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Wege und Umwege<br />
Die wichtigste Frage im Leben lautet:<br />
Was will ich wirklich? Die Antworten finden sich<br />
im Leben. Sechs Beispiele.
SCHWERPUNKT: BILDUNG<br />
Der Ausprobierer<br />
Nach einer Karriere in der IT-Industrie<br />
verlegt sich Axel Thelen (links)<br />
auf eine ganz neue Branche – Kinderbetreuung.<br />
Sein Credo bleibt das alte:<br />
Am besten lernt man durchs Machen.<br />
Text: Jens Bergmann Foto: Thekla Ehling<br />
Axel Thelen, der seine Geschichte im rheinischen Singsang<br />
erzählt, strahlt dabei eine gelassene Hartnäckigkeit aus. Dieser<br />
Wesenszug war ihm bei seinem Abenteuer sehr nützlich. Der<br />
45-Jährige ist Betriebswirt, hat als Manager beim <strong>eins</strong>tigen Internet-Provider<br />
Compunet und beim US-Konzern General Electric<br />
(GE) gearbeitet. Um sich dann, finanziell abgesichert, einem ihm<br />
unbekannten Geschäftsfeld zuzuwenden.<br />
Das Unternehmen, das er mit Marcus Bracht 2001 gegründet<br />
hat, heißt Educcare und betreibt Kindergärten beziehungsweise<br />
„Orte des Lernens und der Entwicklung“. Den pädagogischen<br />
Jargon hat Thelen mittlerweile gut drauf. Als Mann aus der Wirtschaft<br />
ist er in seiner neuen Branche aber immer noch ein Exot.<br />
Die für die Genehmigung von Kitas zuständigen Behördenvertreter,<br />
bei denen Thelen und Bracht unermüdlich für ihre Idee warben,<br />
waren lange skeptisch. Was wollen diese Männer, die nicht<br />
mal Pädagogik studiert haben?<br />
Die Konkurrenz der etablierten Kita-Träger war auch nicht<br />
begeistert von den Newcomern. In Stuttgart antichambrierten<br />
Thelen & Co. zwei Jahre, bevor sie den ersten Kindergarten<br />
eröffnen konnten. Mittlerweile betreibt Educcare bundesweit acht<br />
Einrichtungen (für vier weitere liegen die Aufträge vor) und beschäftigt<br />
rund 100 Mitarbeiter, davon 10 in der Kölner Zentrale.<br />
Um es als Außenseiter so weit zu bringen, muss man überzeugt<br />
sein von seiner Sache und einen langen Atem haben.<br />
Den hat der umtriebige Thelen früh bewiesen. Schon als Gymnasiast<br />
begann er, bei einer Unternehmensberatung zu jobben,<br />
wo er sich später während seines Studiums vom Hiwi bis zum<br />
Dozenten hochdiente, der seinen Kollegen Computerprogramme<br />
erklärte. In dieser Funktion fing er Ende der achtziger Jahre auch<br />
bei der aufstrebenden Internet-Firma Compunet an. Eher beiläufig<br />
lernte er dort den charismatischen Chef Jost Stollmann<br />
kennen, der kurzzeitig als Wirtschaftsminister in Gerhard Schröders<br />
erstem Kabinett vorgesehen war. Und diente sich ihm noch<br />
vor dem Examen als Vorstandsassistent an. Stollmann war zuerst<br />
nicht begeistert von der Idee, weil er diese Position bei Compunet<br />
für unnötig hielt – ließ sich aber schließlich überzeugen.<br />
Thelen definierte, so erzählt er, seinen Job weitgehend selbst. In<br />
der schnell wachsenden Firma fielen ihm rasch allerhand Projekte<br />
zu, die eigentlich eine Nummer zu groß für ihn waren. Er durfte<br />
machen, lernte dabei, fiel manchmal auf die Nase und genoss das<br />
Vertrauen, das man ihm entgegenbrachte. So lernen idealerweise<br />
auch Kinder, was Thelen aber erst später klar wurde.<br />
Er stieg in der später vom US-Giganten GE übernommenen<br />
Firma bis zum geschäftsführenden Gesellschafter auf und verließ<br />
das Unternehmen 2000, weil ihm das rigide Konzernregime nicht<br />
gefiel. Thelen nahm sich eine Auszeit, um zu überlegen, was er<br />
nun tun könnte. Mit seiner Frau, einer Brasilianerin, ging er für<br />
eine Weile nach Rio de Janeiro, wo sie ihren Sohn in einen<br />
privaten Kindergarten schickten. Dort hatten die Thelens ihr<br />
Schlüsselerlebnis. Eines Morgens wurde das Ehepaar zum Elterngespräch<br />
in die Kita zitiert. Und die Kindergärtnerin gab ihnen<br />
einen detaillierten Bericht über den Sohn. Wie er sich gemacht<br />
hatte. Wofür er sich interessierte. Was seine Stärken waren. Und<br />
worauf die Eltern noch achten könnten. Vater Thelen war beeindruckt:<br />
„Sie wusste viele Dinge über meinen Sohn, die ich nicht<br />
wusste.“ Allerdings sah er den Kindergarten nicht als etwas<br />
Besonderes an: „Ich dachte, dass ein solches Engagement allgemein<br />
üblich ist.“<br />
Nach der Rückkehr in die deutsche Heimat wurde er eines<br />
Besseren belehrt. Sein Sohn hatte Probleme, sich dort im neuen<br />
Kindergarten einzugewöhnen, und die Botschaft der Erzieher war,<br />
dass der Junge da eben durchmüsse. Thelen war unzufrieden –<br />
wie viele Eltern mit der Kinderbetreuung hierzulande. Einige<br />
gründen dann eigenhändig Kitas, quasi zur Selbstversorgung. In<br />
Thelen aber keimte die Idee, einen Schritt weiter zu gehen. Er<br />
erkannte in dem Mangel eine unternehmerische Möglichkeit. Und<br />
wusste nun, womit er seine Zeit verbringen wollte.<br />
Mit Marcus Bracht, ebenfalls Familienvater und damals als<br />
Berater tätig, fand er einen Gleichgesinnten. Die beiden Autodidakten<br />
stürzten sich in ihr Projekt. Sie recherchierten bei Freunden,<br />
Bekannten und deren Freunden und Bekannten, wie eine<br />
ideale Kita aussehen müsste. Sie lasen sich ein, sprachen mit Fachleuten,<br />
rechneten und entwickelten schließlich ihr Konzept für<br />
„ein zweites Zuhause“, in dem Kinder Anregungen bekommen,<br />
die Welt auf ihre Weise zu entdecken. Wichtig war den Gründern,<br />
dass ihre Kitas keine Luxus-Einrichtungen für Besserverdienende<br />
sein sollten, sondern allen Eltern offen stehen. Und zwar zum<br />
selben Preis wie die Einrichtungen anderer Träger.<br />
