Vers und Prosa - deutschkurse.ch
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<strong>Vers</strong> <strong>und</strong> <strong>Prosa</strong><br />
Teil 1:<br />
Mit dieser Arbeitsreihe lernst du, was ein <strong>Prosa</strong>text, was ein <strong>Vers</strong>text <strong>und</strong> was ein <strong>Vers</strong> ist. Die Arbeitsreihe<br />
ist so eingeri<strong>ch</strong>tet, dass du die ents<strong>ch</strong>eidenden Erkenntnisse selbst herausfinden kannst,<br />
weil du dur<strong>ch</strong> vorbereitende Aufgaben zu diesen Erkenntnissen hingeführt wirst.<br />
Setze über jeden Teil einen Titel, der das Wi<strong>ch</strong>tigste dieses Teils zum Ausdruck bringt.<br />
Teil 2:<br />
Auf Seite 6 der Arbeitsreihe findest du drei Textvarianten. Es sind drei Übersetzungen des Anfangs<br />
der „Odyssee”. Dieses Epos stammt von dem grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en Di<strong>ch</strong>ter Homer, der im 8. oder 9. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
vor Christus gelebt hat. (Ein Epos ist eine Erzählung in <strong>Vers</strong>en.) Die Übersetzung von<br />
Heinri<strong>ch</strong> Voss (1751–1826) ist in der glei<strong>ch</strong>en Form abgefasst wie das grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Original. Auf<br />
der Seite 7 der Arbeitsreihe findest du drei Fassungen eines kleinen Auss<strong>ch</strong>nitts aus „Iphigenie auf<br />
Tauris”. Dieser Text ist ein S<strong>ch</strong>auspiel von Johann Wolfgang Goethe (1749–1832).<br />
Diese Texte brau<strong>ch</strong>st du, um an ihnen den Unters<strong>ch</strong>ied zwis<strong>ch</strong>en <strong>Vers</strong>texten <strong>und</strong> <strong>Prosa</strong>texten herauszufinden.<br />
Lies sie jetzt einmal dur<strong>ch</strong>.<br />
Teil 3:<br />
Jetzt können wir die Definitionen der Begriffe „<strong>Vers</strong>text” <strong>und</strong> „<strong>Prosa</strong>text” in den Blick nehmen. Es<br />
gibt gr<strong>und</strong>sätzli<strong>ch</strong> zwei Arten, wie ein S<strong>ch</strong>üler eine Definition lernen kann.<br />
Erste Art: Dem S<strong>ch</strong>üler wird die Definition mitgeteilt. Dann lernt er sie. Dur<strong>ch</strong> die Bestimmung<br />
von Beispielen kann er zeigen, dass er die Definitionen ri<strong>ch</strong>tig verstanden hat <strong>und</strong> anwenden<br />
kann.<br />
Zweite Art: Der S<strong>ch</strong>üler erhält eine Reihe von Beispielen, bei denen er die Zuordnung zu den Bezei<strong>ch</strong>nungen<br />
kennt (bei unserem Thema: er weiss, wel<strong>ch</strong>e Texte <strong>Vers</strong>texte <strong>und</strong> wel<strong>ch</strong>e<br />
Texte <strong>Prosa</strong>texte sind). Er kann dann die Definitionen selbst formulieren, wenn er untersu<strong>ch</strong>t,<br />
wel<strong>ch</strong>e Eigens<strong>ch</strong>aften wo (bei unserem Thema: bei wel<strong>ch</strong>er Textart) vorkommen.<br />
Teil 4:<br />
In dieser Arbeitsreihe wählen wir die zweite Art der Einführung von Definitionen.<br />
Unsere Beispieltexte sind den beiden Textarten wie folgt zugeordnet:<br />
<strong>Vers</strong>texte sind die erste Variante der Übersetzung der Odyssee <strong>und</strong> die Iphigenie-Fassungen von<br />
1780 <strong>und</strong> 1786.<br />
