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Warum DDR-Geschichte im Unterricht? - Zentrum für Zeithistorische ...

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Martin Sabrow<br />

<strong>Warum</strong> <strong>DDR</strong>-<strong>Geschichte</strong> <strong>im</strong> <strong>Unterricht</strong>?<br />

Vortrag auf der Konferenz „Meine, Deine, Unsere <strong>Geschichte</strong>? Friedliche<br />

Revolution und Deutsche Einheit in der schulischen und außerschulischen<br />

Bildung“, 31. Oktober 2008, Bildungszentrum Clara Sahlberg Berlin-Wannsee<br />

Der mir vorgegebene Titel meiner einleitenden Überlegungen enthält eine von jenen<br />

rhetorischen Fragen, die eigentlich kein offenes Problem formulieren oder gar<br />

überraschende Einsichten erhoffen lassen. Vielmehr lancieren sie einen Appell, bei<br />

dem sich Redner und Zuhörer sich eigentlich bloß ihrer wechselseitigen Zust<strong>im</strong>mung<br />

versichern können. Geschichtsunterricht erzeugt Geschichtsbewusstsein, und<br />

Geschichtsbewusstsein erzeugt Orientierungswissen, ohne das unser Gemeinwesen<br />

nicht funktionieren kann und auch jeder der einzelne den Kompass verliert, der ihn<br />

auf dem Weg von der Vergangenheit in eine bessere Zukunft leiten kann.<br />

Dass die <strong>DDR</strong> als Teil unserer <strong>Geschichte</strong> dazu gehört, ist selbstevident, und die<br />

Frage kann eigentlich nicht, warum, sondern wie viel <strong>Geschichte</strong> <strong>im</strong> <strong>Unterricht</strong> und<br />

wie viel <strong>DDR</strong>-<strong>Geschichte</strong> <strong>im</strong> Geschichtsunterricht vorkommen soll. Über den<br />

Stellenwert historischer Ereignisse und Phänomene <strong>im</strong> öffentlichen Gedächtnis und<br />

damit auch <strong>im</strong> schulischen <strong>Unterricht</strong> entbrennen heute so heftige Verteilungskämpfe<br />

wie früher. Sie verlaufen nach ähnlichem Muster, sie beanspruchen rituell <strong>für</strong> ihr<br />

jeweiliges Gebiet mehr zeitliche Anteile und haben stets mit der<br />

Aufmerksamkeitsökonomie der öffentlichen Wahrnehmung zu kämpfen. Dies gilt <strong>für</strong><br />

die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und der <strong>DDR</strong> spätestens seit dem<br />

Auftragslehrfilm „Hitler und Ulbricht: Fehlanzeige. Die große Lücke <strong>im</strong> Wissen<br />

unserer Schüler (1959), der mit dem Skandal um die Synagogenschmierereien in<br />

Köln und anderswo einherging. 1<br />

1 Dazu Matthias Steinle, Vom Feindbild zum Fremdbild. Die gegenseitige Darstellung von BRD und<br />

<strong>DDR</strong> <strong>im</strong> Dokumentarfilm, Stuttgart 2003.


I.<br />

Die Geschichtswissenschaft kann und soll diesen geschichtspolitischen und<br />

geschichtspädagogischen Vorstößen ihre St<strong>im</strong>me geben, und sie tut dies auch.<br />

Insofern ist sie selbst Akteurin. Das soll sie aber nicht daran hindern, zugleich auch<br />

ihren selbstreflexiven Anspruch einzulösen und aus der Akteursrolle in die<br />

Beobachterrolle zurückzufinden, um zu fragen, welche Normen und Grundannahmen<br />

sie und uns eigentlich leiten, wenn wir es selbstverständlich finden, dass die <strong>DDR</strong><br />

einen prominenten Platz <strong>im</strong> Geschichtsunterricht einn<strong>im</strong>mt.<br />

Dabei zeigt sich, dass das Engagement <strong>für</strong> die curriculare Berücksichtigung der <strong>DDR</strong><br />

durchaus unterschiedliche Begründungszusammenhänge aufruft. Der erste ist<br />

nationalgeschichtlicher Natur. und geht davon aus, dass mit der Rückgewinnung<br />

eines Nationalstaats in gesicherten Grenzen die bis 1990 durch die deutschdeutsche<br />

Grenze geteilte <strong>Geschichte</strong> nun eine von allen geteilte, also gemeinsame<br />

<strong>Geschichte</strong> geworden ist, deren Gemeinsamkeiten es sich zu versichern gilt.<br />

Insbesondere unser jüngst verstorbener Kollege Peter Bender hat darauf abgehoben<br />

und <strong>im</strong>mer wieder in seinen Büchern, so in seinem letzten unter dem Titel<br />

„Deutschlands Wiederkehr“ zu zeigen versucht, dass die deutsche <strong>Geschichte</strong> auch<br />

in der Zeit der Teilung in Wahrheit <strong>im</strong>mer eine gemeinsame war: „Die vierzigjährige<br />

Existenz zweier deutscher Staaten hat die Existenz Deutschlands mehr und mehr in<br />

Frage gestellt, aber nicht aufgehoben. Bundesrepublik und <strong>DDR</strong> blieben, solange sie<br />

bestanden, aufeinander bezogen. Gerade die Zeiten schl<strong>im</strong>mster Feindschaft ließen<br />

erkennen, dass hier eine Nation mit sich selbst kämpfte: So böse streitet man nunr<br />

mit dem Bruder. Keiner konnte vom anderen absehen, auch wenn er es wollte. Jeder<br />

folgte seinen eigenen Grundsätzen und Erfordernissen, aber meist mit einem Blick<br />

auf den Konkurrenzstaat. Keiner durfte sich eine Blöße geben, jeder wollte –<br />

möglichst überall – der bessere sein.“ 2 Der Leitbegriff dieses die <strong>für</strong> die<br />

