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DIETMAR HAUBFLEISCH / CHRISTIAN RITZI<br />

Schulprogramme – zu ihrer Geschichte und<br />

ihrer Bedeutung <strong>für</strong> die Historiographie <strong>des</strong> Erziehungs-<br />

und Bildungswesens<br />

Mit dem Begriff „Schulprogramm“ wird eine Schriftengattung bezeichnet, die<br />

keineswegs eindeutig defi niert ist. Der Grund da<strong>für</strong> liegt in dem funktionalen<br />

Wandel, den Schulprogramme im Lauf ihrer jahrhundertelangen Existenz<br />

erfahren haben. Zu Beginn beschränkte sich ihre Funktion darauf, zu Schulveranstaltungen<br />

einzuladen. Später wurden diese Einladungsschriften um Schulnachrichten<br />

erweitert und wissenschaftliche Abhandlungen beigefügt. Dann<br />

verloren sie die ursprüngliche Funktion, zu Schulveranstaltungen einzuladen.<br />

Zudem wurde auf die Erarbeitung von Abhandlungen verzichtet, so dass<br />

nur noch jener Teil übrig blieb, in dem Entwicklungen und Veränderungen<br />

<strong>des</strong> gerade abgelaufenen Schuljahres dargestellt wurden. Konsequenterweise<br />

wechselten daraufhin die Titel dieser Schriften in „Jahresberichte“, „Bericht<br />

über das Schuljahr ….“ u. a. m., ohne dass <strong>für</strong> sie bis etwa zur Mitte <strong>des</strong> letzten<br />

Jahrhunderts der Gattungsbegriff aufgegeben wurde.<br />

Die bis heute an vielen Schulen erscheinenden Jahresberichte könnten insofern<br />

der Schriftengattung „Schulprogramme“ zugeordnet werden. Allerdings<br />

hat sich Ende <strong>des</strong> 20. Jahrhunderts ein gravierender Bedeutungswandel in<br />

der pädagogischen Terminologie vollzogen, der keinerlei Bezug zur früheren<br />

Begriffsverwendung aufweist. „Schulprogramme“ sind im aktuellen Verständnis<br />

Schulentwicklungsinstrumente. 1 Darin kommt die heutige Wortbedeutung<br />

von „Programm“ zum Tragen: Es enthält programmatisch-konzeptionelle<br />

Bestandteile und umfasst „ein Arbeitsprogramm im Sinne einer pädagogisch<br />

intendierten und perspektivischen Entwicklungsplanung“. 2<br />

Angesichts der Unübersichtlichkeit <strong>des</strong> Gattungsbegriffs richten wir im Folgenden<br />

den Fokus auf einen Überblick, in <strong>des</strong>sen Mittelpunkt die preußischen<br />

Schulprogramme und Jahresberichte von 1825 bis 1915 stehen. Die Konzen-<br />

1 Zu Schulprogrammen im heutigen Verständnis vgl. u. a. Holtappels, Heinz Günter: Schulprogramm<br />

als Schulentwicklungsinstrument? In: Jahrbuch der Schulentwicklung. Bd. 12. Weinheim:<br />

2002, S. 199 – 208.<br />

2 Rolff, Hans-Günter: Schulprogramm als kollegialer Diskurs. Überlegungen vor dem Hintergrund<br />

von Evaluation. In: Göhlich, Michael; Hopf, Caroline; Sausele, Ines (Hrsg.): Pädagogische<br />

Organisationsforschung. Wiesbaden: 2005, S. 133 –150, hier S. 134.


166 Dietmar Haubfl eisch / Christian Ritzi<br />

tration auf Preußen erscheint insbesondere <strong>des</strong>wegen berechtigt, weil es in diesem<br />

Zeitraum als Schrittmacher bildungspolitischer Entwicklungen angesehen<br />

werden kann.<br />

Der erste Teil stellt ausführlich das Circular-Rescript <strong>des</strong> Jahres 1824 als<br />

Schlüsselquelle vor. Daran anschließend wird auf die Vorgeschichte eingegangen,<br />

in einem dritten Teil werden ausführlicher Entwicklungen, Veränderungen<br />

und Probleme der Zeit von 1825 bis 1915 beschrieben. Im vierten Abschnitt<br />

wird die 1915 unterbrochene Entwicklung nach dem Ende <strong>des</strong> Ersten Weltkriegs<br />

bis 1940 dargestellt, dem Jahr, in dem die Geschichte der preußischen<br />

Schulprogramme endet. Abschließend folgen Hinweise auf die Relevanz der<br />

Quelle, insbesondere <strong>für</strong> die Historische Bildungsforschung, sowie auf die<br />

Lage von Erschließung und derzeitigen Nutzungsmöglichkeiten.<br />

1. Das preußische Circular-Rescript von 1824<br />

Am 23.08.1824 erließ das preußische Kultusministerium ein Circular-Rescript<br />

zur Erstellung von Schulprogrammen. 3 Diese „von einem jeden Gymnasio<br />

jährlich auszugebende Programme“ 4 sollten aus zwei Teilen bestehen – zum<br />

einen „aus den Schulnachrichten“ und zum anderen „aus einer Abhandlung<br />

über einen wissenschaftlichen, dem Berufe eines Schulmannes nicht fremden,<br />

ein allgemeines Interesse, min<strong>des</strong>tens der gebildeten Stände am öffentlichen<br />

Unterricht im Allgemeinen oder an dem Gymnasium insonderheit erweckenden<br />

Gegenstand, <strong>des</strong>sen Wahl innerhalb dieser Grenzen der Beurtheilung <strong>des</strong><br />

Verfassers überlassen bleibt; auch soll gestattet sein, statt der obengedachten<br />

Abhandlung eine in dem betreffenden Gymnasio schon gehaltene Rede in dem<br />

Programm abdrucken zu lassen, wenn dieselbe jenem Zwecke entspricht, oder<br />

durch inneren Werth sich besonders auszeichnet“. 5 Während die Erarbeitung<br />

der Abhandlungen „nicht bloß dem Director, sondern auch den sämmtlichen<br />

Oberlehrern <strong>des</strong> Gymnasii“ obliegen sollte, waren die Schulnachrichten „ausschließlich<br />

von dem Direktor oder Rektor <strong>des</strong> Gymnasii“ 6 abzufassen.<br />

Die Anordnung enthielt eine Fülle präziser Angaben zur Erstellung der<br />

Schulprogramme, um „theils die nöthige Gleichförmigkeit und Vollständig-<br />

3 Circular-Rescript <strong>des</strong> Königlichen Ministeriums der Geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-<br />

Angelegenheiten an sämmtliche Königlichen Consistorien, die Gymnasial-Prüfungs-Programme<br />

betreffend. Berlin, den 23. August 1824; abgedruckt u. a. in: Neigebaur, Johann Ferdinand: Die<br />

preußischen Gymnasien und höheren Bürgerschulen. Eine Zusammenstellung der Verordnungen,<br />

welche den höheren Unterricht in diesen Anstalten umfassen. Berlin [u. a.]: 1835, S. 314 –316.<br />

4 Neigebaur: Gymnasien (wie Anm. 3), S. 314.<br />

5 Ebd.<br />

6 Ebd.


Schulprogramme – Geschichte und Bedeutung 167<br />

keit zu bewirken, theils den Vorstehern der Gymnasien dieses Geschäft durch<br />

gemessene Vorschriften zu erleichtern“. 7 Ausführlich regelte das Circular-<br />