<strong>Prosa</strong>texte sind die zweite <strong>und</strong> dritte Variante der Übersetzung der Odyssee <strong>und</strong> die Iphigenie-Fassung<br />
von 1779.<br />
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Teil 5:<br />
Bevor du (in Teil 6) die Begriffe „<strong>Vers</strong>text” <strong>und</strong> „<strong>Prosa</strong>text” bestimmen (definieren) kannst, muss<br />
hier no<strong>ch</strong> eine vorbereitende Untersu<strong>ch</strong>ung dur<strong>ch</strong>geführt werden, damit du bei der Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> der<br />
Definition ni<strong>ch</strong>t auf einen fals<strong>ch</strong>en Weg kommst:<br />
Beim Flattersatz ist der Abstand zwis<strong>ch</strong>en dem Ende der einzelnen Zeilen <strong>und</strong> dem Blattrand<br />
re<strong>ch</strong>ts ni<strong>ch</strong>t immer glei<strong>ch</strong> gross. (Er ist „ausgefranst”.)<br />
Beim Blocksatz sieht der Rand re<strong>ch</strong>ts genau glei<strong>ch</strong> aus wie der Rand links. (Alle Zeilen sind genau<br />
glei<strong>ch</strong> lang.) Der Blocksatz kann nur mit Setzmas<strong>ch</strong>inen, mit Computern <strong>und</strong> mit speziell dafür geeigneten<br />
S<strong>ch</strong>reibmas<strong>ch</strong>inen hergestellt werden.<br />
Von den Beispieltexten auf Seite 6 ist nur einer im Blocksatz ges<strong>ch</strong>rieben. Wel<strong>ch</strong>er?<br />
____________<br />
Nur die eine der beiden Textarten (<strong>Vers</strong>text <strong>und</strong> <strong>Prosa</strong>text) kann sowohl in Block- als au<strong>ch</strong> in Flattersatz<br />
ges<strong>ch</strong>rieben werden. Wel<strong>ch</strong>e? Warum?<br />
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Teil 6:<br />
Gib hier das Kriterium (den Gesi<strong>ch</strong>tspunkt, den Aspekt) an, aufgr<strong>und</strong> dessen die Definitionen der<br />
beiden Textarten aufgestellt werden können. (Können Eigens<strong>ch</strong>aften im Berei<strong>ch</strong> des Rhythmus dazu<br />
dienen, die beiden Textarten zu definieren? Spielt der Reim eine Rolle? Wenn ja: Wie? Wenn<br />
nein: Gelingt die Unters<strong>ch</strong>eidung nur mit einem anderen Unters<strong>ch</strong>eidungsmerkmal? Mit wel<strong>ch</strong>em?<br />
Bea<strong>ch</strong>te au<strong>ch</strong>, dass zwei der Beispieltexte textglei<strong>ch</strong> sind. Wel<strong>ch</strong>e sind es? Zu wel<strong>ch</strong>er Textart oder<br />
zu wel<strong>ch</strong>en Textarten gehören sie?)<br />
S<strong>ch</strong>reib hier nun die Definition für die Begriffe „<strong>Vers</strong>text” <strong>und</strong> „<strong>Prosa</strong>text” auf. A<strong>ch</strong>te darauf, dass<br />
die Definition weder zu eng no<strong>ch</strong> zu weit sein darf. Zu eng wäre sie, wenn ni<strong>ch</strong>t alle <strong>Vers</strong>texte (respektive<br />
<strong>Prosa</strong>texte) dur<strong>ch</strong> die Definition erfasst wären. Zu weit wäre sie, wenn au<strong>ch</strong> Texte erfasst<br />
wären, die ni<strong>ch</strong>t <strong>Vers</strong>texte (respektive <strong>Prosa</strong>texte) sind.<br />
a. Ein <strong>Vers</strong>text ist ein Text, ________________________________________________________<br />
