JAHRESBERICHT 2010 - MAZ
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WOZU NOCH JOURNALISMUS? | MEDIEN<br />
WOZU NOCH JOURNALISMUS? | MEDIEN<br />
kann von sich behaupten, dieses Bedürfnis vollumfänglich zu<br />
befriedigen?<br />
Multimediajournalisten sind gefragt<br />
Es wird immer weniger spezialisierte Printjournalisten, Fernsehjournalisten<br />
und Radiojournalisten geben, weil es Journalisten<br />
braucht, die dem heutigen Selbstverständnis der multimedialen<br />
Nutzung der Konsumenten gerecht werden. Journalisten<br />
müssen die heutige Multimedialität nicht nur konsumieren,<br />
sondern selbst auch produzieren können. Der neue<br />
multimediale Journalist muss innert kurzer Zeit fähig sein,<br />
den Output für sämtliche Medienkanäle selbst zu generieren.<br />
Solche Journalisten sind noch rar.<br />
Grosse Medienkonzerne überleben<br />
Wenn die Verlage einerseits begreifen, dass sie multimedialer<br />
werden müssen, um dem Bedürfnis der Kunden gerecht zu<br />
werden, und andererseits nur wenige Journalisten heute in der<br />
Lage sind, multimediale Inhalte in Personalunion herzustellen,<br />
ergibt sich folgendes Problem: Es überleben die grossen<br />
Medienkonzerne, die es sich leisten können, an eine Geschichte<br />
fünf Leute zu hängen, welche den multimedialen Output<br />
innert kurzer Zeit generieren. Dadurch werden nur noch<br />
Grossereignisse in den Medien abgebildet, weil kleinere Geschehnisse<br />
für die Verlage nicht finanzierbar sind. Lokale Ereignisse<br />
werden höchstens monomedial abgebildet und werden<br />
für die Nutzer uninteressant, weil sie Multimedialität gewohnt<br />
sind.<br />
Kleine Ereignisse wandern ins Web 2.0<br />
Die kleinen Geschehnisse werden in Nischenmärkte gedrängt<br />
und nur noch von unbezahlten Privatpersonen im<br />
Web 2.0 publiziert und diskutiert. Eine Entwicklung, die<br />
vom journalistischen, demokratischen, gesellschaftlichen<br />
und föderalistischen Standpunkt aus nicht befürwortet werden<br />
kann. Wenn lokale Geschehnisse, sei dies aus Wirtschaft,<br />
Politik, Gesellschaft, Kultur oder im Sport, nicht<br />
mehr in einer breiten Gesellschaftsschicht diskutiert werden<br />
können, weil sich die Diskurse nur noch in spezialisierten<br />
Foren auf Facebook, Twitter, Blogs und Co. fortsetzen, so<br />
verarmt unsere Gesellschaft. Der lokale Zusammenhalt und<br />
das Wissen, was sich im Umfeld des Wohnorts ereignet, gehen<br />
verloren. Wenn sich die Verlage dessen nicht bewusst<br />
werden, wird die Schweiz, die zu Recht stolz auf ihre föderalistisch-demokratische<br />
Struktur ist, zunehmend vor sich<br />
hin erodieren.<br />
Alleskönner sind gefragt<br />
Für Journalisten heisst dies, dass sie neben den journalistischen<br />
Grundanforderungen zusätzlich kostengünstig fähig<br />
sein müssen, gut zu texten, schöne Bilder zu schiessen,<br />
eine Videokamera zu bedienen und ein Mikrofon richtig zu<br />
platzieren. Der Umgang mit multimedialen Produktionsabläufen<br />
und die multimedialen Kenntnisse der Journalisten<br />
müssen in der Aus- und Weiterbildung gezielt vermittelt werden.<br />
Auch die Verlagshäuser sind gefordert: Sie müssen Redaktionssysteme<br />
bereitstellen, welche den Eigenschaften der<br />
neuen Journalisten Rechnung tragen und die Multimedia lität<br />
vereinfachen.<br />
Mehr multimediale Qualität, mehr Aufmerksamkeit, mehr<br />
Werbeeinnahmen<br />
Wenn der Mediennutzer merkt, dass er im Multimediaverbund<br />
der Verlage mehr und qualitativ Besseres geboten bekommt,<br />