Educcare wurde als gemeinnützige GmbH gegründet, mit<br />
dem Anspruch, „frühkindliche Bildung und Vereinbarkeit von<br />
Beruf und Familie neu zu denken“. Dabei sind die Ideen nicht<br />
wirklich neu. „Es gibt keinen Mangel an guten Konzepten“, sagt<br />
Thelen, „sondern nur einen Mangel an guter Umsetzung. Unser<br />
Vorteil war, dass wir eine Kita ganz neu denken konnten.“ Ähnlich<br />
wie damals, als er sich seinen Assistentenjob geschaffen hatte.<br />
Von diesem Vorteil musste die Welt allerdings erst überzeugt<br />
werden. Überall, wo Thelen und Bracht präsentierten, bekamen 3<br />
BRAND EINS 05/08<br />
125
SCHWERPUNKT: BILDUNG _BIOGRAFIEN<br />
sie zu hören: Kommen Sie wieder, wenn Sie uns eine Kita zeigen<br />
können. Die Gelegenheit bekamen die Gründer 2003 von dem<br />
IT-Unternehmen Lion Bioscience in Heidelberg, wohin die beiden<br />
Kontakte hatten. Mit diesem Betriebskindergarten (den es<br />
nicht mehr gibt, weil die <strong>eins</strong>tige Neue-Markt-Firma extrem geschrumpft<br />
ist) konnten sie zeigen, dass ihr Konzept funktioniert.<br />
Es ist sehr detailliert und beschreibt von der „herzlichen und<br />
authentischen Begrüßung der Kinder und Eltern“ bis zu ihrer Verabschiedung<br />
unzählige „Prozesse“. Der Kern der Bildungskindertagesstätten<br />
ist ein System zur akribischen Beobachtung und<br />
Dokumentation der Entwicklung jedes Kindes – dem man die<br />
Herkunft der Gründer aus der IT-Industrie anmerkt. Damit die<br />
Erzieher so kompetent Auskunft geben können, wie Thelen es in<br />
Brasilien erlebt hat. Viel Mühe wird auf die Auswahl und Fortbildung<br />
des Personals verwandt, das laut Educcare-Konzept mit<br />
„authentischer Begeisterung“ an die Arbeit gehen soll.<br />
Nach der Referenz-Kita kamen weitere in familienfreundlichen<br />
Kommunen hinzu, die Plätze in dem von Educcare für nötig<br />
gehaltenen Maße bezuschussen, sodass die Elternbeiträge niedrig<br />
gehalten werden können; die Subventionen schwanken von Gemeinde<br />
zu Gemeinde stark. Zur Etablierung des Unternehmens<br />
trug auch die „Offensive Bildung“ bei, eine unter anderem von<br />
der BASF 2005 in Ludwigshafen ins Leben gerufene bundesweit<br />
einmalige Initiative zur Förderung der frühkindlichen Bildung.<br />
Educcare ist für das Gesamtmanagement zuständig – und hat so<br />
Gelegenheit, ihre Ideen weiter bekannt zu machen.<br />
Axel Thelen hat es wieder geschafft und eine neue, selbst gesuchte<br />
Aufgabe gemeistert. Nach langen dürren Jahren, in denen<br />
die Gründer viel Geld und Zeit in ihr Projekt gesteckt haben,<br />
zahlen sie sich mittlerweile auch Gehälter aus. Thelen peilt für<br />
Educcare eine maximale Größe von 50 bis 60 Einrichtungen an.<br />
Klein genug, um beweglich zu bleiben, und groß genug, um die<br />
Branche zu verändern. Denn: „Man muss sich was zutrauen.“<br />
Die Zielstrebige<br />
Manchmal entscheidet eine einzige Weiche über<br />
die Zukunft. Bei Carla Köhler (rechts)<br />
hat sie ein medienbegeisterter Lehrer gestellt.<br />
Text: Roman Pletter Foto: Michael Hudler<br />
All den Stationen im Leben dieser jungen Frau zu folgen ist<br />
nicht einfach. Im Mai schließt Carla Köhler das Zweite Juristische<br />
Staatsexamen ab. Sie arbeitet seit acht Jahren als Radioreporterin,<br />
wovon sie auch ein Semester in London nicht abgehalten hat.<br />
Momentan bereitet sie eine Dissertation vor und verbringt ihre<br />
letzte Referendariatsstation in der Redaktion Recht und Justiz<br />
des ZDF. Vor Kurzem war sie für drei Monate im deutschen<br />
Generalkonsulat in Atlanta. Verantwortlich für ihren Weg ist ein<br />
Lehrer, der seinen Schülern außerhalb des regulären Stundenplans<br />
etwas anbot, auf das Carla Köhler sich einließ.<br />
„Ohne die Medien-AG wäre ich nicht dort, wo ich jetzt bin.<br />
Ich hatte davor gar kein Medieninteresse“, sagt die 26-Jährige, zehn<br />
Jahre nachdem sie ihr Lehrer Gerhard Laubscher am Wilhelmvon-Humboldt-Gymnasium<br />
in ihrer Heimatstadt Ludwigshafen<br />
fragte, ob sie nicht Moderatorin werden wolle. Laubscher hatte<br />
zusammen mit seinem umtriebigen Kollegen Karl Ludwig Kemen<br />
eine Schülergruppe aufgebaut, die in einem eigens eingerichteten<br />
Fernsehstudio Sendungen produzierte.<br />
Drei Jahre lang hat Köhler „Humboldt-TV“, eine Sendung<br />
von Schülern für Schüler, im Offenen Kanal Ludwigshafen moderiert.<br />
Sie lernte, vor der Kamera zu sprechen und auf schwierige<br />
Situationen zu reagieren. Die wenigsten Jugendlichen müssen damit<br />
fertig werden, dass sich während der von ihnen moderierten<br />
Live-Sendung bärtige Männer ungefragt neben sie setzen, weil sie<br />
zufällig gerade vorbeikommen. Ihr Lehrer Kemen war sehr froh,<br />
als Carla den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck<br />
(„Huch, was machen Sie denn hier?“) gleich erkannte.<br />
Diese Erfahrung war nützlich für das Praktikum beim regionalen<br />
Radio Regenbogen und die sich daraus ergebende freie<br />
Mitarbeit. Carla Köhler betreute Gewinnspiele für Hörer, machte<br />
Beiträge zu Kinofilmen und führte Interviews als freie Reporterin<br />
mit Musikern und Politikern, um Routine und Arbeitsproben zu<br />
sammeln. Denn das Ziel war seit der Medien-AG klar: „Dass ich<br />
zum Fernsehen will, vor die Kamera, am liebsten im Nachrichtenbereich,<br />
um eine Sendung so sympathisch zu moderieren, dass<br />
viele Menschen sie sehen wollen.“<br />
Die Idee, dem Ziel mit einem Volontariat näher zu kommen,<br />
verwarf sie nach dem Praktikum. „Ich wollte nicht aufhören zu<br />
