Inhaltsverzeichnis - filmatelier
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SECONDO - 1 –<br />
<strong>Inhaltsverzeichnis</strong><br />
1. Opening Scene 3<br />
2. Zum Projekt 6<br />
2.1. Zielsetzung<br />
2.2. Warum dieser Film<br />
3. Kino des Realen – Real Acting 8<br />
4. Arbeitstechnik 10<br />
4.1. Arbeitsorientierung<br />
4.2. Arbeitsvorgehen<br />
4.3. Rollenbesetzung<br />
4.4. Storyboard<br />
4.5. Zeitraum<br />
5. Die Sprache 12<br />
5.1. Die Sprache der alten Heimat<br />
5.2. Die Sprache der neuen Heimat<br />
5.3. Die Sprache der Secondi<br />
6. Das Filmprojekt 14<br />
7. Biografien Hauptfiguren 17<br />
7.1. Vater Michele<br />
7.2. Mutter Mara<br />
7.3. Massimo<br />
7.4. Bianca<br />
7.5. Andrea<br />
8. Drehbuchentwurf dreier Szenen 26<br />
8.1. Szene „Maras Arbeit“<br />
8.2. Fotoromanzo<br />
8.3. Szene „Sonntagmorgen“<br />
8.4. Szene „italienischer Friedhof“<br />
© 2003 Nino Jacusso & INSERT FILM AG – 4502 Solothurn
SECONDO - 2 –<br />
9. Filmische Gestaltungsmittel 48<br />
9.1. Erzählperspektive<br />
9.2. Die Filmstory<br />
9.3. Die Bilder<br />
9.4. Die Montage<br />
9.5. Der Ton<br />
9.6. Die Musik<br />
10. Auswertungskonzept 53<br />
10.1. Wider das Kino des Banalen<br />
10.2. Brave new medium – DVD<br />
10.3. Filmfestival<br />
10.4. Fernsehen<br />
10.5. www.secondo-film.ch<br />
10.6. Das Buch zum Film<br />
11. Filmbiografie 56<br />
11.1. Autorenfilme<br />
11.2. Auftragsfilme<br />
11.3. Auszeichnungen<br />
12. Pressestimmen<br />
© 2003 Nino Jacusso & INSERT FILM AG – 4502 Solothurn
SECONDO - 3 –<br />
1. Opening Scene<br />
Andrea sitzt am Wohnzimmertisch und versucht Hausaufgaben zu machen.<br />
„Gschichtlirächnige“ (Textrechnungen) – ein Gräuel für den 12jährigen Buben.<br />
„Papa, chasch du mir hälfe?“ (Papa, hilfst du mir mal?) fragt er seinen Vater, der<br />
am Tischdecken ist. Der Vater stellt das Geschirr neben Andrea und setzt sich<br />
neben seinen Buben.<br />
Andrea liest ihm vor. „Ein volles Fass Heringe wiegt 58,9 Kilo. Ein viertel Fass<br />
wiegt 23,8 Kilo. Wie viel wiegt das Fass?“<br />
Der Vater schaut seinen Buben an. „Das Fass?“<br />
Andrea: “Jo, das Fass.“<br />
Vater: „Il barillo, no?“ (Das Fass, ja?)<br />
Andrea: „Jo, s’Fass..”<br />
Der Vater überlegt. „Ma – è di legno questo barillo oppure...” (Und – ist dieses<br />
Fass aus Holz oder...)<br />
Andrea genervt: “Chi se frega öb us legno oder nid...” (Ist doch egal, ob aus Holz<br />
oder nicht...)<br />
Vater: “No, dico, se è di legno è un’altra cosa che se è diciamo di...”<br />
(Ich meine, wenn es aus Holz ist, ist es was anderes, als wenn es aus...sagen<br />
wir...)<br />
Der Vater sucht nach dem Wort für ein anderes Material, aus dem das Fass<br />
bestehen könnte..<br />
Massimo, der 21jähriger Sohn schaut von seiner Lektüre auf und kommt dem<br />
Vater verbal zu Hilfe: „…di aluminio.“ (…aus Alu.)<br />
Vater: „Giusto, di aluminio. (Richtig, aus Alu.)<br />
Massimo: „Oppure...di latta.“ (Oder...aus Blech.)<br />
Andrea protestiert: „Uffa, chöitemer häufe oder nid?” (Wollt ihr mir jetzt helfen oder<br />
nicht?)<br />
Massimo steht auf und beugt sich über seinen Bruder, um ins Rechnungsheft zu<br />
schauen.<br />
Massimo: „Sicher chöi mir dir häufe.“ (Sicher können wir dir helfen.)<br />
Massimo liest „sottovoce“ (leise) die Aufgabe nochmals durch. Jetzt setzt er sich<br />
neben Andrea, zieht ein Suddelblatt zu sich und kritzelt die Aufgabenstellung<br />
schematisch drauf: zwei Fässer, eines schraffiert er ganz, das andere schraffiert<br />
er ein viertel.<br />
Massimo: „Dunque…do heimer es Viertelfass, do es ganzes…und…“ (Also…hier<br />
ein Viertelfass, dort ein ganzes…)<br />
Der Papa nimmt seine Finger zu Hilfe und rechnet damit.<br />
Vater: „Saublöd è questo. Proprio saublöd.“ (Saublöd ist das, wirklich saublöd.)<br />
Andrea kritzelt derweil auf seinem Rechnungsheft Comicfiguren.<br />
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SECONDO - 4 –<br />
Mama erscheint und deckt den Tisch fertig.<br />
Mama: „Perché non domandate Bianca.“ (Warum fragt ihr nicht Bianca?)<br />
Der Vater klatscht sich mit der rechten Hand an die Stirn.<br />
Papa: „Bianca. Certo.“ (Bianca, sicher.)<br />
Bianca, die fünfzehnjährige Tochter, ist im Bad und lackiert sich ihre Zehennägel.<br />
Sie hört ihren Vater rufen.<br />
Vater: „Bianca?“<br />
Bianca: „Eh?“<br />
Vater: „Vien’a’cca.“ (Komm doch mal her.)<br />
Bianca: „Perché?“ (Warum?)<br />
Vater: „Eh vien’a’cca.“ (Nun komm schon.)<br />
Bianca: “Non posso.” (Ich kann nicht.)<br />
Massimo: “Bianca chum jetzt. Du muesch üs hälfe.” (Bianca, komm jetzt, du musst<br />
uns helfen.)<br />
Bianca: „Worum?“ (Warum?)<br />
Massimo: „Chum jetzt. Bis’so guet.“ (Komm jetzt, bitte).<br />
Bianca verlässt widerwillig das Bad, dabei geht sie vorsichtig auf den Fersen. In<br />
der einen Hand hält sie den Nagellackpinsel, in der anderen die offene<br />
Nagellackflasche. Zwischen den Zehen hat sie Wattebäusche gesteckt. Um ihre<br />
nassen Haare hat sie ein Handtuch geschlungen, wie einen Turban.<br />
Bianca erscheint im Wohnzimmer und sieht ihren Vater und Massimo über<br />
Andreas Schulaufgaben brüten. Bianca verrollt die Augen. Gelangweilt nähert sie<br />
sich den dreien.<br />
Bianca: „Was isch?“ (Was ist?)<br />
Massimo: „Lueg emou. Do isch en’Ufgab wo e chli...“ (Schau mal, da ist eine<br />
Aufgabe, die ein wenig…) Massimo zeigt mit kreisender Handbewegung auf die<br />
„Gschichtlirächnig“ von Andrea.<br />
Bianca beugt sich ein wenig über das Rechnungsbuch. Ein Blick auf die Rechnung<br />
genügt.<br />
Sie antwortet: „Das isch ganz eifach. Du multipliziersch _ Fass mit 4, denn hesch<br />
4 Fässer mit _ drin, oder? 4 mal _ isch aber es ganzes, auso söfu wie in däm<br />
andere Fass. Jetzt tuesch das andere Fass vo däm Ergäbnis abzie. Drmit hesch<br />
Inhalt und eis Fass wäg. Was bliibt si drü lääri Fässer. Jetzt teilsch s’Ergäbnis<br />
durch 3 und denn hesch 1 läärs Fass. OK?“<br />
(Das ist ganz einfach. Du multiplizierst _ Fass mit 4, das ergibt 4 Fässer mit _<br />
Inhalt, klar? 4 Mal _ ergibt ein ganzes, also soviel, wie in dem anderen Fass drinn’<br />
ist. Jetzt ziehst du dieses andere Fass von deinem Ergebnis ab. Damit hast du<br />
Inhalt plus ein leeres Fass weg. Übrig bleiben drei leere Fässer. Jetzt teilst du das<br />
Ergebnis durch 3 und hast ein leeres Fass. OK?)<br />
Andrea, Massimo und der Vater nicken.<br />
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SECONDO - 5 –<br />
Bianca wendet sich ab und geht wie ein Champion nach einem Sieg ins Bad<br />
zurück.<br />
Vater: „Beh, avete capito?“ (Nun, habt ihr’s verstanden?)<br />
Andrea: „I chönnt si erwürge.“ (Ich könnt’ sie erwürgen.)<br />
Massimo: “No, prima la facciamo soffrire.” (Nein, wir lassen sie vorher noch<br />
leiden.)<br />
Die Mutter stellt die Minestra auf den Tisch.<br />
Mutter: „L’avete risolto?“ (Habt ihr’s gelöst?)<br />
Andrea: „Worum isch si so gschiid?“ (Warum ist sie bloss so klug?)<br />
Mutter: „Bianca? Semplice. E una donna.“ (Bianca? Ganz einfach – sie ist eine<br />
Frau.)<br />
Vater, Massimo und Andrea schauen säuerlich zur Mutter.<br />
Die Mutter hebt und senkt ihre Augenbrauen und lächelt ihnen zu.<br />
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SECONDO - 6 –<br />
2. Zum Projekt<br />
2.1. Zielsetzung<br />
Das Spielfilmprojekt “Secondo” (Arbeitstitel) knüpft an meinen letzten Spielfilm<br />
“Escape to paradise” an, den ich mit Ivo Kummer als Produzent und der<br />
Filmproduktionsfirma INSERT FILM AG realisiert habe. Wir möchten den Begriff<br />
des neuen Schweizer-Realismus im Schweizer Spielfilm weiterentwickeln und<br />
perfektionieren, die gemeinsam begonnene Arbeit weiterführen.<br />
Erneut werden Menschen im Mittelpunkt stehen, die aus dem wirklichen Leben<br />
stammen und erneut werden wir eine Geschichte erzählen, die dem wirklichen<br />
Leben nachempfunden ist. Diese Geschichte wird dramatisiert und mit<br />
komödiantischen Elementen versehen werden, denn nach wie vor glauben wir an<br />
die Kraft der wirklichkeitsnahen Atmosphäre, vertrauen wir auf die humorvolle<br />
Absurdität unseres realen Alltages.<br />
Ziel ist es, einen Spielfilm zu schaffen, der uns zum Lachen und zum Weinen<br />
bringt, der uns berührt und nachdenklich stimmt.<br />
2.2. Warum dieser Film<br />
Meine Mutter hat ein Leben lang mit Maschinen gesprochen, in der Papierfabrik<br />
von Biberist. Wie sollte sie dort die deutsche Sprache erlernen? Aber ich habe sie<br />
gelernt und wende sie heute besser an, als meine „alte“ Muttersprache. Secondo<br />
werden wir genannt und sind die Schnittstelle zur alten Welt. Wir haben die<br />
Träume der ersten Einwanderergeneration mit geträumt, gleichzeitig uns aber<br />
schon auf die Realität im neuen Land eingestellt. Uns plagte kein Heimweh, denn<br />
unser Heim war hier in der Schweiz. Als Kinder noch als „Tschingg“ verschrien,<br />
haben wir den rassistischen Zorn unserer Schulkameraden ertragen gelernt. Später<br />
dann, als Jugendliche gerieten wir plötzlich aus der Schusslinie der fremdenfeindlichen<br />
Optik. Neue EinwandererInnen aus neuen Einwanderungsländern<br />
nahmen diese Position ein, und je mehr über die neuen Fremden gelästert wurde,<br />
desto mehr gehörten wir dazu, waren selber keine Fremden mehr. Mitlästern war<br />
erwünscht oder allenfalls musste geschwiegen werden, wenn gelästert wurde,<br />
denn rasch konnte es geschehen, dass wir wieder mit den „anderen“ im gleichen<br />
Boot landeten. Viele konnten der Versuchung, endlich dazu zu gehören, nicht<br />
widerstehen und machten mit, beim Lästern über die anderen Ausländer und<br />
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SECONDO - 7 –<br />
Ausländerinnen. „I nuovi racisti“ – zu neuen Rassisten sind sie geworden, Secondi,<br />
die einheimischer sein wollen als Einheimische. Trotzdem pflegen sie heute ihr<br />
italienisches Aushängeschild wie eine neu erworbene Auszeichnung. Es ist<br />
inzwischen „chic“ geworden, einen italienischen „accento“ in der Aussprache zu<br />
haben, dabei mit den Händen zu gestikulieren und den Latin Lover zu mimen. Es<br />
gehört zum neuen Lifestyle einen Euroitalienischen Pass zu haben, italienische<br />
Mode zu tragen und sich für italienischen Fussbal zu interessieren. Wer will sich<br />
da noch als Ausländer, Ausländerin fühlen? Wir haben es geschafft. Secondo zu<br />
sein ist „in“. Italianità – sie lebe hoch. Was blieb auf der Strecke? Blieb was auf<br />
der Strecke?<br />
Ja, sicher, die Primi, die erste Generation. Wie bei jeder Auswanderung gehören<br />
die Primi zu den Verlierern. Gefangen in der Sehnsucht heimzukehren, bleiben sie<br />
auf Distanz zur neuen Kultur und verlieren den Anschluss an ihre Kinder, den<br />
Secondo. Ein kleiner Teil der Primi schaffen es tatsächlich, ihre Sehnsucht zu<br />
erfüllen und zurückzukehren, wo sie schmerzhaft feststellen müssen, dass sich<br />
ihre alte Heimat so sehr veränder hat, dass sie sich nie mehr daheim fühlen<br />
werden. Und die Secondi? Hin- und hergerissen, zwischen den Grenzen der alten<br />
und neuen Kultur, übernehmen sie Vermittlungsfunktion, versuchen Welten<br />
zusammen zu bringen, die nicht zusammen gehören wollen und können und<br />
verzweifeln darob. Hoffnung erwächst ihnen aus der dritten Generation, den Terzi.<br />
Befreit von den Zwängen der ersten Generation, gefördert und beschützt von der<br />
zweiten Generation gelingt ihnen der definitive Sprung in die neue Welt – sie sind<br />
das geworden, was ihre Eltern (und Grosseltern) immer sein wollten – sie sind<br />
Einheimische geworden.<br />
Davon möchte ich erzählen und ich möchte dabei mit viel Humor meine eigene<br />
Secondo-Generation aufs Korn nehmen. Von den komischen Verrenkungen und<br />
Verdrehungen berichten, die es braucht, um als (möglichst) vollwertiges Mitglied<br />
dieser Gesellschaft akzeptiert zu werden. Kraft eines humoristischen Spiels und<br />
einer Story mit viel Italianità möchte ich das Publikum sensibilisieren für mehr<br />
Toleranz gegenüber Menschen aus fremden Kulturkreisen. Italianità als Brücke<br />
zum südlichen Kulturkreis, den heutigen neuen Migrationsländern.<br />
Der Spielfilm „Secondo“ kann diesen Beitrag leisten und ich meine, er ist in der<br />
heutigen politischen und gesellschaftlichen Situation notwendiger denn jeh.<br />
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SECONDO - 8 –<br />
3. Kino des Realen - Real Acting<br />