Rescript vor allem, aus welchen Bestandteilen die Schulnachrichten zu bestehen<br />

hatten:<br />

„A. Der erste Abschnitt stellt die allgemeine Lehrverfassung <strong>des</strong> Gymnasii dar, führt die<br />

Classen in ihrer Reihefolge von der Prima abwärts auf, und bei jeder derselben 1) den<br />

Classen-Ordinarius und die übrigen Lehrer, 2) die Lehrgegenstände und die <strong>für</strong> einen<br />

jeden derselben bestimmte wöchentliche Stundenzahl, 3) die Lehrbücher mit bestimmter<br />

möglichst kurzer Nachweisung, was während <strong>des</strong> Schuljahres in jedem Gegenstande<br />

behandelt, wo angefan gen, wie weit vorgerückt, und wie viel geleistet worden ist. Es<br />

können in diesem Abschnitte die Lehrgegenstände die Basis ausmachen, an welche sich<br />

Lehrer und Lehrbücher anschließen, so daß es gerade nicht nothwendig ist, die Lehrer,<br />

Lehrgegenstände und Lehrbücher, je<strong>des</strong> unter einer besonderen Rubrik anzuführen.<br />

Dieser Abschnitt muß außerdem nicht minder wesentlich alle diejenigen Anordnungen<br />

vortragen, welche in dem Zeitraume, <strong>für</strong> welchen das Programm bestimmt ist, in Beziehung<br />

auf innere und äußere Schuldisciplin, Lehrmethode, Lehrgegenstände und jede<br />

andere Verhältnisse, sowohl vom Ministerio und dem Consistorio, als von der Local-<br />

und Schulbehörde erlassen und vorgeschrieben werden, dergestalt, daß aus dieser Darstellung<br />

eine vollständige Uebersicht aller diese Gegenstände betreffenden Veränderungen<br />

hervorgeht, und dem Pu blikum außerdem die Uebersicht <strong>des</strong> ganzen Lehrsystems<br />

jährlich gegeben wird. Dieser Abschnitt hat aber auch zugleich die Bestimmung, durch<br />

öffentliche Erwähnung <strong>des</strong> Geleisteten dem Fleiß und Eifer derjenigen Lehrer, welche<br />

sich hierin ausgezeichnet haben, die verdiente Gerechtig keit widerfahren zu lassen,<br />

weshalb die denselben zu Theil gewordenen Belobungen und Anerkennungen in<br />

demselben anzuführen sind. – B. Der zweite Abschnitt soll eine kurze Chronik <strong>des</strong><br />

Gymnasii von dem verfl ossenen Schuljahr enthalten. Als regelmäßige Artikel gehören<br />

hier her besonders: 1) die Eröffnung <strong>des</strong> Schuljahres, 2) die vaterländischen Schul- und<br />

etwaige andere Feste zum Andenken an die Wohlthäter der Anstalt, 3) Nachrichten von<br />

Veränderungen im Lehrer- oder Beamtenpersonal <strong>des</strong> Gymnasii, längere Krankheiten<br />

der Lehrer, von der <strong>für</strong> solche Zeit angeordneten Aushilfe etc. und 4) außerordentliche<br />

Ereignisse, welche sich bei einem Gymnasio während <strong>des</strong> Jahres zugetragen haben. –<br />

C. Der dritte Abschnitt soll eine statistische Uebersicht enthalten, welche hauptsächlich<br />

folgende Punkte zu berücksichtigen hat: 1) die Zahl der Schüler, sowohl im Ganzen,<br />

als in jeder einzelnen Classe, 2) eine Angabe der während <strong>des</strong> Schuljahres neu aufgenommenen,<br />

und der auf die Universität, oder zu andern Lehranstalten, oder zu anderen<br />

Berufsarten abgegangenen Schüler. Bei den zur Universität abgegangenen Schülern<br />

sind die Nummern <strong>des</strong> Prüfungszeugnisses, welches sie er halten haben, jedoch ohne<br />

ein weiteres Urtheil über sie hinzuzufügen, so wie die ihnen ertheilten Prämien anzuführen,<br />

3) der Stand <strong>des</strong> Lehrapparats; neue bedeutende Vermehrungen <strong>des</strong>selben in<br />

möglichster Kürze, aber mit dankbarer Erwähnung der Ge schenke, welche etwa von<br />

7 Ebd.


168 Dietmar Haubfl eisch / Christian Ritzi<br />

patriotischen Wohlthätern gereicht worden sind, 4) die dankbare Erwähnung der zum<br />

Besten <strong>des</strong> Gymnasii gemachten frommen Stiftungen und der Unterstützungen, welche<br />

die Schüler theils aus öffentlichen, theils aus Privatmitteln im Laufe <strong>des</strong> Schuljahres<br />

erhalten haben. – d. Endlich soll der vierte Abschnitt über die zu veranstaltenden<br />

öffentlichen Prüfungen, Declamations- und Redeübungen, und namentlich über die<br />

Classen, welche bei der Prüfung auftreten, die Gegenstände der Prüfung und die Lehrer,<br />

welche dieselbe vornehmen werden, über die ein zelnen Schüler, welche Reden halten<br />

oder declamiren werden, so wie endlich über den Anfang <strong>des</strong> neuen Lehrcursus und<br />

über die zur Prüfung und Aufnahme neuer Schüler bestimmten Tage die erforderlichen<br />

Anzeigen enthalten.<br />

[…]. Durch diese Bestimmungen sollen übrigens die Directoren oder Rectoren der<br />

Gymnasien bei Abfassung der jährlichen Schulnachrichten nicht auf die oben bezeichneten<br />

Rubriken allein beschränkt sein; vielmehr bleibt ihnen unbenommen, auch dasjenige,<br />

was sie aus ihren Beobachtungen <strong>für</strong> einen solchen öffentlichen Schulbericht<br />

Geeignetes vorzutragen wünschen, und unter den im Obigen vorgeschriebenen Artikeln<br />

keine angemes sene Stelle fi ndet, in der Einleitung oder am Schlusse der Schulnachrichten<br />

beizufügen.“ 8<br />

Auch zu den Kosten, „welche der Druck <strong>des</strong> jährlichen Schulprogramms verursachen<br />

wird“, äußerte sich das Ministerium klar und eindeutig: Diese seien<br />

„aus den etatsmäßigen Fonds <strong>des</strong> betreffenden Gymnasii, oder, falls diese<br />

hierzu nicht ausreichen, mittelst eines von sämmtlichen Schülern <strong>des</strong> Gymnasii<br />

aufzubringenden und von dem Königl. Consistorio näher zu bestimmenden<br />

außerordentlichen Beitrags zu bestreiten“. 9 Es sei davon auszugehen,<br />

dass, sofern die wissenschaftliche Abhandlung „keine zu große Ausdehnung“<br />

erfahre, „ein solches Schulprogramm ganz füglich auf zwei oder drei Bogen in<br />

Quartform beschränkt [werden könne], und somit die jährliche Ausgabe <strong>für</strong><br />

den Druck <strong>des</strong>selben nicht so bedeutend werden [würde], daß dieselbe irgend<br />

einem Gymnasio zu schwer fallen sollte“. 10 In jedem Falle habe „das Königl.<br />

Consistorium bei Entwerfung neuer Etats <strong>für</strong> die Gymnasien seines Bezirks<br />

darauf zu achten, daß bei einem jeden Gymnasio zur Bestreitung der Druckkosten<br />

der Schulprogramme eine angemessene Summe möglichst ausgeworfen<br />

werde“. 11<br />

Bezüglich der Verteilung der Schulprogramme wurde bestimmt, dass Exemplare<br />

„vorschriftsmäßig an die Königl. <strong>Bibliothek</strong>en in Berlin, Breslau, Bonn,<br />