Beschäftigung mit der <strong>DDR</strong> sich einsetzenden Denkens ist die Nation, die Bender ein<br />

Leben lang nach Deutungsmöglichkeiten der auseinanderstrebenden doppelten<br />

Nachkriegsgeschichte suchen ließ, die einen Weg wiesen, „wie wir zu einer<br />

Nachkriegsgeschichte kommen. Wie lassen sich die Teile als Ganzes erkennen?<br />

2 Deutschlands Wiederkehr. Eine ungeteilte Nachkriegsgeschichte 1945-1990, Stuttgart 2007, S. 5.<br />

2


Welche Gesichtspunkte lassen sich finden, unter denen Bundesrepublik und <strong>DDR</strong><br />

gemeinsam betrachtet werden können?“ 3<br />

Ganz zweifellos ist dieses Denkmodell heute verblasst, und ich vermute, dass es<br />

auch in Ihrer Erwartungshaltung an diese Tagung keine hervorragende Rolle gespielt<br />

hat. In seinen letzten öffentlichen Äußerungen suchte Bender in einer Replik auf<br />

Wehlers fünften Band der Gesellschaftsgeschichte selbst die Antwort, warum Wehler<br />

die <strong>DDR</strong> so verächtlich behandle und seinen Maßstab der sozialen Ungleichheit so<br />

gar nicht auf das Zusammenwachsen der Deutschen nach 1990 anwende: „Hier liegt<br />

der Unterschied der Jahrgänge. Für Wehler (und die allermeisten Jüngeren) wurde<br />

die Bundesrepublik zum Maßstab, meiner blieb Deutschland. [...] Teilung und Einheit<br />

sind meine Lebensthemen gewesen, lange als Journalist, später als Zeithistoriker.<br />

Beides hat Wehler nicht um den Schlaf gebracht.“ Darum Benders heiliger Zorn<br />

gegen Wehler: „Was die Deutschen verband und wo es trotz Teilung und Trennung<br />

Brücken zwischen ihnen gab, ist <strong>für</strong> Wehler kein Thema. [...] Die <strong>DDR</strong> und auch ihre<br />

Gesellschaft taugen <strong>für</strong> Wehler nur als Kontrast <strong>für</strong> das erfolgreiche Land westlich<br />

der Elbe. Für den Jahrgang 1931, ganz und gar <strong>im</strong> Westen sozialisiert, bleibt die<br />

Bundesrepublik der einzige Maßstab.“ Benders Antwort ist generationsbezogen, und<br />

er schließt trotzig mit einer Hoffnung auf die nachwachsenden Generationen: „Aber<br />

seit 1990 ist Deutschland wieder zum Maßstab geworden, nicht nur <strong>für</strong> die Uralten,<br />

sondern <strong>für</strong> alle.“ 4<br />

II.<br />

Ich glaube, dass Bender irrte. Präziser: Ich glaube, dass er ein ausklingendes<br />

Paradigma formulierte, eine Art Nationalismus von links, wie ihn etwa auch Egon<br />

Bahr prägte. Auch wenn es nach 1990 zunächst anders schien: Wir haben keine<br />

Renaissance des Nationalstaatsdenkens erlebt, wie er in der Zeit der deutschen<br />

Vereinigung von nationalstaatlich denkenden Regierungschefs von Thatcher bis<br />

Andreotte be<strong>für</strong>chtet und von konservativen deutschen Kommentatoren wie Arnolf<br />

Baring begrüßt wurde. Wir haben nach 1990 nicht zu einer m<strong>im</strong>etischen<br />

Geschichtskultur zurückgefunden, die ungeachtet der zwölf bzw. der fünfzig dunklen<br />

Jahren die <strong>im</strong> Kern nicht gebrochene Identifikation mit der deutschen Nation<br />

3 Episode oder Epoche? Zur <strong>Geschichte</strong> des geteilten Deutschland, München 1996, S. 9 f.<br />

4 Alle Zitate nach faz-net lesesaal.<br />

3


eschwört; wir pflegen keine auf Kontinuität setzende Erinnerungskultur, die die<br />

Vergangenheit als verpflichtende Aufforderung zur Erfüllung historischer Ansprüche<br />

begreift. Vielmehr sind wir den Weg in eine kathartische Geschichtskultur weiter<br />

gegangen, die auf Diskontinuität setzt, den Bruch mit der Vergangenheit in das<br />

<strong>Zentrum</strong> rückt, ihren Gründungsmythos <strong>im</strong> Nie wieder (Auschwitz) statt <strong>im</strong> Weiter so<br />

(Deutschland) findet und das kritische Lernen aus der <strong>Geschichte</strong> <strong>für</strong> das zentrale<br />

Gebot der Beschäftigung mit der Vergangenheit hält. An keiner historischen Figur<br />

lässt sich dieser Übergang von der M<strong>im</strong>esis zur Katharsis, den die Geschichtskultur<br />

des 20. Jahrhunderts durchlaufen hat, besser zeigen als der Geltungskraft des<br />

Helden in der Geschichtsbetrachtung. Unsere Zeit ist dem Helden als<br />

Erinnerungsfigur nicht günstig, auch wenn der laufende Geschichtswettbewerb 2009<br />

des Bundespräsidenten dem Thema „Helden: verehrt – verkannt – vergessen“ gelten<br />

soll. Zwar kennt auch unsere Gegenwart wie jede andere den Menschen, „der sich<br />

besonders erfolgreich <strong>für</strong> andere einsetzt“, um die einfachste Definition des Helden<br />

zu nehmen: Die herausragende Leistung, die Uneigennützigkeit des Handelns und<br />

die persönliche Opferbereitschaft, die den Helden <strong>im</strong> allgemeinen Verständnis<br />

ausmachen, finden sich heute wie früher, aber sie machen uns jedenfalls in der<br />

deutschen politischen Kultur nicht mehr so selbstverständlich wie vor 150 Jahren<br />