Die Frage nach der Wirklichkeit hat uns im letzten Spielfilm „Escape to Paradise“<br />
zentral beschäftigt. Wir haben eine Reihe von Elementen aus dem italienischen<br />
Neorealismo verwendet, um überzeugend Realität auf die Kinoleinwand zu<br />
bringen. Wir haben eigene, neue Elemente hinzugefügt, um dem Anspruch der<br />
Wahrheit gerecht zu werden. Entstanden ist ein Spielfilm der „in überzeugender<br />
Weise die Spannung eines Spiel- und die Exaktheit eines Dokumentarfilms<br />
vereint. Jacusso nennt die von ihm entwickelte Methode ‚Real Acting’.“ (NZZ, 5.<br />
Oktober 2001)<br />
Real Acting ist eines der zentralen Elemente, die wir verwendet haben. Menschen<br />
aus dem wirklichen Leben (=dokumentarischer Ansatz) stellen vor der Kamera<br />
einen Teil ihrer Wirklichkeit nach (=fiktiver Ansatz). Damit das klappt, müssen die<br />
Real Actors ein Mitspracherecht am Drehbuch und einen genügend langen<br />
zeitlichen Vorlauf für das Erlernen des Spiels vor der Kamera haben. Es sind<br />
keine „Laienschauspieler“, wie oft fälschlicherweise kolportiert wird und ihr Spiel ist<br />
kein „Laienspiel“, denn Laienspiel ist für mich der sympathische Versuch, ohne<br />
Schauspielausbildung eine Rolle zu verkörpern. Real Acting ist gänzlich etwas<br />
Neues. Es ist ein Umsetzungsprogramm. Entstanden durch Arbeitserfahrungen<br />
mit Dokumentar- und Spielfilm. Reale Menschen bringen ihre Lebenserfahrung mit<br />
in einen Spielfilm. Ihre subjektiv geprägten Erfahrungen sind Grundlage für fiktive<br />
Szenen, die dramaturgisch bearbeitet werden. Durch persönliches Proben dieser<br />
Szenen (oder persönlicher Anwesenheit während der Proben mit Schauspielern)<br />
kann die Szene auf ihre filmische Realitätstauglichkeit hin überprüft und angepasst<br />
werden. Mittels Probeaufnahmen wird der Sprach- und Bewegungsrhythmus<br />
überprüft, die Stimmigkeit der Dialoge festgestellt. Die Korrekturen fliessen laufend<br />
in die zu gestaltende Szene, bis sie als fertige Drehbuchszene auf Papier festgehalten<br />
wird. Das dabei entstehende Drehbuch ist hautnah und lebensecht.<br />
Warum dieses Vorgehen? Warum nicht einfach hinhocken und ein Drehbuch<br />
schreiben, wie das alle oder zumindest viele machen? Nun – als Drehbuchautor<br />
und Filmregisseur sitze ich nicht gerne im Glashaus und führe Nabelschau.<br />
Nabelschaufilme gibt es zur Genüge. Ich vermisse „die Wirklichkeit“ auf unseren<br />
Leinwänden oder zumindest Entwürfe dazu. Wenn ich mit Menschen arbeite, die<br />
bewusst einen Teil ihres Lebens in einen Filmstoff mit einbringen, gelingt es mir,<br />
unsere eigene Wirklichkeit für die Leinwand einzufangen, ein Stück realistisches<br />
Kino herzustellen. Real Acting ist unser Weg dazu.<br />
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Der Umsetzung vom Drehbuch zum Film gehen monatelange Proben voraus.<br />
Sämtliche darstellerische und dramaturgische Fragen sind zu Beginn der<br />
Dreharbeiten geklärt, denn während der Drehzeit wird nichts mehr improvisiert<br />
oder verändert, ausser marginalen Kleinigkeiten. Diese Arbeitstechnik führt nach<br />
unserer Erfahrung zum besten Ergebnis für ein realistisches Kino.<br />
Hat das Kino des Realen in unserer Zeit überhaupt noch Überlebenschancen? Wir<br />
meinen – ja. Wenn wir an das Kino von Ken Loach erinnern oder an das neue<br />
Dogma-Kino denken wir, dass die Schnittstelle zwischen Realität und Fiktion noch<br />
immer eines des spannendsten und aufregendsten Kinos ist, das wir in Europa zu<br />
bieten haben. Realitätsferne Stoffe mit ihrer „just-feel-good“-Botschaft gibt es auf<br />
unseren Leinwänden zur genüge. Wir müssen vermehrt wieder unsere eigene<br />
Welt ins Gespräch bringen. Allerdings ohne die puristischen Besserwisserfilme,<br />
die belehren und erziehen wollen. Das Kino des Realen soll direkt, spannend,<br />
komisch, emotional sein – und damit politische Kraft entwickeln, für eine Reflexion<br />
im Kopf und im Herzen des Publikums.<br />
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4. Arbeitstechnik<br />
4.1. Arbeitsorientierung<br />
Ich möchte vorgängig beschriebenes „Real Acting“ Arbeitsverfahren im<br />
Spielfilmprojekt „Secondo“ ausbauen und erweitern. Als Arbeitsorientierung soll<br />
die Arbeitsweise der italienischen Neorealisten wie Giuseppe de Santis, Pietro<br />
Germi u.a. dienen, die sich mit betroffenen Personen zusammenschlossen um<br />
„realismo“ zu ermöglichen. Für die Realisation des Filmes ziehe ich einen<br />
poetischen Realismus vor, wie er in Werken von Antonioni oder Pasolini<br />
anzutreffen ist. Das komödiantische Element wird sich an italienischen Figuren wie<br />
Toto und Troisi orientieren. Komik als Verbindung von Realität und Poesie.<br />
4.2. Arbeitsvorgehen<br />
Ich werde – analog zum Arbeitsvorgehen bei „Escape to Paradise“ – eine<br />
Arbeitsgruppe bilden, bestehend aus Primo-, Secondo- und Terzo–Personen.<br />
Vertreterinnen und Vertreter aus drei Generationen werden sich regelmässig mit<br />
mir treffen zu szenischer Stoffarbeit. Gemeinsam werden wir Episoden, Anekdoten<br />
und Geschichten erfassen und verdichten. Daraus werde ich filmische Szenen<br />
entwickeln. Mittels Probelesung und Probespiel wird eine Analyse und Korrektur<br />
des Entwickelten stattfinden. Die Erfahrung von drei Generationen wird in die<br />
Drehbucharbeit einfliessen und den Stoff prägen.<br />
4.3. Rollenbesetzung<br />
Durch Probelesung und Probespiel mit dem Stoff vertraut, werden Personen aus<br />
der Drehbuch-Arbeitsgruppe im Film mitwirken. Die Hauptrollen möchten wir aber<br />
mit bekannten Schauspielerinnen und Schauspielern besetzen. Ein strenges Real-<br />
Casting wie bei „Escape to Paradise“ drängt sich bei „Secondo“ nicht auf.<br />
4.4. Storyboard<br />
Das gezeichnete Drehbuch war bei „Escape to Paradise“ eine kommunikative<br />
Notwendigkeit. Über acht Sprachen waren auf dem Set vertreten – die gezeichnete<br />
Bildsprache erwies sich als bestes interkulturelles Kommunikationsmittel.<br />
Aber nicht nur das. Ich habe die Storyboard-Arbeit als wertvolles Hilfsmittel für<br />
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eine optimale filmische Umsetzung schätzen gelernt. Entstanden ist eine<br />
sorgfältige, gelungene Umsetzung. Ich möchte die Zusammenarbeit mit dem<br />
Grafiker und Storyboard-Zeichner weiterführen und neu den Einsatz eines<br />
Computerprogramms anwenden. Gezeichneten Szenen werden auf der Zeitachse<br />
des Computerprogramm importiert und probeweise mit gelesenen Dialogen,<br />
Geräuschen und Musik versehen. Der Filmrhythmus wird daraus ersichtlich und<br />
gravierende Fehler und Längen im späteren Filmmaterial vermieden. (Wir werden<br />
im Rahmen eines Focal-Seminars darüber referieren.)<br />
4.5. Zeitraum<br />
Im Herbst 03 bis Winter 03 wird die Drehbuch-Arbeitsgruppe zusammengestellt.<br />
Regelmässige Arbeitstreffen finden bis zur ersten Drehbuchfassung im Sommer<br />
04 statt.<br />
Die Finanzierungsarbeit des Filmes wird von Frühjahr 04 bis Frühjahr 05 dauern.<br />
Während dieser Zeit wird das Storyboard erstellt.<br />
Die Dreharbeiten sind für Sommer 05 vorgesehen. Postproduktion ist<br />
Herbst/Winter 05, Premiere und Kinostart im Frühjahr 06.<br />
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5. Die Sprache<br />
Die Sprache im Projekt „Secondo“ wird speziell sein. Mit dem Realitätsanspruch<br />
des Filmes geht eine realistische Sprachgestaltung einher, die nur mit Hilfe der<br />
Drehbuch-Arbeitsgruppe realisiert werden kann. Secondi sprechen drei Sprachen:<br />
die Sprache der alten Heimat, die Sprache der neuen Heimat und die Sprache der<br />
Secondi.<br />
5.1. Die Sprache der alten Heimat<br />
Die Sprache der alten Heimat ist Dialektitalienisch. Die meisten Secondi haben mit<br />
ihren Eltern in der neuen Heimat Dialektitalienisch gesprochen. Ein Italienisch<br />
also, das sich stark unterscheidet vom Schrift-Italienischen, das mühsam in<br />
Nachmittagskursen gelernt werden muss. Viele Secondi haben ein Leben lang<br />
Mühe, sich in Schrift-Italienisch auszudrücken. Fachwörter fehlen, Idiome sind<br />
nicht geläufig, das Grammatikverständnis eingeschränkt und stark von der<br />
deutschen Grammatik beeinflusst (viele schreiben Substantive gross, obwohl im<br />
Italienischen Substantive klein geschrieben werden). Einen Brief in der alten<br />
Sprache zu erstellen ist aufwändig, ein offizielles Schriftstück zu verstehen nur mit<br />
mühsamer Konsultation des Wörterbuches möglich. Zum Glück gibt es die<br />
Sprache der neuen Heimat!<br />
5.2. Die Sprache der neuen Heimat<br />
Secondi nehmen proportional zu ihrem Einwanderungsalter sehr schnell oder sehr<br />
langsam die Sprache der neuen Heimat an. Wer im frühen Kindesalter eingewandert<br />
ist, darf sich glücklich schätzen. Die Aussprache wird akzentfrei erlernt.<br />
Später ist das nicht mehr möglich. Wer als junger Erwachsener auswandert,<br />
behält einen „accento“ – sein Leben lang. In der Schweiz kommt erschwerend<br />
hinzu, dass die in Kursen erlernte Sprache mit der Alltagssprache nicht<br />
übereinstimmt. Das Hochdeutsche und das Schweizerdeutsche hat noch allen<br />
EinwandererInnen eine zusätzliche Sprachhürde beschert. Zum Glück gibt es die<br />
Sprache der alten Heimat!<br />
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5.3. Die Sprache der Secondi<br />
Die Sprache der Secondi ist eine neue Sprache und kann nur von anderen<br />
Secondi und allenfalls noch von ihren Kindern, den Terzi, verstanden werden. Sie<br />
ist ein neues Konglomerat aus der alten und neuen Heimatsprache. Der Wechsel<br />
von der einen zur anderen Sprache ist fliessend. Lücken in Grammatik oder<br />
Vokabular werden ohne langes Suchen aus der anderen Sprache genommen und<br />
in der Satzstruktur der gerade benutzten Sprache eingebaut. Dabei folgt diese<br />
Entlehnung bestimmten Regeln, die noch einer eingehenden Sprachforschung<br />
bedürfen. Bisher vermochte ich folgende Regel zu definieren: Dialoge finden in<br />
einer Basissprache statt, die zu Beginn des Dialoges von der Person definiert<br />
werden, die den Dialog beginnt. Wechselt diese Person die Basissprache, folgt ihr<br />
daraufhin die Dialogantwortende Person in die neue Basissprache. Zur Basissprache<br />
wird stand-by die zweite Sprache bereit gehalten. Aus dieser werden<br />
Wörter, Redewendungen, Satzfetzen entlehnt und in der Basissprache integriert.<br />
Baissprache und Standby-Sprache komplettieren sich zu einer neuen Sprache,<br />
der Sedondo-Sprache. Dabei wird verkürzt, verändert, angepasst, und das alles in<br />
einem so hohen Sprachtempo, dass wer nicht dazu gehört, wenig bis nichts<br />
versteht.<br />
Noch gibt es keine Secondo-Wörterbücher, aber es wäre interessant, im Rahmen<br />
dieser Filmarbeit Impulse dazu zu geben.<br />
Im Film möchte ich eine lebendige, schnelle, witzige Secondo-Sprache, bestehend<br />
aus den Elementen des Schweizerdeutschen und des Italienischen gestalten. Für<br />
die nicht Eingeweihten gibt es Untertitel.<br />
Eine neue Sprachkultur ist in den letzten 20 Jahren in der (Deutschen)-Schweiz<br />
entstanden. Im Film „Secondo“ wird sie ihren Ausdruck hinterlassen.<br />
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6. Das Filmprojekt<br />
6.1. Synopsis in drei Akten<br />
Die folgende Synopsis zeigt den Rahmen, in welchem sich der grosse<br />
Erzählbogen des Filmes bewegen soll. Korrekturen und Anpassungen an die<br />
Wirklichkeit sind und sollen während der Arbeit in der Secondo-Drehbuchgruppe<br />
möglichen sein.<br />
Im Mittelpunkt der Erzählung steht die Familie Vitelli mit Vater Michele (47), Mutter<br />
Mara (41), der Tochter Bianca (15) und den Söhnen Massimo (21) und Andrea<br />
(12). Die Kinder sind allesamt Terzi, in der Schweiz geboren. Vater und Mutter<br />
sind mit ihren Eltern in die Schweiz emigriert. Beide waren rund 10 Jahre alt.<br />
Kennen gelernt haben sich beide mit rund 20 Jahren im „Centro culturale e<br />
ricreativo“, einer Vereinigung von italienischen Emigranten, die für den<br />
Italienischunterricht ihrer Kinder besorgt waren. Und was in Italien nicht möglich<br />
gewesen wäre – denn Vater Michele stammt aus dem Süden und Mutter Mara aus<br />
dem Norden – wurde in der Schweiz möglich, beide wurden ein Paar und<br />
bekamen jung ihre drei Kinder. Die Eltern von Michele reisten nach ihrer<br />
