âHaltet zusammen und verlasst dieses Land so ... - Horch und Guck
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44 L e b e n s l ä u f e | „Haltet <strong>zusammen</strong> <strong>und</strong> <strong>verlasst</strong> <strong>dieses</strong> <strong>Land</strong> <strong>so</strong> schnell wie möglich“<br />
Lilo Fuchs<br />
„Haltet <strong>zusammen</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>verlasst</strong> <strong>dieses</strong> <strong>Land</strong> <strong>so</strong><br />
schnell wie möglich“<br />
T ö d l i c h e Z e r s e t z u n g .<br />
Unsere Mutter Dorothea Uschkoreit<br />
Unserer Mutter begegneten Tod <strong>und</strong> Verlust<br />
als Folgen politischer Gewalt früh<br />
in ihrem Leben. Sie blieb dennoch eine<br />
menschlich zugewandte, lebensbejahende<br />
Frau. Nach Haft <strong>und</strong> Ausbürgerung meines<br />
Mannes, Jürgen Fuchs, 1977, waren unsere<br />
Familienangehörigen in der DDR weiterhin<br />
„Operativen Maßnahmen“ des Staatssicherheitsdienstes<br />
ausgesetzt. Es betraf<br />
Jürgens Eltern, seine Schwester <strong>und</strong> ihren<br />
Mann mit drei Kindern, <strong>so</strong>wie meine Eltern<br />
<strong>und</strong> Schwester. Das Ziel bestand darin,<br />
meinen Mann von seinen literarischen <strong>und</strong><br />
publizistischen Aktivitäten abzubringen. Er<br />
engagierte sich für Demokratie <strong>und</strong> Menschenrechte<br />
in beiden deutschen Staaten.<br />
Seine Veröffentlichungen im Westen, insbe<strong>so</strong>ndere<br />
die Zeugnisse seiner Stasi-Haft<br />
1976 <strong>und</strong> des militarisierten Alltages in der<br />
DDR, waren der SED-Führung ein Dorn<br />
im Auge. Am 22. Oktober 1982 kam meine<br />
Mutter Dorothea Uschkoreit nach massiver<br />
Druckanwendung durch die Staatssicherheit<br />
unter ungeklärten Umständen in Jena<br />
zu Tode. Sie war 61 Jahre alt. Die Polizei<br />
sagte: Suizid.<br />
Am 19. Oktober 1921 wurde Dorothea<br />
Kroß als neuntes Kind einer Bauernfamilie<br />
in Heiligenbeil bei Königsberg in Ostpreußen<br />
geboren. Sie besuchte die siebenklassige<br />
Volksschule <strong>und</strong> arbeitete auf dem<br />
Bauernhof der Eltern mit. 1937 begann sie<br />
eine Ausbildung als Stenotypistin <strong>und</strong> war<br />
anschließend Sekretärin im <strong>Land</strong>ratsamt<br />
Heiligenbeil. Zu Beginn des zweiten Weltkrieges<br />
war sie 18 Jahre alt. Zwei ihrer drei<br />
Brüder fielen. Ihre Eltern starben 1940/42<br />
an Krankheiten. Sie heiratete 1943 in Ostpreußen<br />
den jungen Soldaten <strong>und</strong> kaufmännischen<br />
Angestellten Richard Holland,<br />
der aus Thüringen stammte. Das junge<br />
Paar hatte zwei Wochen Hochzeitsurlaub<br />
<strong>und</strong> konnte dann nur Feldpostbriefe wechseln.<br />
1944 erhielt unsere Mutter eine Vermisstenmeldung<br />
von der Ostfront. Als die<br />
Rote Armee in Ostpreußen einmarschierte,<br />
musste sie am 16. März<br />
1945 <strong>zusammen</strong> mit<br />
ihren fünf Schwestern<br />
ihren Heimatort verlassen,<br />
Richtung Ostsee. Unter Flugzeugbeschuss<br />
gelangten sie zum „Frischen Haff“,<br />
von dort über Neutief zum Ostseehafen<br />
Pillau (heute Baltisk). Die erste Überfahrt<br />
auf einem Lastkahn scheiterte, da das Schiff<br />
auf hoher See voll Wasser lief. Von Fischkuttern<br />
wurden sie gerettet <strong>und</strong> mussten<br />
zurück. Auf Umwegen gelangten sie auf die<br />
Insel Hela. Zusammen mit Soldaten <strong>und</strong><br />
Verw<strong>und</strong>eten begann am 7. Mai 1945 mit<br />
dem Schiff „Weserberg“ eine gefährliche<br />