Thomas Carlyle <strong>für</strong> „das Heldentümliche <strong>im</strong> menschlichen Handeln“ empfänglich. 5<br />

Selbst ein so dramatisches Ereignis der Zeitgeschichte wie die friedliche Revolution<br />

von 1989 hat keine Helden hervorgebracht, obwohl es doch genügend Stoff zur<br />

Schaffung von Heldenmythen und Heldengestalten gegeben hätte: Zu denken wäre<br />

etwa an Kurt Masur, den mutigen Kapellmeister aus Leipzig, dessen Appell zur<br />

Entschärfung der explosiven Lage am 9. Oktober beigetragen hat, oder auch die<br />

diensthabende Oberstleutnant Edwin Görlitz und Harald Jäger von der<br />

Passkontrolleinheit der MfS-Grenztruppen, der am 9. November 1989 in der<br />

Bornholmer Straße gegen 23 Uhr 30 den Befehl gibt: "Wir fluten jetzt!", um eine<br />

weitere Eskalation zu vermeiden. Auch der unbeirrte Pfarrer der Nikolaikirche<br />

Christian Führer, dessen seit 1987 veranstalteten Friedensgebete zum<br />

Kristallisationspunkt der reg<strong>im</strong>esprengenden Montagsdemonstrationen wurden,<br />

findet zwar Anerkennung, aber keine Heldenverehrung. Unsere Zeit ehrt den<br />

kritischen Widerständigen gegen die mächtigen Verhältnisse mehr als den mächtigen<br />

5 Thomas Carlyle, Über Helden, Heldenverehrung und das Heldentümliche in der <strong>Geschichte</strong>. Sechs<br />

Vorträge, Halle o.J., S. 1.<br />

4


Gestalter der Verhältnisse, und das erklärt, warum unser Engagement <strong>für</strong> die<br />

Beschäftigung mit der <strong>DDR</strong> <strong>im</strong> <strong>Unterricht</strong> heute mehr einem Aufklärungsparadigma<br />

folgt als einem nationalgeschichtlichen.<br />

Die Dominanz des aufklärerischen Denkmodells zeigt sich eindrucksvoll etwa in der<br />

Rezeption der Studie von Deutz-Schroeder & Schroeder, die sofort eine so<br />

eindrucksvolle wie alarmierte Resonanz erzeugte und aufgeschreckte Schlagzeilen<br />

produzierte wie „Willy Brandt ist aus der <strong>DDR</strong>“ oder „Alles nicht so schl<strong>im</strong>m“ oder<br />

„Schüler verklären die <strong>DDR</strong>“ oder „Honeckers paradiesische Diktatur“. Die dahinter<br />

stehende Sorge schließt von Unwissen auf Verklärung, nicht nur bei den Lesern,<br />

sondern auch bei den Autoren der Studie, die ein wesentliches Ergebnis ihrer Studie<br />

so zusammenfassen: „Je mehr die Schüler über den SED-Staat wissen, desto<br />

kritischer wird die <strong>DDR</strong> beurteilt.“ 6 Dieses Fazit, der zugleich ein Appell ist, folgt<br />

einen heute allgemeingültigen Denkmuster, das zugleich aufklärerisch wie<br />

psychologisch inspiriert ist. Es beschreibt das Verschweigen, Vergessen, Verdrängen<br />

in unserem Denken als eine psychische oder soziale Fehlentwicklung, eine fatale<br />

Abwehr, wie sie etwa Gesine Schwan als „zerstörerische Macht des Schweigens in<br />

der Politik“ angeprangert hat. 7 In unserer gemeinsamen Wertewelt sind Erkenntnisse<br />

der Tiefenpsychologie eingeflossen, und in ihr bezeichnet das Vergessen ein<br />

Krankheitsbild und die Erinnerung den Weg zur Heilung – getreu Sigmund Freuds<br />

berühmtem Konzept des Erinnerns, Wiederholens und Durcharbeitens. In der<br />

Übertragung auf die innere Verfassung sozialer Gemeinschaften kehrt dieses<br />

Verständnis von Erinnerung als Gesundung in der bekannten Warnung wieder: „Wer<br />

sich der <strong>Geschichte</strong> nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“ (George<br />

Santayana)<br />

Ein eindrucksvoller Indikator der damit verbundenen Verschiebung von einem<br />

nationalgeschichtlichen, m<strong>im</strong>etischen zu einem heilungsgeschichtlichen,<br />

kathartischen Geschichtsdenken steckt <strong>im</strong> Bedeutungs- oder besser Wertwandel des<br />

Wortes Vergangenheitsbewältigung. In den fünfziger Jahren stellte es noch ein<br />

mutiges Bekenntnis dar und wurde etwa von dem Göttinger Historiker Hermann<br />

6 S. 444. Ebenso: „In Brandenburg zum Beispiel sprechen sich alle Schüler, die über einen sehr hohen<br />

Wissensstand verfügen, gegen eine Verharmlosung des Diktaturcharakters aus, während sich unter<br />

den Schülern mit dem geringsten Kenntnisgrad nur etwa jeder zweite diesem Urteil anschließt.“ Ebd.,<br />

S. 444 f. Ebenso S. 601 <strong>im</strong> Fazit.<br />

7 Gesine Schwan, Politik und Schuld. Die zerstörerische Macht des Schweigens, Berlin 1997.<br />

5


He<strong>im</strong>pel, zeitweilig als Nachfolger des ersten deutschen Bundespräsidenten <strong>im</strong><br />

