DIE SENDUNG DES KLEINSTAATS - Commonweb
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<strong>DIE</strong> <strong>SENDUNG</strong><br />
<strong>DES</strong> <strong>KLEINSTAATS</strong><br />
Ansprachen und<br />
Aussprachen<br />
von<br />
Fritz Ernst<br />
ATLANTIS VERLAG,<br />
ZÜRICH
<strong>DIE</strong> <strong>SENDUNG</strong> <strong>DES</strong> <strong>KLEINSTAATS</strong><br />
Worte gesprochen als Einleitung zu einer<br />
Finnland-Gedenkstunde<br />
in Züridi<br />
JJie Sendung des Kleinstaats in der Geschichte muss<br />
aus ihr nicht erraten, sie kann aus ihr abgelesen werden.<br />
Die klar zutage tretende Sendung des Kleinstaats<br />
in der Geschichte braucht keines Beweises, sondern<br />
höchstens einer Erklärung: sie sei im folgenden versucht.<br />
Ohne Macht und Geltung des Grosstaats zu<br />
begehren, ohne das eigene Siegel irgend jemandem<br />
ausser sich aufprägen zu wollen, lebt der Kleinstaat<br />
einzig von der Treue zu sich selbst. Man zitiert oft das<br />
"Wort des geistreichsten aller schweizerischen Universalhistoriker:<br />
der Kleinstaat sei dazu da, die grösstmögliche<br />
Freiheit des Einzelnen zu verwirklichen, und<br />
man kann nicht bestreiten, dass diese Verwirklichung<br />
zuweilen eingetreten ist. Es ergibt sich ohne weiteres,<br />
dass ein Staat, der kein Ziel ausser sich hat, weniger<br />
ungefragte Dienste seiner Angehörigen beansprucht als<br />
ein politisches Gebilde, das immerzu versucht ist, sich<br />
über sich hinauszusetzen, in der Eroberung sein Recht<br />
und in der Vergrösserung seinen Selbstzweck zu erblicken,<br />
wodurch die Nation an sich zur Funktion<br />
heruntersinken muss. Aber das ist nur die eine Seite<br />
des Problems. Altes Menschliche ist ja gefährdet, und<br />
9
der Kleinstaat ist es ganz besonders. Der Kleinstaat<br />
kann diese Gefährdung durch eigenen wie durch<br />
fremden Missbrauch nur dadurch einigermassen bannen,<br />
dass er sie sich bewusst macht und die Folgerungen<br />
daraus zieht. Mit einem "Wort, der Kleinstaat bedarf<br />
bei aller Abgestuftheit der Individuen, die ihn zusammensetzen,<br />
einer gewissen innern Dichte. Aber das<br />
genügt noch nicht. Der Kleinstaat kann sich auf die<br />
Dauer nur behaupten, indem er sich sozusagen in sich<br />
selbst vervielfacht: seine Freiheit gestattet individuelle<br />
Aktivität und Produktivität, seine Kleinheit verlangt<br />
dieselben im allerhöchsten Grade. Der Kleinstaat ist,<br />
zahlreichen Hemmungen zum Trotz, dazu bestimmt,<br />
auf minimalem Raum ein Maximum an Leben zu<br />
entbinden — er ist als Kategorie die "Wiege der Intensität.<br />
So wie sich im Kleinstaat keiner verstecken kann,<br />
weil es in ihm logischerweise keine Verstecke gibt, ,so<br />
kann in ihm auch keiner feiern, weil aller Hände<br />
nötig sind — wie es Plutarch vor Zeiten scherzhaft<br />
ausgedrückt: er sei in die böotlsche Vaterstadt zurückgekehrt,<br />
damit wenigstens wieder einer mehr sei. Keiner<br />
darf feiern, und keiner kann in der Masse untergehen,<br />
weil keine Masse da ist. Der Kleinstaat ist die Lebensform<br />
des, zwar eingefügten, aber zugleich selbstverantworteten<br />
Individuums. Der Kleinstaat kann nicht<br />
existieren ohne den Menschen, der dem Menschen Ehre<br />
macht, wie ein Feldherr von dem toten Gegner sagte:<br />
«Ii est mort un homme, qui faisait honneur ä l'homme.»<br />
Vielleicht liegt hier des Rätsels Lösung, wieso ein<br />