als er im Internet selbst findet, wird er seine Aufmerksamkeit<br />
vermehrt den Verlagen schenken. Damit wird<br />
der Kreis geschlossen, denn wer mehr Aufmerksamkeit erhält,<br />
wird auch mehr und wertvollere Werbung verkaufen<br />
können, was zur Folge hat, dass eine qualitativ hochstehende<br />
Publizistik finanziert werden kann.<br />
Wozu noch Journalismus?<br />
Colette Gradwohl,<br />
Chefredaktorin<br />
«Der Landbote»<br />
Mehr als ein Dutzend beflügelnde Antworten aus berufenen<br />
Federn liegen bereits vor. Die Frage hat schon früher Journalisten<br />
und Medienfachleute umgetrieben. Und auch wenn die<br />
Zeiten und Verhältnisse zum Teil andere waren, manche Antwort<br />
hat sie überdauert, ist möglicherweise aktueller, gültiger<br />
und wegleitender denn je.<br />
«Das Alpha und Omega des Journalismus ist das Verstehen und<br />
Verstandenwerden. Die Menschen sollen über das vermittelnde<br />
Geschäft des Journalismus zu Verstehenden gemacht werden.»<br />
Hermann Boventer<br />
«My only interest is to make a contribution to better knowledge<br />
and better thinking.»<br />
Eugene Meyer (als er 1933 in Washington die «Post» kaufte,<br />
die spätere «Washington Post»)<br />
«Journalism provides something unique to a culture – independent,<br />
reliable, accurate and comprehensive information<br />
that citizens require to be free.»<br />
Bill Kovach/Tom Rosenstiel<br />
«Das Verstehenwollen ist ein starkes Verlangen, das sich unter<br />
dem Eindruck zunehmender Komplizierung der gesellschaftlichen<br />
Organisation noch weiter ausbilden wird.»<br />
Jürg Tobler<br />
«Die Medien bleiben, allem Strukturwandel zum Trotz, Sachwalter<br />
der Öffentlichkeit.»<br />
Anton Hügli<br />
«Zeitungsschreiber und Professoren, zwischen ihnen liegt,<br />
wenn nicht eine Welt, so doch eine Kenntnis von dieser Welt.<br />
Eine Kenntnis, die nicht aus Büchern zu holen ist.»<br />
Carl von Ossietzky<br />
«Es ist unvorstellbar, eine Welt ohne Zeitung zu haben, das<br />
hiesse, eine Welt ohne neugierige Menschen.»<br />
Josef Joffe<br />
«In the long run, people will pay attention to journalism only<br />
if they think it tells them something they must know.»<br />
James Fallows<br />
Die neuste Studie «World Press Trends», die Anfang August<br />
vom Weltverband der Zeitungen und Nachrichtenmedien<br />
(WAN-IFRA) vorgestellt wurde, belegt: 1,7 Milliarden Menschen<br />
lesen täglich eine Tageszeitung. Dies entspricht 25 Prozent<br />
der erwachsenen Weltbevölkerung. 2009 wurden weltweit<br />
12 477 Zeitungen verlegt. Dies entspricht einem Zuwachs<br />
von 1,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr.<br />
Wozu noch Journalismus?<br />
Kurt Imhof,<br />
Prof. Kommunikationswissenschaften<br />
und<br />
Soziologie,<br />
Universität Zürich<br />
Das «noch» in der Frage lässt zwei Interpretationen zu: 1. Es<br />
braucht Journalismus im Zeitalter der Netzwerkmedien nicht<br />
mehr. 2. Der Journalismus hat so stark an Geltung verloren,<br />
dass sein Nutzen fraglich wird.<br />
Zu 1: Netzsurfer bilden keine Gesellschaft<br />
Netwerkmedien wie Blogs, Talks und Social Web bilden fluide<br />
themenzentrierte Öffentlichkeiten. Das heisst, sie können<br />
die unabdingbaren Grundfunktionen demokratischer Öffentlichkeit<br />
nicht selbst erfüllen. Die Demokratie setzt eine medienvermittelte<br />
Öffentlichkeit voraus, die als permanenter Entdeckungszusammenhang<br />
allgemeinverbindlich zu lösender<br />
Probleme der Kontrolle und Legitimation der politischen Institutionen<br />