Gespräch, in durchaus selbstkritischer Absicht propagiert: Die Vergangenheit dürfe<br />

nicht vergessen, sie müsse vielmehr bewältigt werden. 8 Heute hingegen begreifen<br />

wir den Zivilisationsbruch von Auschwitz, aber auch die <strong>Geschichte</strong> der<br />

kommunistischen Herrschaft in Europa eben nicht mehr als eine Vergangenheit, die<br />

sich <strong>im</strong> eigentlichen Sinne „bewältigen“, womöglich überwältigen ließe, und wir<br />

distanzieren uns von einer Wiederaufbaumentalität, die meinte, mit dem Schrecken<br />

des „Dritten Reiches“, aber auch mit den Hinterlassenschaften der kommunistischen<br />

Diktatur auf dem Wege der juristischen, politischen und mentalen Bewältigung<br />

abschließend fertig werden zu können. 9 Wenn diese These zutrifft, könnte sich<br />

erklären lassen, warum das Schicksal der BStU und der von ihr verwalteten Akten zu<br />

Meinungslagern führt, die sich nicht in das traditionelle Parteienspektrum fügen.<br />

Wenn der frühere Bundeskanzler Kohl ebenso wie der Bürgerrechtler Friedrich<br />

Schorlemmer gleichermaßen <strong>für</strong> ein Autodafé plädierten, um die Akten des Stasi-<br />

Staates zu verbrennen, zeichnet sich dahinter ein verbindendes<br />

nationalgeschichtliches Denkmuster ab, das die Einheit der <strong>im</strong>agined community <strong>im</strong><br />

Abwägungsfalle höher hält als den aufklärerischen Lernerfolg einer anhaltenden<br />

Heilung durch Wahrheit.<br />

Unzweifelhaft ist jedenfalls der Wille zur Vergangenheitsbewältigung durch das<br />

Bekenntnis zur Aufarbeitung abgelöst worden, und man beruft sich dazu gerne auf<br />

Adorno, der das Aufkommen des Wortes Aufarbeitung allerdings 1957 noch eher<br />

kritisch registriert hatte und jedenfalls mit der Absicht verbunden wissen wollte, „dass<br />

man das Vergangene <strong>im</strong> Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles<br />

Bewusstsein“. 10 Die Anlehnung an Sigmund Freuds tiefenpsychologisches Konzept<br />

8 Peter Dudek, Vergangenheitsbewältigung. Zur Problematik eines umstrittenen Begriffs. In: Aus<br />

Politik und Zeitgeschichte, Beilage 1–2, 1992, S. 44 ff.<br />

9 Das Gegenwartsverständnis des Begriffs Vergangenheitsbewältigung veranschaulicht etwa ein „Call<br />

for Papers: Erinnerung - Vergangenheitsbewältigung – Amnesie“ des politikwissenschaftlichen<br />

Fachorgans „Peripherie. Zeitschrift <strong>für</strong> Politik und Ökonomie in der Dritten Welt“ vom 18.3.2007:<br />

„Freilich ist Sprache verräterisch: Nicht von Auseinandersetzung ist <strong>im</strong> Zusammenhang mit dem<br />

Holocaust, dem Genozid in Rwanda 1994, schweren Menschenrechtsverletzungen unter den<br />

Diktaturen von Pinochet in Chile oder bei der Niederschlagung des Sendero Luminoso in Peru, dem<br />

Apartheidsreg<strong>im</strong>e oder endlich auch dem Vietnamkrieg und in wenigen Jahren vielleicht dem US-<br />

Desaster <strong>im</strong> Irak die Rede, sondern - bei allen Unterschieden zwischen diesen Beispielen - von<br />

Vergangenheitsbewältigung. Die Gewaltsamkeit, die <strong>im</strong> Spiel ist, wenn Vergangenheit zum Mythos<br />

zugerichtet, das Unsagbare <strong>für</strong> öffentlichen Gebrauch handhabbar gemacht wird, ist diesem Wort<br />

eingeschrieben. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=6919.<br />

10 Theodor W. Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit? in: Ders., Gesammelte<br />

Schriften, Band 10/2, Kulturkritik und Gesellschaft II, hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von<br />

6


des erinnernden Durcharbeitens formulierte einen durchschlagskräftigen Appell zur<br />

Auseinandersetzung mit den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, der die Abschüttelung<br />

der Vergangenheit als politisch gefährliche „Unfähigkeit zu trauern“ zu lesen erlaubte<br />

und die Vergangenheitsvergegenwärtigung als Weg zur Gesundung – aus dieser<br />

erfolgreichen Einbettung des Umgangs mit der jüngsten <strong>Geschichte</strong> in einen sozialen<br />

wie politischen Krankheitsdiskurs 11 erklärt sich der Erfolg des Begriffs Aufarbeitung,<br />

der andere Formen der Vergangenheitsüberwindung als Abwehr und Weigerung in<br />

den diagnostischen Rahmen von Störung und Verdrängung stellte.<br />

Zugleich stellt die Aufarbeitung auf die Widerstand erregende Schmerzhaftigkeit<br />

jeder ernsthaften Auseinandersetzung mit der Last der Vergangenheit ab. So kann<br />

sie bis heute jede öffentliche Anprangerung einer Vergangenheitsbelastung als<br />

reinigenden Schritt zur Gesundung deuten und jenen empörungsbereiten Gestus der<br />

Aufdeckung und Entlarvung beibehalten, der die deutsche Auseinandersetzung mit<br />

der Diktaturvergangenheit so deutlich etwa von dem Selbstverständnis der<br />

Wahrheits- und Versöhnungskommissionen in Südafrika und Ruanda unterscheidet.<br />

III.<br />

Und weil diese Sicht communis opinio ist, kommt mir und vielleicht auch Ihnen die<br />

mir gestellte Frage „<strong>Warum</strong> <strong>DDR</strong>-<strong>Geschichte</strong> <strong>im</strong> <strong>Unterricht</strong>?“ so trivial und das<br />

Fragezeichen so augenzwinkernd deplaciert vor. Wir sind uns doch alle einig, dass<br />

die <strong>DDR</strong>-<strong>Geschichte</strong> einen wichtigen Stellenwert hat und streiten uns <strong>im</strong> Konsens<br />