lernen. Die Kollegen beim Radio meinten, Jura zu studieren sei<br />
gut, weil man sich dann auch in einem wichtigen Gebiet auskennt<br />
und weil das Fach ein breites Allgemeinwissen vermittelt. Und<br />
man legt sich damit nicht so früh fest, falls man noch etwas anderes<br />
machen möchte.“<br />
Während die meisten Juristen lange über die Qualen des<br />
Repetitoriums berichten, ist Carla Köhler diese Zeit der juristischen<br />
Vorbereitungs-Galeere auf das Staatsexamen kaum einen<br />
Satz wert. Nur so viel, dass sie im Studium einiges gelernt habe,<br />
um einzuordnen, was in der Welt so passiere, im Europarecht<br />
beispielsweise, und dass sie nach dem vierten Semester beinahe<br />
hingeworfen hätte, als sich ihr das Spannende an Bau- und Verwaltungsrecht<br />
nicht erschloss.<br />
Im anschließenden Referendariat lernte sie unter anderem<br />
einen künstlerisch ambitionierten Staatsanwalt (Spezialgebiet Aktmalerei)<br />
in Lederhose, T-Shirt und mit Rockmusik im Hintergrund<br />
kennen, der sie fachlich wie menschlich sehr beeindruckt<br />
habe und bei dem sie gesehen habe, dass die reale Welt der Straf-<br />
126 BRAND EINS 05/08
verfolgung und Ermittlung oft wenig zu tun hat mit Umständen,<br />
wie sie in Klausuren stehen: „Das sind ermittelte Sachverhalte,<br />
reine Theorie. In der Praxis kommt es aber nicht darauf an, was<br />
passiert ist, sondern nur darauf, was man beweisen kann. Das ist<br />
auch eine Frage der Kreativität.“<br />
Sie vertrat den Staatsanwalt in Sitzungen und erfuhr, dass auch<br />
das Gericht eine kleine Bühne ist, auf der es aufzutreten gilt, wie<br />
sie es in der Medien-AG gelernt hatte. Dass Theorie und Praxis<br />
bisweilen zweierlei sind, zeigte sich auch in der Referendariatsstation<br />
beim deutschen Generalkonsulat in Atlanta. Zunächst ist<br />
der diplomatische Dienst weniger romantisch, als man sich das<br />
gemeinhin vorstellt: Es geht um Pässe, Erbscheine, Adoptionsurkunden,<br />
es gibt mehr Stempel als schöne Empfänge. Aber es<br />
geht auch um Menschen, um die Betreuung von deutschen Strafgefangenen<br />
zum Beispiel, die in den USA <strong>eins</strong>itzen, die schlimme<br />
Erfahrungen machen hinter Gittern und die im Land außer den<br />
Konsularbeamten niemanden haben, der sie besucht.<br />
Köhler erzählt: „Man fährt hin, fragt: Können wir etwas für<br />
Sie tun? Vielleicht Anträge stellen? Ich habe mit Behörden telefoniert,<br />
die ohnehin langsam arbeiten, bei Ausländern manchmal<br />
noch langsamer. Du weißt dann, dass jemand mit gebundenen<br />
Händen am Ende der Kette sitzt und nur du ihm helfen kannst.<br />
Diese Menschen bauen darauf und sind extrem dankbar für jede<br />
Kleinigkeit, die man für sie tut. Ich habe das bis zum Exzess 3<br />
BRAND EINS 05/08<br />
127
SCHWERPUNKT: BILDUNG _BIOGRAFIEN<br />
getrieben, und als es dann Früchte getragen hat, habe ich mich<br />
richtig gut gefühlt. Ich habe gelernt, dass es darum geht zu kommunizieren<br />
und dass man mit formaljuristischem Vorgehen nicht<br />
immer weiterkommt. Dass nur Anrufen, Nerven, Fragen hilft.“<br />
Wie es die Lehrer der Medien-AG gab und den Staatsanwalt<br />
in Lederhosen, gab es auch in Atlanta mit dem Generalkonsul<br />
einen Menschen, der prägend war für diesen Abschnitt im Bildungsleben<br />
von Carla Köhler. Er hörte alle Mitarbeiter an und<br />
fragte sie nach ihrer Meinung, ungeachtet ihrer Position und Qualifikation.<br />
Sie möchte sich diese Erfahrungen bewahren, falls sie<br />
selbst einmal Chefin sein sollte.<br />
Nun wird Carla Köhler aber erst einmal ihre Dissertation<br />
schreiben. Sie möchte noch weiter lernen, und ehrgeizig ist sie<br />
natürlich auch. Sie wird weiter am Ziel arbeiten, Nachrichten im<br />
Fernsehen zu moderieren. Beim ZDF haben sie ihr das Referendariat<br />
schon einmal bis Juni um eine Hospitanz verlängert. Die<br />
Station hat sie darin bestärkt, in den Medien zu bleiben, zumal<br />
die Redaktionsleitung trotz immer kürzerer Beiträge daran arbeitet,<br />
komplexe Sachverhalte verständlich aufzubereiten. Nicht nur,<br />
weil sie Jura studiert hat und fleißig war, sondern vor allem, weil<br />
ein Lehrer sie in der elften Klasse fragte, ob sie moderieren<br />
wolle, steht ihr das alles jetzt offen.<br />
Die Energische<br />
Nare Yesilyurt-Karakurt (rechts) hat den ersten<br />
Pflegedienst für Migranten gegründet.<br />
Und sich fast alles, was sie dafür wissen musste,<br />
selbst beigebracht.<br />
Text: Peter Laudenbach Foto: Heji Shin<br />
Als sie 1999 Deta-Med gründete, wusste Nare Yesilyurt-Karakurt<br />
nicht, wie das geht: eine Firma leiten. Sie hatte keine Ahnung von<br />
Personalführung, Steuern, Kalkulation. Was sie hatte, war eine<br />
Idee. Sie wollte Einwanderern einen auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen<br />
Pflegeservice anbieten. Damals war das so neu, dass<br />
die Bankangestellten skeptisch abwinkten, bei denen sie um Kredit<br />
nachsuchte. „Sie sagten, es gebe keinen Bedarf – wenn es<br />
Bedarf gäbe, gäbe es schon länger solche Einrichtungen. Die Banken<br />
dachten, dass ich zwei und zwei nicht zusammenzählen kann,<br />
weil ich nur eine Ausbildung als Krankenschwester und eine als<br />
Diplompädagogin habe“, erzählt die 40-Jährige. Heute hat Deta-<br />
Med rund 200 Mitarbeiter, Filialen in drei Berliner Bezirken und,<br />
so die Gründerin, einen Jahresumsatz von mehr als drei Millionen<br />
Euro. Nare Yesilyurt-Karakurt ist eine eher kleine Frau, die<br />
genau weiß, was sie will. Sie hat einen langen Weg hinter sich,<br />
und das nicht nur, weil die Selbstständigkeit nicht zu ihrem<br />