Pensionierung zurück nach Italien, die Eltern von Mara blieben in der Schweiz.<br />
Micheles Mutter verstarb nach dem Wechsel in die alte Heimat, seinem Vater war<br />
es vergönnt, noch eine Zeitlang am Golfo di Salerno zu leben. Als er starb,<br />
hinterliess er seinen Söhnen eine Erbschaft, die nur Michele annehmen wollte.<br />
Prolog<br />
MICHELE muss sich bei einem italienischen Notar entscheiden, ob er das Erbe<br />
seines Vaters annehmen will. Seine zwei Brüder haben das Erbe abgelehnt, weil<br />
sie befürchteten, für die Schulden ihres Vaters aufkommen zu müssen. Michele<br />
nimmt an und erbt zu seiner Freude ein schönes Anwesen am Meer samt einem<br />
kleinen Vermögen.<br />
1. Akt<br />
Michele will nun mit seiner Frau MARA und seinen Kindern nach Italien ziehen. Mit<br />
dem kleinen Vermögen und dem angesparten Vorsorgekapital der zweiten Säule<br />
könnte er sich in Italien selbständig machen. Michele ist von Beruf Spengler und<br />
hat in der Schweiz keine Aufstiegsmöglichkeiten mehr. Als Vorarbeiter in einer<br />
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SECONDO - 15 –<br />
kleinen Spenglerei hat er den höchsten Aufstiegsgrad erreicht, den er erreichen<br />
kann, es sei denn, der Firmenbesitzer böte ihm die Partnerschaft an, was dieser<br />
aber nicht vorhat. Als Michele seinen drei Kindern ANDREA (12), BIANCA (15)<br />
und MASSIMO (21) von dem Plan, nach Italien zurückzukehren, erzählt, sind diese<br />
geschockt. Nach Italien? Wozu? Alle drei sind hier in der Schweiz geboren, haben<br />
hier ihre Freundinnen und Freunde, sind hier verwurzelt und darüber hinaus<br />
stecken die jüngeren zwei Kinder in schulischer Ausbildung. Während die Mutter<br />
sich von den Argumenten ihrer Kinder verunsichern lässt, schaltet der Vater auf<br />
stur. Er beginnt sich die notwendigen Dokumente zu besorgen, die es für einen<br />
Transfer nach Italien braucht. Kein einfaches Unterfangen, denn Michele wird in<br />
Italien Ausländer sein – da er seinen italienischen Pass bei der Schweizer-Einbürgerung<br />
abgeben musste. Michele muss ein Widererwägungsgesuch einreichen<br />
um seine verlorene italienische Identität zurückzuerhalten.<br />
Nun beginnen die Kinder aktiv den Plan ihres Vaters zu hintergehen und bereiten<br />
ihm wo sie nur können grattacapi (Kopfkratzete). Bianca, bisher eine der besten<br />
Schülerinnen, bringt nur noch schlechte Noten heim. Andrea, bisher ein liebenswerter<br />
Junge, wird plötzlich aufsässig und fällt in der Schule unangenehm auf.<br />
Massimo, beruflich erfolgreich und im Freundeskreis verwöhnt, treibt sich plötzlich<br />
in dubiosen Kreisen herum und bringt seinen Vater in Verruf. Der Vater ist ausser<br />
sich, bis er dahinter kommt, dass seine Kinder „queste cose“, diese Sachen, machen,<br />
um ihn daran zu hindern, nach Italien zurückzukehren. Daraufhin lässt er sie<br />
„gewähren“ und mit ihren Protestaktionen ins Leere laufen.<br />
2. Akt<br />
Der Vater erfüllt ernsthaft alle Vorgaben, um seine italienische Identität wieder zu<br />
erhalten. Er muss neben einwandfreiem Leumund drei Personen ausfindig machen,<br />
die zu einem bestimmten Zeitpunkt mit ihm zum Konsulat kommen und<br />
eidesstattlich bezeugen, dass er Italiener ist. Diese drei Zeugen müssen die italienische<br />
Staatsbürgerschaft besitzen und dürfen nicht aus seinem familiären Kreis<br />
stammen. Michele hat alle Hände voll zu tun, um diese drei Personen zu finden.<br />
Inzwischen erfahren seine zwei Brüder von der Erbschaft und reklamieren ihren<br />
Teil daran. Michele weigert sich, die von seinen Brüdern abgelehnte Erbschaft<br />
aufzuteilen. Daraufhin machen ihm seine Brüder die italienischen Zeugen abspenstig.<br />
Michele muss von vorne beginnen. Dank der Hilfe seiner Frau gelingt es<br />
ihm, drei Zeuginnen aufzutreiben, die ihm seine italienische Identität bezeugen.<br />
Endlich erhält Michele seine alte/neue Staatsbürgerschaft zurück – er ist wieder<br />
Italiener und will nun erst recht nach Italien ziehen.<br />
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SECONDO - 16 –<br />
Dem 12jährigen Andrea zerreisst es das Herz, als er seinem Vater zusieht, wie<br />
dieser zwei Reisetaschen packt. Er will seinen Vater so nicht ziehen lassen.<br />
„Papa, ich komme mit dir“, rutscht es ihm heraus. Von seinen Geschwistern zu<br />
Rede gestellt, verschanzt sich Andrea trotzig hinter seinen Entscheid. Die Familie<br />
ist gespalten in ein italienisches und in ein schweizerisches Lager. Die herbeieilenden<br />
norditalienischen Eltern von Mara machen die Situation nur schlimmer. In<br />
der Folge wechselt Massimo die Seite – auch er will seinem Vater beistehen und<br />
mit ihm nach Italien ziehen. Der Familiengraben verläuft jetzt neu zwischen<br />
Männer und Frauen. Dementsprechend eskaliert die Familiensituation. Maras<br />
strenge norditalienische Mutter bringt mit ihren Kommentaren, Ratschlägen und<br />
Nörgeleien das Fass zum Überlaufen. Zornig setzen sich Vater und seine zwei<br />
Söhne ins Auto und fahren überstürzt und ohne Gepäck weg – Richtung Italien. Es<br />
ist Sommerferienbeginn und ihre Reise endet vorläufig am Gotthardstau. Mutter<br />
und Tochter, im Haus zurückgeblieben, entschliessen sich, ihren „uomini“<br />
nachzufahren, auch wenn es nur zu Urlaubszwecken sein soll.<br />
3. Akt<br />
Micheles Reise mit seinen zwei Söhnen gerät zu einer ausgelassenen Party. Sie<br />
nehmen es geruhsam ohne ihre Frauen und übernachten in wunderbar gelegenen<br />
Hotels, gehen gut essen und führen kichernd Blödelgespräche. Ganz anders<br />
Mutter und Tochter. Sie reisen in klimatisierten Zügen und führen tiefsinnige<br />
Gespräche über Geburt, Leben und Tod. Sie kommen vor ihren Männern im<br />
geerbten Anwesen in Meeresnähe an, einem baufälligen Landhaus mit Salz<br />
zerfressenen Fundamentmauern, abbröckelndem Klosterverputz und defekten<br />
Wasserleitungen. Ihre Begeisterung für das Anwesen hält sich in Grenzen. Kurz<br />
darauf erreichen Michele, Andrea und Massimo das Anwesen und staunen nicht<br />
schlecht, ihre Frauen im Haus vorzufinden. Unverhofft befindet sich Familie Vitelli<br />
im Urlaub und es wäre für alle eine schöne Zeit – wenn nicht Micheles<br />
Verwandten mit ihren penetranten Besuchen und ungefragten Ratschlägen alles<br />
vermiesen würden. Vorzeitig bricht Familie Vitelli ihren Urlaub ab. Urlaub? Wollte<br />
nicht Michele mit seinen beiden Söhnen in Italien bleiben? Davon ist keine Rede<br />
mehr. Italien ist für Michele, den alten Secondo und neuen Italiener definitiv<br />
Urlaubsland geworden – wie für viele Sencondi.<br />
Abblende.<br />
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SECONDO - 17 –<br />
7. Biografien Hauptfiguren<br />
7.1. Vater Michele<br />
Ich heisse Michele und bin in<br />
der Nähe von Salerno geboren,<br />
der schönen Hafenstadt<br />
im Golfo di Salerno. Wer nach<br />
Ischia oder Capri in Urlaub<br />
fährt, kennt diese Gegend. Es<br />
ist die schönste Gegend der<br />
Welt. Ich bin mit 12 Jahren in<br />
die Schweiz gekommen.<br />
Zuerst wollten mich meine<br />
Eltern in Italien die Schule<br />
beenden lassen, aber dann<br />
haben sie sich doch umentschieden.<br />
Am Anfang war es<br />
sehr schwer für mich. Ich bin<br />
in die fünfte Klasse gekommen<br />
und verstand kein Wort. Nach einem Jahr intensivem Büffeln konnte ich mich<br />
immerhin ein wenig ausdrücken. Natürlich hatte ich keine Chancen bei den Oberstufen.<br />
Ich habe die siebte, achte und neunte Klasse gemacht und konnte nur mit<br />
grossen Anstrengungen eine Lehrstelle finden. Wenn du nicht Oberstufen-Abschluss<br />
hast, will dich niemand nehmen. Ich habe dann zum Glück hier in der<br />
örtlichen Fabrik eine Lehre als Metallbauschlosser machen können. „Arte sotte<br />
titte, Dio la beneditte“, hat meine Mutter immer gesagt. Hier sagt man „Handwerk<br />
hat goldenen Boden“. Meine Eltern waren froh, dass ich etwas lernen konnte und<br />
nicht wie meine zwei Brüder Vincenzo und Pascquale ohne Ausbildung am Fliessband<br />
endeten. Beide waren für eine Lehre schon zu alt gewesen, aber ich denke<br />
nicht, dass sie mir meine Ausbildung missgönnten. Wir waren eine grosse Familie<br />
und hielten fest zusammen. Wir wohnten in engen Verhältnissen und Mama hatte<br />
alle Hände voll zu tun, mit ihren vier Männern. Aber wenn wir am Sonntag zusammen<br />
spazieren gingen, war sie stolz auf uns.<br />
Ich habe nach der Lehre bei einem anderen Unternehmen als Metallbauschlosser<br />
gearbeitet, aber der Arbeitsort befriedigte mich nicht mehr. Ein Schweizer Kollege<br />
hat sich dann selbständig gemacht und ich habe ihm dabei geholfen. Eine kleine<br />
Spenglerei haben wir zusammen aufgebaut. Heute bin ich dort Vorarbeiter und wir<br />
sind sechs Angestellte. Im Grunde genommen haben wir diesen Betrieb zusam-<br />
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SECONDO - 18 –<br />
men aufgebaut, aber er hat mich nie mitbeteiligen wollen. Er sagte immer: „Michele,<br />
wenn ich pleite gehe, will ich nicht, dass du da mit rein gezogen wirst.“ Ich meine,<br />
er handelt zwar sehr rücksichtsvoll, aber warum sollte er pleite gehen? Wir haben<br />
so viel Arbeit und über die Jahre hinweg sind wir immer grösser und grösser<br />
geworden. Aber der Kollege klagt täglich. Vielleicht ist das eine typisch schweizerische<br />
Angelegenheit. Klagen über zu wenig Geld. Klagen über das Wetter. Klagen,<br />
klagen, klagen. Ich weiss nicht, ich würde es gerne selber probieren, ein eigenes<br />
Spenglereigeschäft zu führen. Aber hier, in der Schweiz, ist das alles nicht<br />
machbar, zu teuer. Ich denke mir, in meinem Heimatort in Italien hätte ich grössere<br />
Chancen. Dort sind gute Handwerker Mangelware. Als Spengler wäre ich sicher<br />
sehr gefragt.<br />
Meine Frau Mara habe ich in der Schweiz kennen gelernt. Sie stammt aus dem<br />
Norden. In Italien hätten wir uns nie kennen gelernt. Es wäre nie möglich gewesen,<br />
zusammen zu kommen. Eine Norditalienerin und ein Süditaliener! Eher hätte<br />
sie einen Ausländer heiraten können als mich. In der Schweiz aber ist das möglich<br />
gewesen. Dafür bin ich der Schweiz richtig dankbar. Aber die Eltern meiner Frau<br />
haben mich nie richtig akzeptiert. Ich nehme es ihnen nicht übel. Mir sind sie auch<br />
nicht sehr nahe. Kennen gelernt haben Mara und ich uns im „Centro culturale e ricreativo“,<br />
einem Emigrantenzirkel, der vor allem für die Organisation des Italienischunterrichts<br />
für Emigrantenkinder besorgt war. Mara hat dort die gesamte Administration<br />
erledigt. Mara ist sehr klug und ich berate mich immer mit ihr, wenn es<br />
darum geht, Entscheidungen zu treffen. Wir haben jung geheiratet und haben früh<br />
Kinder gehabt. Massimo kam zur Welt, da war ich 26 und Mara 20. Anfangs wollten<br />
wir nur ein Kind, aber als dann unsere Tochter Bianca zur Welt kam, entschieden<br />
wir uns für ein drittes Kind. Wir sind sehr stolz auf unsere Kinder. Der älteste<br />
hat einen neuen Beruf gelernt, den es noch nicht lange gibt. Mit dem Computer<br />
Telefonleitungen anschliessen und solche Sachen. Unsere Tochter besucht die<br />
höhere Schule. Sie ist sehr gescheit und wird später studieren. Der jüngste geht<br />
noch zur Schule und soll sich Zeit lassen. Unsere Kinder sind unser Ein und Alles.<br />
Als meine Eltern pensioniert wurden, kehrten beide zurück nach Italien. Ihre Pension<br />
hätte nicht gereicht, um hier in der Schweiz zu leben. Mama ist dann früh gestorben,<br />
was für Papa sehr schwer gewesen ist. Seine Überlebensstrategie war:<br />
Flucht nach vorne. Er begann Aktivitäten zu entwickeln, Dinge zu unternehmen,<br />
die ihn ausfüllten und vor allem ablenkten. Vor kurzem ist er leider bei einem Autounfall<br />
ums Leben gekommen. Es klingt hart, aber ich gönne es ihm, denn er wollte<br />
nie an einer Krankheit sterben, womöglich noch im Krankenhaus dahinsiechen.<br />
Was uns alle überrascht hat, war, dass er ohne uns etwas zu sagen, ein kleines<br />
Anwesen kaufen konnte am Golfo di Salerno, 10 Autominuten von Castellabate<br />
entfernt. Möglicherweise hat Papa im Superenealotto gewonnen und wollte uns<br />
überraschen, wer weiss. Ich jedenfalls möchte in diesem Anwesen gerne leben.<br />
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SECONDO - 19 –<br />
7.2. Mutter Mara<br />
Ich bin Mara-Alessia und bin<br />
in Bobbio geboren, nahe bei<br />
Piacenza. Meine Eltern führten<br />
