24.12.2013 Aufrufe

Johanna Goldbeck - Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung

Johanna Goldbeck - Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung

Johanna Goldbeck - Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN
  • Keine Tags gefunden...

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Prof. Dr. Carola Groppe<br />

Laudatio auf die Preisträgerin des Julius-Klinkhardt-Preises, gehalten auf der<br />

Sektionstagung der Historischen Bildungsforschung an der Helmut-Schmidt-<br />

Universität, Universität der Bundeswehr Hamburg am 20. September 2013<br />

Liebe Sektionsmitglieder, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Preisträgerin <strong>Johanna</strong><br />

<strong>Goldbeck</strong>,<br />

es war dieses Mal keine leichte Entscheidung, eine Preisträgerin auszuwählen. Wir hatten fünf<br />

wirklich hervorragende Dissertationen zu bewerten, und uns ist die Wahl nicht leicht gefallen.<br />

Wir, die Jury, das waren Gisela Miller-Kipp, Uwe Sandfuchs, Andreas Klinkhardt und ich.<br />

Traditionell übernimmt die stellvertretende Vorsitzende der Sektion den Vorsitz, also <strong>für</strong><br />

diese Kommission ich selbst. Und traditionell hält die Jury-Vorsitzende auch die Laudatio.<br />

Ich freue mich sehr, dass wir heute den Preis <strong>für</strong> eine Arbeit verleihen, die sich mit der<br />

Aufklärung im späten 18. Jahrhundert und frühen 19. Jahrhundert beschäftigt. Sie trägt den<br />

Titel: „Das Besucherverzeichnis der Reckahner Musterschule (1773–1855) – Eine<br />

einzigartige Schlüsselquelle <strong>für</strong> europaweite Netzwerke im Zeitalter der Aufklärung“<br />

und ist 2012 an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam eingereicht<br />

worden. Die Verfasserin ist <strong>Johanna</strong> <strong>Goldbeck</strong> und sie und ihre Arbeit wollen wir heute mit<br />

dem Julius-Klinkhardt-Preis auszeichnen, der alle zwei Jahre auf der Sektionstagung der<br />

Historischen Bildungsforschung <strong>für</strong> eine herausragende Arbeit des wissenschaftlichen<br />

Nachwuchses in der Historischen Bildungsforschung verliehen wird.<br />

Ich möchte Ihnen in den folgenden Minuten einen Einblick in die Arbeit geben.<br />

Die Aufklärung hat viele Facetten. Sie ist eine philosophische Bewegung, eine<br />

Theoretisierung und Universalisierung bürgerlicher Weltdeutung, ein Bruch mit dem<br />

theozentrischen Weltbild, ein neuer Glaube an die Gestaltbarkeit der Welt durch den<br />

Menschen und damit eine pädagogische Bewegung durch und durch, von Kants Kritiken bis<br />

hin zur Schul- und Unterrichtsreform. Immer geht es zentral um Erziehung, um die<br />

Entwicklung und Emanzipation von Mensch und Bürger gleichermaßen, auch in all den<br />

Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten, die diese doppelte Zielsetzung – nicht nur in einer<br />

ständischen Gesellschaft – mit sich bringt. Vernunft und Kritik als Leitprinzipien sollten<br />

umfassend im Individuum, in Staat und Gesellschaft verankert werden. Die Aufklärung ist<br />

1


aber nicht nur eine vielstimmige intellektuelle und gesellschaftspolitische Debatte, sie ist auch<br />

eine Lebensform. Der Hamburger Historiker Franklin Kopitzsch definiert die Aufklärung als<br />

„Prozeß rationaler Weltaneignung und Weltgestaltung“. 1 Sie war – auch dies zeigen neuere<br />

Studien – auch keineswegs nur, wenn auch überwiegend, eine bürgerliche Bewegung, sondern<br />

auch eine, an der sich ein Teil des Adels aktiv durch Debatten und Reforminitiativen<br />

beteiligte. Ein solcher reformbewegter Adliger war Friedrich Eberhard von Rochow, der sich<br />

mit seinen Musterschulen im Brandenburgischen um die Erziehung und Bildung der niederen<br />

Bevölkerungsschichten auf dem Land, insbesondere der Bauernkinder, bemühte. Schulreform<br />

und Lehrerausbildung, Werbung <strong>für</strong> und Distribution seiner Ziele und Konzepte gehörten zu<br />

seinem aufklärerischen Reformeifer dazu.<br />

<strong>Johanna</strong> <strong>Goldbeck</strong> hat nun erstmals das Besucherverzeichnis der Rochowschen Musterschule<br />

in Reckahn einer differenzierten quantitativen Analyse unterzogen und sich dabei des<br />

methodischen Instrumentariums der Netzwerkanalyse bedient, das sie <strong>für</strong> ihre Untersuchung<br />

erweitert und modifiziert hat und zudem mit qualitativ-biographischen, regionalanalytischen<br />

und institutionellen Studien verbunden hat. In aufwendiger Archivrecherche ist <strong>Johanna</strong><br />