Lebensplan gehörte: „Ich wollte nie Unternehmerin werden.“ Ihre<br />
Eltern kamen als türkische Gastarbeiter nach Deutschland. Ihr<br />
Vater ist Postbote, die Mutter Wäscherin in einem Krankenhaus.<br />
Und es sind offenbar kluge Leute. „Meine Eltern haben mich sehr<br />
gedrängt, eine Ausbildung zu machen. Ich wollte mit 17 heiraten,<br />
da hat meine Mutter gesagt: Du heiratest erst, wenn du eine Ausbildung<br />
hast und unabhängig bist“, sagt Nare Yesilyurt-Karakurt<br />
und widerlegt nebenbei das Klischee von den türkischen Eltern,<br />
die ihren Töchtern kein selbstbestimmtes Leben gönnen.<br />
„Ich hatte nur einen Hauptschulabschluss und machte eine<br />
Ausbildung zur Krankenschwester“, fährt sie fort. „Meine Familie<br />
hat mich dazu gedrängt, im Abendlehrgang meinen Realschulabschluss<br />
nachzuholen. Was mir passiert ist, passiert vielen<br />
Migrantenkindern. Sie werden willkürlich auf die Hauptschule<br />
geschickt, egal, wie gut ihre Noten sind. Ich bin auf die Hauptschule<br />
gegangen, weil der Lehrer das so wollte, nicht weil ich das<br />
wollte. Wenn ich wirklich zu dumm für das Gymnasium gewesen<br />
wäre, hätte ich heute nicht dieses Unternehmen.“ Das klingt<br />
verärgert und sehr selbstbewusst.<br />
Immerhin: Deutschland hat ihr die Chance gegeben, weiterzulernen<br />
und am Ende zu studieren. Nare Yesilyurt-Karakurt nutzte<br />
sie – Bildung muss man wollen. In ihrem Leben war sie kein<br />
Geschenk und nichts Selbstverständliches, sondern ein kostbares<br />
Ziel, für das sie sich angestrengt hat. Auf den Realschulabschluss<br />
folgte die Ausbildung zur Diplompädagogin. Sie arbeitete im<br />
Krankenhaus und half nebenbei ehrenamtlich in einer Arztpraxis<br />
älteren Ausländern beim Ausfüllen ihrer Schwerbehinderten- und<br />
Rentenanträge. „Die haben mir leid getan. Gerade unter den<br />
Gastarbeitern, die vor 30, 40 Jahren nach Deutschland gekommen<br />
sind, gibt es viele, die nicht gut Deutsch sprechen. Sie sind<br />
jetzt alt und oft auch krank. Ich sah, wie groß der Bedarf nach<br />
einem Pflegedienst ist, der auf die Bedürfnisse dieser Menschen<br />
eingeht.“<br />
Nare Yesilyurt-Karakurt wagte den entscheidenden Schritt:<br />
Mit dem Arzt als Teilhaber gründete sie ihren Pflegedienst, den<br />
ersten dieser Art in Deutschland. Das Angebot reicht von Hauswirtschaftsservice<br />
und Grundpflege bis zur ambulanten 24-Stunden-Intensivpflege<br />
für Schwerkranke. Was dann begann, war ein<br />
Prozess, auf den sie keine ihrer Ausbildungen vorbereitet hatte:<br />
„Ich habe jeden Tag etwas Neues gelernt.“ Wäre sie dabei nicht<br />
schnell, nüchtern und pragmatisch gewesen, wäre ihr Unternehmen<br />
längst gescheitert.<br />
„Als ich Deta-Med gegründet habe, wusste ich nicht einmal,<br />
nach welchen Sätzen ich mit den Krankenkassen abrechnen<br />
kann. Ich hatte ein super Pflegekonzept, aber wirtschaftlich keine<br />
Ahnung“, erzählt Nare Yesilyurt-Karakurt, und es klingt, als sei<br />
sie heute über ihre Anfängerfehler amüsiert und schockiert zugleich.<br />
So etwas wie einen Geschäftsplan gab es nicht. Die<br />
Jungunternehmerin wusste nicht einmal, wie viel sie für einen<br />
128 BRAND EINS 05/08
Patienten tatsächlich einnehmen würde. Als das Finanzamt im<br />
ersten Jahr mehr Geld von ihr wollte, als sie im ganzen Jahr an<br />
Umsatz gemacht hatte, wurde ihr klar, dass ihr Steuerberater unfähig<br />
war, und suchte sich einen neuen. Um eine Kassenzulassung<br />
zu bekommen, musste sie von Anfang an acht Krankenschwestern<br />
<strong>eins</strong>tellen – die dann, weil es noch keine Patienten gab, Däumchen<br />
drehten.<br />
Im ersten halben Jahr stiegen nur die Schulden, nach einigen<br />
Monaten waren es 180 000 D-Mark. „Ich habe weiter an meine<br />
Idee geglaubt, aber ich war die Einzige. Mein Mann hat nicht daran<br />
geglaubt. Je höher die Schulden wurden, desto öfter hatten<br />
wir Ehekrisen, irgendwann waren wir geschieden. Von Mai bis<br />
August hatten wir so gut wie gar keinen Umsatz, uns kannte ja<br />
niemand“, erinnert sie sich. „Die türkische Bevölkerung in Berlin<br />
wusste nicht, was ein Hauskrankenpflegedienst ist. In der Türkei<br />
können sich das nur reiche Menschen leisten.“<br />
Nare Yesilyurt-Karakurt hat dies geändert und erklärte den<br />
Berliner Türken in türkischen Radio- und Fernsehsendern, dass<br />
der Sozialstaat ihnen helfe, wenn sie alt und krank seien. Die Sender<br />
bekamen gratis ein nützliches Programm, die Unternehmerin<br />
erhielt gratis Werbung. Ihr Angebot sprach sich herum. Sechs<br />
Monate nach der Gründung zog der Umsatz langsam an, weitere<br />
anderthalb Jahre später war Deta-Med schuldenfrei, der stille Teilhaber<br />
ausbezahlt. 3<br />
BRAND EINS 05/08<br />
129
SCHWERPUNKT: BILDUNG _BIOGRAFIEN<br />
Dass ihre Firma überlebt hat, liegt auch daran, dass Nare<br />
Yesilyurt-Karakurt Fehler erkennt und korrigiert. „Personalführung<br />
habe ich sehr spät gelernt. Ich wollte keine Chefin sein. Ich war<br />
so gutgläubig. Die Firmenfahrzeuge konnten die Mitarbeiter ohne<br />
Kontrolle verwenden, ich ging einfach davon aus, dass sie sie<br />
nicht privat benutzen. Irgendwann bekam ich Strafzettel aus Hamburg,<br />
und keiner wollte es gewesen sein. Eine Mitarbeiterin hat<br />
mir meinen Geldbeutel geklaut, ich hatte Schulden bis zum Hals<br />
und habe ihr verziehen, weil sie in einer schwierigen Lage war.<br />
Das waren Anfängerfehler.“ Ebenso sachlich zählt sie auf, was sie<br />
von Anfang an richtig gemacht hat: „Ich habe weiter sparsam<br />