unverhältnismässig grosser, wo nicht der entscheidende<br />
Beitrag an die Kultur der Menschheit von den Kleinstaaten<br />
Europas ausging. Der Aufzählung wäre kein<br />
Ende: ich nenne nur Athen, Florenz und Weimar, drei<br />
Stätten, ohne die Europa nicht zu denken ist. Gewiss<br />
traten in diesen drei erlauchten Orten auch alle Unzukömmlichkeiten<br />
gedrängter Lebensart zutage. Gewiss<br />
machten sich auch in diesen drei erlauchten Orten die<br />
Menschen, nach Massgabe ihrer Unvollkommenheit, das<br />
Leben reichlich schwer. Gewiss hielten sich auch in diesen<br />
drei erlauchten Orten die schöpferischen Leistungen,<br />
nach einem unerbittlichen Gesetz, nicht dauernd<br />
auf der Höhe ihrer selbst — immerhin lang genug, um<br />
über die Flucht der Zeit hinweg sichtbare Höhenfeuer<br />
zu entzünden. Blicken wir auf Athen vor zweieinhalb<br />
Jahrtausenden, geleitet von Perikles, dem würdigsten<br />
der Menschen, nachdem es in Solon den gerechtesten<br />
hervorgebracht. In den Atempausen des Kampfes<br />
gegen Asien schuf diese eine Stadt die Tragödie als<br />
Gefäss des Grossen und Verehrungswürdigen, nach bestandenem<br />
Kampf und in beginnender Ernüchterung<br />
die Komödie als Schale alles seitherigen Spottes. Und<br />
mitten in dem furchtbaren Bürgerkrieg, der Athens<br />
Mark verzehrte, liess es den Historiker zu "Worte kommen,<br />
der bis auf unsre Zeit das Mass der erreichbaren<br />
Objektivität verkörpert. Denn das "Werk des Thukydides<br />
ist vielleicht an Unbestechlichkeit gegenüber
Freund und Feind zuweilen noch erreicht, doch nie<br />
übertroffen worden. Das wunderbarste Beispiel aber,<br />
schwerster Gebrechen unerachtet, gab die überwundne<br />
Stadt: die Herrschaft über die Menschen, die verloren<br />
ging, erneuerte sich als Herrschaft über den eigenen<br />
Geist. In Sokrates, in Plato und in Aristoteles ward<br />
die Philosophie Kritik, System und Ordnung. Diese<br />
drei Denker sind, seit den Tagen ihres Wirkens durch<br />
Wort und Schrift, mit einem leicht modifizierten<br />
grossen Wort: «maestri di color che sanno» ... Die<br />
Freiheit und die Grösse von Athen, die vorübergingen,<br />
wurden beerbt von Florenz, vor einem Halbjahrtausend<br />
im späten Mittelalter, als die Arno-Republik an<br />
die Medizäer kam. Da vereinigten ein paar Generationen<br />
den Geist der Jahrhunderte, da gebar der Zeiten<br />
Zwielicht Kinder über Kinder der Zukunft. Da kamen<br />
zur Welt Toscanelli und Vespucci, die in Gedanken und<br />
in Taten das Erdbild entscheidend rundeten. Da rangen<br />
Machiavell und Guicciardini um ein tieferes Geschichtsverständnis.<br />
Da ward durch den Humanismus das Andenken<br />
an das gesamte Altertum erneuert, die Akropolis<br />
ergänzt dirrch die Kuppel des Doms, Phidias<br />
erreicht durch Michelangelo und die antike überboten<br />
durch die moderne Malerei. Da verliehen der Palazzo<br />
Strozzi und die Kapelle der Pazzi dem Gestein ungekannte<br />
Harmonien, folgte auf die göttliche Komödie<br />
Dantes die menschliche Boccaccios, streute die Akademie<br />
Cosimos Keime aller seitherigen Philosophie,<br />
begründete seine Tafel durch die Vereinigung der Macht<br />
mit dem Verdienst die höchste Geselligkeit und meldete<br />
sich alsbald jenes nicht zu übertönende Vergänglichkeitsgefühl<br />
im «Quant e bella giovinezza, che si fugge<br />
tuttavia» ... Und wirklich welkten Kraft und Gesundheit<br />