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b. Ein <strong>Prosa</strong>text ist ein Text, _______________________________________________________<br />
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Teil 7:<br />
Kontrolliere jetzt, ob na<strong>ch</strong> den von dir in Teil 6 aufges<strong>ch</strong>riebenen Definitionen wirkli<strong>ch</strong> diejenigen<br />
Texte <strong>Vers</strong>texte (respektive <strong>Prosa</strong>texte) sind, die in Teil 4 als sol<strong>ch</strong>e bezei<strong>ch</strong>net sind. Wenn dies<br />
ni<strong>ch</strong>t der Fall ist, hat si<strong>ch</strong> ein Fehler einges<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en. Su<strong>ch</strong>e ihn <strong>und</strong> korrigiere die fals<strong>ch</strong>en Angaben.<br />
Teil 8:<br />
Die Übersetzung des Anfangs der Odyssee von Heinri<strong>ch</strong> Voss ist bekanntli<strong>ch</strong> ein <strong>Vers</strong>text (siehe<br />
Teil 4). Dieser auf Seite 6 zitierte Text besteht aus zehn <strong>Vers</strong>en. S<strong>ch</strong>reibe hier eine Definition des<br />
Begriffs „<strong>Vers</strong>” auf:<br />
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Teil 9:<br />
Es gibt drei Spezialfälle von <strong>Vers</strong>-S<strong>ch</strong>reibung:<br />
1. Der <strong>Vers</strong> ist (in Dramen) auf mehrere Spre<strong>ch</strong>er verteilt.<br />
Beispiel: Heinri<strong>ch</strong> von Kleist (1777–1811), Der zerbro<strong>ch</strong>ne Krug (Uraufführung 1808)<br />
<strong>Vers</strong> 31 Li<strong>ch</strong>t: Und was hat das Gesi<strong>ch</strong>t Eu<strong>ch</strong> so verrenkt?<br />
32 Adam: Mir das Gesi<strong>ch</strong>t?<br />
Li<strong>ch</strong>t:<br />
Wie? Davon wisst Ihr ni<strong>ch</strong>ts?<br />
33 Adam: I<strong>ch</strong> müsst ein Lügner sein – wie siehts denn aus?<br />
34 Li<strong>ch</strong>t: Wies aussieht?<br />
Adam:<br />
Ja, Gevatter<strong>ch</strong>en.<br />
Li<strong>ch</strong>t:<br />
Abs<strong>ch</strong>euli<strong>ch</strong>!<br />
2. Der <strong>Vers</strong> ist länger als die S<strong>ch</strong>reibzeile.<br />
Beispiel: Homer, Odyssee (Anfang / Übersetzung von Heinri<strong>ch</strong> Voss)<br />
Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten<br />
Mannes,<br />
Wel<strong>ch</strong>er so weit geirrt na<strong>ch</strong> der heiligen Troja<br />
Zerstörung.<br />
3. Ein <strong>Vers</strong>text wird wie ein <strong>Prosa</strong>text ges<strong>ch</strong>rieben<br />
(zwis<strong>ch</strong>en den <strong>Vers</strong>en steht ein S<strong>ch</strong>rägstri<strong>ch</strong>).<br />
Beispiel: Johann Wolfgang Goethe (1749–1832), Maifest (1. Strophe)<br />
Wie herrli<strong>ch</strong> leu<strong>ch</strong>tet / Mir die Natur! / Wie glänzt die<br />
Sonne! / Wie la<strong>ch</strong>t die Flur! /<br />
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Teil 10:<br />
Das Adjektiv „prosais<strong>ch</strong>” bedeutet „sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>-nü<strong>ch</strong>tern, trocken, ohne Phantasie” (Fremdwörter-Duden<br />
1974).<br />
Das Adjektiv „poetis<strong>ch</strong>” bedeutet „bilderrei<strong>ch</strong>, ausdrucksvoll” (Fremdwörter-Duden 1974).<br />