gelebt, auch als Deta-Med gut lief.“ Lieber investiert sie in ihre<br />
Leute. „Ich stecke viel Geld in die Ausbildung, sodass die Pfleger<br />
die Patienten qualifiziert betreuen können. Auch in schweren Zeiten<br />
habe ich die Gehälter immer pünktlich gezahlt, was in der<br />
Branche nicht unbedingt üblich ist.“<br />
Diese Kombination aus Fairness, Pragmatismus und der Fähigkeit,<br />
aus Fehlern zu lernen, hat funktioniert. Für das, was Nare<br />
Yesilyurt-Karakurt neben ihrer Ausbildung brauchte, um Deta-<br />
Med zu gründen und am Leben zu halten, hat sie etwas spöttisch<br />
ein schönes, altmodisches Wort: „Bauernschläue.“<br />
Der Unentschiedene<br />
Christian Laue (rechts) lebte wie viele seiner<br />
Generation ein unbekümmertes Leben. Bis es sich<br />
gegen ihn zu verschwören schien. Jetzt ist<br />
der Volkswirt Hartz-IV-Empfänger. Und versucht,<br />
die Kurve zu kriegen.<br />
Text: Jens Bergmann Foto: Thekla Ehling<br />
Eines Tages beschloss er, Bilanz zu ziehen. Christian Laue setzte<br />
sich in seiner Bonner Wohnküche mit den vielen Grünpflanzen<br />
an den Schreibtisch und schrieb den „Erfahrungsbericht eines 32-<br />
jährigen Hartz-IVlers“. Es ist ein offenherziger Text, halb Bewerbung,<br />
halb Lebensbeichte, in dem er keine Niederlage ausspart.<br />
Nach 16 Semestern Studium der Volkswirtschaftslehre (VWL)<br />
hat Laue mit der Note 3,5 abgeschlossen. Während seine Kommilitonen<br />
über Praktika den Einstieg in adäquate Jobs fanden,<br />
arbeitete er anderthalb Jahre zu einem Hungerlohn in einem Callcenter,<br />
bevor er dort entlassen wurde. Nun ist er schon eine<br />
ganze Weile arbeitslos. Die vergangenen drei Monate nutzte er<br />
zur Weiterbildung in der Unternehmens-Software SAP.<br />
Seinen Erfahrungsbericht hat er an ein gutes Dutzend Zeitungen<br />
geschickt. Mit dem Hinweis, sie könnten den Text veröffentlichen,<br />
wenn sie im Gegenzug eventuelle Anfragen von Unternehmen<br />
an ihn weiterleiteten. Im letzten Absatz weist er noch darauf<br />
hin, dass er „in der gleichen Zeit sicher drei bis vier Bewerbungen<br />
hätte schreiben können, welche ich ggf. bei der Stadt mit fünf<br />
Euro pro Stück geltend machen kann“.<br />
Von den meisten Zeitungen bekam er keine Antwort, nur<br />
zwei schickten nichtssagende Mails. Laue, ein gut aussehender<br />
Mann, der problemlos als Student durchginge, erzählt, dass<br />
seine Bilanz ihm nicht schwergefallen sei, weil er bei den mehr<br />
als 200 Bewerbungen, die er mittlerweile geschrieben hat, viel über<br />
sich nachdenken musste. Vor allem darüber, wie man einen Lebenslauf<br />
wie den seinen wohl verkaufen könne. Auf der Haben-<br />
Seite sieht er vor allem seine vielfältigen Erfahrungen und seine<br />
soziale Kompetenz, die er seiner nicht sehr geradlinigen Vita verdanke.<br />
Laue ist einer, der, weil er beim Sprechen denkt, lange für<br />
seine Sätze braucht.<br />
Aufgewachsen ist er in einem bildungsbürgerlichen Elternhaus.<br />
Der Vater ist Arzt, die Mutter Lehrerin; sie übte ihren<br />
Beruf allerdings nicht aus, weil sie als ehedem aktives Mitglied der<br />
Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) Berufsverbot hatte.<br />
Laue zieht noch vor dem Abitur aus, weil er mit seinen Eltern im<br />
Clinch liegt. Ein Streitpunkt ist seine Fußball-Leidenschaft, die<br />
ihn nach Meinung der Eltern von der Schule ablenkt. Heute fragt<br />
er sich gelegentlich, ob es nicht eher umgekehrt war. Immerhin<br />
hat er es damals bis in eine Jugendauswahl gebracht und hätte<br />
vielleicht eine Kicker-Karriere anpeilen können. Oder einfach eine<br />
Lehre machen. Das wäre vermutlich vernünftig gewesen.<br />
Stattdessen entscheidet er sich für das in seinem Milieu Naheliegende.<br />
Trotz seines mauen Abiturs beginnt er nach dem Zivildienst<br />
in der ambulanten Pflege ein VWL-Studium an der Universität<br />
Bonn. Dort gibt es keinen Numerus clausus, und die Mischung<br />
aus Politik und Ökonomie reizt ihn. Er beginnt 1997, in einer Zeit<br />
der Prosperität, als namhafte Unternehmen auf dem Campus um<br />
Studenten werben. „Damals hieß es: Mach dein Studium fertig,<br />
und du hast einen Job.“ Laue lässt es ruhig angehen und amüsiert<br />
sich. „Mir hat“, schreibt er in seinem Bericht, „die Sonne aus dem<br />
Arsch geschienen.“ Das ändert sich, als er mit 22 Vater wird. Er<br />
heiratet die vier Jahre ältere Mutter seines Sohnes und strengt sich<br />
erstmals richtig an, weil er den Ernst des Lebens spürt.<br />
Doch sein Elan endet etwa zwei Jahre später nach einem<br />
Erlebnis, das er als das schönste seines Studiums bezeichnet. Über<br />
einen Professor bekommt er Wind von einem Kongress, bei dem<br />
es um die Entwicklung Chinas und der Kapitalmärkte geht. Die<br />
Veranstaltung findet im Juni 2000 in der Zehn-Millionen-Einwohner-Industriestadt<br />
Chongqing statt. Laue reist auf eigene Faust<br />
dorthin; das Geld leiht ihm seine Frau, die aus einer wohlhabenden<br />
Familie kommt. In China darf der Student Laue einen<br />
Vortrag über Risikokapital in Europa und Amerika halten. Und<br />
fühlt sich großartig im illustren Kreis von Bankern und Regierungsvertretern.<br />
Noch heute erzählt er begeistert davon; den<br />
Kongress-Ausweis hat er aufgehoben.<br />
130 BRAND EINS 05/08
Euphorisch kehrt Laue zurück an die Universität und wird kühl<br />
empfangen. Sein Trip wird weder anerkannt, noch bekommt er<br />
die Kosten dafür erstattet. Das wurmt ihn sehr, seine Leistungen<br />
fallen wieder ab, seine Frau ist sauer, weil es in seinem Studium<br />
nicht vorangeht. Laue macht neben seinem Studium dies und<br />