Halle, Königsberg und Greifswald jährlich einzusenden [seien]“, und darüber<br />

8 Ebd., S. 314 f.<br />

9 Ebd., S. 315 f.<br />

10 Ebd., S. 316.<br />

11 Ebd.


Schulprogramme – Geschichte und Bedeutung 169<br />

hinaus „das Königl. Consistorium am Schlusse ei nes jeden Jahres von den, im<br />

Laufe <strong>des</strong>selben ausgegebenen Programmen der Gymnasien seines Bezirks<br />

zehn gebundene und mit einem Umschlage verse hene Exemplare dem Ministerio<br />

einzureichen [habe].“ 12<br />

2. Die Anfänge der Schulprogramme und die Bedeutung<br />

<strong>des</strong> Circular-Rescripts 1824<br />

Der Ursprung der „Schulprogramme“ liegt zeitlich weit vor der Veröffentlichung<br />

<strong>des</strong> Circular-Rescripts. „Programma“, so wird man von Zedlers Universal-Lexicon<br />

belehrt, „bedeutet in denen alten Römischen Rechten überhaupt<br />

einen jedweden öffentlichen Anschlag“. 13 Im pädagogischen Kontext waren<br />

es vor allem „öffentliche Einladungsschriften, womit die Schuldirectoren das<br />

Publicum zu dem Schulexamen einzuladen pfl egen, und wie auch auf den Universitäten<br />

bey verschiedenen Veranlassungen ausgegeben werden“. 14<br />

Tatsächlich belegen die seit dem 16. Jahrhundert erhaltenen gedruckten Schul-<br />

Programmata, dass zunächst ihre vordringliche Funktion darin bestand, auf ein<br />

Ereignis an einer – in der Regel höheren – Schule aufmerksam zu machen. Da<br />

Latein bis weit in das 18. Jahrhundert hinein die Lingua franca der Gelehrten<br />

war 15 und Latein das wichtigste Unterrichtsfach höherer Schulen bildete, war<br />

die Wahl eines lateinischen Begriffs <strong>für</strong> die Schriftengattung selbstverständlich.<br />

Ein typisches, in vielen Variationen vorfi ndbares Beispiel ist der Titel eines<br />

Schulprogramms aus dem Jahr 1681: Programma, quo magnifi cos, nobilissimos<br />

… dominos patronos, fautores et amicos ad solemnia receptarum in Gymnasio<br />

Elbingensi legum encaenia, die 2 Octobr. anni 1681 … publice celebranda …<br />

Musarum nomine invitat M. Jacobus Boerger.<br />

Eingeladen wurde zum einen anlässlich einmaliger Ereignisse, wie etwa im<br />

oben genannten Beispiel zur Einführung einer neuen Schulordnung oder zur<br />

12 Ebd.<br />

13 Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und<br />

Künste. Bd. 29, Halle [u. a.]: 1741, Sp. 779.<br />

14 Krünitz, Johann Georg: Oekonomische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats-<br />

Stadt- Haus- und Landwirthschaft, in alphabetischer Ordnung. Bd. 117. Berlin: 1811, S. 717.<br />

15 1748 publizierte Johann Christoph Gottsched, der wohl einfl ussreichste Grammatiker <strong>des</strong><br />

Jahrhunderts, in Leipzig sein Hauptwerk Grundlegung einer Deutschen Sprachkunst, nach den<br />

Mustern der besten deutschen Schriftsteller <strong>des</strong> vorigen und jetzigen Jahrhunderts abgefasset.<br />

Damit war das Ziel einer Aufwertung der deutschen Sprache verbunden, denn „wie viele, auch so<br />

gar unter den Gelehrten, die oft im Latein und Griechischen sehr scharfe Beobachter der Regeln<br />

sind, reden nicht ihre Muttersprache so schlecht, als ob sie Ausländer wären; und begehen Fehler,<br />

die sie sich im Lateine nimmermehr vergeben würden.“ (S. 25, zitiert nach Weithase, Irmgard: Zur<br />

Geschichte der gesprochenen deutschen Sprache. Bd. 2. Tübingen: 1961, S. 94, Anm. 131).


170 Dietmar Haubfl eisch / Christian Ritzi<br />

Feier eines Schuljubiläums. Zum anderen dienten Schulprogramme als Einladungsschriften<br />

zu regelmäßig stattfi ndenden öffentlichen Veranstaltungen wie<br />

etwa Geburtstagen von Stiftern der Schule oder Lan<strong>des</strong>herren, hohen kirchlichen<br />

Festtagen – vor allem jedoch zu den öffentlichen Examina. So heißt es<br />

etwa in der Erneuerten Oelsznischen Schulordnung <strong>des</strong> Jahres 1688: „Der jährlichen<br />

öffentlichen Examinum wegen sol Er [der Rektor der Schule] sich alßbald<br />

nach Ostern und Michael bey denen Inspectoribus erkundigen und nebst Ihnen<br />

auch andere Gelehrte und Ehrbare Bürger hierzu ordentlich einladen.“ 16<br />

In welcher Form zu einer Schulveranstaltung eingeladen wurde, war in<strong>des</strong>sen<br />

nicht festgelegt. In der einfachsten Form hat man sich die Programma<br />

handschriftlich an der Kirchentür angebracht vorzustellen, die lange Zeit die<br />

Funktion eines schwarzen Brettes erfüllte. Angesehene Schulen und solche, die<br />

wirtschaftlich dazu in der Lage waren, gaben sie allerdings im Druck heraus<br />

und ergänzten die eigentliche Einladung vielfach um Texte, die in unmittelbarem<br />

Zusammenhang mit der Schule oder der Veranstaltung standen und die mit<br />

dem Interesse einer breiteren Öffentlichkeit rechnen konnten.<br />

Im 17. Jahrhundert wurden etwa zahlreiche zur Aufführung gebrachte Schuldramen<br />

ganz oder in Ausschnitten abgedruckt, während später von Rektoren<br />

oder anderen Mitgliedern <strong>des</strong> Lehrerkollegiums gehaltene Reden dominierten.<br />

Damit war das Anliegen verbunden, die „Leistungsfähigkeit“ der Schule<br />

unter Beweis zu stellen und im Schulprogramm zu dokumentieren. In dieser<br />

Form erfüllten sie die Funktion, im Sinne von Öffentlichkeitsarbeit zu informieren<br />

und vor allem durch die das eigentliche Programm ergänzenden Texte<br />

die Reputation insbesondere <strong>des</strong> Rektors darzulegen. Gymnasien wurden im<br />

Hinblick auf ihre Leistungsfähigkeit bis zu den grundlegenden Reformen im<br />

Kontext von Philanthropismus und Neuhumanismus weniger an im heutigen<br />

Verständnis pädagogischen Maßstäben gemessen, sondern vor allem über das<br />

Ansehen der Rektoren in der Gelehrtenwelt defi niert. 17<br />

Adressaten der Schulprogramme waren zunächst das schulische Umfeld, vor<br />

allem die lokalen Träger, die Erziehungsberechtigten der aktuellen Schülerschaft<br />

sowie Gönner und Freunde, nicht dagegen Staat bzw. Lan<strong>des</strong>herr, die<br />

von den wenigen Fürstenschulen abgesehen bis zum Ende <strong>des</strong> 18. Jahrhunderts<br />

gegenüber dem Schulwesen keine Verantwortung übernahmen. Eine weitere<br />

Zielgruppe bildete allerdings der Berufsstand der Gymnasiallehrer, denn Schulprogramme<br />

wurden zwischen Schulen ausgetauscht. Zwar waren die Inhalte<br />

der Schulprogramme disziplinär weit gestreut – namentlich Theologie, Philo-<br />

16 Erneuerte Oelsznische Schulordnung. Oelß 1688, S. [27f.].<br />

17 Vgl. u. a.: Neugebauer, Wolfgang: Das Bildungswesen in Preußen seit der Mitte <strong>des</strong> 17. Jahrhunderts.<br />

In: Büsch, Otto (Hrsg.): Handbuch der preußischen Geschichte. Bd. 2: Das 19. Jahrhundert<br />

und Große Themen der Geschichte Preußens. Berlin [u. a.]: 1992, S. 605 –798, hier S. 633.


