgestaltung, wie wir sie seit Jahrhun<strong>der</strong>ten in Europa kennen,<br />
in Vergessenheit zu geraten droht, liegt es im Interesse des Gemeinwohls, die Idee <strong>der</strong> übergreifend<br />
einheitlichen Gestaltung in einer Stadt wie<strong>der</strong> aufzugreifen und die vorhandenen historischen<br />
Strukturen vor einer weiteren Zerstörung zu schützen.<br />
Die Gestaltungssatzung ist zunächst also ein Schutz <strong>der</strong> Interessen des Gemeinwesens Stadt und ein<br />
Instrument, das europäische Städte in ihrer Geschichte bis ins 19. Jahrhun<strong>der</strong>t angewandt haben.<br />
Im Baustatut <strong>der</strong> Stadt Frankfurt am Main aus dem Jahre 1809 ist zu lesen, ich zitiere:<br />
„dass jemand, <strong>der</strong> aus Liebe zum Son<strong>der</strong>baren o<strong>der</strong> aus Eigensinn seinem Gebäude eine solche<br />
Fassade geben wollte, durch welche ein offenbarer Missstand entstehen und die gemeine Straße<br />
verunziert werden würde, zu <strong>der</strong> Ausführung die Erlaubnis versagt werden soll“.<br />
Gestaltungssatzungen sind ein Regulativ, wie wir es aus an<strong>der</strong>en Lebensbereichen unserer<br />
demokratischen Gesellschaft kennen und gesetzlich verankert haben. <strong>Architekten</strong>, die sich einer<br />
Gestaltungssatzung wortreich verwehren, müssen sich die Frage stellen lassen, welchen Wert sie dem<br />
Gemeinwohl in unserer Gesellschaft zuordnen. Eine Architekturausbildung, die <strong>Architekten</strong><br />
hervorbringt, die nur mit „ihrem Beton“, „ihrem Klinker“ o<strong>der</strong> „ihrer Glashaut“ umzugehen verstehen,<br />
sollte man von Bauaufgaben innerhalb städtischer Ensembles fernhalten.<br />
Allerdings dürfen wir nicht verkennen, dass unsere eigene Ausbildung und die unserer Studenten fast<br />
ausschließlich dem Entwurf gewidmet war und ist, und es wird einige Zeit benötigen, bis wir die<br />
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Tragweite dieser verfehlten Ausbildung erkannt und geän<strong>der</strong>t haben werden. Än<strong>der</strong>n aber werden wir<br />
sie nur, wenn die Gesellschaft ihren bereits unüberhörbaren Unmut dazu nutzt, auf die Politik unseres<br />
Landes einzuwirken.<br />
Sind wir wirklich Nostalgiker, die wir unsere Zukunft mit Vergangenem verbinden wollen, um unsere<br />
eigene Kultur damit in selbstverständlicher Kontinuität fortschreiben zu können? Ich glaube nicht,<br />
aber wir könnten als <strong>Architekten</strong> zu nostalgischem Gehabe gezwungen werden, wenn wir die<br />
Unzufriedenheit in unserer Gesellschaft weiter ignorieren.<br />
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