von Florenz dahin, um aufzuerstehen, vor<br />
hundertfünfzig Jahren, in Weimar. Dort erlebten<br />
deutsche Poesie und Prosa zur Zeit Karl Augusts nie<br />
geschaute Pracht. Es genügte die milde Hand dieses<br />
Fürsten, dem in der Gruft zwei Könige des Worts zur<br />
Seite ruhen, um Deutschland einen Musenhof zu schenken,<br />
den kein Parnass in Schatten stellt. Ich nenne<br />
nicht die kleinen liebenswerten Geister, die zubereitend,<br />
teilnehmend und bewahrend ein Publikum darstellten,<br />
ohne das der Künstler ungern unter uns verweilt. Aber<br />
ich nenne das unsterbliche Dreigestirn, das auf seinem<br />
Höhenflug in Weimar kuhninierte. Johann Gottfried<br />
Herder glaubte so fest an die Geschichte als die Selbstreinigung<br />
der Menschheit und die Gerechtigkeit als ihr<br />
Schwergewicht, dass man sagen möchte, es wisse einer<br />
ohne ihn nur unvollkommen, was unter Humanität<br />
verstanden werden kann. Freilich aber war Herders<br />
Geschichtsdenken in einer so geheimnisvollen Sprache<br />
abgefasst, dass ihr Verständnis auf die Eingeweihten<br />
beschränkt bleiben musste. Dafür gab der Idealismus<br />
Friedrich Schillers der Seele weit über die nationalen<br />
Grenzen hinaus neuen ungeahnten Schwung. Das hängt<br />
auch damit zusammen, dass ihm ein grosses Wort ge-<br />
12<br />
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geben war für jedwedes Alter und Geschlecht, für jeden<br />
Stand und jedes bessere Ziel, für jedes Volk wie für<br />
sein eigenes: für England und für Russland, für Italien,<br />
Frankreich, Spanien, nicht zu vergessen sein letztes<br />
Preislied auf das Volk der Hirten. Aber was die dankbare<br />
Nachwelt am innigsten festhalten soll, ist dieses<br />
KöstHchste, dass er alle Hoffnung, alle Schönheit, alle<br />
Hoheit in zwei junge Menschen legte, in einen Prinzen<br />
und ein Bauernmädchen, in Don Carlos und Jeanne<br />
d'Arc. Und Schiller hatte einen grösseren ältern Bruder<br />
in Johann "Wolfgang Goethe, der uns erscheint,<br />
wenn man so sagen darf, als zugleich menschHchster<br />
und übermenschlichster der Dichter. Das Schlichteste<br />
und das Erhabenste, das Allernächste und das kaum zu<br />
Erahnende, das Vorzeitigste und das sonst unzugänglich<br />
Künftigste war seinem Genius gleich vertraut:<br />
schliesslich vermochte seine Poesie als Schwerstes, dass<br />
sie erobernd sich doch stets beschränkt, und zwar in<br />
einer Art Vollendung, die dem Begreifenden sich darstellt<br />
als ihr eigenstes Symbol.<br />
Ist es nicht wunderbar, dass drei so grosse Erlebnisse<br />
der Kultur wie ihre Grundlegung, ihre Renaissance<br />
und ihre Klassik mit drei kleinen Gemeinwesen<br />
vorlieb nehmen wollten — Gemeinwesen, die verächtlich<br />
wären, wenn es in der Geschichte nur auf Umfang<br />
und auf Zahl ankäme? Tatsächlich kommt es, mehr als<br />
auf Dimensionen, auf Ueberzeugung, Leistung, Opfer<br />
an. Ein hundert Millionen Menschen auferlegter Irr-<br />
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tum wird dadurch nicht zur "Wahrheit, aber irgendeine<br />
in Not erkämpfte wahrgeglaubte Meinung ist eia<br />
fruchtbares Ferment. So sei auch uns vergönnt, unsres<br />
an Umfang kleinen, an Zahl schwachen, an "Willen<br />
aber unbeugsamen Vaterlandes zu gedenken, von dem<br />
wir wünschten, es würde in den Augen der Geschichte<br />
einst so gerecht wie Athen zur Zeit Solons, so gebildet<br />