Schulprogramme – Geschichte und Bedeutung 171<br />

sophie, Philologie, Geschichte – und wurden <strong>des</strong>halb weit über den Kreis der<br />

Schulmänner rezipiert, aber es fi nden sich auch zahlreiche dezidiert pädagogische<br />

Abhandlungen darunter. Eine der ersten im engeren Sinne pädagogischen<br />

Fachzeitschriften, die ab 1741 erscheinenden Acta Scholastica, beruht überwiegend<br />

auf der Rezension und auszugsweisen Wiedergabe von Abhandlungen<br />

aus Schulprogrammen. Im Untertitel der Zeitschrift heißt es: „Worinnen nebst<br />

einem gründlichen Auszuge derer auserlesensten Programmatum der gegenwärtige<br />

Zustand derer berühmtesten Schulen und der dahin gehörigen Gelehrsamkeit<br />

entdecket wird“. 18 Schulprogramme bilden <strong>des</strong>halb eine frühe Vorstufe<br />

der Mitte <strong>des</strong> 18. Jahrhunderts einsetzenden pädagogischen Fachpresse, die mit<br />

den Acta Scholastica einen ersten Ort der Fachkommunikation erhielt. Damit<br />

wurde auch eine Vereinheitlichung der strukturellen Gliederung von Schulprogrammen<br />

erreicht, denn es entstanden bestimmte inhaltliche Erwartungen an<br />

die Schriftengattung, die dann 1824 in das preußische Circular-Rescript einfl<br />

ossen.<br />

Mit der Ausbildung <strong>des</strong> absolutistischen Wohlfahrts- und Verwaltungsstaates<br />

verringerte sich die Distanz zwischen Staat und Unterrichtswesen zunehmend,<br />

denn durch die staatlich geleitete Reform <strong>des</strong> Erziehungswesens wurden<br />

sowohl politische Loyalität als auch wirtschaftliches Wachstum erwartet. Das<br />

Studium an Universitäten wurde ausschließlich als Vorbereitung auf staatliche<br />

oder kirchliche Ämter verstanden und damit wurde von den Gelehrtenschulen<br />

die da<strong>für</strong> angemessene Vorbereitung erwartet. 19 In Preußen wurde im Zuge<br />

dieser Entwicklung eine Unterrichtsverwaltung geschaffen, die 1817 zur Einrichtung<br />

eines selbständigen Kultusministeriums führte. Im Gegensatz zu vielen<br />

weitergehenden Konzeptionen beschränkte sich die Fachaufsicht allerdings<br />

auf das höhere Schulwesen, während das niedere weiterhin in lokaler Zuständigkeit<br />

verblieb.<br />

Die Aufgabe der staatlichen Fachaufsicht erforderte eindeutige, vergleichbare<br />

und belastbare Informationen zum lan<strong>des</strong>eigenen höheren Schulwesen. Statt<br />

ein neues, da<strong>für</strong> geeignetes Informationsmedium einzuführen, wurde auf die<br />

Tradition der Schulprogramme zurückgegriffen.<br />

Da es <strong>für</strong> diese keine verbindliche Regelung zur Strukturierung gab, wiesen<br />

die Schulprogramme eine große Variationsbreite auf. Immerhin zwei Merkmale<br />

wurden Anfang <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts erwartet: „Sie enthalten außer den<br />

18 Acta Scholastica, worinnen nebst einem gründlichen Auszuge derer auserlesensten Programmatum<br />

der gegenwärtige Zustand derer berühmtesten Schulen und der dahin gehörigen Gelehrsamkeit<br />

entdecket wird. Nürnberg [u. a.]: Jg. 1 (1741) bis 8 (1748).<br />

19 Vgl. Herrlitz, Hans-Georg: Bildung und Berechtigung. Zur Sozialgeschichte <strong>des</strong> Gymnasiums<br />

(1997). In: Ders.: Auf dem Weg zur Historischen Bildungsforschung. Weinheim: 2001,<br />

S. 93–105, hier S. 96.


172 Dietmar Haubfl eisch / Christian Ritzi<br />

Nachrichten <strong>für</strong> das Publicum auch gelehrte Abhandlungen über diese oder<br />

jene […] Gegenstände.“ 20 Trotzdem wurde das Programmwesen zu Beginn<br />

<strong>des</strong> 19. Jahrhunderts als „Zerfahrenheit und Zersplitterung“ empfunden. 21 Mit<br />

dem eingangs ausführlich vorgestellten Circular-Rescript vom 23. August 1824<br />

wurde staatlicherseits erstmals der Versuch gemacht, das Programmwesen in<br />

Preußen zu vereinheitlichen und zu standardisieren. Das Kultusministerium<br />

verpfl ichtete jede höhere Schule in Preußen zur jährlichen Erstellung eines<br />

Schulprogramms und schrieb zugleich eine inhaltliche Struktur <strong>für</strong> die Berichterstattung<br />

vor. Damit wies es ihnen den neuen Charakter als amtliche Publikation,<br />

eine Amtsdruckschrift, zu.<br />

Verstärkt durch den kontinuierlichen Ausbau <strong>des</strong> höheren Schulwesens wurden<br />

Schulprogramme dadurch zu einer Massenerscheinung. Und neben ihren<br />

bisherigen Funktionen im Sinne von Öffentlichkeitsarbeit und Fachkommunikation<br />

erhielten sie eine dritte Aufgabe: Sie bildeten die wesentliche Grundlage<br />

<strong>für</strong> die ministerielle Fachaufsicht, auf deren Basis administrative Entscheidungen<br />

vorgenommen werden konnten. In der Folge wuchs auch der Anteil dezidiert<br />

pädagogischer Inhalte, vor allem im statistischen Berichtsteil.<br />

Diese Entwicklung übertrug sich bald auf die meisten übrigen Staaten <strong>des</strong><br />

späteren Deutschen Reiches sowie auf Österreich (seit 1851), die in den Details<br />

sehr indivi duelle Züge tragende, grundsätzlich den preußischen jedoch ähnliche<br />

staatliche Vorschriften verfassten. 22 Damit kann das Circular-Rescript<br />

vom 23. August 1824, wie der Gymnasiallehrer Richard Ullrich in seinem Standardwerk<br />

zu den Schulprogrammen im 19. Jahrhundert schrieb, gewissermaßen<br />

als der „Geburtstag <strong>des</strong> Programmes neuen Stils“ gelten. 23<br />