Das Adjektiv „prosais<strong>ch</strong>” ist von dem Substantiv „<strong>Prosa</strong>” abgeleitet, das Adjektiv „poetis<strong>ch</strong>” von<br />
dem Substantiv „Poesie”. („Poesie” heisst „Di<strong>ch</strong>tung”.)<br />
Erkläre den Bezug zwis<strong>ch</strong>en der Bedeutung dieser beiden Adjektive <strong>und</strong> dem Gegensatz von <strong>Vers</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>Prosa</strong>.<br />
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Teil 11:<br />
Das deuts<strong>ch</strong>e Wort „<strong>Vers</strong>” stammt von dem lateinis<strong>ch</strong>en Wort „versus” ab, wel<strong>ch</strong>es ursprüngli<strong>ch</strong><br />
„Reihe”, „Linie” bedeutete. „<strong>Vers</strong>us” gehört zu dem Verb „vertere”, wel<strong>ch</strong>es „wenden” bedeutet.<br />
Kann die Kenntnis dieser etymologis<strong>ch</strong>en Bezüge einen Beitrag zum <strong>Vers</strong>tändnis dessen abgeben,<br />
was mit dem Wort „<strong>Vers</strong>” gemeint ist? Wenn ja: Wie?<br />
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Teil 12:<br />
Das deuts<strong>ch</strong>e Wort „<strong>Prosa</strong>” stammt von dem lateinis<strong>ch</strong>en Adjektiv „prorsus” ab, das „na<strong>ch</strong> vorwärts<br />
geri<strong>ch</strong>tet” bedeutet. Es wurde in der Wendung „prosa oratio” (hier ohne zweites „r”) verwendet,<br />
was wörtli<strong>ch</strong> „geradeaus geri<strong>ch</strong>tete Rede” bedeutet.<br />
Kann die Kenntnis dieser etymologis<strong>ch</strong>en Bezüge einen Beitrag zum <strong>Vers</strong>tändnis dessen abgeben,<br />
was mit dem Wort „<strong>Prosa</strong>” gemeint ist? Wenn ja: Wie?<br />
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Teil 13:<br />
In älteren <strong>Vers</strong>texten (zu denen au<strong>ch</strong> unsere Beispiel-Texte gehören) wird der <strong>Vers</strong>text-Charakter<br />
no<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> eine Eigens<strong>ch</strong>aft im Berei<strong>ch</strong> der Grosss<strong>ch</strong>reibung der Wörter betont.<br />
Wel<strong>ch</strong>e Eigens<strong>ch</strong>aft ist es?<br />
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Teil 14:<br />
In der Komödie „Le bourgeois gentilhomme” (Der Bürger als Edelmann) des französis<strong>ch</strong>en Di<strong>ch</strong>ters<br />
Molière (1622–1673) will der Titelheld zu den Gebildeten gehören. Er hat einen Lehrer angestellt,<br />
der ihm die Begriffe „<strong>Vers</strong>” <strong>und</strong> „<strong>Prosa</strong>” erklärt hat. Er sollte sie also s<strong>ch</strong>on kennen. Jetzt<br />
fragt der Lehrer den Bürger, was für ein Werk er gern lesen mö<strong>ch</strong>te. Da antwortet der Bürger:<br />
„ni vers ni prose” (weder <strong>Vers</strong> no<strong>ch</strong> <strong>Prosa</strong>).<br />
Kommentiere diese Antwort <strong>und</strong> teile au<strong>ch</strong> mit, wie sie den Bürger <strong>ch</strong>arakterisiert.<br />
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Homer, Odyssee, I. Gesang, <strong>Vers</strong>e 1–10<br />
Übersetzung von Johann Heinri<strong>ch</strong> Voss, Hamburg 1781<br />
Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,<br />
Wel<strong>ch</strong>er so weit geirrt na<strong>ch</strong> der heiligen Troja Zerstörung,<br />