über das gemeinsame Ziel allein über die besten Wege zu ihm. Um von diesem<br />

bequemen Konsens zur weniger bequemen Kontroverse zu kommen, müssen wir<br />

allerdings nur das Fragepronomen verschieben: Nicht „<strong>Warum</strong> <strong>DDR</strong>-<strong>Geschichte</strong> <strong>im</strong><br />

<strong>Unterricht</strong>?“ lautet nämlich die eigentlich brisante Frage, sondern: „Welche<br />

Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz Frankfurt am Main 1977, S. 555-572, hier S.<br />

555.<br />

11 Auf diese Amalgamierung sozialer Defizite und politischer Interessen wies Adorno selbst in seinem<br />

Vortrag von 1958 eindrücklich hin, um den Appell zur Aufarbeitung der drückenden Vergangenheit<br />

nicht in einen psychologisierenden Entlastungsdiskurs verpuffen zu lassen: „Aus der allgemeinen<br />

gesellschaftlichen Situation weit eher als aus der Psychopathologie ist denn wohl das Vergessen des<br />

Nationalsozialismus zu begreifen. Noch die psychologischen Mechanismen in der Abwehr peinlicher<br />

und unangenehmer Erinnerungen dienen höchst realitätsgerechten Zwecken. Die Abwehrenden<br />

selbst plaudern sie aus, wenn sie etwa praktischen Sinnes darauf hinweisen, daß die allzu konkrete<br />

und hartnäckige Erinnerung ans Geschehene dem deutschen Ansehen <strong>im</strong> Ausland schaden könne.“<br />

Ebd., S. 558.<br />

7


<strong>Geschichte</strong> <strong>im</strong> <strong>Unterricht</strong>?“ Und schon zeigt sich, dass ich in meiner Rubrizierung der<br />

Begründungszusammenhänge <strong>für</strong> die Auseinandersetzung mit der <strong>DDR</strong> nach der<br />

Nationalgeschichte und der Aufklärungsgeschichte einen dritten Strang unbeachtet<br />

gelassen habe: nämlich die kommunikativ erinnerte und etwa durch den Boom der<br />

Memoiren mehr und mehr in das kulturelle Gedächtnis wandernden<br />

Lebensgeschichte, die sich in der unauflöslichen Spannung zwischen der<br />

angestrebten Kontinuität des eigenen Ich und der Diskontunität der Lebensumstände<br />

bewegt.<br />

Den Einfluss dieses dritten Narrativs sehen wir sofort, wenn wir die gängigen<br />

Argumente mustern, die aufgerufen werden, um zu erklären, warum es um den <strong>DDR</strong>-<br />

Geschichtsunterricht so schlecht steht. „In familiären Gesprächen wird Jugendlichen<br />

ein selektives <strong>DDR</strong>-Bild vermittelt“, schreiben die Autoren der Schroeder-Studie 12<br />

und weisen darauf hin, das viele Lehrer aus dem Westen von „Widerständen seintes<br />

der Elternschaft (berichten), wenn es um die Vermittlung der dunklen Seiten des<br />

SED-Staates geht“. 13 Wenn die ostdeutschen Schüler zumindest nach den insoweit<br />

allerdings auch bestrittenen Ergebnissen der Schroeder-Studie sogar noch<br />

geringeres Wissen besitzen sollen als die in Bayern, machen wir uns sofort<br />

Gedanken über die nach 1990 nicht wie die Fachhistoriker abgewickelten<br />

Geschichtslehrer, die Scheu davor haben, „Opfer oder Oppositionelle der <strong>DDR</strong> zu<br />

einem Gespräch einzuladen oder Gedenkstätten zu besuchen“. 14 Wenn der<br />

Geschichtsunterricht trotz aller Bemühungen die Einstellungen unter Schülern<br />

gegenüber der SED-Diktatur nicht verändert, kommt die Frage auf, ob nicht das<br />

kommunikative Familiengedächtnis dem in der Schule vermittelten<br />

Geschichtsbewusstsein schlicht an Geltungskraft überlegen ist. Um nochmals die<br />

Schroeder-Studie zu bemühen: „Eine in vielen ostdeutschen Schulen kaum<br />

überwindbare Barriere stellen Eltern und Großeltern von Schülern dar,, die das von<br />

kritischen Lehrern vermittelte <strong>DDR</strong>-Bild zurückweisen und ihren Kindern ihre eigene<br />

nostalgische Sicht gleichsam aufzwingen.“ 15 Diese Überlegung muss keineswegs als<br />

eifernder Vorwurf von außen daherkommen: Hat die „<strong>im</strong>mer wieder zu beobachtende<br />

abwehrende Haltung gegenüber der Forderung nach kritischer Auseinandersetzung<br />

12 S. 603.<br />

13 Ebd., S. 604 f.<br />

14 Ebd.,, 605.<br />

15 Ebd., S. 604.<br />

8


und der Wahrnehmung von Fakten eventuell mit einem spezifischen Verlust an<br />

Wirklichkeitsbezug zu tun, der eine Nachwirkung der erfolgreichen Durchsetzung des<br />

von der SED oktroyierten Geschichtsdenkens ist?“, fragte unlängst Angelika Menne-<br />

Haritz, Direktorin des SAPMO <strong>im</strong> Bundesarchiv, in einem nachdenklichen Beitrag<br />

unter dem Titel „Kritische Auseinandersetzung oder Nostalgie: Erinnerungen an die<br />

zweite deutsche Diktatur“. 16<br />

In der Tat gibt es anders als heute <strong>für</strong> die NS-Herrschaft keinen kulturell fixierten<br />

Platz <strong>für</strong> „die“ <strong>DDR</strong> <strong>im</strong> Gedächtnis unserer Zeit, sondern sehr unterschiedliche <strong>DDR</strong>-<br />