20 Krünitz: Oekonomische Encyklopädie (wie Anm. 14), hier S. 717.<br />

21 Ullrich, Richard: Programmwesen und Programmbibliothek der höheren Schulen in Deutschland,<br />

Österreich und der Schweiz. Übersicht der Entwicklung im 19. Jahrhundert und Versuch<br />

einer Darstellung der Aufgaben <strong>für</strong> die Zukunft. Mit Programmbibliographie und einem Verzeichnis<br />

ausgewählter Programme von 1824 –1906 (1907). Berlin: 1908, hier S. 132. – Digitalisat: http://<br />

geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2006/3097/. – Die Arbeit erschien, ohne Einleitung und Register,<br />

zuerst als: Ullrich, Richard: Programmwesen und Programmbibliothek der höheren Schulen. Mit<br />

Programmwesen und Programmbibliothek der höheren Schulen. Mit Programmbibliographie<br />

1824 –1906. In: Zeitschrift <strong>für</strong> das Gymnasialwesen. Jg. 61 (1907), S. 81–288 und Supplementband<br />

[424 S.].<br />

22 Überblick über die wichtigsten amtlichen Verfügungen über das Programmwesen im Deutschen<br />

Reich von 1824 bis 1906: Ullrich: Programmwesen (wie Anm. 21), S. 95 –109. – Überblick<br />

über die Geschichte der Programmschriften von 1824 bis 1906: Ebd., bes. S. 129 –261.<br />

23 Ebd., S. 132.


Schulprogramme – Geschichte und Bedeutung 173<br />

3. Die Entwicklung der preußischen Schulprogramme<br />

zwischen 1824 und 1915 und die Bedeutung der<br />

wissenschaftlichen Abhandlungen<br />

Bis zum Ersten Weltkrieg wurden die Regelungen in Preußen mehrfach modifi<br />

ziert, in der Berichtsstruktur jedoch nur geringfügige Veränderungen vorgenommen.<br />

24 So wurden z. B. mit Erlass vom 16.07.1841 die Schulen darauf<br />

hingewiesen, dass es, um „die vielfachen Verschiedenheiten und zum Teil<br />

auffallenden Mängel, welche seither in Hinsicht der Titelblätter der von den<br />

Gymnasien jährlich ausgehenden Programme bemerkt worden sind, <strong>für</strong> die<br />

Zukunft zu beseitigen und die Katalogisierung dieser Zeitschriften zu erleichtern“,<br />

erforderlich sei, „daß auf dem Titel dieser Schulschriften a) der Name<br />

der betreffenden Anstalt, b) der Sitz derselben, c) das Schuljahr, d) die Veranlassung,<br />

e) der Inhalt und endlich f) die Vornamen und der Zuname <strong>des</strong> Verfassers<br />

der den Schulnachrichten voran gehenden wissenschaftlichen Abhandlung<br />

bestimmt und vollständig angegeben wird“. 25<br />

Und mit Erlass vom 21.04.1886 wurden die Königlichen Provinzial-Schulkollegien<br />

aufgefordert da<strong>für</strong> Sorge zu tragen, „daß der Verfasser der den Schulnachrichten<br />

beige gebenen wissenschaftlichen Abhandlung nur mit seinem<br />

Familiennamen bezeichnet ist, ohne daß der Vorname (bezw. die Vornamen)<br />

hinzugefügt oder durch die Anfangsbuchstaben kenntlich gemacht wird“;<br />

Anlass hier<strong>für</strong> war offensichtlich der Hinweis „einer <strong>Bibliothek</strong>sverwaltung<br />

[…], daß diese Unvollständigkeit der Bezeichnung zu einer Unsicherheit bei<br />

der Katalogisierung der betreffenden Abhandlung führt, welche zu vermeiden<br />

im Interesse der Verfasser selbst liegt“. 26<br />

24 Die preußischen Erlasse wurden zumeist veröffentlicht in: Zentralblatt <strong>für</strong> die gesamte<br />

Unterrichtsverwaltung in Preußen. Hrsg. vom Ministerium <strong>für</strong> Wissenschaft, Kunst und Volksbildung.<br />

Berlin. Jg. 1 (1859) bis Jg. 76 (1934). – Digitalisat: http://www.bbf.dipf.de/cgi-opac/catalog.pl?t_digishow=x&zid=2a1811<br />

– Dann: Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung.<br />

Amtsblatt <strong>des</strong> Reichsministeriums <strong>für</strong> Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und der Unterrichtsverwaltung<br />

der Länder. Berlin, Jg. 1 (1935) bis Jg. 11 (1945) – Digitalisat: http://www.bbf.<br />

dipf.de/cgi-opac/catalog.pl?t_digishow=x&zid=2a2547.<br />

Auszüge einiger die Schulprogramme bis 1909 betreffenden Erlasse fi nden sich (u. a.) auch in:<br />

Beier, Adolf (Hrsg.): Die höheren Schulen in Preußen (<strong>für</strong> die männliche Jugend) und ihre Lehrer.<br />

Sammlung der hierauf bezüglichen Gesetze, Verordnungen, Verfügungen und Erlasse nach amtlichen<br />

Quellen. 3., gänzlich durchgearbeitete und vermehrte Aufl . Halle: 1909, S. 454 – 463.<br />

Nach einer Reihe von Einzeländerungen wurde die im Circular-Rescript vom 23.08.1824 festgelegte<br />

Gesamtstruktur <strong>des</strong> Aufbaus der Jahresberichte mit Erlass vom 07.01.1885 modifi ziert; dieser<br />

im Zentralblatt, Jg. 27 (1885), S. 200 – 204, veröffentlichte Erlass wurde mit „[im Zentralblatt]<br />

nicht zu veröffentlichenden Bemerkungen“ erweitert abgedruckt in: Beier: Schulen (wie Anm. 24),<br />

S. 456 – 461.<br />

25 Erlass vom 16.07.1841, zitiert nach: Beier: Schulen (wie Anm. 24), S. 455 f.<br />

26 Ebd., S. 456.


174 Dietmar Haubfl eisch / Christian Ritzi<br />

Zur Vielfalt der regulierten Themen gehörte auch die technische Qualität<br />

der Schulprogramme. Das Großherzogtum Hessen hatte in einem Erlass vom<br />

02.03.1876 zur Kostenreduktion die „Verwendung eines minder kostspieligen<br />

Papiers“ empfohlen. 27 Dagegen wurden mit Erlass <strong>des</strong> preußischen Kultusministeriums<br />

vom 23.01.1888, vor dem Hintergrund, das Dissertationen „auf so<br />

geringwertigem Papier gedruckt waren, daß die Erhaltung derselben kaum <strong>für</strong><br />

einige Jahrzehnte gesichert erschien“, die preußischen Hochschulen aufgefordert,<br />

„dieser Angelegenheit besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden und die<br />

Fakultäten zu veranlassen, auch ihrerseits unnachsichtlich darauf zu halten, daß<br />

zum Drucke von Dissertationen kein anderes als fehlerfreies und dauerhaftes<br />

Papier verwendet wird.“ 28 Mit Erlass vom 03.03.1888 wurde entschieden, dass<br />

diese Festlegung auch auf die Schulprogramme anzuwenden sei. 29<br />

Während diese und andere vergleichsweise marginalen Probleme schnell<br />

zu regeln waren, blieben zwei Themen über einen verhältnismäßig langen<br />

Zeitraum umstritten: die Diskussion um die Relevanz der wissenschaftlichen<br />

Abhandlungen und die Frage <strong>des</strong> Umfangs <strong>des</strong> Programmtausches. Eine weitere<br />

Veränderung erfolgte eher beiläufi g, obgleich sie eine Zäsur in der Geschichte<br />

der Schulprogramme darstellte: der Verzicht auf Einladungen zu öffentlichen<br />