ein kleines Lebensmittelgeschäft,<br />
das sie aber aufgeben<br />
mussten, als in der Nähe<br />
ein Supermercato eröffnet<br />
wurde. Papa hatte seine Fühler<br />
schon früh über die Alpen<br />
ausgestreckt, so dass er genug<br />
Leute kannte, um hier eine<br />
Arbeit zu finden. Zuerst<br />
gingen meine Eltern alleine in<br />
die Schweiz. Ich und meine<br />
ältere Schwester blieben bei<br />
Verwandten zurück. Wir sollten<br />
die Schule beenden,<br />
hiess es. Dann aber zerstritten sich meine Eltern mit den Verwandten und wir<br />
mussten in die Schweiz ziehen. Ich war damals 8 Jahre alt, meine Schwester 12.<br />
Für sie muss es damals sehr schwer gewesen sein, von der scuola superiore in<br />
die obligatorsiche 8. Klasse zu wechseln, der denkbar schlechtesten Schulstufe in<br />
diesem Land. Ich selber kam in die erste Klasse und habe schnell die Sprache<br />
gelernt. Dank guten Lehrkräften konnte ich mich schulisch entfalten und besuchte<br />
das Lehrerseminar. Schon bald konnte ich im Nebenamt Italienischunterricht<br />
geben. Eine feste Stelle als Lehrerin habe ich nie angenommen, weil ich mein<br />
erstes Kind praktisch mit dem Lehrerinnendiplom bekommen habe. Geplant war<br />
es nicht, aber eine Abtreibung wäre für mich nie in Frage gekommen. Nicht aus<br />
religiösen sondern aus ethischen Gründen. Mit einem Kind ging das Leben für<br />
mich woanders weiter. Während meine Kolleginnen aus dem Seminar ins Ausland<br />
gingen oder feste Lehrstellen annahmen, hiess es für mich Bébé wickeln und<br />
schöppelen, den Haushalt besorgen. Mein Mann hat mir dabei immer geholfen. All<br />
die Vorurteile gegenüber Männern aus dem Süden – nicht eines davon ist wahr.<br />
Mein Mann ist der lebende Beweis dafür. Aufmerksam, sanft, lieb – manchmal<br />
etwas zu lieb. Heute sind meine Kinder gross und ich geniesse die wieder<br />
gewonnene Freiheit, mit 41 Jahren.<br />
Kennen gelernt hab ich meinen Mann im Emigrantenzirkel, einem Verein, den<br />
unsere Eltern aus der Notwendigkeit gegründet haben, uns Kindern die italienische<br />
Sprache und Kultur näher zu bringen. Ich habe dort angefangen Literaturund<br />
Theaterabende zu organisieren und hatte plötzlich die gesamte Organisation<br />
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SECONDO - 20 –<br />
des Vereins am Hals. Aber damit nicht genug. Die Vereinsmitglieder kamen mit<br />
ihren Behördenbriefen zu mir und ich half ihnen, diese schwierige Korrespondenz<br />
zu erledigen. Dabei staunte ich, wie wenig meine Landsleute italienisch schreiben<br />
und lesen konnten. Viele sprachen Dialekt und konnten nur mit Mühe Schriftitalienisch<br />
verstehen. Italienische Literatur war kein Thema, was ich nicht verstehen<br />
konnte, denn bei meinen Eltern gehörte italienische Literatur – jedenfalls die<br />
klassische – zum täglichen Leben. Für die meisten Vereinsmitgliedern war „Gazzetta<br />
dello Sport“ der Innbegriff italienischer Kultur. Mit meinen Literaturabenden<br />
hatte ich zu Beginn grossen Erfolg, aber das Interesse verflachte sehr rasch. Es<br />
war zu abgehoben, wie Michele, mein Mann, meinte. So habe ich ihn kennen gelernt.<br />
Er kam nach einem Literaturabend zu mir und meinte: „Hör mal, das ist alles<br />
schön und gut, aber die Leute interessieren sich nicht dafür. Zu abgehoben. Du<br />
musst mehr am Boden bleiben.“ Als ich ihn fragte, was er damit meinte, schlug er<br />
mir vor, den nächsten Anlass gemeinsam zu organisieren. Wir organisierten einen<br />
Theaterabend. Gekommen ist eine italienische Theatergruppe aus Neapel. Heute<br />
ist sie in Italien sehr bekannt, aber damals kannte sie noch niemand: „La smorfia“,<br />
die Grimasse. Ihr berühmtester Vertreter war Massimo Troisi. Der Abend wurde<br />
ein Riesenerfolg und mein Mann und ich wurden ein Paar. Ein Jahr später kam<br />
Massimo zur Welt. Ich glaube, mein Mann ist ein wenig erschrocken darüber, wie<br />
schnell alles ging, aber dann hat er sich gefreut. Er ist ein sehr zärtlicher Vater.<br />
Als ich erfahren habe, dass das italienische Aussenministerium Lehraufträge<br />
vergibt, habe ich mich gemeldet. Heute bin ich Italienischlehrerin im Nebenamt,<br />
angestellt von einer Privatschule, im Auftrag des italienischen Aussenministeriums.<br />
Im Augenblick zieht sich aber der italienische Staat aus seinem Auslandsengagement<br />
aus Spargründen zurück. Möglicherweise werde ich nach jahrelanger<br />
bezahlter Lehrerinnentätigkeit wieder zur Freiwilligenarbeit zurückkehren, falls die<br />
nachfolgende Generation noch Interesse an ihrer Ursprungskultur hat, was ich inzwischen<br />
bezweifle, denn ich sehe es an meinen eigenen Kindern: mein ältestes<br />
spricht noch sehr gut italienisch, mein jüngstes nicht mehr. Untereinander sprechen<br />
meine Kinder deutsch. Ich rede mit ihnen konsequent italienisch, was mein<br />
Mann leider nicht macht.<br />
Meine Eltern leben hier in der Schweiz. Sie wollten nie zurück nach Italien. Wozu<br />
auch? Meine Schwester lebt mit ihrer Familie hier in der Nähe und es wäre für<br />
meine Eltern traurig, ihre Enkelkinder nur ab und zu während der Ferien zu sehen.<br />
Manchmal ist es schon ein wenig anstrengend mit meinen Eltern. Vor allem meine<br />
Mutter nörgelt an vielem herum. Aber es sind nun mal meine Eltern und wenn wir<br />
nicht Sorge zu ihnen tragen, wer soll es denn sonst machen? Ich hoffe nur, dass<br />
ich nicht so anstrengend werde wie sie wenn ich alt bin.<br />
Alt? Was ist das?<br />
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SECONDO - 21 –<br />
7.3. Massimo<br />
Ich heisse Massimo und bin<br />
21 Jahre alt. Mein Vater und<br />
meine Mutter haben mich<br />
Massimo genannt, weil sie<br />
damals dachten, ich sei das<br />
Maximum, was sie zustande<br />
brächten, oder so ähnlich, jedenfalls.<br />
Zum Glück kamen<br />
dann noch Bianca und Andrea.<br />
Bianca ist nervig, sie<br />
weiss immer alles. Aber mein<br />
Bruder Andrea ist in Ordnung.<br />
Ich habe eine Ausbildung als<br />
Telematiker absolviert und<br />
arbeite zur Zeit im Beruf. Mir<br />
gefällt die Arbeit. Ich verlege<br />
Telefonleitungen, stelle Digitalanschlüsse her, schliesse Computersysteme ans<br />
Netz – meine Aufgaben sind vielfältig wie meine Kundschaft. Ich arbeite für ein<br />
grosses Unternehmen und habe einen eigenen Firmenwagen. Oft betreue ich<br />
meine Kundschaft via telefonischen Support. „Vitelli – unser Fax – Vitelli – das<br />
Internet – Vitelli – die Daten…“ Das wichtigste ist: die Kunden beruhigen. Zuerst<br />
probieren wir via Telefon eine Lösung zu finden. Wenn’s nicht geht, muss ich zu<br />
ihnen vorbeigehen. Aber es ist schon ärgerlich, mit Vollgas zum Kunden zu<br />
fahren, nur um festzustellen, dass das Faxkabel oder Modemkabel nicht richtig<br />
eingesteckt ist. Spannend ist es, wenn Viren ganze Bürosysteme lahm legen. Da<br />
bist du als Telematiker gefordert. Mein Beruf ist neu und ich bin froh, ihn gewählt<br />
zu haben. Ich habe viel mit neuer Technologie zu tun und habe abends keine<br />
dreckigen Hände.<br />
In der Freizeit organisiere ich Events. Heute Abend, zum Beispiel, mache ich Italo-<br />
Disco. Wir erwarten rund 1000 Leute, also ein eher kleinerer Anlass. Mit Freunden<br />
habe ich den Verein „Gente di Aare“ gegründet, einen Verein, der Events<br />
organisiert. Die Aare, das ist ein Fluss, der durch unsere Stadt fliesst. Er fliesst<br />
auch durch andere Städte, selbstverständlich und in der Nachbarstadt ist jetzt der<br />
gleiche Verein entstanden. Mein Ziel ist es, dass dieser Verein in jeder Stadt<br />
entsteht, die an diesem Fluss liegt. Dann haben wir genug Potenz, um Italo-<br />
Rockmusiker herzuholen. Davon träume ich. Meine Eltern sind ebenfalls in einem<br />
italienischen Verein organisiert. Aber da ist mir zuviel Gewerkschaftsgroove. Ich<br />
organisiere lieber Konzerte.<br />
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SECONDO - 22 –<br />
Wie ich mich fühle? Als Italiener oder als Schweizer? Naja, ich bin hier geboren<br />
und habe den Schweizerpass. Ich fühle mich als Schweizer. Obwohl – das<br />
Italienische ist schon sehr gut. Es lässt mich das Leben lockerer nehmen, denke<br />
ich. Wenn ich mal den Italopass benötigen sollte, wegen Europa und so, werde ich<br />
ihn beantragen. Keine Ahnung, ob ich ihn kriegen werde. Ich denke, es wäre gut,<br />
mehrere Nationalitäten zu haben, in der heutigen Zeit. Aber vorerst brauche ich<br />
das noch nicht. Was die Zukunft bringt? Weiss nicht. Vorerst mal Geld verdienen<br />
und dann vielleicht noch auf Reisen gehen.<br />
In Italien möchte ich nicht leben. Dort kenne ich niemanden ausser meinen zwei<br />
oder drei Cousins, die mir aber egal sind. Hier habe ich meine Freunde, meine<br />
Aktivitäten. Eine Freundin habe ich nicht – ich habe viele. Was soll ich machen?<br />
Sie laufen mir hinterher und ich möchte mich nicht fest für eine einzige Freundin<br />
entscheiden. Papa schüttelt den Kopf darüber, aber ich glaube, das ist nur<br />
vordergründig, wegen Mama. Insgeheim gefällt es ihm, dass ich so viele<br />
Freundinnen habe, obwohl er das nie zugeben würde, vor Mama. Ich muss ihn<br />
mal bei Gelegenheit danach fragen.<br />
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SECONDO - 23 –<br />
7.4. Bianca<br />
Ich heisse Bianca und bin 15<br />
Jahre alt. Ich besuche das<br />
Untergymnasium und werde<br />
mich nächstes Jahr entscheiden<br />
müssen, welche Richtung<br />
ich im Gymnasium nehmen<br />
werde. Musisch, mathematisch<br />
oder wissenschaftlich –<br />
ich denke, ich werde mathematisch<br />
wählen. Ich liebe<br />
Zahlen. Es hat für mich etwas<br />
Reines, Klares, Edles. Ich<br />
lese im Moment ein Buch<br />
über den Mythos der Zahlen<br />
und bin begeistert. Mein Vater<br />
und meine Brüder verstehen<br />
das nicht. Für sie sind Zahlen<br />
der nackte Horror, was ich schade finde. Zum Glück kann ich mich mit meiner<br />
Mama austauschen. Sie liebt wie ich Zahlenmystik.<br />
Ich kann sehr gut italienisch und französisch reden und schreiben. Englisch lerne<br />
ich zur Zeit in der Schule. Sprachen gefallen mir sehr gut. Auch habe ich – wohl<br />
als einzige in der Klasse – kein Problem mit Latein. Es hat viel gemeinsam mit<br />
dem Italienischen. In meiner Freizeit lese ich viel, bin gerne mit meiner Freundin<br />
zusammen und schmuse gern mit meinen zwei Katzen herum. Eines davon ist ein<br />
Männchen, das haben wir vor einem Jahr kastrieren lassen. Ich denke mir, dass<br />
es ihm seither besser geht. Er hat nicht mehr diesen Stress, mit anderen Katern<br />
kämpfen zu müssen, wegen einem Weibchen. Dafür frisst er viel mehr und ist so<br />
schön kugelig geworden. Ich verwöhne ihn gerne. Eigentlich möchte ich noch viel<br />
mehr Tiere haben, aber meine Eltern erlauben es nicht, aus Platzgründen.<br />
Ich bin in der Schweiz geboren und fühle mich als Schweizerin. Aber wenn wir in<br />
Italien in Urlaub sind, fühle ich mich als Italienerin. Eigentlich wechsle ich gerne<br />
meine Haut. Aber ich bin mehr Schweizerin, glaub ich. Wenn ich denke, tue ich<br />
das immer in deutscher Sprache. Ich lese und schreibe gerne in deutscher<br />
Sprache. Sie ist differenzierter, glaub ich. In italienisch schreibe ich gerne<br />
Gedichte. Mir gefällt die italienische Musik, vor allem Verdi. Mit meiner Mutter war<br />
ich neulich in Verona und habe dort mit ihr „Nabucco“ gesehen und gehört. Was<br />
für eine Pracht! Meinen Brüdern sagt das ja nichts. Massimo ist mehr auf „Bumm-<br />
Bumm“-Musik und Andrea auf Heavy-Metal. Jungs eben.<br />
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SECONDO - 24 –<br />
Später möchte ich Ärztin oder Wissenschaftlerin werden. Auf keinen Fall will ich<br />
wie meine Mutter nur für die Kinder da sein und nebenbei arbeiten. Ich will<br />
hauptberuflich arbeiten und nebenbei für die Kinder da sein. Männer können eben<br />
so gut wie Frauen nach den Kindern schauen. Wenn nicht, lassen wir es eben<br />
bleiben. Finito Bambini. Wir verweigern uns. Ich denke, Frauen müssen mal<br />
aufwachen und aufhören sich ständig aufzuopfern für die Männer.<br />
Wo würde ich gerne leben wollen? Im Moment steht das nicht zur Frage. Ich bin<br />
hier und will hier in der Schweiz bleiben. Ich habe hier meine Freundinnen und ich<br />
kann mir nicht vorstellen, auszuwandern. Vielleicht später, wenn ich gross bin.<br />
Aber da muss es nicht unbedingt Italien sein, obwohl ich gerne dort in Urlaub<br />