Vieler Mens<strong>ch</strong>en Städte gesehn <strong>und</strong> Sitte gelernt hat<br />
Und auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet,<br />
Seine Seele zu retten <strong>und</strong> seiner Fre<strong>und</strong>e Zurückkunft.<br />
Aber die Fre<strong>und</strong>e rettet’ er ni<strong>ch</strong>t, wie eifrig er strebte;<br />
Denn sie bereiteten selbst dur<strong>ch</strong> Missetat ihr Verderben:<br />
Toren! wel<strong>ch</strong>e die Rinder des hohen Sonnenbeherrs<strong>ch</strong>ers<br />
S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>teten; siehe, der Gott nahm ihnen den Tag der Zurückkunft.<br />
Sage hievon au<strong>ch</strong> uns ein weniges, To<strong>ch</strong>ter Kronions.<br />
Übersetzung von Heinri<strong>ch</strong> Rüter, Mün<strong>ch</strong>en 1925<br />
Singe mir, Muse, ein Lied von dem vielgewandten Manne, der lange umhergetrieben ward, seit er<br />
Trojas heilige Burg zerstörte. Vieler Mens<strong>ch</strong>en Städte sah er <strong>und</strong> lernte ihre Gesinnung kennen.<br />
Grosse Not erlitt er zur See: er kämpfte um das eigene Leben <strong>und</strong> um die Heimkehr seiner Gefährten.<br />
Do<strong>ch</strong> die Fre<strong>und</strong>e zu retten gelang ihm ni<strong>ch</strong>t, so sehr er si<strong>ch</strong> mühte. Dur<strong>ch</strong> ihren eigenen Frevel<br />
gingen sie zugr<strong>und</strong>e, die Toren, die des hohen Helios Rinder verzehrten. Darum beraubte der Gott<br />
sie des Tages der Rückkehr. Singe uns, göttli<strong>ch</strong>e To<strong>ch</strong>ter des Zeus, was weiter ges<strong>ch</strong>ah.<br />
Übersetzung von Wolfgang S<strong>ch</strong>adewaldt, Hamburg 1957<br />
Den Mann nenne mir, Muse, den vielgewandten, der gar viel umgetrieben wurde, na<strong>ch</strong>dem er Trojas<br />
heilige Stadt zerstörte. Von vielen Mens<strong>ch</strong>en sah er die Städte <strong>und</strong> lernte kennen ihre Sinnesart;<br />
viel au<strong>ch</strong> erlitt er S<strong>ch</strong>merzen auf dem Meer in seinem Gemüte, während er sein Leben zu gewinnen<br />
su<strong>ch</strong>te wie au<strong>ch</strong> die Heimkehr der Gefährten. Jedo<strong>ch</strong> er rettete au<strong>ch</strong> so ni<strong>ch</strong>t die Gefährten, so sehr<br />
er es begehrte. Selber nämli<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> ihre eigenen Freveltaten verdarben sie, die Toren, die die Rinder<br />
des Sohns der Höhe, Helios, verzehrten. Der aber nahm ihnen den Tag der Heimkehr. Davon –<br />
du magst beginnen, wo es sein mag – Göttin, To<strong>ch</strong>ter des Zeus! sage au<strong>ch</strong> uns!<br />
Erläuterungen:<br />
Muse:<br />
Es gibt in der grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en Mythologie neun Musen, Göttinnen der<br />
Wissens<strong>ch</strong>aft <strong>und</strong> Kunst. Hier ist die Muse der Di<strong>ch</strong>tkunst gemeint.<br />
des vielgewanderten Mannes: des Odysseus<br />
viel unnennbare Leiden: zehn Jahre lang im Krieg (Eroberung von Troja) <strong>und</strong> zehn weitere<br />
Jahre Irrfahrten auf dem Mittelmeer<br />
Sonnenbeherrs<strong>ch</strong>er: der Sonnengott Helios<br />
To<strong>ch</strong>ter Kronions:<br />
die Muse<br />
Kronion<br />
Zeus, der Sohn des Kronos<br />