das. Mal arbeitet er in einer Consulting-Firma, die Kommunen<br />
beim öffentlichen Nahverkehr berät, mal für eine Web-Seite mit<br />
Informationen für Investoren, mal als Pförtner im Krankenhaus.<br />
In der Ehe kriselt es immer stärker, irgendwann trennt sich<br />
das Paar. Der Verlust von Frau und Kind wirft Laue aus der Bahn.<br />
Er beendet sein Studium mit Ach und Krach. Als frisch diplomierter<br />
Volkswirt arbeitet er in einem Callcenter in Köln, um,<br />
wie er sagt, dem Staat nicht auf der Tasche zu liegen, seine Unterhaltsverpflichtung<br />
zu erfüllen und sich parallel zu bewerben. Ein<br />
Knochenjob. In der anfangs stark wachsenden Firma, die für<br />
einen Telefonanbieter arbeitet, herrscht wegen des Arbeitsdrucks<br />
und der miserablen Bezahlung große Fluktuation. Laue erzählt,<br />
dass die Belegschaft einmal pro Monat ausgetauscht wurde. Und,<br />
nicht ohne Stolz, dass er zuletzt einer von nur fünf gewesen sei,<br />
die 18 Monate durchgehalten hätten.<br />
Als das Geschäft mit den Telefonanschlüssen einbricht, wird<br />
Laue entlassen – und ist nicht sehr unglücklich darüber. Im Callcenter<br />
hat er nach Abzug aller Kosten nur 120 Euro mehr<br />
verdient als jetzt mit Hartz-IV. Er freut sich, wieder Freunde 3<br />
BRAND EINS 05/08<br />
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SCHWERPUNKT: BILDUNG _BIOGRAFIEN<br />
treffen und Sport treiben zu können. Seit einiger Zeit arbeitet er<br />
ehrenamtlich als Fußballtrainer, auch sein Sohn ist in der Mannschaft,<br />
die er betreut.<br />
Schließlich bemüht er sich um eine SAP-Weiterbildung, weil<br />
in vielen Anzeigen Kenntnisse der Software verlangt werden.<br />
Durch die erste Prüfung ist er durchgefallen, den zweiten Anlauf<br />
besteht er kurz nach unserem Treffen. Den Teilnehmern des Kurses<br />
sei gesagt worden, sie könnten, je nach Berufserfahrung, mit<br />
einem Einstiegsgehalt von 35 000 bis 40 000 Euro im Jahr rechnen.<br />
Auf Laues Frage, womit Leute ohne Berufserfahrung rechnen<br />
könnten, habe er keine befriedigende Antwort bekommen.<br />
Laue peilt einen Job im Controlling an und wäre mit einem Einstiegsgehalt<br />
von 20 000 Euro im Jahr zufrieden.<br />
Auf die Frage, ob er nicht neidisch auf seine Ex-Kommilitonen<br />
sei, die es geschafft hätten, schüttelt er den Kopf. Und sagt:<br />
„Was mich wirklich stört an meiner Situation, ist die Meinung der<br />
Leute, jemand wie ich müsse unglücklich sein.“ Das sei er aber<br />
nicht, schließlich habe er eine Menge gelernt in seinem Leben. Das<br />
Wichtigste sei, mit Tiefschlägen zurechtzukommen. Bei allem<br />
Hadern mit dem Schicksal wirkt Laue nicht unzufrieden. Und hat<br />
phasenweise eine recht realistische Sicht der Dinge. Er gehört zu<br />
einer privilegierten Generation, deren Hauptproblem die Unentschiedenheit<br />
ist. Und die irgendwann vor der Erkenntnis steht,<br />
dass man irgendeine der vielen Möglichkeiten, die das Leben<br />
bietet, nutzen muss.<br />
An diesem Punkt ist Laue jetzt. Er kann die Kurve kriegen zu<br />
einer „normalen“ Karriere. Oder auch nicht. Er sagt: „Es gibt keinen<br />
Grund, sich aufzugeben, und es gibt keinen Grund, euphorisch<br />
zu sein.“ Irgendwann während des Gesprächs macht der<br />
Pflanzenliebhaber die Bemerkung, dass er sich auch vorstellen<br />
könne, selbstständig als Gärtner zu arbeiten und den Leuten die<br />
Hecke zu schneiden oder den Rasen zu mähen.<br />
Das wäre ein ziemlicher Umweg, hin zu etwas ganz anderem.<br />
Aber gelegentlich ist ein Leben genau das.<br />
Der Außensteher<br />
Zephanja Arzt (rechts) ist 17 Jahre alt und hat über<br />
sich und die Welt schon mehr gelernt als viele<br />
Erwachsene – außerhalb des Lehrplans und ganz<br />
ohne Noten.<br />
Text: Roman Pletter Foto: Oliver Helbig<br />
Auf dem Hof tollen vier oder fünf Hunde herum, genau ist das<br />
nicht zu sagen, weil sie Besucher und Familie wie ein schwarzweißes<br />
Wollknäuel in ihrer Mitte <strong>eins</strong>chließen. Dahinter geht es<br />
durch vom Regen matschige Wiesen zu den Pferden, und danach<br />
kommt nichts als flaches, weites Havelland. Seit der fünften Klasse<br />
lebt Zephanja Arzt hier. Zusammen mit seiner Familie war er<br />
aus seiner Geburtsstadt Berlin gekommen. Der Pferdevirus hatte<br />
damals, wie Vater Gregor sagt, die Mutter infiziert, worauf sie hier<br />
einen geeigneten Hof gefunden hatten. Der Vater beschäftigt sich<br />
als Geomant mit einer Art westlichem Feng Shui.<br />
Seit die Familie dort lebt, muss Zephanja, der mittlerweile 17<br />
Jahre alt ist, auf dem Hof mitanpacken. Nebenbei absolviert er<br />
ein regelrechtes Bildungsexperiment: Er wechselt die Schulen wie<br />
andere Menschen die Arbeitsplätze. Die Gründe sind meist die<br />
gleichen: Lehrer, die nicht auf Fragen eingehen, und lebensferne<br />
Lehrpläne. Die haben ihn bis nach Pakistan getrieben.<br />
Aber der Reihe nach. Den ersten, die Zukunft entscheidenden<br />
Bruch bringt die dritte Klasse. Zephanjas Lehrerin an einer<br />
Berliner Grundschule legte, wie er erzählt, keinen großen Wert<br />
auf Dialog: „Sie sagte immer: ,Schön gerade sitzen, Öhrchen<br />
spitzen und die Hände auf den Tisch‘.“ Deshalb meldeten ihn<br />
seine Eltern, nachdem er lesen und schreiben konnte, an einer<br />
freien Schule in Tempelhof an, die ihn bis heute prägen sollte.<br />
Das Gebäude sah aus wie ein besetztes Haus. Die Wände<br />
waren mit Lehrerbeschimpfungen beschmiert. Es gab keine Klassen,<br />
keinen regulären Unterricht, keinen Lehrplan. Wer spielen<br />
wollte, spielte. Es gab Fünftklässler, die weder lesen noch schreiben<br />