fahre. Ich könnte mir gut vorstellen, auszuwandern. England vielleicht oder<br />
Neuseeland.<br />
Einen Freund habe ich nicht, will ich auch nicht haben. Jungs sind doof. Und dann<br />
wollen sie eh nur küssen und so. Ich habe keine Lust darauf. Es gibt wenig Jungs,<br />
mit denen man richtig gut reden kann. Die meisten haben eh nur Scheisse im Kopf<br />
– sorry wenn ich das so sage, aber es stimmt, meistens.<br />
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SECONDO - 25 –<br />
7.5. Andrea<br />
Ich heisse Andrea und bin 12<br />
Jahre alt. Ich bin in der<br />
Schweiz geboren. Mein Vater<br />
und meine Mutter sind beides,<br />
glaube ich, Italiener und<br />
Schweizer. Ich bin zur Zeit<br />
nur Schweizer, aber wenn ich<br />
Italiener werden will, ist das<br />
kein Problem. Ich finde das<br />
schön, denn so kann ich<br />
später auswählen, was ich<br />
gerade sein will. In der Schule<br />
habe ich im Augenblick<br />
Stress, weil wir auf die Prüfungen<br />
für die Oberstufe büffeln<br />
müssen. Gerne würde ich<br />
wie meine Schwester das<br />
Gymnasium besuchen, aber ich bin nicht so klug wie sie. Ich bin froh, wenn ich die<br />
Bezirksschule schaffe. Am Mittwochnachmittag besuche ich den „Corso di lingua e<br />
cultura italiana“, das ist ein spezieller Italienischunterricht für italienischsprachige<br />
Kinder. Meine Mutter unterrichtet dort. Aber ich gehe nicht dorthin, weil sie unterrichtet.<br />
Sie hat mich nie gedrängt, dahin zu gehen. Oft fragen mich meine Kollegen,<br />
ob es mir nicht stinkt, am Mittwochnachmittag, wenn alle frei haben, zur<br />
Schule zu gehen. Manchmal stinkt es mir schon, vor allem im Sommer, wenn alle<br />
anderen in die Badi gehen. Dann könnte er mir gestohlen bleiben, der Italienischunterricht.<br />
Aber es ist auch lustig dort. Die Lehrerin, also meine Mutter, macht das<br />
sehr gut. Wir lachen viel und sie ist auch nicht so streng, wie die Lehrer in der<br />
Schweizerschule. Ich will unbedingt italienisch schreiben und lesen können, denn<br />
wenn ich später mal in Italien leben möchte, muss ich das doch können. Manchmal<br />
schauen wir im Unterricht italienische Filme. Aber die sind langweilig. Lieber<br />
würde ich amerikanische Action anschauen, italienisch gesprochen. Aber meine<br />
Mutter würde das nie tun, im Unterricht. Schade. In meiner Freizeit spiele ich<br />
gerne Fussball, höre gerne Musik (Linkin Park), lese gerne Comix und spiele sehr<br />
gerne auf meiner Playstation Autorennen. Andere Spiele kriege ich von meinem<br />
Bruder, aber Mama darf das nicht wissen.<br />
Italiener oder Schweizer? Ich bin beides, denke ich. Aber wenn ich gefragt werde,<br />
in welcher Sprache ich mich besser ausdrücken kann, dann ist es schon deutsch.<br />
Mit meinen Kollegen und Geschwistern rede ich deutsch und lesen tue ich<br />
deutsch. Mein Vater hat mir neulich Harry Potter in italienisch gekauft, aber das<br />
war mir zu anstrengend. Ich hab’s dann doch lieber auf deutsch gelesen.<br />
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SECONDO - 26 –<br />
8. Drehbuchentwurf dreier Szenen<br />
8.1. Szene „Maras Arbeit“<br />
Mara arbeitet als Lehrerin am „Corso di lingua e cultura italiana“, dem<br />
Italienischunterricht für Secondi und Terzi. Dieser Kurs findet zusätzlich zum<br />
Schulunterricht statt und wird auf freiwilliger Basis von Kindern von der ersten bis<br />
sechsten Klasse besucht.<br />
INNEN – TAG – SCHULZIMMER<br />
Die Bänke bilden ein grosses U. 18 Kinder sitzen reihum. Die jüngsten vorne,<br />
die ältesten hinten. Mara steht in der Mitte des U und spricht laut und<br />
deutlich.<br />
Ein 11jähriges Mädchen meldet sich.<br />
MARA<br />
Il treno fischia...het FISCHIA es H oder nit?<br />
(Der Zug pfeiff. Hat „fischia“ ein H oder<br />
nicht?)<br />
11 JÄHRIGES MÄDCHEN<br />
Het e keis..<br />
(Hat keines.)<br />
Mara hebt und senkt ihre Augenbrauen. Sie ruft Andrea und Giuseppe an die<br />
Tafel.<br />
MARA<br />
Andrea und Giuseppe an die Tafel. Bitte<br />
scrivete la frase IL TRENO FISCHIA an die<br />
Tafel. E voi altri, scrivetelo nel quaderno.<br />
8 JÄHRIGES MÄDCHEN<br />
Uffa, wie schriibtme das?<br />
(Uff, wie schreibt sich das?)<br />
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SECONDO - 27 –<br />
9 JÄHRIGES MÄDCHEN<br />
Wie mer’s seit. FISKIA.<br />
(Wie man’s sagt. FISKIA.)<br />
10 JÄHRIGES MÄDCHEN<br />
Äuä nid mit K oder?<br />
(Wohl nicht mit K oder?)<br />
9 JÄHRIGES MÄDCHEN<br />
Nei, sicher nid mit K.<br />
(Nein, sicher nicht mit K.)<br />
Andrea und Giuseppe gehen zur Wandtafel und beginnen den vorgegebenen<br />
Satz zu schreiben.<br />
GIUSEPPE<br />
Wie schriibsch FISCHIA – mit oder ohne H?<br />
(Wie schreibtst du FISCHIA – mit oder ohne<br />
H?)<br />
ANDREA<br />
I gloub – ohni.<br />
(Ich glaube – ohne.)<br />
Giuseppe hat den H in FISCHIA schon geschrieben, wischt ihn jetzt wieder<br />
weg. Beide treten einen Schritt von der Tafel zurück.<br />
Das 11jährige Mädchen geht mit ihrem Heft zur Lehrerin und zeigt ihr den<br />
Satz. Mara nickt und führt das 11jährige Mädchen mit sich zur Wandtafel. Sie<br />
bleiben hinter Andrea und Giuseppe stehen.<br />
MARA<br />
Im Dütsch he SCH es H – im Italiänische nid.<br />
Mit H wird’s im Italiänische als SK<br />
uusgsproche.<br />
(Im Deutsch hat SCH ein H – im Italienischen<br />
nicht. Mit H wird es im Italineischen SK<br />
ausgesprochen.)<br />
Ein 7jähriges Mädchen drängt sich mit ihrem Arbeitsblatt zu Mara. Mara<br />
macht ihr Zeichen, zu warten.<br />
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SECONDO - 28 –<br />
Mara schaut fragend zu Andrea.<br />
Andrea überlegt und antwortet unbestimmt:<br />
MARA<br />
Also – het jetzt FISCHIA es H oder nid?<br />
(Also – hat jetzt FISCHIA ein H oder nicht?)<br />
ANDREA<br />
Ich würdi säge…nei?<br />
(Ich würde sagen…nein?)<br />
Mara macht mit ihrer Hand eine „Aber“-Geste.<br />
MARA<br />
Ma dai, Andrea…<br />
(Also weißt du, Andrea…)<br />
Andrea und Giuseppe kehren zu ihrem Platz zurück. Mara kommt zu ihnen<br />
und erklärt ihnen erneut die Schreibregeln.<br />
Mara zeigt auf eine Wortgruppe im Italienisch-Übungsbuch.<br />
Andrea stöhnt.<br />
Andrea lächelt gequält.<br />
MARA<br />
Fischiare, fiasco, sciare, sciacquare,<br />
schiacciare, scrivere, scoiattolo…<br />
ANDREA<br />
Uh, madonna mia…<br />
MARA<br />
Isch nid wie im Dütsche…<br />
(Ist nicht wie im Deutschen…)<br />
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SECONDO - 29 –<br />
ANDREA<br />
Nei, gar nid…<br />
(Nein, überhaupt nicht…)<br />
Mara wendet sich anderen Schülerinnen und Schülern zu.<br />
Giuseppe tuschelt fragend zu Andrea:<br />
GIUSEPPE<br />
Hesch öppis verstande?<br />
(Hast du was verstanden?)<br />
ANDREA<br />
Jo, scho, aber nid aues…<br />
(Ja, schon, aber nicht alles…)<br />
Giuseppe nimmt das Grammatikblatt und liest vor:<br />
Andrea nickt bedenklich.<br />
GIUSEPPE<br />
Do stoht’s. SCH im Italiänische ohni H.<br />
Nume SC. Wenn’s nachhär es I oder es E<br />
het, heisst’s SCH. Bi O, U und A heisst’s<br />
SK. Damit’s SK auf vor I und E heisst,<br />
bruuchst’s es H. Klar?<br />
(Da steht’s. SCH im Italienischen wird ohne<br />
H geschrieben. Nur SC. Vor I oder E wird es<br />
als SCH gelesen. Bei O, U und A wird’s als<br />
SK gelesen. Damit SK auch vor I und E<br />
gelesen wird, braucht es ein H nach SC.<br />
Klar?)<br />
Jo.<br />
(Ja.)<br />
ANDREA<br />
GIUSEPPE<br />
Het jetzt FISCHIA es H oder nid?<br />
(Hat FISCHIA nun ein H oder nicht?)<br />
Andrea zeigt mit dem Kinn auf die Banknachbarinnen.<br />
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SECONDO - 30 –<br />
ANDREA<br />
Frog mol d’Girls…<br />
(Frag mal die Mädchen…)<br />
Giuseppe schaut zu den Banknachbarinnen. Diese scheinen die gleichen<br />
Probleme zu wälzen.<br />
8 JÄHRIGES MÄDCHEN<br />
Het eis…<br />
(Hat eines…)<br />
9 JÄHRIGES MÄDCHEN<br />
Nei, het’ keis.<br />
(Nein, hat keines.)<br />
10 JÄHRIGES MÄDCHEN<br />
Mou, lueg doch…het eis…<br />
(Doch, schau mal…hat eines…)<br />
8 JÄHRIGES MÄDCHEN<br />
Äuä scho…<br />
(Ach was…)<br />
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SECONDO - 31 –<br />
8.2. Fotoromanzo<br />
“Il treno fischia…hat fischia ein H oder<br />
Nicht?“<br />
„Andrea und Giuseppe an die Tafel.<br />
Bitte scrivete la frase il treno fischia. E<br />
voi altri, scrivetelo nel quaderno.”<br />
„Uffa, wie schriibtme das?“<br />
„Wie mer’s seit. FISKIA.“<br />
„Äuä nid mit K oder?“<br />
„Nei, sicher nid mit K.“<br />
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SECONDO - 32 –<br />
„Wie schriibsch fischia mit oder<br />
ohni H?“<br />
„Ich glaub’ ohni.“<br />
„Im Dütsch het SCH es H – im<br />
Italienische nid. Mit H wird’s im<br />
Italienischen als SK usgsproche. Also<br />
- het jetzt fischia es H oder nid?“<br />
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SECONDO - 33 –<br />
„Ich würdi säge…nei?“<br />
„Ma dai, Andrea…“<br />
„Fischiare, fiasco, sciare, sciacquare,<br />
schiacciare, scrivere, scoiattolo…“<br />
“Uh, madonna mia...”<br />
“Isch nid wie im Dütsche...”<br />
„Nei, gar nid…“<br />
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SECONDO - 34 –<br />
„Hesch öppis verstande?“<br />
„Jo, scho, aber nid aues…“<br />
„Do stoht’s. SCH im Italiänische ohne<br />
H. Nume SC. Wenn’s nachhäer es I<br />
oder E het, heisst’s SCH, bi O, U und<br />
A heisst SK. Damit’s SK au vor I und<br />
E heisst, bruuchst’s es H. Klar?“<br />
„Jo.“<br />
„Het jetzt fischia es H oder nid?“<br />
„Frog mol d’Girls…“<br />
„Het eis…“<br />
„Nei, het’ keis…“<br />
„Mou, lueg doch…het eis…“<br />
„Äuä scho…“<br />
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SECONDO - 35 –<br />
8.3. Szene „Sonntagmorgen“<br />
INNEN – TAG – ELTERNSCHLAFZIMMER<br />
Michele steht vor dem grossen Wandspiegel, betrachtet seinen Bauch und<br />
atmet dabei ein und aus. Im Rhythmus seines Ein- und Ausatmens quillt sein<br />
Bauch über die Schlafanzugshose vor und zurück.<br />
Mara liegt noch im Bett und schaut ihm zu, kichert leise.<br />
MICHELE<br />
Mara, dimmi la verità. Ho ingrassato?<br />
(Sag mir die Wahrheit. Hab ich<br />
zugenommen?)<br />
MARA<br />
Ma dai, no.<br />
(Aber nein.)<br />
Michele zeigt auf seine Hüfte.<br />
MICHELE<br />
Ma, dimmi la verità. Qui – ho ingrassato, no?<br />
(Sag mir die Wahrheit. Hier hab ich doch<br />
zugenommen.)<br />
MARA<br />
Ma no. L’à no.<br />
(Aber nein, dort nicht.)<br />
MICHELE<br />
L’à no? Allora dove? Dimmi la verità.<br />
(Da nicht? Also wo, sag mir die Wahrheit.)<br />
MARA<br />
Niente. Non hai ingrassato…<br />
(Nein, du hast nicht zugenommen.)<br />
MICHELE<br />
La pancia…non pensi che...<br />
(Der Bauch, findest du nicht auch...)<br />
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SECONDO - 36 –<br />
MARA<br />
No, no. La pancia no.<br />
(Nein, der Bauch nicht.)<br />
MICHELE<br />
La pancia no? Allora cosa? Quà alla “Hüft”?<br />
(Der Bauch nicht? Also was? Die Hüfte?)<br />
MARA<br />
Tu sei bello, come sei, non preoccuparti. La<br />
tua “Hüft” e molto bella.<br />
(Du bist schön, wie du bist, keine Sorge.<br />
Deine Hüfte ist sehr schön.)<br />
MICHELE<br />
La mia “Hüft” e bella? Ma guarda che ciccia.<br />
(Meine Hüfte ist schön? Schau doch das Fett<br />
hier...)<br />
MARA<br />
Allora, dimagrisci un po, no?<br />
(Dann nimm halt etwas ab, ja?)<br />
MICHELE<br />
Gsehsch – i has gwüsst. Ho ingrassato. E tu<br />
non mi dici niente.<br />
(Siehst du – ich habe es gewusst. Ich habe<br />
zugenommen. Und du sagst mir nichts.)<br />
MARA<br />
Michele – nimm doch eifach ab e basta, no?<br />
(Nimm doch einfach ab und fertig, ja?)<br />
MICHELE<br />
Eifach ab, eifach ab. Domenica Mittag si<br />
mangia dai tuoi. Durante la settimana Mittag<br />
und Obigässe. Sabatosera la pizza...a me<br />
basta, ai capito? Basta. Non ne posso più.<br />
Guarda che cosa ho combinato!<br />
(Einfach abnehmen. Sonntagmittag essen<br />
wir bei deinen Eltern. Während der Woche<br />
Mittag- und Abendessen. Samstagabend<br />
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SECONDO - 37 –<br />
Michele klatscht sich wütend auf seinen Bauch.<br />
Pizza…mir reichts. Ich kann nicht mehr.<br />
Schau, was ich angerichtet habe.)<br />
Michele wirft seiner Frau einen gehässigten Blick zu.<br />
Das Telefon klingelt.<br />
MICHELE<br />
Tua madre.<br />
(Deine Mutter.)<br />
Hässig nimmt Michele das Telefon ab.<br />
MARA<br />