Prüfungen.<br />

3.1 Zur Relevanz der wissenschaftlichen Abhandlungen<br />

War es bis 1824 im Wesentlichen eine Entscheidung eines Rektors, ob er sich<br />

mit einer dem Schulprogramm beigefügten wissenschaftlichen Abhandlung<br />

am gelehrten Diskurs beteiligte, so sollten nun alle Lehrer der anerkannten<br />

höheren Schulen einen Status in der Gelehrtenwelt anstreben und damit eine<br />

gesellschaftlich führende Position einnehmen. Mit dem ausgehenden 18. Jahr-<br />

27 Nodnagel, Ludwig: Das höhere Schulwesen im Großherzogtum Hessen. Gesetze, Verordnungen<br />

und Verfügungen. Gießen: 1903, S. 279.<br />

28 Erlass vom 23.01.1888, veröffentlicht in: Zentralblatt, Jg. 30 (1888), S. 171.<br />

29 Erlass vom 03.03.1888, veröffentlicht in: Zentralblatt, Jg. 30 (1888), S. 389f.: „Im Hinblicke<br />

darauf, dass hie und da zu den Programmen der höheren Lehranstalten noch Papier verwendet<br />

wird, welches, dem Lichte und der Luft ausgesetzt, leicht verdirbt, theile ich die anliegende, an die<br />

Kuratorien der Universitäten etc. gerichtete Verfügung vom 23. Januar d.J. […] dem Königlichen<br />

Provinzial-Schulkollegium zur Kenntnisnahme unter dem Auftrage mit, bei der Durchsicht der<br />

alljährlich erscheinenden Programme auch diesen Punkt genau zu beachten.“ – Vgl. Beier: Schulen<br />

(wie Anm. 24), S. 456, Anm. 1. – Vgl. Schubring, Gerd: Bibliographie der Schulprogramme in<br />

Mathematik und Naturwissenschaften (wissenschaftliche Abhandlungen) 1800–1875. Bad Salzdetfurth:<br />

1986, S. XIX: „Während in der ersten Hälfte <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts zumeist qualitativ hochwertiges<br />

Papier zum Druck der Programme benutzt wurde, so ist es ab der zweiten Hälfte [trotz<br />

<strong>des</strong> Erlasses vom 03.03.1888] zunehmend (billiges) holzschliffhaltiges Papier, das im Zeitlauf den<br />

Lignil-Zusatz (Harz) freisetzt und brüchig wird.“


Schulprogramme – Geschichte und Bedeutung 175<br />

hundert setzte jedoch bereits eine Differen zierung ein, die zunächst neben dem<br />

traditionellen Gelehrten, der als Poly histor gerade kein Spezialist auf einem<br />

Einzelgebiet war, den Fachwissen schaftler im heutigen Sinn entstehen ließ. So<br />

defi nierte Johann Christoph Adelung in seinem Grammatisch-kritischen Wörterbuch<br />

die Gelehrsamkeit als Gedächtniswissen, dem Wissenschaft als Verstan<strong>des</strong>wissen<br />

gegenüber stehe. 30 Mit dieser Unterscheidung war in der Folge<br />

auch eine Abstufung der Wertigkeit beider Formen der Wissensgene rierung<br />

verbunden, die zulasten der traditionellen Gelehrsamkeit ging. In der Allgemeinen<br />

Encyclopädie der Wissenschaften und Künste wird Gelehrsam keit als<br />

„Besitz solcher Kenntnisse [umschrieben], welche nur aus der Belehrung durch<br />

Andere geschöpft werden können, also das historische oder traditionelle Wissen<br />

und Erkennen, das ‚Wissen <strong>des</strong>sen, was Andere gewusst haben‘“. 31<br />

Der neue Typus <strong>des</strong> Wissenschaftlers setzt sich vom traditionellen Ge lehrten<br />

dadurch ab, dass er vorgefundenes Wissen nicht ungeprüft übernimmt, sondern<br />

kritische Maßstäbe ansetzt. 32 Mit der Aufklärung wurde die orthodoxe<br />

und machtgestützte Einheit der Ideen von Wahrheit und Gerechtigkeit aufgebrochen.<br />

Durch die Entwicklung der nationalstaatlichen, industriellen und<br />

säkularisierten Gesellschaften plurali sierten sich die Weltbilder und standen<br />

„heterodox im Kampf um Wissen und Wert“. 33 Die Durchsetzungsfähigkeit<br />

der Weltbilder war nun an die Erkenntnis neuer Wis sensbestände gebunden.<br />

Damit erlangte der Wissenschaftler einen zunehmen den Bedeutungsgewinn<br />

gegenüber dem Gelehrten im traditionellen Ver ständnis. „Der Gelehrte in der<br />

allgemeinen Bedeutung wurde durch den Wis senschaftler und Naturforscher<br />

[…] abge löst.“ 34<br />

Zentren der traditionellen Gelehrsamkeit waren bis Mitte <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts<br />

Universitäten und höhere Schulen gleichermaßen, 35<br />

wissenschaftliche<br />

Forschung konzentrierte sich dagegen auf die Universitäten. Damit verbunden<br />

war ein allmählicher Ausschluss der Lehrer höherer Schulen aus der neuen<br />

30 Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen<br />

Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen.<br />

Th. 2: F–L. Wien: 1811, Sp. 530.<br />

31 Ersch, Johann Samuel; Gruber, Johann Gottfried (Hrsg.): Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften<br />

und Künste. Th. 56. Leipzig: 1853, S. 413.<br />

32 Vgl. Stichweh, Rudolf: Wissenschaft, Universität, Professionen. Frankfurt am Main: 1994,<br />

S. 57 f.<br />

33 Hübinger, Gangolf: Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte.<br />

Göttingen: 2006, S. 11.<br />

34 Häseler, Jens: Gelehrter. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 4. Stuttgart: 2006, Sp. 395 – 397,<br />

hier Sp. 396.<br />

35 Vgl. Jeismann, Karl-Ernst: Zur Professionalisierung der Gymnasiallehrer im 19. Jahrhundert.<br />

In: Apel, Hans Jürgen (Hrsg.): Professionalisierung pädagogischer Berufe im historischen Prozeß.<br />

Bad Heilbrunn: 1999, S. 59 –79, hier S. 72.


176 Dietmar Haubfl eisch / Christian Ritzi<br />

Gelehrtenschicht, der jedoch in Schulen mit einer langen Gelehrtentradition<br />

erst mit großer Verzögerung akzeptiert oder besser: resigniert hingenommen<br />

wurde.<br />

Mit dem Konzentrationsprozess der Wissenschaften auf die Universitäten<br />

war zugleich eine zunehmende Aus- und Binnendifferenzierung der Wissenschaftsdisziplinen<br />

und damit einhergehend ein stetiges Wachstum immer spezialisierterer<br />

Publi kationen verbunden. Auch <strong>des</strong>halb fi el es der Mehrzahl von<br />

Lehrern höherer Schulen in der zweiten Hälfte <strong>des</strong> 19. Jahr hunderts zunehmend<br />

schwerer, den wissenschaftlichen Diskurs durch for schungsbasierte<br />

Leistungen zu bereichern. Vor allem jedoch konnten Lehrer schon aufgrund<br />

wachsender Unterrichtsbelastungen eigene Forschungs leistungen, wenn überhaupt,<br />

nur noch ausnahmsweise beitragen. Dies führte dazu, dass auch von<br />

administrativer Seite die, neben der im Zentrum stehen den Unterrichtstätigkeit,<br />

nur noch beiläufi g erwartete Wissensproduktion auf die „Schulwissenschaften“<br />

beschränkt sehen wollte.<br />

Gründe <strong>für</strong> diese „Metamorphose“ 36 <strong>des</strong> Gymnasiums werden von Friedrich<br />