14-tägige Reise durch verminte Gewässer<br />
Richtung Dänemark. Nach längeren Irrfahrten<br />
konnten die Flüchtlinge im Hafen<br />
von Kiel an <strong>Land</strong> gehen.<br />
Knapp mit dem Leben davongekommen,<br />
schlugen sich die Schwestern ein<br />
Jahr lang durch. Im Mai 1946 machte<br />
sich unsere Mutter zu Fuß auf den Weg<br />
nach Thüringen, in der Hoffnung, etwas<br />
über ihren verschollenen Mann zu erfahren.<br />
Seine Familie hatte jedoch keinerlei<br />
Nachricht. Von 1946 bis 1950 arbeitete sie<br />
als Hausangestellte im Berggasthof Stöhr<br />
auf dem Großen Inselsberg im Thüringer<br />
Wald. 1950 zog sie nach Jena <strong>und</strong> begann<br />
im VEB Jenaer Glaswerk Schott im Büro zu<br />
arbeiten.<br />
Dort lernte sie unseren Vater Walter<br />
Uschkoreit kennen. Er stammte ebenfalls<br />
aus Ostpreußen <strong>und</strong> arbeitete nach seiner<br />
Entlassung aus viereinhalbjähriger russischer<br />
Kriegsgefangenschaft als Schlosser<br />
im VEB Carl-Zeiss-Jena. Sie heirateten<br />
1952. Ein Jahr später wurde ich geboren,<br />
1959 meine Schwester Gisela. Wir lebten<br />
in einer kleinen Zwei-Zimmerwohnung<br />
im Südviertel Jenas. Wir Töchter machten<br />
Abitur <strong>und</strong> erhielten eine musischkünstlerische<br />
Ausbildung an der Volkskunstschule.<br />
Unser Vater berichtete uns<br />
oft von „zu Hause“, über seine Erlebnisse<br />
Dorothea Uschkoreit mit ihrem Schwieger<strong>so</strong>hn, Jürgen Fuchs, in West-Berlin im August 1982.<br />
im Krieg <strong>und</strong> in der Gefangenschaft. Nicht<br />
selten half ihm Alkohol über die Intensität<br />
der Erinnerungen hinweg. Auch die Mutter<br />
erzählte, es waren für uns Dinge aus einer<br />
vergangenen, fast unwirklichen Welt. In<br />
der Schule hörten wir darüber nichts.<br />
Unsere Mutter sang in einem Chor <strong>und</strong> war<br />
ein ausgesprochen geselliger Mensch.<br />
Ich begann 1971 an der Friedrich-<br />
Schiller-Universität Jena ein Psychologiestudium<br />
<strong>und</strong> lernte dort Jürgen Fuchs<br />
kennen. Er geriet als junger Autor früh mit<br />
dem Staat in Konflikt, erhielt kein Diplom<br />
<strong>und</strong> nach seiner Haft wurden wir 1977 aus<br />
dem <strong>Land</strong> gedrängt. Unsere Eltern <strong>und</strong><br />
Geschwister blieben zurück – es war eine<br />
Trennung auf unbekannte Zeit. Unsere<br />
Mutter war damals 56 Jahre alt, sie hoffte<br />
auf das Rentenalter, um uns in West-Berlin<br />
<strong>und</strong> ihre Geschwister in Westdeutschland<br />
besuchen zu können.<br />
Im Mai 1982 wurde ein zweiter – uns<br />
unbekannter – Haftbefehl gegen den<br />
„Staatsfeind Jürgen Fuchs“ erlassen.<br />
Innerhalb der „Zersetzungsmaßnahmen“<br />
gegen uns kam man auf die Idee, die<br />
Antast barkeit <strong>und</strong> Verw<strong>und</strong>barkeit von in<br />
der DDR lebenden Angehörigen stärker<br />
ins „operative Spiel“ des MfS einzubeziehen:<br />
So erhielt unsere Mutter auch nach<br />
ihrem 60. Geburtstag keinen Reisepass wie<br />
andere Rentner, ihre zahlreichen Anträge<br />
wurden immer wieder abgelehnt. Erst als<br />
ich im August 1982 mit einer unbekannten<br />
Viruserkrankung im Krankenhaus lag, <strong>und</strong><br />
eine fre<strong>und</strong>liche Ärztin auf unsere Bitte<br />
einen „lebensbedrohlichen Zustand der<br />
Tochter“ attestierte, war eine Reise möglich.<br />
Drei Mal wurde sie zur Polizei bestellt,<br />
bis man ihre Papiere „fand“.<br />
Am 24. August erhielt sie eine Sondergenehmigung,<br />
für zehn Tage zu uns nach