Cerchi una ragione per non andare da i miei?<br />
(Suchst du einen Grund, um nicht zu meinen<br />
Eltern gehen zu müssen?)<br />
MARA<br />
Nimm ab, säg mir chömed nid.<br />
(Nimm ab, sag wir kämen nicht.)<br />
MICHELE<br />
Si che lo faccio.<br />
(Und ob ich das mache.)<br />
MICHELE<br />
Vitelli!<br />
Michele nickt seiner Frau zu zum Zeichen, dass er Recht hatte. Maras Mutter<br />
ist am Telefon.<br />
MICHELE<br />
Si, te la passo.<br />
(Ja, ich übergebe…)<br />
Michele reicht den Hörer seiner Frau. Mara will ihn nicht nehmen. Michele<br />
insistiert.<br />
MICHELE<br />
(flüstert)<br />
E prendi, no?<br />
(Nun nimm schon…)<br />
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SECONDO - 38 –<br />
Mara versteckt sich unter der Decke.<br />
Mara betrachtet Michele.<br />
MICHELE<br />
Senti – Mara non puo prenderlo. Per il<br />
pranzo? No, oggi non va, mi dispiace. Siamo<br />
già invitati – dove? Eh, da un’amico fuori<br />
città...Ci passi lo stesso, più tardi? Ma non<br />
c’è nessuno...ah, per portare i fagioli...Va bè,<br />
li possiamo anche vernir prendere...e restare<br />
per cena? Non so...va bè, allora a più<br />
tardi...Ciao, ciao.<br />
(Mara kann nicht abnehmen. Fürs<br />
Mittagessen? Nein, heute geht es nicht, tut<br />
mir leid. Wir sind schon eingeladen. Wo? Bei<br />
Freunden, ausserhalb. Was? Du kommst<br />
später vorbei? Aber es ist niemand da – ah,<br />
um die Bohnen vorbeizubringen. Naja, diese<br />
Bohnen, wir können sie bei dir abholen…und<br />
zum Abendessen bleiben. Ist gut, also bis<br />
später. Ciao.)<br />
MICHELE<br />
Was?<br />
MARA<br />
Nüt.<br />
(Nichts.)<br />
MICHELE<br />
Si wär verbii cho kontrolliere öb mer würklich<br />
wäg wäred. Was hätt’ich de Chind sölle<br />
säge? Si sölle ganz still si, wie wenn niemer<br />
deheime wär?<br />
(Sie wäre vorbeigekommen, um zu<br />
kontrollieren, ob wir wirklich weg wären. Was<br />
hätte ich den Kindern sagen sollen? Dass sie<br />
ganz still sein sollen, als ob niemand daheim<br />
wäre?)<br />
MARA<br />
I ha nüt gseit…<br />
(Ich habe nichts gesagt...)<br />
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SECONDO - 39 –<br />
MICHELE<br />
Ich wirde nüt ässe, binere. Nüt!<br />
Mageschmärze han’ig übercho, säg’eni. Was<br />
sogar stimmt.<br />
(Ich werde nichts essen, bei ihr.<br />
Magenschmerzen hab’ ich gekriegt, werde<br />
ich sagen. Was sogar stimmt.)<br />
Michele hält sich seinen Bauch.<br />
MICHELE<br />
Mageschmärze und ingrassato. Che vita<br />
miserabile!<br />
(Magenschmerzen und zugenommen hab ich<br />
auch. Was für ein schreckliches Leben.)<br />
Mara lacht auf den Stockzähnen.<br />
Michele öffnet die Schlafzimmertüre und ruft in die Wohnung:<br />
MICHELE<br />
Bambini – pranzo fällt us. I ha mi düregsetzt,<br />
bi dr Nonna.<br />
(Kinder – Mittagessen fällt aus. Ich hab mich<br />
durchgesetzt bei der Grossmutter..)<br />
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SECONDO - 40 –<br />
8.4. Szene „italienischer Friedhof“<br />
AUSSEN – TAG – VOR BETONWAND MIT EINGEMAUERTEN TOTEN<br />
Michele steht vor einer Totenwand. In Beton sind hier die Toten eingemauert.<br />
Sein Vater und seine Mutter liegen nebeneinander in der obersten Reihe. An<br />
der Marmorabdeckung sind neben einer kleinen Eisenhalterung für Blumen<br />
ihre Fotos eingearbeitet. An die Betonwand gelehnt steht eine schwere<br />
Eisenleiter.<br />
Michele hat Blumen dabei. Er versucht vergeblich, die schwere Eisenleiter<br />
zum Grab seiner Eltern zu verschieben, um seine Blumen anzubringen. Die<br />
Leiter ist aus massivstem Eisen und lässt sich keinen Millimeter bewegen.<br />
Michele steckt die Blumen beim nächst besten Toten ein. Jetzt hört Michele<br />
hinter sich eine verärgerte Männerstimme.<br />
MANN<br />
Mi scusi – ma non puo dare quei fiori a un<br />
altro.<br />
(Sorry – aber Sie können Ihre Blumen nicht<br />
einem anderen geben.)<br />
MICHELE<br />
Prego?<br />
(Wie bitte?)<br />
MANN<br />
Quei fiori - erano per quel morto la su, no? E<br />
allora, peché li mette a questo morto<br />
quaggiu?<br />
(Diese Blumen waren doch für den Toten<br />
dort oben, jetzt geben Sie sie diesem hier<br />
unten.)<br />
MICHELE<br />
Mi scusi – ma e tuo questo morto?<br />
(Sorry – aber ist das Dein Toter?)<br />
MANN<br />
No. Non è mio questo morto.<br />
(Nein, das ist nicht mein Toter.)<br />
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SECONDO - 41 –<br />
MICHELE<br />
E allora?<br />
(Und?)<br />
MANN<br />
Niente allora. Non si fa. Non si danno fiori a<br />
un morto che non si conosci.<br />
(Kein “und”. Das macht man nicht. Man gibt<br />
nicht Blumen einem Toten, den man nicht<br />
kennt.)<br />
MICHELE<br />
E morto, no?.<br />
(Er ist doch tot, oder?)<br />
MANN<br />
E tu ti permetti tutto, solo perché è morto?<br />
(Und du erlaubst Dir alles, nur weil er tot ist?)<br />
MICHELE<br />
Ma non mi perm…<br />
(Aber ich will doch gar nicht...)<br />
Michele nimmt genervt seine Blumen zurück und will gehen. Aber er ergreift<br />
versehentlich die falschen Blumen.<br />
MANN<br />
Adesso vi sta pure rubando....<br />
(Jetzt beraubt er euch auch noch...)<br />
MICHELE<br />
Cosa?<br />
(Was?)<br />
MANN<br />
I fiori. Ai preso via i fiori a questo poverello...<br />
(Die Blumen. Du hast die Blumen diesem<br />
Armen da weggenommen...)<br />
Michele schaut auf die Blumen in seiner Hand und bemerkt, dass es nicht<br />
seine Blumen sind. Michele will die Blumen zurückstellen, weiss aber nicht<br />
mehr, woher er sie genommen hat.<br />
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SECONDO - 42 –<br />
MANN<br />
Adesso farà un casino. Aspettate. Aspettate.<br />
(Jetzt wird er gleich ein Chaos machen.<br />
Wartet’s nur ab.)<br />
MICHELE<br />
E lui che mi fa fare un casino. E lui.<br />
(Er macht Chaos. Er ist es.)<br />
MANN<br />
Non li credete. Guardatelo pure. Un casino<br />
va’ffare, un casino.<br />
(Glaubt ihm nicht. Schaut nur. Ein Chaos<br />
wird er gleich machen...)<br />
Michele stellt seine Blumen irgendwo hin, zur nächst besten freien Stelle.<br />
MANN<br />
Ecco – cosa vi ho detto?<br />
A fatto un casino.<br />
Mo chi vi fa di nuovo ordine?<br />
Ditemelo un po?<br />
(Was hab ich euch gesagt? Ein Chaos hat er<br />
gemacht. Wer wird jetzt wieder Ordnung<br />
schaffen? Wer?)<br />
Michele hält seine Hand ans Ohr. Jetzt nickt er, wie wenn er eine Antwort<br />
hören würde.<br />
MICHELE<br />
Sai che ti rispondono, i tuoi morti?<br />
(Weisst du, was sie dir antworten, deine<br />
Toten?)<br />
Der Mann schaut Michele vorsichtig von der Seite an.<br />
Jetzt formen Micheles Lippen stimmlos den Satz:<br />
MICHELE<br />
(stimmlos)<br />
Va’ffanculo.<br />
(Leck mich am Arsch.)<br />
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SECONDO - 43 –<br />
Der Mann hat verstanden und blickt konsterniert weg.<br />
Michele geht von der Totenwand weg zu einem Heiligenaltar in der anderen<br />
Ecke. Seine Familie hat sich hierher versammelt und zündet Kerzen an,<br />
wobei sie für jede Kerze ein Geldstück in eine Kasse geben.<br />
MARA<br />
Was isch gsii?<br />
(Was war los?)<br />
MICHELE<br />
Ah, en Stänkerer.<br />
(Ach, ein Stänkerer)<br />
Mara gibt Michele eine Kerze. Michele zündet sie an und stellt diese auf den<br />
Altar, zu anderen brennenden Kerzen.<br />
Der Mann taucht wieder hinter ihm auf.<br />
MANN<br />
Sii, mo accende pure la luce a San Michele.<br />
(Jaa, jetzt entzündet er auch noch eine<br />
Kerze für San Michele.)<br />
Die Kinder drehen sich nach dem Mann um und betrachten ihn neugierig.<br />
Mara und Michele beachten ihn nicht, schauen geradeaus zu den Kerzen,<br />
aber Mara muss das Lachen unterdrücken.<br />
Der Mann beginnt nun im neapolitanischen Dialekt zu reden.<br />
MANN<br />
San Miché, a fattu nu casinu giù dai morti,<br />
chissu cc’à.<br />
(San Michele, der hat ein Chaos dort unten<br />
bei den Toten gemacht, sag ich dir…)<br />
MICHELE<br />
Ma lo vuoi smettere…<br />
(Willst du wohl aufhören...)<br />
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SECONDO - 44 –<br />
MANN<br />
San Miché, mo pure si arrabbia. Laggiù mi<br />
ha dittu che i morti dicunu...<br />
(stimmlos)<br />
...vaffanculo...<br />
Ci scummettu che non ti ha pagatu<br />
nemmenu la luce.<br />
(San Michele, jetzt wird er auch noch<br />
wütend. Dort unten hat er mir gesagt, dass<br />
die Toten „Leck mich am Arsch“ sagen. Ich<br />
wette, er hat nicht einmal die Kerze bezahlt.)<br />
Michele antwortet jetzt ebenfalls in neapolitanischem Dialekt.<br />
MICHELE<br />
San Miché fallu murire chissu ccà. Cosi sta<br />
cundendu coi suoi morti.<br />
(San Michele, lass ihn sterben, diesen da.<br />
Dann kann er zusammen sein, mit seinen<br />
Toten.)<br />
MANN<br />
No, San Miché, no. Lui a fatte la giù nu<br />
casinu cui fiure, nu casino, te dicu...<br />
(Nein, San Michele, nicht. Er hat dort unten<br />
Chaos gemacht mit den Blumen. Chaos sag<br />
ich dir…)<br />
MICHELE<br />
San Michele, fallu muri. Famme sta grazie.<br />
Togliemelle di mezzu.<br />
(San Michele, lass ihn sterben, jetzt auf der<br />
Stelle. Mach mir dieses Wunder...)<br />
MANN<br />
Eh, la grazie. San Michele non fa la grazie ai<br />
stranieri. Tu a fà la grazie a chilli che<br />
stengunu qua.<br />
(Das auch noch. San Michele mach ja keine<br />
Wunder für diesen Ausländer hier.<br />
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SECONDO - 45 –<br />
Du hast schon genug zu tun mit den<br />
Wundern, die du für uns machen musst.)<br />
MICHELE<br />
San Michele – 10 candele se lo fai crepà.<br />
(San Michele – 10 Kerzen wenn du ihn jetzt<br />
krepieren lässt.)<br />
MANN<br />
10? E che te pozza. San Miché. Ai sentitu?<br />
10 te vuo dà. Pe’ 10 mandalu nu colpe in<br />
cape...<br />
(10? Hast du das gehört, San Michele? 10<br />
will er dir geben. Für 10 lass ihn jetzt den<br />
Schlag treffen.)<br />
MICHELE<br />
A me?<br />
(Mich?)<br />
Michele schluckt seinen Ärger hörbar runter.<br />
MANN<br />
100 ci voglionu. La grazia costa 100 candele.<br />
Ai capitu.<br />
(100 braucht es. Für ein Wunder braucht es<br />
100 Kerzen. Verstanden?)<br />
MICHELE<br />
Senti, non ti voglio più vedè. Dammi ‘ste 100<br />
candele e vatt’inne..<br />
(Hör mal, ich will dich nicht mehr sehen. Gib<br />
mir diese 100 Kerzen und hau ab.)<br />
Der Mann nickt und zieht prompt ein Pack zu 100 Kerzen aus seiner<br />
Umhängetasche hervor.<br />
Michele nimmt es.<br />
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SECONDO - 46 –<br />
MANN<br />
Ma tu, d’un’de sei?<br />
(Von wo kommst du?)<br />
MICHELE<br />
Quandu vuò?<br />
(Wieviel willst du?)<br />
Michele zieht einen 20 Euro Schein hervor, der Mann nimmt ihn, steckt ihn<br />
ein und sucht beiläufig nach Rückgeld.<br />
MANN<br />
Tu nun sei d’a’ccà, no?<br />
(Du bist nicht von hier, stimmt’s?)<br />
MICHELE<br />
Padr’e mammete so’la sottu.<br />
(Mein Vater und meine Mutter liegen dort<br />
unten.)<br />
Der Mann schaut in die angegebene Richtung zur Totenwand.<br />
MANN<br />
Ma, tu chi sii?<br />
(Wer bist du?)<br />
MICHELE<br />
Vitelli.<br />
MANN<br />
Vitelli? Vitelli Pascquale?<br />
MICHELE<br />
Vitelli Michele.<br />
MANN<br />
Michele! Micheliii. Manna’. Sù Guidu. Tu’<br />
cuginu.<br />
(Michele! Ich bin’s, Guido. Dein Cousin.)<br />
MICHELE<br />
Guido? Guido!<br />
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SECONDO - 47 –<br />
Jetzt erkennt ihn Michele ebenfalls.<br />
Guido nimmt Micheles Hand und schüttelt sie kräftig. Dabei grinst er von<br />
einem Ohr zum anderen.<br />
Jetzt gibt er verlegen Mara die Hand. Mara schüttelt sie kräftig.<br />
Guido blickt zu den Kindern und nickt freundlich. Jetzt erinnert er sich, dass<br />
er Michele 20 Euro abgeknöpft hat und zieht diesen beflissen aus seiner<br />
Tasche.<br />
GUIDO / MANN<br />
Mannaggia…No, per té no…<br />
(Verflixt, also für dich nicht, nein…)<br />
Guido gibt Michele sein Geld zurück. Michele nimmt es aber nicht an.<br />
Guido streckt den Geldschein Mara hin.<br />
Mara winkt heftig ab.<br />
GUIDO<br />
Signò…<br />
(Meine Dame…)<br />
Jetzt steckt Guido widerwillig den Geldschein weg.<br />
MICHELE<br />
Guido, ma tu…che fai a’ccà…<br />
(Guido, was machst du hier eigentlich?)<br />
GUIDO<br />
Eh, Miché, visto che lavoru che st’ facendu,<br />
vend’ le candele…<br />
(Siehst du Michele, was ich für eine Arbeit<br />
mache. Ich verkaufe Kerzen…)<br />
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SECONDO - 48 –<br />