konnten. „Ich sah dort jemanden mit langen Haaren, er hing<br />
immer etwas gestresst und heulend in der Ecke. Das war auch so<br />
ein Außenseiter. Wir haben uns zusammengeschlossen und noch<br />
einen anderen gefunden.“ Sie bauten sich in der Schulwerkstatt<br />
ein Refugium aus Holz. Ab und an gab es Prügeleien mit anderen<br />
Schülern, aber die Lehrer schritten nicht ein und sagten den<br />
Eltern: Das wird sich regeln. Zephanja lernte, sich zu behaupten:<br />
„Das hat mir sehr viel Selbstbewusstsein gegeben.“<br />
An dieser Schule hat er gelernt, selbstständig zu arbeiten.<br />
„Freunde und Verwandte, die andere Schulen besuchten, sagten:<br />
Wir machen in Deutsch Fälle und in Mathe das Einmal<strong>eins</strong>, und<br />
ihr seid auf so einer idiotischen Schule. Das war großer sozialer<br />
Druck. Ich ging dann mit meinen beiden Freunden zu den Lehrern,<br />
und wir sagten: Macht mal die Kippen aus, wir wollen<br />
Mathe machen“, erinnert sich Zephanja. Sie lernten in der Dreiergruppe<br />
in ein paar Tagen das Einmal<strong>eins</strong> und danach noch Bruchrechnen.<br />
Zephanja wusste nach einem Jahr Spielen: Wenn er<br />
etwas lernen will, muss er es sich holen. Nach dem Umzug aufs<br />
Land wechselte er Mitte der fünften Klasse auf eine Montessoriorientierte<br />
Schule, auch weil er Angst hatte, vielleicht den Anschluss<br />
an das Gymnasium nicht zu schaffen. Er musste in der<br />
neuen Klasse einigen Stoff selbstständig nachlernen, was ihm dank<br />
der Erfahrungen in der freien Schule gelang, und schloss das Jahr<br />
mit einem Notendurchschnitt von 1,6 ab.<br />
Auf dem Gymnasium bekam er dann von einer Lehrerin tatsächlich<br />
zu hören, Mathematik bedeute, Vokabeln auswendig zu<br />
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lernen. Dennoch hat Zephanja dort eine der wichtigsten Lernerfahrungen<br />
gemacht, allerdings außerhalb des Stundenplans. Eine<br />
Schülergruppe baute Roboter aus Lego, die sie programmierten<br />
und bei Wettbewerben vorstellten. Sie schafften es zweimal zur<br />
Weltmeisterschaft nach Atlanta. Die betreuende Lehrerin brachte<br />
Obst in den ständig besetzten Arbeitsraum und sammelte bei<br />
Sponsoren Geld, um Reisen und Material zu finanzieren.<br />
Neben Maschinenbau im Kleinen hat Zephanja dort über sich<br />
selbst gelernt, dass er sich ungern nach Teams richtet. Schließlich<br />
konstruierte er seinen Roboter allein, ein anderer Schüler programmierte.<br />
„Ich war damals kein Außenseiter mehr, ich wurde immer<br />
respektiert. Vielleicht war ich mehr ein Außensteher.“ Seinen Blick<br />
auf die Welt veränderte das elfte Schuljahr. Er hatte mittlerweile<br />
das Gymnasium wieder gewechselt und gemerkt: „Ohne Abwechslung<br />
noch einmal drei Jahre Schule, das halte ich nicht aus. Weil<br />
ich später vielleicht in die Entwicklungshilfe möchte, wollte ich<br />
zunächst ins Ausland und danach das Abitur machen.“<br />
Die Idee, nach Südamerika zu gehen, scheiterte am Widerstand<br />
der Eltern, zumal sie ihn auf dem Hof brauchten. Als seine<br />
Mutter eine Dokumentation über eine Initiative in Pakistan sah,<br />
erlaubte sie ihm, dort ein paar Monate zu verbringen. Die Initiative<br />
hilft Menschen in einem Dorf, Puppen und Blechspielzeug<br />
herzustellen und zu verkaufen. Im vergangenen Herbst flog Zephanja<br />
für dreieinhalb Monate dorthin und konnte seine beim 3<br />
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Verschlagbau an der freien Schule und beim Roboterbau erworbenen<br />
Kenntnisse anwenden: „Die können dort alle Blechmodelle<br />
perfekt kopieren, aber haben keine Ideen für Neues, weil sie<br />
ja nicht wissen, was es in der Welt alles gibt. Ich habe dann eine<br />
Lokomotive und einen Drachengleiter als neue Vorlagen gebaut.“<br />
Außerdem reiste er durch das Land und lernte, dass es gar nicht<br />
leicht war, Teile für eine Windmühle zu organisieren, und dass<br />
es gilt, kreativ mit den vorhandenen Mitteln umzugehen. Er traf<br />
viele freundliche Menschen, die neugierig auf ihn und seine Heimat<br />
waren. „Ich dachte vorher: In Entwicklungsländern geht es<br />
den Menschen schlecht, und ich habe Glück, in Deutschland<br />
zu leben. In Pakistan sah ich, dass die Menschen dort mit dem<br />
Lebensstil, den sie jetzt haben, viel glücklicher und netter sind als<br />
die Menschen hier und dass es sie nur unglücklich macht, über<br />
die Medien zu sehen, was die anderen haben.“<br />
Zephanja hat Konsequenzen aus diesem bislang letzten Bildungsabenteuer<br />
gezogen: „Gleich Maschinenbau zu studieren,<br />
das ist mir zu theoretisch. Ich möchte nicht ein Semester lang<br />
berechnen, wie ein Windmühlenflügel sein muss. Da baue ich lieber<br />
fünf und schaue, welcher der beste ist.“ So soll die Arbeit nach<br />
der Schule erst mal Mittel zum Zweck sein, um Geld für Reisen<br />
zu haben: „Ich habe kein Problem damit, etwas Einfaches zu<br />
machen, als Bauarbeiter oder so, das habe ich ja hier auf dem Hof<br />
gelernt.“ Studieren könne er später. Ihm laufe sonst die Zeit davon.<br />
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SCHWERPUNKT: BILDUNG<br />
Der Zuversichtliche<br />
Alexander Artopé (links) macht mit seinem Kreditportal<br />
den Banken Konkurrenz im Internet.<br />
Sein Motto: Suche nach Gelegenheiten und packe<br />
fest zu, wenn du eine entdeckst.<br />
Text: Peter Bier Foto: Heji Shin<br />
Damals, vor dem schüchternen Start seines Berufslebens, hat er<br />
noch auf den Dienstweg vertraut, hat telefoniert und korrespondiert,<br />