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45<br />
West-Berlin zu reisen. Zehn Tage<br />
nach ihrer Rückkehr nach Jena, am<br />
16. September, kam ein Bote des<br />
Volkspolizeikreisamtes (VPKA) zu<br />
ihr <strong>und</strong> überstellte eine Vorladung<br />
für Mittwoch, den 22. September<br />
1982, um 10 Uhr. Am nächsten Tag<br />
stand der gleiche Polizist wieder vor<br />
der Tür <strong>und</strong> fragte unsere Mutter, für<br />
wann die Vorladung sei. Über das<br />
Gespräch mit einem MfS-Mitarbeiter<br />
im VPKA Jena machte sich unsere<br />
Mutter Notizen auf der Bestellkarte,<br />
die später meine Schwester fand:<br />
„Mitarbeiter des Ministeriums des<br />
Inneren, Koll. Hühne, 40-45 Jahre<br />
alt, braune listige Augen […] Wie geht es<br />
Ihrer Tochter – Reisegenehmigung war<br />
humanitäre Geste, im normalen Falle für<br />
später machen Sie sich keine Hoffnung –<br />
Soll Einfluss auf meinen Schwieger<strong>so</strong>hn<br />
nehmen, damit er die Beschimpfungen<br />
gegen die DDR unterlässt – er <strong>so</strong>ll sich dort<br />
einmischen, wo er jetzt lebt, sich der Kommunistischen<br />
Partei Westdeutschlands<br />
anschließen – das wäre für die Angehörigen<br />
<strong>und</strong> für seine eigene Familie zum Vorteil<br />
in Bezug auf Reisen – sie brauchen keine<br />
Fürsprecher, könnten alleine ihren Kommunismus<br />
aufbauen – Reiseanträge <strong>und</strong><br />
Sonderfälle werden von Fall zu Fall bearbeitet<br />
– Ich möchte nicht zu hoffnungsvoll<br />
sein – wenn sich ihr Schwieger<strong>so</strong>hn nicht<br />
ändert <strong>und</strong> ruhig ist, dann weiß ich nicht –<br />
wünsche nicht, dass das Gespräch im Blätterwald<br />
der dortigen Medien rauscht <strong>und</strong><br />
erscheint.“<br />
Erst drei Wochen später, am 11. Oktober,<br />
erfuhren wir während eines Telefonats<br />
von dieser Stasi-Vorladung <strong>und</strong> stichwortartig<br />
von deren Inhalt. Einen Monat später,<br />
am 19. Oktober, telefonierten wir über<br />
den Anschluss von Nachbarn aus Anlass<br />
ihres ein<strong>und</strong>sechzigsten Geburtstages. Es<br />
ging ihr nicht gut, sie klagte über häufiges<br />
Nasenbluten, meine Schwes ter Gisela sei<br />
auch seit Tagen mit einer schweren Angina<br />
bettlägerig, der Vater auch krankgeschrieben.<br />
Später findet sich ein <strong>zusammen</strong>geknüllter<br />
Zettel im Papierkorb, auf dem<br />
notiert ist: „Antrag stellen: Do 21.10.,<br />
vom 23.11. bis 2.12. nach Peine“ (zu ihrer<br />
Schwes ter). Zeugenaussagen von Nachbarn<br />
belegen, dass unsere Mutter am 22. Oktober,<br />
ca. 14.00 Uhr, im VPKA gewesen sein<br />
muss. Die Frauen trafen sie am Bus <strong>und</strong><br />
haben sie zuletzt lebend gesehen. Unser<br />
Vater befand sich an diesem Tag zu einer<br />
Untersuchung in der HNO-Klinik.<br />
Gegen 18.00 Uhr kam er nach Hause,<br />
fand an der Wohnungstür einen handschriftlichen<br />
Zettel: „Vorsicht, Gas strömt<br />
aus, bitte kein Licht machen“. Unsere<br />
Mutter befand sich reglos sitzend am<br />
Küchentisch, alle Gasventile des Herdes<br />
waren geöffnet. Auf dem Tisch lag ein<br />
Küchenmesser, Schnittspuren waren am<br />
linken Handgelenk, Blutspuren auf dem<br />
Tisch <strong>und</strong> auf dem Boden bis zum Waschbecken.<br />
Unser Vater riss die Fenster auf<br />
<strong>und</strong> holte Nachbarn hinzu, darunter eine<br />
Ärztin, deren Versuch einer Wiederbelebung<br />
erfolglos blieb. Später stellte der Notdienst<br />
fest, dass der Tod schon gegen 16.00<br />
Uhr eingetreten war.<br />
Als die Kriminalpolizei zur Spurensicherung<br />