Bilder, die miteinander um Geltungshoheit ringen oder abgeschottet nebeneinander<br />

stehen. Schon in semantischer Perspektive zeigt sich, dass die Erinnerung an den<br />

Umbruch von 1989 in starkem Maße fragmentiert ist. Die unterschiedlichen<br />

Bezeichnungen <strong>für</strong> den Herbst 1989 deuten auf ein mehrfach gespaltenes<br />

Milieugedächtnis, in dem voneinander abgeschottete Bilder der <strong>DDR</strong>-Vergangenheit<br />

weitgehend unverbunden nebeneinander stehen. Politisch dominant ist dabei ein<br />

„Revolutionserinnerung“, die den öffentlichen Diskurs wie das offizielle Gedenken<br />

beherrscht und die <strong>DDR</strong> als einen <strong>im</strong> Herbst 1989 – bzw. zwischen den<br />

Kommunalwahlen <strong>im</strong> Mai 1989 und den Volkskammerwahlen <strong>im</strong> Mai 1990 - mutig<br />

überwundenen Unrechtsstaat konturiert. Schon die den Begriff der „friedlichen“ oder<br />

der „demokratischen Revolution“ 17 vielfach meidende Alltagssprache <strong>im</strong> Osten der<br />

Republik deutet zugleich die parallele Existenz einer gesellschaftlich dominanten<br />

‚Wendeerinnerung’ an, die sich mit der dauerhaften Spaltung von öffentlichem<br />

Geschichtsbild und individueller Erfahrung abgefunden hat. Parallel existiert ein<br />

weiteres und in Netzwerken politischer und fachlicher Natur organisiertes<br />

Milieugedächtnisses früherer <strong>DDR</strong>-Eliten, das eine vereinigungskritische<br />

Anschlusserinnerung pflegt, die die <strong>DDR</strong> als Normalstaat und die Vereinigung als<br />

koloniale Unterwerfung mit Zust<strong>im</strong>mung der Kolonisierten in gezielter Analogie zum<br />

Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich 1938 erscheint. 18<br />

Erweitern wir diese Fragmentierung der Umbruchsvorstellungen auf die ganze <strong>DDR</strong>-<br />

<strong>Geschichte</strong>, so haben wir, grob gesprochen, ebenfalls drei große Raster, in denen<br />

die <strong>DDR</strong> rückblickend verortet wird: ein staatlich privilegiertes und <strong>im</strong> öffentlichen<br />

Gedenken zentrales Diktaturgedächtnis mit teleologischen Zügen; ein<br />

16 in: Bouvier /Schneider<br />

17 Vgl. Damm/Thompson auf dem Dresdner Historikertag, 1.10.2008.<br />

18 Roesler.<br />

9


gesellschaftlich dominantes Arrangementgedächtnis, das vom richtigen Leben <strong>im</strong><br />

falschen weiß und die Auskömmlichkeit unter schwierigen Bedingungen ins <strong>Zentrum</strong><br />

rückt; schließlich ein am Projekt Sozialismus festhaltendes Fortschrittsgedächtnis mit<br />

stark genetischen Zügen. Der Geschichtsunterricht konzentriert sich lehrplangemäß<br />

auf das Diktaturgedächtnis, die Familienerinnerung häufig auf die Aufstiegsmobilität<br />

und die Befreiung vom Joch der nazistischen Unterdrückung oder schlicht die<br />

Selbstbehauptung in den Umständen der Zeiten, die mal glücksverheißend, mal<br />

niederschmetternd sein mochten, aber doch <strong>im</strong>mer bewältigt wurden.<br />

Von der Vielzahl der Narrative, die aus der Mischung dieser drei D<strong>im</strong>ensionen zu<br />

gewinnen ist, haben wir noch wenig systematische Kenntnis, und ebenso wenig <strong>für</strong><br />

die unterschiedlichen Narrative des „Kommunismus als Erzählung“. Allein die Frage,<br />

wie das 1989/90 erlebte Ende des Projekts Sozialismus autobiographisch verarbeitet<br />

wurde, zeitigt die unterschiedlichsten Bemühungen, historische Zäsurerfahrung mit<br />

lebensgeschichtlicher Identitätsvergewisserung zur Deckung zu bringen. Aus dieser<br />

Spannung zwischen Kontinuität und Diskontinuität entwickeln sich beispielsweise<br />

Erzählmuster, die fallweise stärker genetisch oder teleologisch oder auch<br />

überhistorisch angelegt sind, die das Phänomen Kommunismus in das <strong>Zentrum</strong> oder<br />

an den Rand der eigenen Lebensschilderung rücken, die seinen europäischen<br />

Niedergang als autobiographische Brucherfahrung emphatisch annehmen oder<br />

gänzlich von sich weisen.<br />

IV.<br />

Was ist aus all dem <strong>für</strong> die Rolle der <strong>DDR</strong>-<strong>Geschichte</strong> <strong>im</strong> Schulunterricht zu<br />

gewinnen? Ich möchte meine Schlussfolgerungen auf wenige Thesen zuspitzen:<br />

1. Die Existenz schulischer Defizite in bezug auf die <strong>DDR</strong>-<strong>Geschichte</strong> sind<br />

unbestreitbar. Gleichwohl ist nicht außer acht zu lassen, dass die Schroeder- und die<br />

voraufgegangene Arnswald-Studie mit entgegengesetzten Resultaten aufwarten: Der<br />

durchschnittliche Ost-Schüler weiß weniger über die <strong>DDR</strong> bei Schroeder und mehr in<br />

der konkurrierenden Studie von Ulrich Arnswald (2005). Zudem gilt:<br />

Noch jede Studie hat alarmierende Unkenntnisse offenbart. Das begleitet die<br />

Bundesrepublik seit ihrer Gründung.<br />

10


Es gibt neben den düsteren auch gute Resultate, die in der Presseresonanz<br />

unter den Tisch fielen. Zwischen 71 und 86% der Schüler sind froh, dass<br />

Deutschland wieder vereint ist. Nur 12% lehnen die friedliche Revolution ab.<br />