Paulsen in einem 1901 erschienenen Beitrag aus führlich benannt. 37 Er<br />

konstatiert ein mit die ser Entwicklung verbundenes Sinken <strong>des</strong> Ansehens <strong>des</strong><br />

Gymnasiallehrer stan<strong>des</strong>. Gewonnen wurden die Gymnasiallehrer <strong>für</strong> diesen<br />

Wandel letztlich durch eine Statusverbesserung. Damit wurde auch die Notwendig<br />

keit <strong>des</strong> Nachweises einer wissenschaftlichen Qualifi kation wie etwa<br />

einer Promotion fraglich. Tatsächlich zeigt die Entwicklung im 20. Jahrhundert,<br />

dass immer weniger Lehrer an höheren Schulen promo viert wurden. 38<br />

Schon Friedrich Paulsen hatte diesen Wandel als unum kehrbar bezeichnet,<br />

denn die Schule sei keine Universität. 39 Gleichwohl plädierte er da<strong>für</strong>, dass<br />

einzelnen, besonders befä higten Lehrern wissenschaftliche Arbeit ermöglicht<br />

werden sollte. „Sind sie alle nur Lehrer, so sinkt das Niveau der Selbsteinschätzung<br />

und das Ansehen in der Gesellschaft.“ 40 Die Aufrechterhaltung<br />

zumin <strong>des</strong>t eines Restbestan<strong>des</strong> der ehemaligen Gelehrtengemeinschaft von<br />

Lehrern der früheren Gelehrtenschulen und den Professoren der Universitäten<br />

wird jedoch bemerkenswerter Weise nicht mit einer zu erwartenden<br />

36 Jeismann, Karl-Ernst: Das Preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft. Bd. 1: Die Entstehung<br />

<strong>des</strong> Gymnasiums als Schule <strong>des</strong> Staates und der Gebildeten 1787–1817. 2. Aufl . Stuttgart:<br />

1996, S. 14.<br />

37 Vgl. Paulsen, Friedrich: Der höhere Lehrerstand und seine Stellung in der gelehrten Welt. In:<br />

Preußische Jahrbücher. Berlin. Bd. 106 (1901), S. 476 – 490; wieder in: Ders.: Gesammelte Pädagogische<br />

Abhandlungen. Hrsg. von Eduard Spranger. Stuttgart: 1912, S. 281 – 296, hier S. 286 ff.<br />

38 Vgl. Titze, Hartmut: Zur Professionalisierung <strong>des</strong> höheren Lehramts in der modernen Gesellschaft.<br />

In: Apel, Hans Jürgen (Hrsg.): Professionalisierung pädagogischer Berufe im historischen<br />

Prozeß. Bad Heilbrunn: 1999, S. 80 –110, hier S. 87.<br />

39 Vgl. Paulsen: Der höhere Lehrerstand (wie Anm. 37), S. 291.<br />

40 Ebd., S. 292.


Schulprogramme – Geschichte und Bedeutung 177<br />

Bereicherung <strong>des</strong> Wissensbestan<strong>des</strong> begründet, sondern auf das gesellschaftliche<br />

Prestige bezogen.<br />

Im Kontext dieses Ausdifferenzierungsprozesses entbrannte um die wissenschaftlichen<br />

Abhandlungen eine Diskussion, in der es, wie Ullrich schrieb, „kaum<br />

einen Ton [gegeben habe], der in dem langen, nur selten durch Pausen unterbrochenen<br />

Konzert nicht angeschla gen worden wäre“. 41 Schon 1881 hatte Bernhard<br />

Schwalbe bildhaft formuliert, dass „die einen den Programmen großes Lob<br />

spendeten, sie als Plänkler der Wissenschaft, als Schmuck, als Wahrzeichen <strong>für</strong><br />

den wissenschaftlichen Charakter der Anstalten bezeichnen“, während „andere<br />

sie nur als gelehrte Makulatur, als gelehrte Notdurften gelten [lassen].“ 42<br />

Bereits 1848 hatte ein Provinzialschulkollegium den Antrag gestellt, die<br />

Abhandlungen wegfallen zu lassen. Am 29.06.1848 lehnte das preußische Kultusministerium<br />

diesen mit Rücksicht auf „den nachteiligen Einfl uß auf den<br />

wissenschaft lichen Sinn der Gymnasiallehrer“ 43 ab. Knapp zwanzig Jahre später<br />

jedoch ging es auf die Kritiker ein. In einem Erlass vom 15.05.1866 gab das<br />

preußische Kultusministerium die Absicht bekannt, prüfen zu wollen, welche<br />

Maßnahmen man treffen könne, damit „der wesentliche Nutzen der Sache<br />

bleibt und die jetzigen Übelstände wenigstens vermindert werden“. 44 Der Vorschlag<br />

lautete, die Jahresberichte wie bisher zu erstellen, die Abhandlungen<br />

jedoch nur noch in größeren Mehrjahresabständen.<br />

Nachdem das Ministerium diesen Vorschlag bereits ein Jahr zuvor auf der<br />

Direktorenkonferenz der preußischen Gymnasien in Königsberg geäußert<br />

hatte, dort jedoch auf Bedenken gestoßen war, 45 wies es nun mit dem Erlass<br />

das Königliche Provinzialschulkollegium an, sich bis Jahresende „gutachterlich<br />

über die Angelegenheit auszusprechen“, wobei es ihm anheim gestellt<br />

wurde, „vorher die Äußerung einzelner Directoren oder Lehrercollegien zu<br />

erfordern“. 46<br />

41 Ullrich: Programmwesen (wie Anm. 21), S. 81. – S. auch: Schubring: Bibliographie (wie Anm.<br />

29), S. VIII f.<br />

42 Bernhard Schwalbe: Die Programmfrage. In: Centralorgan <strong>für</strong> die Interessen <strong>des</strong> Realschulwesens.<br />

Berlin. Jg. 2/3 (1881), S. 117–144, hier S. 119. – Schwalbe selbst suchte in seinem Beitrag<br />

zu zeigen, „daß in der That die ganze Einrichtung von hohem Werte ist und unseren Schulen ein<br />

nicht unbedeutender Nachteil durch Beseitigung oder Einschränkung derselben zugefügt werden<br />

würde“ (S. 119).<br />

43 Der Erlass vom 29.06.1848 wurde nicht veröffentlicht; der Hinweis und die zitierte Passage<br />

fi nden sich bei: Ullrich: Programmwesen (wie Anm. 21), S. 144.<br />

44 Erlass vom 15.05.1866, veröffentlicht in: Zentralblatt, Jg. 8 (1866), S. 340 f.<br />

45 S. zur Behandlung <strong>des</strong> Themas Schulprogramme auf der IV. Direktorenkonferenz von Preußen,<br />

die vom 7. bis 9. Juni 1865 in Königsberg stattfand: Killmann, Max (Hrsg.): Die Direktoren-<br />

Versammlungen <strong>des</strong> Königreichs Preußen von 1860 bis 1889. Die Meinungsäußerungen, Wünsche,<br />

Anträge und Beschlüsse der Mehrheiten nebst einzelnen Berichten und Verhandlungen in Auszügen<br />

oder wörtlicher Wiedergabe. Berlin: 1890.<br />

46 Erlass vom 15.05.1866, veröffentlicht in: Zentralblatt, Jg. 8 (1866), S. 340 f.


Abb. 1: Titelseite <strong>des</strong> Jahresberichts <strong>des</strong> Königlichen Gymnasiums zu Düsseldorf <strong>für</strong><br />

das Schuljahr 1887– 88 und der beigegebenen wissenschaftlichen Abhandlung von<br />

August Uppenkamp („Zwei Wortfamilien“).