hat Bewerbungen verfasst, Zeugnisse eingereicht, hat immer<br />
wieder nachgefragt, hat sich vertrösten oder abwimmeln lassen.<br />
Hat brav gewartet, geduldig und im Vertrauen darauf, dass<br />
seine Bitte um ein Praktikum auf diesem Dienstweg bestimmt an<br />
der richtigen Stelle in den USA landen würde, in der Zentrale des<br />
weltgrößten Medienkonzerns. Doch nach einem halben Jahr ohne<br />
Antwort mochte Alexander Artopé nicht mehr warten. Der Student<br />
flog selbst nach New York, bat von einer Telefonzelle aus<br />
um einen Vorstellungstermin und bekam ihn sofort. Er gab seinen<br />
Lebenslauf in der Zentrale von Time Warner ab – und schon<br />
am nächsten Tag hatte er die Zusage und konnte anfangen. Aus<br />
drei Monaten Praktikum wurden am Ende sechs, zuerst in New<br />
York, später in Los Angeles.<br />
In seiner Vita ist diese Erfahrung zu fünf dürren Worten geronnen<br />
– Corporate-Finance-Projekt, Time Warner. Tatsächlich<br />
war es eine Lektion fürs Leben: Du darfst nicht auf eine Gelegenheit<br />
warten. Sondern du musst suchen, finden, zupacken.<br />
Dabei hatte er so etwas schon als Kind mitbekommen, aber<br />
nicht auf sich bezogen, diese spannenden Berichte seines Vaters,<br />
abends bei Tisch, nachdem er spät aus einer Konzernkarriere in<br />
die Selbstständigkeit gewechselt war. Der Sohn hat diese Geschichten<br />
nicht als Teil von steter, beiläufiger Prägung oder gar<br />
Erziehung empfunden, sondern hat sie einfach genossen.<br />
Und er hat sich dieses Erleben bewahrt und später zu eigen<br />
gemacht: Er wird emotional, wenn er vom Arbeiten spricht.<br />
Dann benutzt er Worte wie Spaß, Chance, Ausprobieren, Vertrauen,<br />
Entschlossenheit, und er hört sich dabei an, als wär’s<br />
die reine Lust. Genauso wie damals, beim Besuch zahlreicher<br />
Start-ups im Silicon Valley; wie glücklich die Gründer in ihren<br />
spärlich möblierten Büros saßen und etwas aufbauten, woran<br />
sie glaubten. Dass es ihnen nicht darum ging, auf die Schnelle<br />
reich zu werden, sondern eine Idee zu verwirklichen. Dass sie<br />
sich offenbar keine Sorgen machten. Was konnte ihnen denn<br />
Schlimmes passieren? Ginge es schief, würden sie eben etwas<br />
Neues versuchen. Dieses Erlebnis, sagt er, habe ihn nicht mehr<br />
losgelassen.<br />
Artopé hat nach dem BWL-Examen gem<strong>eins</strong>am mit Freunden<br />
die Datango AG in Berlin gegründet und aufgebaut, eine<br />
Software-Firma mit den Schwerpunkten E-Learning und Support.<br />
Und hat deren Vorstand nach sechseinhalb Jahren und im Frieden<br />
wieder verlassen, um eine neue Idee auszubrüten. Die erhielt<br />
den Namen Smava – ein Akronym, geformt aus „smart value“.<br />
Und eine ehrgeizige Vorgabe: „Smava ist wie ein Ebay für Geld“,<br />
sagt Artopé. „Anstatt Gebraucht- und Konsumwaren zu verkaufen,<br />
wird bei Smava Geld von Mensch zu Mensch vermittelt.“<br />
Eine Banklizenz war dazu nicht erforderlich, stattdessen aber ein<br />
Kreditportal im Internet, das erste dieser Art in Deutschland.<br />
Fast drei Jahre nach der Gründung und ein Jahr nach Geschäftsbeginn<br />
ist nun Gelegenheit zur Zwischenbilanz. Die Firma<br />
besteht inzwischen aus zwanzig Leuten, das Portal hat 30 000<br />
registrierte Nutzer. 1500 Anleger und Kreditnehmer haben Verträge<br />
geschlossen. Mehr als 440 Kredite über insgesamt rund<br />
zwei Millionen Euro sind ausgezahlt worden: für eine Wohnungsrenovierung<br />
oder einen Umzug, für das Ausrichten einer<br />
Hochzeit oder die Kosten eines Gebisses. Nur vier Kredite sind<br />
bislang geplatzt, eine spektakulär niedrige Quote. Zufall?<br />
Nicht für Alexander Artopé und seinen virtuellen „Marktplatz<br />
für Geld“. Wer auf der Homepage spazieren geht, sich in das<br />
Geschäftsmodell einliest, im Forum die Wortmeldungen verfolgt<br />
zwischen denjenigen, die ihren Antrag beschreiben und einen<br />
Zins anbieten, und allen anderen, die sich darüber austauschen<br />
und fragen, ob sich die Anlage wohl lohnt; wer schließlich die<br />
aktuellen Kreditlisten überfliegt und ob Zins und Tilgung pünktlich<br />
bezahlt werden, kommt sich tatsächlich vor wie auf einem<br />
Marktplatz. Allerdings einem ganz ohne Geschrei und Tricks,<br />
ohne versteckte faule Stellen an der Ware und das dumme Gefühl,<br />
doch irgendwie übers Ohr gehauen zu werden.<br />
Transparenz und Selbstbestimmung – das sind zwei von<br />
Artopés Schlüsselbegriffen für eine Erfahrung, wie sie besonders<br />
im Umgang mit dem traditionellen Geldgewerbe selten geworden<br />
ist. Weil sie unvereinbar ist mit Lockvogelangeboten, versteckten<br />
Kosten und Knebelverträgen. Eine Erfahrung, die sich<br />
über Smava hinaus immer weiter herumspricht. Sie ist längst Teil<br />
einer Art von Glaubensbekenntnis für den 38-jährigen Unternehmer<br />
geworden: dass sich der informierte und mündige Verbraucher<br />
verlässlich und risikobewusst verhält; dass man ihm etwas<br />
zutrauen darf und ihn nicht wie ein Kind gängeln muss; dass Fairness<br />
und Respekt im Kreditgewerbe möglich sind; dass man nur<br />
verspricht, was man auch halten kann.<br />
Auf die Frage, woher er diese Zuversicht nimmt und das<br />
Vertrauen in die Netz-Ökonomie, deren Mitspieler gelegentlich,<br />
aus welchen Gründen auch immer, anonym bleiben und allein<br />
deshalb schon häufig für unseriös gehalten werden, muss der<br />
Geschäftsführer des Marktplatzes für Geld passen. Erfahrung,<br />
sagt ein arabisches Sprichwort, ist die Brille des Verstandes. Bei<br />
Alexander Artopé passt beides perfekt zueinander. -<br />
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