kam, wurden der Abschiedsbrief,<br />
das Messer <strong>und</strong> die letzte Seite ihres Tagebuches<br />
beschlagnahmt. Unser Vater <strong>und</strong><br />
eine Nachbarin hatten den Abschiedsbrief<br />
gelesen <strong>und</strong> meiner Schwester aus der<br />
Erinnerung wiedergegeben. Als unser Vater<br />
<strong>und</strong> meine Schwester Gisela am 25. Oktober<br />
mit einem Mitarbeiter der Gerichtsmedizin<br />
sprachen, erhielten sie keine Einsicht<br />
in die Unterlagen über die Untersuchung,<br />
diese hätte keine Be<strong>so</strong>nderheiten ergeben.<br />
Zwei Tage später fragte meine Schwester<br />
noch einmal nach <strong>und</strong> erhielt die<br />
Information, dass rötlich/braune kleine<br />
Stellen im Brustbereich auffällig gewesen<br />
seien, deren Herkunft unklar blieb.<br />
Am 29. Oktober 1982 wurde meine<br />
Schwester ins VPKA zum Gespräch mit<br />
MfS-Oberstleutnant Winkel vorgeladen.<br />
Dieser warnte sie: Sie hätte dafür<br />
zu <strong>so</strong>rgen, dass es während meiner Einreise<br />
aus West-Berlin zur Trauerfeier in<br />
Jena keinerlei „Vorkommnisse“ gäbe.<br />
Gisela hatte bei diesem Gespräch das<br />
Gefühl: Sie haben etwas zu verbergen<br />
Quelle: MfS/BStU/Lilo Fuchs<br />
Quelle: Privat/Lilo Fuchs (2)<br />
Dorothea Uschkoreit 1980 in Jena.<br />
<strong>und</strong> haben Angst. Ich erhielt vom 1. bis 3.<br />
November 1982 eine Einreisegenehmigung<br />
zur Trauerfeier nach Jena.<br />
Der mit uns befre<strong>und</strong>ete West-Berliner<br />
Pfarrer Ralf Zorn begleitete mich über den<br />
Grenzübergang Friedrichstraße. Dort sah<br />
ich zum ersten Mal seit der Ausreise Katja<br />
Havemann wieder; gemeinsam fuhren wir<br />
in ihrem Auto über Grünheide nach Jena.<br />
Die Staatssicherheit verfolgte uns „mit<br />
Abstand“. Sie beobachteten eben<strong>so</strong> meinen<br />
gesamten Aufenthalt in Jena, <strong>und</strong> die Trauerfeier<br />
auf dem Nordfriedhof. Die Trauerrede<br />
hielt auf unsere Bitte Pfarrer Johannes<br />
Meinel aus Grünheide. Dokumente <strong>und</strong><br />
Fotos der Überwachung fanden sich in<br />
den Stasi-Unterlagen meiner Schwester.<br />
Ich traf in ihrer Wohnung Verwandte <strong>und</strong><br />
Fre<strong>und</strong>e, dies wurde durch die Stasi nicht<br />
verhindert.<br />
Ende Januar 1983 erschienen zwei<br />
Herren in der Wohnung meiner Schwester<br />
<strong>und</strong> händigten beschlagnahmte Gegenstände<br />
aus. Sie hatte den Eindruck, dass<br />
es sich bei dem Abschiedsbrief um eine<br />
Fälschung handelte. Dies wiesen die zivilen<br />
Beamten zurück, indem sie <strong>so</strong>fort eine<br />
Kopie vorlegten. Dann verschwanden sie<br />
schnell.<br />
2002 erhielt ich rekonstruierte Seiten<br />
aus von der Stasi 1989 eilig zerrissenen<br />
Akten der Hauptabteilung XX/AKG. Dort<br />
fand ich auch die Abschrift des originalen<br />
Abschiedsbriefes. Der Vergleich mit der<br />
Version, die meiner Schwester damals<br />
vom MfS „zurückgegeben“ wurde, zeigte,<br />
dass der erste Satz entfernt worden war.<br />
Unsere Mutter schrieb nach dem Verhör:<br />
„Lieber Walter, liebe Gisela! Haltet <strong>zusammen</strong><br />
<strong>und</strong> verlaßt <strong>dieses</strong> <strong>Land</strong> <strong>so</strong> schnell wie<br />
möglich ...“<br />
LF<br />
Observationsfoto der Stasi bei der Beerdigung von Dorothea Uschkoreit am 2. November 1982 auf dem Nordfriedhof in Jena.<br />
Hier Lilo Fuchs mit ihrer Tante Lotte Stange, der ältesten Schwester von Dorothea Uschkoreit, auf dem Weg zur Trauerfeier.