Schulunterricht mit geschrumpfter Stundentafel hat seinen Rang als Bildner<br />

von Geschichtsbewusstsein längst an Bilder, Geschichtsfernsehen, Neue<br />

Medien verloren. Was die allerdings an historischer Kompetenz erzeugen, ist<br />

weithin unerforscht.<br />

2. Die Korrelierung von Nichtwissen und Diktaturverharmlosung in der Schroeder-<br />

Studie halte ich <strong>für</strong> nicht haltbar, sie scheint mir auch unterreflektiert, was den<br />

eigenen Standpunkt des Meinungsforschers angeht.<br />

„Schüler, die über einen sehr hohen Wissensstand verfügen, (sprechen sich) gegen eine<br />

Verharmlosung des Diktaturcharakters aus, während sich unter den Schülern mit dem geringsten<br />

Kenntnisstand etwa jeder zweite diesem Urteil anschließt.“ Deutz-Schroeder/Schroeder, S. 444 f.<br />

Beispiel: 68% der Bayern, aber nur 47% der Ost-Berliner lehnen die Aussage ab: „Ich finde es gut,<br />

das in der <strong>DDR</strong> die SED die führende Rolle innehatte“. S. 348<br />

Die Schroeder-Studie markiert das Problem, dass das <strong>DDR</strong>-Bild der (westdeutschen)<br />

Forscher nicht mit dem <strong>DDR</strong>-Bild der befragten Schülergruppen übereinst<strong>im</strong>mt. Die<br />

Studie n<strong>im</strong>mt ein best<strong>im</strong>mtes Wissen, nämlich das des Diktaturgedächtnisses, <strong>für</strong><br />

„die <strong>DDR</strong>-<strong>Geschichte</strong>“. Wenn ein Viertel nicht weiß, dass in der <strong>DDR</strong> bis 1987 die<br />

Todesstrafe galt, so ist neben der Gewissheit, dass dieselbe Frage, wann die<br />

Todesstrafe in der Bundesrepublik gegolten habe, ebenfalls ¼ falsche Antworten<br />

bekommen, vor allem die Erkenntnis zu gewinnen, dass solche Fragen die<br />

Lebenswirklichkeit von Schülern nicht ernsthaft berühren.<br />

Gleiches gilt, wenn jeder zweite Schüler mit dem Namen von Krenz nichts anfangen<br />

kann oder 13/16 Prozent der ostdeutschen Schüler Kohl <strong>für</strong> einen <strong>DDR</strong>-Politiker hält.<br />

Die Studie hält das <strong>für</strong> einen Mangel an Faktenwissen und korreliert diesen Mangel<br />

mit dem Grad an kritischem Urteil. Es kann aber auch sein, dass diese Schüler ein<br />

anderes Faktenwissen haben, das mit ihrem positiveren Urteil korreliert. Ein solches<br />

anderes Wissen hingegen wurde nicht abgefragt, sonst hätte nicht das Ergebnis<br />

herauskommen können, das all unseren Diskussions- und Vortragserfahrungen<br />

widerspricht, dass nämlich Schüler in Vilshofen oder Straubing mehr von der <strong>DDR</strong><br />

wissen als in Leipzig oder Potsdam.<br />

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Dann vermischt die Studie Sachwissen und Werturteil: So, wenn sie betont, dass<br />

37% der brandenburgischen Schüler gegenüber 52 Prozent der NRW-Schüler<br />

annehmen, dass die <strong>DDR</strong> 1989 wirtschaftlich am Ende war. Darüber kann man in der<br />

Tat streiten, tat dies auf dem Historikertag Dresden eben wieder; ein klares<br />

Sachwissen lässt sich in dieser Frage nicht abprüfen. Auch hier wieder. Wissen<br />

NRW-Schüler mehr über die <strong>DDR</strong> als ostdeutsche Schüler? Oder wissen sie<br />

anderes, nämlich Schulbuchwissen gegenüber Familientradition?<br />

Die Studie ignoriert keineswegs, dass zumindest die befragten ostdeutschen Schüler<br />

ihr Geschichtsbild stark aus dem Familiengedächtnis, das in der Regel weniger auf<br />

große Zusammenhänge wie Demokratie und Diktatur abstellt, sondern auf das<br />

richtige Leben <strong>im</strong> falschen, kürzer gesagt: auf das Arrangement- und vielleicht sogar<br />

Fortschrittsgedächtnis, nicht auf das Diktaturgedächtnis. Die Studie ignoriert das<br />

nicht, sondern sie verlangt schlicht, das Arrangementgedächtnis durch das<br />

Diktaturgedächtnis auszutauschen. Und das mit durchaus brachialen Mitteln. Die<br />

Schroeder-Studie empfiehlt in ihrem Fazit, „geeignete Schulbücher“ „sachgerechter“<br />

zuzulassen und „zu verhindern, dass ungeeignete Schulbücher eingesetzt<br />

werden“(604) Sie kritisiert 15 von 16 Landeslehrplänen, weil „die <strong>DDR</strong> als Ganzes<br />

[...] jedoch auch hier nicht normativ betrachtet“ wird. (603) Um das Weiterwirken der<br />

„in der <strong>DDR</strong> erworbenen mentalen Prägungen“ und „in den verschiedenen Milieus“<br />

die Weitergabe von „Fragmente(n) eines Geschichtsbildes an jüngere Generationen“<br />

zu unterbinden, verlangt sie „direkte Anordnungen von Ministerien“ und stört sich mit<br />

der verbalen Einschränkung, dass das „in freiheitlichen Gesellschaften üblich“ sei,<br />

sogar daran, dass „auch in der Wissenschaft kein einheitliches Bild der <strong>DDR</strong><br />

(existiert)“.<br />

Den Appell zum Gedächtnistausch halte ich <strong>für</strong> ein naives Heilmittel.<br />