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Goethe, Iphigenie, 3. Aufzug, 2. Auftritt<br />
Orestes wird von den Erinnyen (den Ra<strong>ch</strong>egöttinnen) verfolgt, weil er seine Mutter in einem Ra-<br />
<strong>ch</strong>eakt umgebra<strong>ch</strong>t hat. Lethe ist der Fluss des Vergessens in der Unterwelt, die S<strong>ch</strong>atten sind die<br />
Seelen der Toten. Orestes spri<strong>ch</strong>t:<br />
Fassung von 1779<br />
No<strong>ch</strong> einen! rei<strong>ch</strong>e mir aus Lethes Fluten den letzten Be<strong>ch</strong>er! Bald ist der böse Krampf des Lebens<br />
aus meinem Busen weggespült, bald fliesst mein Geist, wie in die Quellen des Vergessens selbst<br />
verwandelt, zu eu<strong>ch</strong>, ihr S<strong>ch</strong>atten, in die ewigen Nebel. Wie ist’s so still! Willkommen ist die Ruh’<br />
dem Umgetriebenen!<br />
Fassung von 1780 (<strong>Vers</strong>e 1249–1258)<br />
No<strong>ch</strong> einen! rei<strong>ch</strong>e mir<br />
Aus Lethes Fluten –<br />
Den letzten Be<strong>ch</strong>er!<br />
Bald ist der böse Krampf des Lebens<br />
Aus meinem Busen weggespült!<br />
Bald fliesst mein Geist, – wie in die Quelle des Vergessens<br />
Selbst verwandelt!<br />
Zu eu<strong>ch</strong> – ihr S<strong>ch</strong>atten, in den ewigen Nebel!<br />
Wie ist’s so still!<br />
Willkommen ist die Ruh’ dem Umgetriebnen!<br />
Fassung von 1786 (<strong>Vers</strong>e 1258–1265)<br />
No<strong>ch</strong> einen! rei<strong>ch</strong>e mir aus Lethes Fluten<br />
Den letzten kühlen Be<strong>ch</strong>er der Erquickung!<br />
Bald ist der Krampf des Lebens aus dem Busen<br />
Hinweggespült; bald fliesset still mein Geist,<br />
Der Quelle des Vergessens hingegeben,<br />
Zu eu<strong>ch</strong>, ihr S<strong>ch</strong>atten, in die ew’gen Nebel.<br />
Gefällig lasst in eurer Ruhe si<strong>ch</strong><br />
Den umgetriebnen Sohn der Erde laben! –<br />
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Lösungen<br />
Teil 1: Ziel <strong>und</strong> Methode dieser Arbeitsreihe<br />
Teil 2: Die Arbeitstexte<br />
Teil 3: Zwei Arten, Definitionen zu lernen<br />
Teil 4: Zuordnung der Beispieltexte zu den Textarten<br />
Teil 5: Voruntersu<strong>ch</strong>ung (Flattersatz <strong>und</strong> Blocksatz)<br />
Die Fassung von Wolfgang S<strong>ch</strong>adewaldt (1957) ist in Blocksatz ges<strong>ch</strong>rieben.<br />
Nur <strong>Prosa</strong>texte können sowohl im Flattersatz als au<strong>ch</strong> im Blocksatz ges<strong>ch</strong>rieben werden.<br />
<strong>Vers</strong>texte sind immer in einem (groben) Flattersatz ges<strong>ch</strong>rieben. Wenn man sie in Blocksatz s<strong>ch</strong>reiben<br />
würde, wäre ihr <strong>Vers</strong><strong>ch</strong>arakter zerstört.<br />
Teil 6: Definition der Begriffe „<strong>Vers</strong>text” <strong>und</strong> „<strong>Prosa</strong>text”<br />
Was spielt eine Rolle? Nur die Verteilung des Texts auf die Zeilen.<br />
a. Ein <strong>Vers</strong>text ist ein Text, bei dem die Zeilenlänge ein Mittel zur Gestaltung des Rhythmus ist.<br />
Die Zeilenlänge ist beim <strong>Vers</strong>text vom Autor festgelegt (bestimmt). Darum sind hier die Zeilen<br />
gr<strong>und</strong>sätzli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t glei<strong>ch</strong> lang.<br />