und der Integration der Bürgerinnen und Bürger<br />
dient. Gesellschaftsweite Koorientierung ist ohne dauerhaft<br />
institutionalisierte Informationsmedien nicht zu haben; ohne<br />
diese Koorientierung funktioniert die Demokratie nicht.<br />
Zu 2: Der Geltungsverlust stimmt und ist gefährlich<br />
Das Qualitätsbewusstsein hat sich aufseiten der Medienmacher<br />
wie der Medienkonsumenten massiv verändert, der Journalismus<br />
verliert auf fatale Weise an Berufsprestige, und die<br />
erfahrenen Journalisten in arrivierten Medien haben eine tie-<br />
fe Berufszufriedenheit. Besonders gravierend sind die Sozialisationseffekte<br />
beim Publikum der 15- bis 35-Jährigen, die<br />
massgeblich über Gratisangebote (Print/Online/Privatradios)<br />
die Gesellschaft wahrnehmen. Sie migrieren viel zu wenig auf<br />
Bezahlmedien, verunmöglichen dadurch die Geschäftsmodelle,<br />
die guten Journalismus finanzieren können, und bilden<br />
auch die Rekrutierungsgenerationen eines reputationsschädigenden<br />
Billig-Journalismus der Rezyklierung von Newssites,<br />
in Gratiszeitungen und bei Privatradios. Diese Gattungen<br />
haben allesamt nicht genügend Ressourcen für einen,<br />
professionellen Journalismus.<br />
Fazit: Was braucht die Demokratie?<br />
Wenn den Demokraten die Demokratie lieb ist, dann kommen<br />
wir ohne neue Finanzierungsgrundlagen für guten Journalismus<br />
nicht aus. Professioneller Journalismus ist der wichtigste<br />
Service public in Demokratien. Nötig ist das Folgende:<br />
1. Die primären Träger der Publizistik sind neben den öffentlichen<br />
Medien die Abonnementszeitungen. Deren Geschäftsmodell<br />
funktioniert freilich nicht mehr. Wir müssen zu einem<br />
Mediensystem kommen, das durch staatliche und zivilgesellschaftliche<br />
Mittel (im Rahmen einer eidgenössischen Stiftung)<br />
auf der Basis von Qualitätskriterien guten Journalismus<br />
– unabhängig von seinen Plattformen – fördert. 2. Die Selbstkannibalisierung<br />
des professionellen Journalismus durch Gratismedien<br />
muss on- und offline beendet werden. Auch die<br />
Medienkonsumenten müssen lernen, dass guter Journalismus<br />
nicht gratis zu haben ist. 3. Es braucht eine unabhängige Medienbeobachtung,<br />
die die Qualitätsstandards erarbeitet und<br />
prüft, auf deren Basis die Finanzierung eines professionellen<br />
Journalismus gesichert werden kann.<br />
Roger Köppel,<br />
Chefredaktor und<br />
Verleger «Weltwoche»<br />
Natürlich braucht es Journalisten, die ihre Aufgabe ernst nehmen.<br />
Journalisten müssen schreiben, was ist. Sie haben die Realität<br />
zu spiegeln, Missstände aufzudecken und Meinungsvielfalt<br />
herzustellen. Demokratien neigen zu Konformismus. Journalisten<br />
müssen Gegensteuer geben, skeptisch bleiben. Was<br />
nicht von selber ans Licht kommt, aber ans Licht kommen<br />
muss, haben Journalisten zu enthüllen. Der Staat ist das grösste<br />
Machtmonopol im Land. Die wichtigste Aufgabe des Journalisten<br />
ist die Kontrolle des Staates und seiner Organe. Diese<br />
Aufgabe kann an keine andere gesellschaftliche Instanz delegiert<br />
werden. Ohne die Kritik und Skepsis hervorragender Journalisten<br />
und Zeitungen kann die Schweiz nicht funktionieren.<br />
Journalisten sind entscheidend dafür mitverantwortlich, dass<br />
die Schweiz zukunftsfähig bleibt und Wohlstand produziert.<br />
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<strong>JAHRESBERICHT</strong> <strong>2010</strong> | 7