„Anstatt <strong>DDR</strong>-<strong>Geschichte</strong> weich zu zeichnen [...], scheint es sinnvoller, die aktive und passive<br />

Auflehnung der Bevölkerung gegen die Diktatur [...] stärker in den Fokus der Analyse zu stellen.<br />

Dies böte die Möglichkeit einer Identifikation mit Werten wie Freiheit und Demokratie, die in<br />

großen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung <strong>im</strong>mer noch unterentwickelt sind. Die Verklärung<br />

des Sozialen behindert zudem den endgültigen Abschied von der Unmündigkeit, die in der <strong>DDR</strong><br />

mit den sozialen Versorgungssystemen verknüpft war und Loyalität erzeugen sollte.“ Deutz-<br />

Schroeder/Schroeder, S. 107.<br />

Lernen funktioniert über das Anknüpfen an bekanntes Wissen und vorhandene<br />

Wertgerüste und in der Regel nicht durch Entgegensetzung. Der Effekt ist häufig<br />

kontraproduktiv; er könnte die Aufspaltung des Gedächtnisses in ein rituelles und ein<br />

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kommunikatives fördern, wie er <strong>für</strong> Meinungsdiktaturen typisch ist, nicht <strong>für</strong><br />

freiheitliche Gesellschaften.<br />

3. Ost-Schüler wissen nicht weniger, sondern anderes über die <strong>DDR</strong>, und sie haben,<br />

wie ihre Eltern häufig das Bedürfnis, sich dieser anderen <strong>DDR</strong> erinnern zu<br />

vergewissern. Das erklärt den zeitweiligen Boom von Ostalgieshows und die<br />

Nachfrage <strong>für</strong> den <strong>DDR</strong>-Alltag, wie etwa die Besucherzahlen <strong>für</strong> das <strong>DDR</strong>-Museum<br />

belegen.<br />

Wenn wir mehr wollen als eine illusionäre und wenig freiheitliche Ersetzung des<br />

einen Gedächtnisses durch ein anderes, brauchen wir Begegnungsräume, in denen<br />

alltägliche Lebenswirklichkeit und historisch gesichertes Wissen aufeinandertreffen<br />

können. Judo oder Karate? Ein solcher Ort ist das Klassenz<strong>im</strong>mer, aber er wird<br />

verschenkt, wenn der wertbezogene Frontalunterricht vor 1989 nur abgelöst wird und<br />

das Ideal einer freiheitlichen Bürgergesellschaft nicht auch in das Klassenz<strong>im</strong>mer<br />

selbst verlagert wird.<br />

Die <strong>DDR</strong>-<strong>Geschichte</strong>, die wir <strong>im</strong> Geschichtsunterricht vermitteln, ist mehrd<strong>im</strong>ensional.<br />

Sie lässt Lebensgeschichte und Diktaturcharakter nicht nebeneinander herlaufen,<br />

sondern bringt sie zur Verschränkung. Sie überwältigt nicht, sondern lässt <strong>im</strong> Sinne<br />

des Beutelsbacher Konsenses Raum <strong>für</strong> Kontroversität; sie indoktriniert nicht,<br />

sondern befähigt zur eigenen Urteilsbildung. 19 Zwei Ansätze scheinen mir besonders<br />

erwähnenswert, weil sie diese Forderungen konsequent umsetzen: Das eine ist die<br />

Institutionalisierung von Projekten, die die Verbindung von lebensgeschichtlichen<br />

Erfahrungen und Diktaturgeschichte zur eigenständigen Erkenntnisgewinnung<br />

ermöglichen. Beispielgebend könnte hier der bundesweite Schülerwettbewerb „Du<br />

schreibst <strong>Geschichte</strong>!" sein „deine geschichte.de“, der <strong>im</strong> Oktober des Jahres<br />

gestartet ist. Er ist <strong>im</strong> Kern ein Zeitzeugenprojekt, in dem der <strong>Unterricht</strong> die Aufgabe<br />

hat, Schüler dazu zu befähigen, auf Basis ihres erworbenen Wissen in persönliche<br />

19 Nach Wikipedia:<br />

Überwältigungsverbot (auch: Indoktrinationsverbot): Lehrende dürfen Schülern nicht ihre Meinung<br />

aufzwingen. Schüler sollen sich mit Hilfe des <strong>Unterricht</strong>s eine eigene Meinung bilden können.<br />

Kontroversität (auch: Ausgewogenheit): Der Lehrende muss ein Thema kontrovers darstellen und<br />

diskutieren, wenn es in der Öffentlichkeit kontrovers erscheint.<br />

Schülerorientierung: Politische Bildung muss Schüler in die Lage versetzen, die politische Situation<br />

der Gesellschaft und ihre eigene Position zu analysieren und daraus <strong>für</strong> sich Konsequenzen zu<br />

ziehen.<br />

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Begegnung mit Zeitzeugen zu treten und ihre eigene Sicht in der<br />

Auseinandersetzung mit anderen generationellen und mentalen Perspektiven zu<br />

bewähren und zu modifizieren.<br />

Das andere ist ein Plädoyer <strong>für</strong> eine integrierte Perspektive, die die <strong>DDR</strong>-<strong>Geschichte</strong><br />

<strong>im</strong>mer in den Kontext der deutsch-deutschen <strong>Geschichte</strong> setzt. Ohne diese<br />

Kontextualisierung verliert <strong>Unterricht</strong> an Glaubwürdigkeit, werden gemeinsame<br />

Problemlagen nicht sichtbar, können differenzierende Urteile nicht erarbeitet werden<br />

und verliert der <strong>Unterricht</strong> den Bezug zur Lebenswirklichkeit von Schülern <strong>im</strong> politisch<br />

geeinten und mental wie sozial und wirtschaftlich noch so stark geteilten<br />

Vereinigungsdeutschland.<br />

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