b. Ein <strong>Prosa</strong>text ist ein Text, bei dem die Zeilenlänge dur<strong>ch</strong> die Breite des S<strong>ch</strong>riftträgers bestimmt<br />
ist. Darum sind hier alle Zeilen gr<strong>und</strong>sätzli<strong>ch</strong> glei<strong>ch</strong> lang.<br />
Teil 7: Kontrolle<br />
Teil 8: Definition des Begriffs „<strong>Vers</strong>”<br />
Ein <strong>Vers</strong> ist eine Zeile eines <strong>Vers</strong>texts. (Der Begriff „<strong>Vers</strong>text” ist hier als bekannt vorausgesetzt.<br />
Die Definition dieses Begriffs steht in Teil 6.)<br />
Teil 9: Drei Spezialfälle von <strong>Vers</strong>-S<strong>ch</strong>reibung<br />
Teil 10: Die Adjektive „prosais<strong>ch</strong>” <strong>und</strong> „poetis<strong>ch</strong>”<br />
<strong>Prosa</strong>texte sind meistens ni<strong>ch</strong>t sehr poetis<strong>ch</strong> <strong>und</strong> stehen der Alltagsspra<strong>ch</strong>e nahe. <strong>Vers</strong>texte sind immer<br />
poetis<strong>ch</strong>, mindestens rhythmis<strong>ch</strong> von der gewöhnli<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>e abwei<strong>ch</strong>end. Wenn man diese<br />
Eigens<strong>ch</strong>aften der beiden Textarten berücksi<strong>ch</strong>tigt, ergibt si<strong>ch</strong> deutli<strong>ch</strong> ein Bezug zu den beiden<br />
Adjektiven.<br />
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Teil 11: Etymologie des Worts „<strong>Vers</strong>” als <strong>Vers</strong>tändnishilfe<br />
Ja, die Kenntnis der etymologis<strong>ch</strong>en Bezüge kann einen Beitrag zum <strong>Vers</strong>tändnis leisten.<br />
Wenn wir das Wenden als den We<strong>ch</strong>sel auf eine neue Zeile verstehen, kann man sagen: Mit jeder<br />
Wendung beginnt ein neuer <strong>Vers</strong> (oder: ist ein <strong>Vers</strong> abges<strong>ch</strong>lossen).<br />
Teil 12: Etymologie des Worts „<strong>Prosa</strong>” als <strong>Vers</strong>tändnishilfe<br />
Ja, die Kenntnis der etymologis<strong>ch</strong>en Bezüge kann einen Beitrag zum <strong>Vers</strong>tändnis leisten.<br />
Der <strong>Prosa</strong>text fliesst ohne Unterbru<strong>ch</strong>, hat ni<strong>ch</strong>t stark rhythmis<strong>ch</strong>e Grenzen wie der <strong>Vers</strong>text.<br />
Ein <strong>Prosa</strong>text könnte als „Bandwurm” auf ein Papierband ges<strong>ch</strong>rieben werden. (So ist es bei den<br />
Lo<strong>ch</strong>streifen, die früher in den Druckereien oder beim Morsen verwendet wurden.)<br />
Teil 13: Gross<strong>ch</strong>reibung des ersten Wortes der <strong>Vers</strong>e<br />
Das erste Wort aller <strong>Vers</strong>e wird immer grossges<strong>ch</strong>rieben (au<strong>ch</strong> wenn kein Substantiv oder Satz-<br />
anfang vorliegt).<br />
Teil 14: Die Dummheit des „bourgeois gentilhomme”<br />
Der Bourgeois hat ni<strong>ch</strong>t verstanden, dass ein Text nur entweder ein <strong>Vers</strong>text oder ein <strong>Prosa</strong>text sein<br />
kann, dass <strong>Vers</strong> <strong>und</strong> <strong>Prosa</strong> eine Alternative bilden. Er wird also dur<strong>ch</strong> diese Antwort als dumm <strong>ch</strong>arakterisiert.<br />
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