wie Florenz zur Zeit Cosimos und so human wie<br />
"Weimar zur Zeit Karl Augusts. Dies alles in erster<br />
Linie nicht in einsamen Gipfelleistungen, die wir an<br />
sich so wenig wie ein anderes Volk entbehren können.<br />
Dies alles vielmehr, wenigstens der nationalen Absicht<br />
nach, bezweckt von allen und für alle, als sittliches<br />
Kunstwerk eigenen Gesetzes und eigener Bestimmung<br />
zur unermüdlichen Verwirklichung der Souveränität<br />
in der Gemeinschaft: einer Gemeinschaft der Bekenntnisse<br />
und Rassen, der Sprachen und Kulturen, der<br />
Charaktere und jeder guten Sitte im Zeichen einer<br />
europäischen Totalität, deren abbildweise Darstellung<br />
unser Stolz und unsere Hoffnung ist in guten und in<br />
bösen Tagen, die uns nicht schlafend finden mögen.<br />
Für beide nämhch muss der Mensch gewappnet sein,<br />
deim beide sind sie Zeiten des Geschicks. Auch wissen<br />
wir ja nur zu gut, dass der Menschen Rechnung nicht<br />
alle Augenblicke aufgeht. Hippo Regius beherbergte im<br />
Kirchenvater Augustinus als seinem höchsten Hirten<br />
den christlichsten der Menschen — und erlag doch den<br />
Vandalen. Unsere Rechnung geht nicht alle Augenblicke<br />
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auf: wir können rasch verlieren, was langsam erworben<br />
war. "Was bleibt, das ist der tiefe Glaube, dass<br />
Erfolg oder Misserfolg nicht höchster l^asstab unseres<br />
Tuns und Lassens sein karm. "Was bleibt, das ist die<br />
reine Ueberzeugung, die ihre Richtschnur in sich selber<br />
hat. "Was bleibt, das ist die unlöschbare Glut des<br />
Heroismus von den Thermopylen bis zu St. Jakob an<br />
der Birs und von St. Jakob an der Birs bis zu dem<br />
Heldenvolk der Stunde, vor dessen Seelengrösse unsre<br />
Ehrfurcht sich verneigt.<br />
Februar 1940.<br />
<strong>DIE</strong> "VERGÄNGLICHKEIT <strong>DES</strong> GROSSTAATS<br />
XJnsere frühere Betrachtung über die Sendung des<br />
Kleinstaats, entsprungen einem feierlichen Anlass, bediente<br />
sich einer gradlinigen Gedankenfolge. Es sollte<br />
der verbreiteten Geringschätzung des Kleinstaats das<br />
an ihm Schätzenswerte entgegengestellt werden. Das<br />
bedeutete nicht, dass wir die Kleinstaaten an sich für<br />
hinreichend bestimmt und befähigt erachten, die "Weltordnung<br />
zu übernehmen. Eine solche Meinung wäre<br />
schon deshalb nicht vertretbar, weil die Kleinstaaten<br />
nur zu oft, im Mass des Möglichen, sich grosstaatlich<br />
gebärdeten. Es scheint dem Menschen zu entsprechen,<br />
lieber Unrecht zu tun als Unrecht zu leiden. Damit<br />
wir aber auf diesem "Wege in den Umkreis der Vernunft<br />
eintreten, müsste mit der Stillung unserer Leidenschaft<br />
zugleich etwas über sie hinaus gewonnen<br />
sein. Dass aber auch der Grosstaat an sich nichts<br />
weniger als ein zuverlässiges Gebilde darstellt, das<br />
zu beweisen haben wir uns als diesmalige Aufgabe<br />
vorgenommen. Denn unstreitig erwarten wir von einer<br />
solchen Schöpfung Sicherheit und Dauer — zwei<br />
Güter, von denen der Grosstaat keins gewähren kann.<br />
"Was die Sicherheit anbetrifft, so müsste sie doch derart<br />
sein, das sie durch die Grösse garantiert wird, wo<br />
die Kleinheit versagt. Es ist wahr, dass in den französischen<br />
Revolutionskriegen die Schweiz und Holland,<br />
Piemont und Venezien, Toscana, Kirchenstaat und<br />
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