<strong>Goldbeck</strong> den 1.600 Einträgen im Reckahner Besucherbuch im Untersuchungszeitraum<br />

nachgegangen und hat erfolgreich versucht, Spuren, Kontakte, Aktivitäten der Besucher in<br />

ihren Heimatorten, in Institutionen, in ihrem beruflichen Wirken (in Lehrerseminaren) und<br />

ihre Verbindungen untereinander zu rekonstruieren. In akribischer Archivarbeit hat Frau Dr.<br />

<strong>Goldbeck</strong> daher eine Vielzahl von Privatbriefen und offiziellen Dokumenten erschlossen und<br />

ausgewertet und so eine dichte Beschreibung dieses Netzwerks und seiner Bedeutung<br />

geleistet. Herausgekommen ist ein Aufklärungsnetzwerk, das bislang in der <strong>Forschung</strong> noch<br />

nirgends sichtbar geworden war. <strong>Johanna</strong> <strong>Goldbeck</strong> hat sich selbst Leitfragen gestellt, die sie<br />

tatsächlich in ihrer Arbeit auch beantworten kann: „Wer waren die Personen, die nach<br />

Reckahn kamen?“ Hier geht es um biographische Voraussetzungen, soziale Identitäten und<br />

institutionelle und regionale Zugehörigkeiten. Dann: „Welche Beweggründe führten zu einer<br />

häufig beschwerlichen Reise in das abgelegene Dorf?“ Hier geht es um Motive und Ziele.<br />

„Welche Verbindungen zwischen einzelnen Besuchern (…) lassen sich ermitteln und zu<br />

welchen Aussagen können diese in Bezug auf eine Verbindung mit Reckahn führen?“ Hier<br />

geht es um eine klassische Netzwerksanalyse und um die Analyse der Funktion dieses<br />

Knotenpunkts im Netzwerk. <strong>Johanna</strong> <strong>Goldbeck</strong> macht dabei nicht den Fehler, Reckahn <strong>für</strong><br />

das Zentrum dieses Netzwerks zu halten. Im Gegenteil muss man, so ihre Aussage, viele<br />

solcher Knotenpunkte einbeziehen, wenn man die Aufklärung als Bewegung begreifen will.<br />

1 KOPITZSCH, FRANKLIN, Die Aufklärung in Deutschland. Zu ihren Leistungen, Grenzen und Wirkungen, in:<br />

Archiv <strong>für</strong> Sozialgeschichte, Bd. 23, 1983, S. 1–21, hier S. 3.<br />

2


Der Knotenpunkt Reckahn steht dabei insbesondere <strong>für</strong> Volksaufklärung, Schulreform und<br />

Lehrerbildung. Die Bauernkinder auf Rochows Gütern sollten regelmäßig die Schule<br />

besuchen, sie sollten ihre Welt begreifen. Kostenloser Schulbesuch in eigens errichteten<br />

Bauten, ein Unterricht, der auf den Gebrauch des Verstandes setzte, lebenweltlich, d.h.<br />

ländlich und auf den Bauernstand bezogene Sach- und Fachkenntnis förderte und moralische<br />

Orientierung leisten wollte, prägten die neue Elementarschule. Systematisierung und<br />

Reflexion von Unterricht und Schule leiteten die Reform an; Alphabetisierung und rationale<br />

Bildung (statt Erziehung durch Gefühl, sei es Angst oder Zuneigung wie im religiös<br />

dominierten Unterricht der Zeit) prägten die Lehrtätigkeit.<br />

Wer sich da<strong>für</strong> interessierte und hier den Hebel der Aufklärung ansetzen wollte, der reiste<br />

nach Reckahn. Sozial und kulturell vielschichtig waren die Akteurinnen und Akteure, die hier<br />

ansetzen wollten. Manche kamen nur einmal, andere vielfach. Unter ihnen fanden sich<br />

„brandenburgische Schulhalter, ungarische Publizisten, englische Offiziere und sächsische<br />

Gartengestalterinnen“. Numerisch überrepräsentiert bezogen auf ihre gesellschaftliche<br />

Repräsentanz waren jedoch adlige Männer und Frauen. Auffällig genug engagierten sie sich,<br />

auch aus Alltagsnähe und ‚Betroffenheit‘, <strong>für</strong> eine Verbesserung des Bildungsstands der<br />

Landbevölkerung. Dabei spielten sicherlich nicht nur philanthropische Motive eine Rolle,<br />

sondern auch die ebenfalls aufklärerischen Motive einer Verbesserung der Brauchbarkeit der<br />

Landbevölkerung. Geistliche und Lehrer stellen ebenfalls eine quantitativ gewichtige Gruppe<br />

dar. Sie waren in engster Form in das Schulehalten der Zeit eingebunden. Durch ihre Ämter<br />

resultierende Interessen waren hier maßgebend. Schließlich spielten Frauen – adlige wie<br />

bürgerliche – als Gruppe eine wichtige Rolle. Sie engagierten sich u.a. auch <strong>für</strong> die Mädchenund<br />