9. Filmische Gestaltungsmittel<br />
9.1. Erzählperspektive<br />
Die Erzählperspektive wird ganz aus der Sicht unserer Secondo-Figuren sein, d.h.<br />
aus der Perspektive von Vater Michele und Mutter Mara. Wir erleben aus ihrer<br />
Sicht den Handlungsverlauf und gewinnen so eine grosse emotionale Nähe zu<br />
ihnen. Eine sklavische Haltung soll aber diese Vorgabe nicht sein. Wo es<br />
notwendig wird, des besseren Verständnisses wegen, diese Erzählperspektive zu<br />
verlassen, werden wir dies vornehmen.<br />
9.2. Die Filmstory<br />
Die Filmstory verdichtet Erfahrungen von italienischen Emigrantinnen und<br />
Emigranten, die seit über 30 Jahren in der Schweiz leben. Ihre Integration steht<br />
nicht mehr zur Debatte, sie sind ansässig geworden. Niemand stellt mehr ihre<br />
Zugehörigkeit zur einheimischen Gesellschaft in Frage. Sie sind integriert und<br />
ausser ihrem Nachnamen weist nichts mehr darauf hin, dass sie nicht schon seit<br />
Generationen hier leben. Wir zeigen dies anhand unserer Familie Vitelli, die in<br />
einer Kleinstadt im schweizerischen Mittelland lebt. Vater und Mutter, unsere<br />
Hauptfiguren, gehen ihrer Arbeit nach, ihre Kinder – allesamt hier geboren – sind<br />
in der Ausbildung und im Erwerbsleben. Wir sehen eine typisch kleinbürgerliche<br />
Schweizerfamilie, mit dem Charme des südländischen „Laissez faire“.<br />
In diesen Latin-Swiss-Way-Of-Life bricht unverhofft etwas Verdrängtes hervor. Es<br />
ist die Ahnung nach dem verlorenen Paradies der Kindheit, das um so mehr<br />
Paradies wurde, je gründlicher es verdrängt werden musste, in der Kindheit und<br />
Jugendzeit. Der Traum vom wunderbaren Ort der Geburt, der Traum von der<br />
fernen, leuchtenden Heimat im Süden taucht unverhofft wieder auf, wenn die erste<br />
Emigrantengeneration stirbt und ihren unerfüllten Emigrantentraum von der<br />
Rückkehr ins gelobte Heimatland mit ins Grab nimmt. In unserer Geschichte ist es<br />
Vater Michele, der diesem Traum viel mehr erliegt, als seine Frau, die mit beiden<br />
Beinen fest auf dem Boden der Schweizer-Realität lebt. Vater Michele wird in der<br />
Folge die Sehnsucht seiner verstorbenen Eltern zu realisieren versuchen –<br />
Rückkehr und Neustart (und nicht Rückkehr und Ausklang, wie bei seinen Eltern<br />
und allzu oft in Emigrantenkreisen der Fall). Vater Michele sieht eine neue Zukunft<br />
in seinem Herkunftsland und malt sich die neuen Gegebenheiten in rosigsten<br />
Farben aus.<br />
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SECONDO - 49 –<br />
Einen ersten Schock gilt es zu verdauen: seine Kinder, die dritte<br />
Emigrantengeneration, ist von dem „Emigrantentraum“ so weit entfernt, wie Pluto<br />
von der Sonne. Niemand von ihnen will auswandern und nach Süditalien schon<br />
gar nicht. Süditalien erscheint ihnen als schlimmster Alptraum: wirtschaftlich<br />
rückständig, kulturell isoliert, kirchlich konservativ dominiert, die Familie streng<br />
patriarchal strukturiert…die Liste ist lang, zu lang. Die Kinder rebellieren und<br />
setzen alles daran, das Vorhaben von Vater und Mutter zu unterwandern. Aus<br />
diesem Zusammenprall entstehen die wunderbarsten komödiantischen Szenen.<br />
Interfamiliäre Intrigen mit Tanten und Onkeln, Generationen übergreifende<br />
Komplotte mit den Grosseltern geben Gelegenheit, Familienstrukturen<br />
auszuleuchten, wie sie tragischer und komischer nicht sein könnten.<br />
Dann der zweite Schock: die Protagonisten haben ihren Traum-Status schon<br />
längst abgeben müssen. Wer in den 70er Jahren in der Schweiz eingebürgert<br />
wurde, musste seinen italienischen Pass abgeben. Viele Secondi sind<br />
Schweizerinnen und Schweizer geworden, während ihre Eltern, die Primi,<br />
italienische Staatsangehörige geblieben sind. Für eine Rückwanderung ist es aber<br />
von Vorteil, die verloren gegangene Staatsangehörigkeit zurück zu beantragen. In<br />
den 90er Jahren ist eine „nuova legge per i emigrati“ geschaffen worden, das die<br />
doppelte Staatszugehörigkeit anerkennt. Damit sich aber nicht „fremde Elemente“<br />
einschleichen können, hat die italienische Bürokratie eine Reihe von „ostacoli“ –<br />
Hindernissen – eingebaut, die scheinbar nur bewältigen können, wer „Italiano<br />
vero“ ist, echter Italiener also. Es braucht drei italienische Staatsangehörige, die<br />
notariell bezeugen müssen, dass der Antragsteller, die Antragstellerin tatsächlich<br />
Italiener oder Italienerin war, ist und wieder werden möchte. Vater Micheles Kampf<br />
gegen die italienische Bürokratie in der Schweiz vermitteln ihm einen<br />
Vorgeschmack von dem, was ihm im „gelobten Heimatland“ bevorsteht, wenn er<br />
sich niederlässt. Aus diesen Situationen wird der Film Szenen von groteskem<br />
Humor schöpfen. Und obwohl wir alle Szenen realistisch gestalten werden,<br />
werden sie unrealistisch wirken, denn das Unreale ist Teil der (italienischen)<br />
Bürokratie-Realität.<br />
Der dritte und letzte Schock vor der Läuterung des Helden: die italienische<br />
Realität. Gelandet im Traumland, voll bepackt mit den besten Vorsätzen,<br />
aufgekratzt mit einem enormen Tatendrang – wird der Traum sukzessive<br />
demontiert. Der Alptraum von Micheles Kindern wird zwar nicht zur Realität, aber<br />
viele Elemente davon entpuppen sich als wahr. Die schlimmste davon scheint die<br />
Familienbande. Ungebeten erscheinen Onkel, Tanten, Cousin und Cousinen –<br />
und alle geben sie ihr bestes, um unsere Protagonisten willkommen zu heissen.<br />
Und je mehr sie willkommen geheissen werden, um so mehr werden sie zur Flucht<br />
getrieben, zur Flucht aus dem südlichen Paradies ins gemässigte Fegefeuer des<br />
Nordens.<br />
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SECONDO - 50 –<br />
Der Schluss des Filmes soll für einmal Aufräumen mit den falschen Träumen, die<br />
immer wieder zu Diskussionen führen in der Secondo-Generation. Der Traum von<br />
der „Rückkehr nach Italien“ ist nicht mehr der Traum von Secondi. Es ist und war<br />
der Traum der Primi – und sie werden diesen Traum ins Grab mitnehmen. Wir<br />
haben uns damit abzufinden und damit basta. Secondi sind im Hier und Jetzt<br />
daheim, in der Schweiz, mit oder ohne Kinder und hier sollen und werden sie (wir)<br />
auch bleiben und diese Gesellschaft mit gestalten. Der Schluss des Filmes ist<br />
hoffnungsvoll, weil er einen geläuterten Helden (und Heldin) zeigt, die ihre<br />
falschen Träume beiseite legen und fähig sind, ihre Zukunft verantwortungsvoll<br />
anzugehen, gemeinsam mit ihren Kindern.<br />
9.3. Die Bilder<br />
„E tornato di moda una parola fuori moda – la parola ‚bello’“ – ein italienischer<br />
Stararchitekt bringt es auf den Punkt: ein unmodisches Modewort ist wieder Mode<br />
geworden, das Wort „schön“. Was sind schöne Bilder? Was sind schöne<br />
Kompositionen von Licht und Schatten, Farbe und Kontrast? Im Gegensatz zum<br />
letzten Filmprojekt, wo Härte in der Bildkomposition gefragt war, sollen die Bilder<br />
von „Secondo“ von einer „Bellezza“, einer Schönheit geprägt sein, ohne aber<br />
falsch zu wirken. Die Secondo-Generation benötigt keine Härte mehr für ihr Leben<br />
in der Schweiz – die Bilder sollen dies mit einer weichen Schönheit zum Ausdruck<br />
bringen. Der Schluss „ennet der Alpen“ wird die bekannten Postkartenbilder von<br />
Italien samt kitschigem Sonnenuntergang am Meer liefern, kontrastiert durch die<br />
komödiantische Erzählsituation, die dem romantischen Moment den Boden<br />
entzieht:<br />
MICHELE<br />
Guarda che bello…<br />
Michele zeigt auf den Sonnenuntergang. Sein Cousin missversteht ihn und<br />
meint den neuen Wagen.<br />
COUSIN<br />
Si è bello. Micro Millesei. 20'000 Euro. Mi ha<br />
costato un’occhio, però ne vale la pena.<br />
(Ja, sehr schön. Micro 1600. 20'000 Euro.<br />
Sauteuer aber es lohnt sich.)<br />
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SECONDO - 51 –<br />
9.4. Die Montage<br />
Die Montage hängt eng zusammen mit der Bildgestaltung. Im Gegensatz zum<br />
heute vorherrschenden Trend, die Filmmontage im Spielfilm zu einer Videoclip-<br />
Montage ausarten zu lassen, soll „Secondo“ ruhig montiert werden. Die ruhige<br />
(nicht langsame) Montage wird der Bellezza der Bilder am besten gerecht, aber<br />
nicht nur. Der Montagerhythmus passt sich der Erzählung des Filmes an und<br />
unterstützt die Komödienstruktur: retardieren, wo intellektuelle Komik verstanden<br />
werden soll und beschleunigen, wo Situationskomik gefragt ist. Die Montage<br />
kontrastiert somit die narrative Erzählstruktur des Filmes: Plansequenzen bringen<br />
kompositorische Ruhe in turbulent inszenierten Szenen, zügig (nicht hektisch)<br />
montierte Szenen bringen Tempo in ruhig gehaltene Inszenierungen.<br />
9.5. Der Ton<br />
Wo immer möglich, werden wir Direktton einsetzen. Laut, sprudelnd, lebhaft. Der<br />
Ton soll das Lebensgefühl einer Generation vermitteln, die aufgewachsen ist<br />
zwischen zwei Sprachen, zwei Tonfarben, zwei Klangwelten. Die Tonkulisse einer<br />
Schweizerfamilie ist gänzlich eine andere, als die Tonkulisse einer italienischen<br />
Familie. Secondi haben gelernt, Klangfarben unterschiedlicher Herkunft neu<br />
zusammen zu setzen. Der Film benötigt eine Vielzahl dieser neu zusammen<br />
gesetzter Tonspuren: dialektitalienische, italienische, schweizerdeutsche und<br />
italoschweizerdeutsche. Wenn Verwandte von den Protagonisten in der Schweiz<br />
auftauchen werden diese (da aus der welschen Schweiz) Französisch und<br />
Italofranzösisch mit in die Tonspur einbringen. Dem Konglomerat verschiedener<br />
Sprachen wird am besten mittels moderner 5.1-Mischung (resp. 6.1 EX)<br />
Rechnung getragen. Dialoge hören nicht einfach im Bildoff auf, sie werden rechts<br />
und links und hinten im Kinosaal weitergeführt. Durch den Einbezug des Tones in<br />
den gesamten Kinoraum, wird für das Publikum die Sprachsituation einer<br />
Secondo-Familie nachvollziehbar: Sprachbabylon mitten im Wohnzimmer.<br />
9.6. Die Musik<br />
Die Musik wird – wie könnte es anders sein – geprägt sein vom Lebensgefühl der<br />
Secondo-Generation. Musik ist/war für diese Generation das Bindeglied zur alten<br />
Heimat, ihr Zauberwort hiess „musica leggera“. Es gibt keinen Secondo ohne<br />
stapelweise Schallplatten, Musikkassetten und CDs von Lucio Dalla, Francesco de<br />
Gregori, Pino Daniele, Edoardo Bennato, Fabrizio de André, Vasco Rossi,<br />
Zucchero Fornaciari, Paolo Conte, Giorgio Gaber, Domenico Modugno, Adriano<br />
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SECONDO - 52 –<br />
Celentano, Lucio Battisti, Franco Battiato, Gianna Nannini, Loredana Berté, Anna<br />
Oxa, Mina, Milva, Carboni, Fausto, Marcella, Nada, Eros, Jovanotti, Cocciante,<br />
Fausto – um nur einige zu nennen und ich entschuldige mich bei allen anderen,<br />
die ich aus Platzgründen nicht nenne. Alle diese Namen haben etwas<br />
Gemeinsames – sie prägten eine Epoche und schufen für unzählige Jugendliche<br />
und Erwachsene eine neue Identität. Im Ausland wurden die Cantautori und<br />
Cantautrici im Kreis der Secondi meist noch mehr verehrt als in Italien.<br />
Die Musik im Film „Secondo“ wird von Musica Leggera bestimmt. Dabei soll nicht<br />
ein Sammelsurium von Musikstücken den Filmsound zupappen. Ich möchte<br />
wenige Stücke von ausgewählten Interpretinnen und Interpreten im Film<br />
einfliessen lassen, um dem Film eine besondere Note zu verleihen. Ich denke hier<br />
an die gelungene Szene aus meinem Dokumentarfilm „Ritorno a casa“, wo Lucio<br />
Dalla mit seinem Lied „L’anno che verrà“ die Passeggiata der Dorfjugendlichen<br />
prägt. Wer heute das Lied von Lucio Dalla hört, wird unweigerlich an meinen Film<br />
erinnert.<br />
Ein weiteres Element der Filmmusik wird die dramatische Filmmusik sein. Sie<br />
findet ihren Einsatz in Szenen, welche dramatische Musik brauchen. Diese Musik<br />
wird über ein eigenes Stilmittel verfügen und losgelöst sein vom kulturellen<br />
Hintergrund der Hauptfigur(en), sich also unterscheiden von der Musica Leggera.<br />
Ich möchte diese Musik mit klassischen Elementen versetzen, um bewusst beim<br />
Publkum ein Emotionserlebnis zu unterstützen.<br />
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SECONDO - 53 –<br />
10. Auswertungskonzept<br />
10.1. Wider das Kino des Banalen<br />
„Secondo“ soll ein möglichst grosses Publikum im Kino erreichen. Wir wissen,<br />
dass dies in der heutigen Kinolandschaft immer unmöglicher wird. „Wir haben<br />
keine Chance – nutzen wir sie“ wäre wohl der Leitspruch dazu. Kinoauswertung<br />
für Schweizer Spielfilme wird immer mehr zur Zahlenlotterie. Alle 10 Jahre ein<br />
Treffer. Wie lange liegt der letzte Erfolg zurück?<br />
Möglicherweise liegt die schwierige Hürde, ein grosses Publikum im Kino zu finden<br />
darin, dass sich ein jugendliches Publikum, was die Mehrheit der Kinogängerinnen<br />
und –gänger ausmacht, nicht angesprochen fühlt, vom „Schweizerfilm“.<br />
„Zu wenig spektakulär“, höre ich immer wieder in Filmkursen Jugendliche sagen,<br />
aber auch schlichtweg „zu langweilig“. Unsere Antwort war vor einem Jahr „Escape<br />
to Paradise“ – spannend, unterhaltsam, berührend. Das Ergebnis an der Kinokasse<br />
entsprach nicht den Erwartungen. Warum? Was stimmte an dem Film<br />
nicht? Heute weiss ich – der Film stimmt. Das Publikum blieb nicht dem Film fern,<br />
sondern dem Thema. Viele KinogängerInnen bestätigten uns, den Film nicht angeschaut<br />
zu haben, weil sie befürchteten, einen „schwermütigen“ Abend im Kino verbringen<br />
zu müssen. Wir haben es nicht geschafft, zu kommunizieren, dass der<br />
Film eine Leichtigkeit aufweist, trotz ernsthaftem Thema. Zur gleichen Zeit verlieh<br />
unser Filmverleih eine banale Westernparodie mit grossem Erfolg. Fassungslos<br />
standen wir mehrmals im Kino und betrachteten die Publikumsschlage, wie sie<br />
sich nach der Kinokasse auftrennte. Hier „Kino der Wahrheit, dort „Kino des Banalen“.<br />
Müssig zu sagen, dass das Kino des Banalen vermehrt Zulauf hatte.<br />
Kino des Banalen als Ausdruck eines heute vorherrschenden Zeitgeistes – vorher<br />
ein Cüpli, danach ein Bier. Dazwischen ein Film, der aber bitte nichts Schweres<br />
beinhaltet. Dabei greift das Kino des Banalen nicht einmal so sehr nach den „kommerziellen<br />
Sälen“. Kinos, die traditionell Studiofilme spielen, leisten diesem Trend<br />
Vorschub. Zeitungen, Zeitschriften, Bücher geben ihr Bestes, um dem Kino des<br />
Banalen den Anstrich von Seriosität zu verleihen, damit alternative Säle ohne<br />
schlechtes Gewissen der neuen Banalität frönen können. Grosse Berichte über B-<br />
Pictures werden Mode. Retrospektiven ihrer Regisseure und Produzenten sind „en<br />
vogue“. Das Kino des Banalen feiert Urständ.<br />
„Wir haben keine Chance – nutzen wir sie“ – ich meine, wir dürfen in der jetzigen<br />
Situation im Spielfilmbereich nicht aufgeben. Der Schweizer Dokumentarfilm<br />
macht es uns vor. Intelligent, emotional, wahr – und er hat Erfolg damit. Der<br />
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SECONDO - 54 –<br />
Schweizer Spielfilm muss davon lernen. „Secondo“ wird da anknüpfen, wo<br />
„Escape to Paradise“ im Kino gescheitert ist. Er soll eine Leichtigkeit in der<br />
Inszenierung aufweisen, intelligente Dialoge haben, emotional das Publikum<br />
berühren, wahr sein im Stil und Herstellungsprozess, aber keine Schwere des<br />
Themas aufweisen.<br />
„Secondo“ hat damit unserer Meinung nach das nötige Potential eines<br />
Kinoerfolges. Ohne Banalität, ohne Anbiederung an niedere Kinoinstinkte.<br />
„Secondo“ als Erfolgsfilm wider das Kino des Banalen – ich meine, wir müssen die<br />
Chance nutzen - jetzt.<br />
10.2. Brave new medium – DVD<br />
Videoauswertungen sind marginalisiert. Das neue Medium heisst DVD. Wir<br />
können von der Auswertung von „Escape to Paradise“ auf diesem neuen Medium<br />
nur das Beste berichten. Hut ab vor Impuls-Film, die excellente Vertriebsarbeit<br />
geleistet hat. Pünktlich zum Flüchtlingstag 2002 war der Film in sämtlichen DVD-<br />
Verkaufsketten (Ex Libris, Coop, Manor usw.) in der Schweiz erhältlich. Auffällig<br />
wurde die DVD-Scheibe mit einem optisch augenfälligen Cover präsentiert. Das<br />
Kinoplakat-Motiv konnte nicht übernommen werden, denn es bot zu wenig<br />
optische Anreize. Von der inhaltlichen Struktur der DVD soll „Secondo“ bereits im<br />
Vorfeld von der Erfahrung von „Escape to Paradise“ profitieren: sämtliche Rekos,<br />
Castings, Drehbucharbeiten, Dialogproben, szenische Umsetzungen,<br />
Découpagen, Storyboardentwicklungen und weitere „hinter den Kulissen“-Arbeiten<br />
werden mit DV-Cam aufgenommen und als Special Features zum Hauptfilm auf<br />
der DVD veröffentlicht. Die DVD-Scheibe wird zu einem eigentlichen<br />
„Medienpaket“ mit zusätzlichen Informationen zum Film, aber nicht nur. Mit Links<br />
können via Computer Webseiten gefunden werden, die thematisch mit dem Film<br />
verbunden sind. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema wird vor allem<br />
für Schulen, Organisationen und Institutionen erleichtert.<br />
9.3. Filmfestival<br />
Wir werden mit „Secondo“ vor allem den europäischen Markt zu bearbeiten versuchen.<br />
Filmfestivals in Italien, Frankreich und Spanien sollen uns helfen, den<br />
Film in die südeuropäischen Länder zu verkaufen. Desgleichen mit den Filmfestivals<br />
in Deutschland und Österreich. Sie werden helfen, den Film in nordeuropäische<br />
Länder zu vermarkten. Die Festivalbetreuung wird vorab von der Filmproduktion<br />
INSERT FILM AG erfolgen.<br />
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SECONDO - 55 –<br />
10.4. Fernsehen<br />
Filme mit Untertitel werden im Fernsehen nicht zu Prime-Time-Zeiten gesendet.<br />
Wir gehen davon aus, dass „Secondo“ ein „Prime-Time-Film“ sein wird und freuen<br />
uns auf die Auseinandersetzung mit dem Fernsehen. Möglicherweise muss eine<br />
eigene Fernseh-Synchronsprache gefunden werden, falls finanzierbar, die der<br />
Original-Secondo-Sprache nachempfunden sein wird. Wünschbar wäre für einmal<br />
eine redaktionsübergreifende Zusammenarbeit – Spielfilmredaktion, Dokfilmredaktion<br />
und weitere Redaktionen planen gemeinsame Sendungen, die thematisch mit<br />
„Secondo“ in Verbindung stehen. Erhöhte Aufmerksamkeit für die einzelnen Sendungen<br />
wäre die Folge, was allen zu Gute käme. Wir geben noch nicht auf und<br />
versuchen erneut, bei diesem Projekt eine „interredaktionelle Sendung“<br />
hinzukriegen.<br />
10.5. www.secondo-film.ch<br />
Eine eigene Filmwebseite gehört heute fast zu jedem Film. Anstatt aber bis zur<br />
Auswertung damit zu warten (wie beim letzten Film), soll diesmal die Webseite<br />
das Filmprojekt von Anfang an begleiten und zu einer Gedankenbörse zwischen<br />
Primi, Secondi, Terzi und anderen Interessierten werden. Eine Plattform für<br />
interkulturelle Begegnungen im Internet. Selbstverständlich wird für unser<br />
Filmprojekt angemessen Werbung gemacht mit Produktionsnotizen, Fotoseiten<br />
und Previews. Teile dieser Webseite (mit den dazugehörenden Links) sind auf der<br />
DVD wieder zu finden.<br />
10.6. Das Buch zum Film<br />
Was uns die Majors vormachen, können wir auch! Pünktlich zum Kinostart wird in<br />
den Buchhandlungen der Roman „Secondo“ erscheinen. Angelehnt an das<br />
Drehbuch des Filmes wird die Story zum Roman umgeschrieben. Wir stehen im<br />
Gespräch mit FRANCO SUPINO, dem Romanautor von „Musica Leggera“<br />
(Rotpunktverlag Zürich) und „Die schöne der Welt oder der Weg zurück“ (Verlag<br />
Nagel & Kimche, Zürich). Sein neuestes Werk wird im Frühjahr 2004 erscheinen:<br />
„Ciao amore, ciao“ (Rotpunktverlag, Zürich).<br />
Franco Supino, auch er Secondo, hat uns sein Interesse für diese Art der anderen<br />
literarischer Arbeit bekundet. Er wird zum Teil an den Drehbuchsitzungen<br />
teilnehmen.<br />
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SECONDO - 56 –<br />
11. Filmbiografie<br />
1955 geboren in Acquaviva Collecroce, Molise, Italien.<br />
1960 Emigration mit den Eltern in die Schweiz.<br />
1962 – 1974 Schulen in Biberist und Solothurn.<br />
1970 – 1974 Filmkurse bei Stefan Portmann, Kantonsschule Solothurn.<br />
1974 – 1978 Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) in München.<br />
1979 Hochschulabschluss.<br />
1986 Drehbuchstipendium für Dramaturgie, Filmförderungsanstalt, Berlin.<br />
1987 – 1988 Regieassistenz bei Näter Filmproduktion, Berlin.<br />
1988 – 2001 Aktivmitglied der Filmproduktionsgesellschaft Insert Film, Solothurn.<br />
1994 Drehbuchseminar bei Frank Daniel in Ebeltoft, Dänemark.<br />
1995 Mitglied des Verbandes Drehbuch und Filmregie Schweiz.<br />
1996 – 2003 medienpädagogische Arbeiten an Schulen und Universitäten.<br />
1995 – 2003 Animator Zauberlaterne Solothurn<br />
11.1. Autorenfilme<br />
ESCAPE TO PARADISE (www.escapetoparadise.ch)<br />
2001, Fiction, 90 Min.<br />
Produktion: Insert Film, Solothurn<br />
TRANSITO<br />
2000, Doc, 47 Min.<br />
Produktion: Reck Film GmbH, Zürich und TV TSI, Lugano<br />
DRECKIGE SCHWEIZ - SAUBERE SCHWEIZ<br />
1995, Doc, 45 Min.<br />
Produktion: Insert Film, Solothurn und TV DRS, Zürich<br />
GERHARD MEIER – WERKPORTRAIT<br />
über die Kunst des Schreibens<br />
1992, Doc, 15 Min.<br />
Produktion: Insert Film, Solothurn<br />
BELLINVITU - DIE SCHÖNE EINLADUNG<br />
1992, Fiction, 90 Min.<br />
Produktion: Insert Film, Solothurn und TV ZDF, Mainz<br />
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SECONDO - 57 –<br />
HAUPTGASSE 7<br />
1989, Doc, 45 Min.<br />
Produktion: Insert Film, Solothurn und TV DRS, Zürich<br />
Co-Regie mit I.Kummer<br />
KLASSENGEFLÜSTER<br />
1982, Fiction, 90 Min.<br />
Produktion: Odyssee Film, Zürich<br />
Co-Regie mit F.Rickenbach<br />
RITORNO A CASA<br />
1980, Doc, 100 Min.<br />
Produktion: Filmkollektiv, Zürich & Nino Jacusso<br />
EMIGRAZIONE<br />
1979, Doc, 100 Min. (Diplomfilm)<br />
Produktion: Hochschule für Film und Fernsehen, München<br />
LILITH<br />
1978, Fiction, 20 Min.<br />
Produktion: Hochschule für Film und Fernsehen, München<br />
KINDERSPIELE<br />
1977, Fiction, 12 Min.<br />
Produktion: Hochschule für Film und Fernsehen, München<br />
JUGENDLIEBE<br />
1975, Experimentalfilm, 20 Min.<br />
Filmklasse Stefan Portmann, Kantonsschule Solothurn<br />
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SECONDO - 58 –<br />
11.2. Auftragsfilme<br />
MAGIC OF CHOCOLATE<br />
2003, Fiction, 30 Min.<br />
Produktion: TPC AG, Zürich<br />
Im Auftrag von Publix, Lyss für die Chocolat Frey AG, Buchs<br />
ONOMA – im Land der Namen und Orte<br />
vier Filme für die EXPO.02<br />
2002, Doc, 30 Min.<br />
Produktion: Reck Film GmbH, Zürich<br />
ARBEITEN MIT TIEREN<br />
2002, Doc, 25 Min.<br />
Produktion: Insert Film AG, Solothurn<br />
Im Auftrag von SVB, Schweiz. Verband für die Berufsberatung<br />
MARINA<br />
2002, TV-Spot, 20 Sec.<br />
Produktion: Insert Film AG, Solothurn<br />
Im Auftrag von Publix, Lyss für die Stiftung Cerebral Schweiz<br />
MARINA, THEATER & MASSAGE<br />
2002, 3 TV-Spots à 20 Sec.<br />
Produktion: Insert Film AG, Solothurn<br />
Im Auftrag von Publix, Lyss für die Stiftung Cerebral Schweiz<br />
1990 – 2003<br />
Ca. 100 Kurzdokumentarfilme 6 Min. – 25 Min.<br />
Produktion: Insert Film AG, Solothurn<br />
Im Auftrag von SVB, Schweiz. Verband für Berufsberatung<br />
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SECONDO - 59 –<br />
11.3. Auszeichungen<br />
ESCAPE TO PARADISE<br />
2001 BEST ACTOR DÜZGÜN AYHAN<br />
Int. Filmfestival S. Sebastian, ES<br />
2001 FIPRESCI, Int. Filmfestival S. Sebastian, ES<br />
2001 EIDGENÖSSISCHE QUALITÄTSPRÄMIE<br />
BELLINVITU – DIE SCHÖNE EINLADUNG<br />
1992 PREIS DER JURY MAX OPHÜLS, Saarbrücken, D<br />
1992 PRIX DU PUBLIC CINEMA ET MONDE RURAL, France<br />
1993 PRIX SUPER ECRAN, Quebec, Canada<br />
KLASSENGEFLÜSTER<br />
1982 FIPRESCI, 35. Intern. Filmfestival Locarno, CH<br />
1982 EIDGENÖSSISCHE QUALITÄTSPRÄMIE<br />
1983 FILM des MONATS<br />
JURY der evangelischen Filmarbeit, Frankfurt, D<br />
1983 ZÜRCHER FILMPREIS<br />
RITORNO A CASA<br />
1980 PROMOTIONSPREIS INTERVERBAND<br />
33. Intern. Filmfestspiele Locarno<br />
1980 EIDGENÖSSICHE QUALITÄTSPRÄMIE<br />
1981 ZÜRCHER FILMPREIS<br />
EMIGRAZIONE<br />
1979 DIPLOMFILM<br />
Hochschule für Film und Fernsehen, München<br />
SEHR GUT (Bestnote)<br />
FACHPREIS FÜR FILM DES KANTONS SOLOTHURN<br />
1991 Spezialauszeichnung für das bisherige Gesamtwerk<br />
“Nino Jacusso ist einer jener seltenen Filmemacher, die sowohl im<br />
Fiktiven als auch im Dokumentaren bleibendes geschaffen und<br />
schon früh ihre eigene Bildsprache unverkennbar entwickelt und<br />
gefunden haben.” (Fachpreisjury für Film, Foto und Video)<br />
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