Frauenbildung, oftmals aus eigenen biographischen negativen Erfahrungen schöpfend.<br />

Maßgeblich durch diese Trägergruppen sowie durch weitere Einzelpersonen wurde die<br />

Rochowsche Lehrmethode, mit begleitender Lehrerausbildung, in andere Regionen, Schulen<br />

und Lehrerseminare getragen, wie <strong>Johanna</strong> <strong>Goldbeck</strong> in ihrer qualitativen Analyse<br />

nachweisen kann. Es war nicht nur Rochows Lehr- und Lesebuch „Der Kinderfreund“, der<br />

seine Lehrmethode propagierte, sondern ganz maßgeblich werden Verbreitung und Rezeption<br />

geprägt durch seine Person und seine und seiner Frau Interaktionen mit den Besuchern, u.a. in<br />

abendlichen Gesprächen und Zusammenkünften, durch die Schulpraxis, die begleitende<br />

Hospitation des Unterrichts und die Gespräche mit den Lehrern. Davon ausgehend kann<br />

<strong>Johanna</strong> <strong>Goldbeck</strong> Rezeptionen von Rochows Musterschule und Lehrmethoden in einer Reihe<br />

von Unterrichtsanstalten in den deutschen Staaten und im europäischen Ausland nachweisen.<br />

Deutlich wird dabei auch, dass man es im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert<br />

3


noch nicht mit einer Durchstaatlichung der Territorien zu tun hat. Persönliche Netzwerke und<br />

Begegnungen, Reformbestrebungen, Rezeptionen und Transfers erfolgreicher Versuche<br />

prägen die Schulgeschichte, bevor staatliche Regulierungen und Institutionalisierungen<br />

einsetzen und aus dem ungeordneten Bildungswesen ein in sich verzahntes und durch<br />

Schultypen, Abschlüsse und Übergangsregelungen aufeinander bezogenes Bildungssystem<br />

wird. So prägen Regionen, Personen und einzelne Organisationen die Rezeption der<br />

Reckahner Musterschule und Lehrmethode; jenseits der staatlichen Lenkungsversuche werden<br />

andere Entwicklungsmodi eines anderen Zeitalters deutlich.<br />

Dass die Aufklärung nicht erfasst wird, wenn man nur Kant, Mendelssohn und Lessing und<br />

ihre Schriften sieht, weiß die Historische Bildungsforschung schon seit geraumer Zeit. Dass<br />

es auch nicht ausreicht, ihre sozialhistorischen Grundlagen: Entstehung und Emanzipation der<br />

„Neuen Bürgerlichen“ zu erfassen oder ihr Schriftgut in Zeitschriften und Zeitungen zu<br />

analysieren, auch. Aufklärung wurde im 18. Jahrhundert <strong>für</strong> wachsende Milieus der<br />

Gesellschaft eine Handlungspraxis, eine Form der Selbstverständigung angesichts neuer<br />

Herausforderungen der Lebenswelt und ein neuer Orientierungsrahmen <strong>für</strong> die Planung der<br />

Zukunft. Die Aufklärung war demgemäß nicht nur ein durch Lektüre gestalteter Prozess der<br />

Bewusstwerdung, sondern auch ein Mentalitätswandel aufgrund sich wandelnder<br />

Lebensbedingungen und ein Konstruktion zur Deutung und Gestaltung dieser neuen<br />

Bedingungen. Die Arbeit von <strong>Johanna</strong> <strong>Goldbeck</strong> stellt diese Aspekte der Aufklärung heraus,<br />

zeichnet sie deutlich als eine im Kern immer auch pädagogische Bewegung nach und lässt in<br />

kulturgeschichtlicher Akteursperspektive die Trägerinnen und Träger der Aufklärung jenseits<br />

großer Namen sichtbar werden.<br />

Ich fasse die Urteilsbegründung der Jury aus der Urkunde zusammen:<br />

„Insgesamt hat Frau Dr. <strong>Goldbeck</strong> eine Arbeit vorgelegt, die methodologisch versiert und<br />

methodisch innovativ neue bildungshistorische Quellen erschließt und auswertet und mit<br />

ihren Ergebnissen einen sachlich herausragenden Beitrag zur Bildungsgeschichte der<br />

Aufklärung leistet. Dies gilt nicht nur <strong>für</strong> die engere Schul- und Unterrichtsgeschichte,<br />

sondern auch <strong>für</strong> die Aufklärung insgesamt, deren Identität als pädagogische Bewegung in der<br />

Dissertation in überzeugender Weise belegt wird. Zugleich ist die Arbeit ein beeindruckendes<br />

Zeugnis da<strong>für</strong>, dass die Aufklärung als eine breite geistige und gesellschaftsreformerische<br />

Bewegung begriffen werden muss, die durch unterschiedlichste Stände und Gruppen der<br />

Bevölkerung getragen und vorangetrieben wurde.“<br />

4

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!