Abb. 2: Titelseite und Inhaltsverzeichnis der dem Jahresbericht <strong>des</strong> Königlichen Gymnasiums<br />

zu Düsseldorf <strong>für</strong> das Schuljahr 1905 –1906 beigegebenen wissenschaftl ichen<br />

Abhandlung „Studien zur niederrheinischen Geschichte. Festschrift zur Feier <strong>des</strong><br />

Einzugs in das neue Schulgebäude <strong>des</strong> Königlichen Gymnasiums (30. Juni 1906)“.


180 Dietmar Haubfl eisch / Christian Ritzi<br />

In Konsequenz dieser lang anhaltenden Diskussion entfi el schließlich 1875<br />

in Preu ßen die Verpfl ichtung zur Publikation einer jährlichen Programmabhandlung,<br />

mit der sich vor allem die Schulleiter bislang am wissenschaftlichen<br />

Diskurs zumin<strong>des</strong>t jener Disziplinen <strong>des</strong> Unterrichtskanons beteiligten. 47<br />

3.2 Massenprobleme<br />

In dem schon erwähnten Erlass vom 15.05.1866 machte das preußische Kultusministerium<br />

darauf aufmerksam, dass sich seit 1824 auch ein Programmaustausch<br />

zwischen den preußischen und den anderen deutschen Gymnasien<br />

entwickelt habe. Dies sei „unverkennbar nach verschiedenen Seiten hin von<br />

Nutzen gewesen“. Zugleich aber hätten sich „im Laufe der Jahre nicht unbedeutende<br />

Übelstände dabei fühlbar gemacht“, die „<strong>für</strong> die Verwaltung hauptsächlich<br />

in dem Umfang [lagen], zu welchem der Programmaustausch sich allmählich<br />

ausgedehnt [habe].“ Die „durch das Vertheilungsgeschäft entstehende<br />

Mühwaltung“ sei „unverhältnismäßig groß und sehr beschwerlich geworden“.<br />

An den Schulen selbst werde „durch die von Jahr zu Jahr sich anhäufende Zahl<br />

der Programme ihre Benutzung mehr und mehr er schwert“. Auch gäbe es<br />

übereinstimmende Äußerungen aus Preußen und anderen Ländern, „daß die<br />

Masse derselben den <strong>Bibliothek</strong>en zur Last zu werden anfängt“. 48<br />

Ein typisches Beispiel <strong>für</strong> alle preußischen Schulen sind die Zahlen, die das<br />

Thorner Gymnasium über die je aktuell an die vorgesetzten Behörden abzuliefernden<br />

Exemplare angibt: 1826 waren 142 Exemplare, 1842 bereits 218 Exemplare<br />

und 1874 schließlich 365 Exemplare abzuliefern. 49<br />

Im Oktober 1872 beschäftigte sich die Dresdener Schulkonferenz mit dem<br />

Thema. Man bemerkte dort, „daß eine Abänderung der bestehenden Einrichtung<br />

hauptsächlich wegen der Uebelstände rathsam erscheine, welche einerseits<br />

die Massenanhäufung solcher Schulschriften in den <strong>Bibliothek</strong>en, anderer seits<br />

bei dem gegenwärtigen Umfange <strong>des</strong> Programmaustausches die Schwie rigkeit<br />

<strong>des</strong> Vertheilungsgeschäfts <strong>für</strong> die Schulverwaltung mit sich führt“. 50 Auch<br />

wurde „geltend gemacht, daß mehrere Gründe, welche in früherer Zeit einen<br />

Austausch der Programme wünschenswerth machten, nicht mehr in gleicher<br />

Stärke fortdauern, da inzwischen unter den höheren Lehranstalten thatsächlich<br />

47 Vgl. Erlass vom 26.04.1875, veröffentlicht in: Zentralblatt, Jg. 11 (1875), S. 635 – 638, hier<br />

S. 637.<br />

48 Erlass vom 15.05.1866, veröffentlicht in: Zentralblatt, Jg. 8 (1866), S. 340 f.<br />

49 Schulprogramme <strong>des</strong> Gymnasiums zu Thorn 1826. Thorn: 1826, S. 5; 1841/42. Thorn: 1842,<br />

S. 11; 1874. Thorn: 1874, S. 28.<br />

50 Erlass vom 26.04.1875, veröffentlicht in: Zentralblatt, Jg. 11 (1875), S. 635 – 638, hier S. 636.


Schulprogramme – Geschichte und Bedeutung 181<br />

eine größere Annäherung stattgefunden hat und die Möglich keit, voneinander<br />

mittelbar oder unmittelbar Kenntnis zu nehmen, sehr er leichtert worden ist.“ 51<br />

Am Ende einer langen Diskussion formulierte man drei Vorschläge:<br />

„a) Die Nothwendigkeit regelmäßiger Veröffentlichung bleibt nur <strong>für</strong> den einen Theil<br />

der Programme, die Schulnachrichten, bestehen, während in Betreff der Beigabe einer<br />

wissenschaftlichen Abhandlung ferner kein Zwang [mehr] stattfi ndet.<br />

b) Da dem Interesse der Lehrer an den Einrichtungen und Verhältnissen der einzelnen<br />

Schulen größtentheils durch pädagogische Zeitschriften, statistische Mittheilungen u.<br />

dgl. m. genügt wird, so kann sich die Verbreitung der gedruckten Schulnachrichten füglich<br />

auf den Kreis <strong>des</strong> betheiligten Publicums und der betreffenden Behörden beschränken.<br />

c) Zu weiterer Verbreitung gelangen in der Regel allein die mit einer wissenschaftlichen<br />

Abhandlung ausgestatteten Programme, und zwar nur soweit ihre Mittheilung begehrt<br />

wird. Die dabei erforderliche Vermittlung wird einer buchhändlerischen Centralstelle<br />

übergeben.“ 52<br />

Diese Anregungen mündeten schließlich in den grundlegenden Erlass vom<br />

26.04.1875, der angesichts der Tatsache, dass das „Programmwesen […] seitdem<br />

in seiner prinzipiellen Funktionsweise nicht mehr Gegenstand amtlicher<br />

Verfügungen“ 53 wurde, sicher nicht unpassend als „eine Art zweiter<br />

Gründungsurkunde“ 54 der Schulprogramme bezeichnet werden kann.<br />

In dem Erlass, mit dem die Verpfl ichtung, den jährlichen Schulprogrammen<br />

eine wissenschaftliche Abhandlung beizufügen, entfi el und der den bislang von<br />

den Schulen selbst organisierten, sehr aufwendigen Tauschverkehr neu zentralisierte<br />

sowie ein Zentralregister der wissenschaftlichen Abhandlungen initiierte,<br />

heißt es im Detail:<br />

„1. Jede der betheiligten deutschen Central-Unterrichtsverwaltungen sorgt da<strong>für</strong>, daß<br />

sie zu Anfang Novembers je<strong>des</strong> Jahres von dem Titel aller der Abhandlungen Kenntnis<br />

hat, deren Veröffentlichung durch Gymnasial- oder Realschul-Programme <strong>des</strong> nächsten<br />

Jahres beabsichtigt wird.<br />

2. Das Verzeichnis dieser Abhandlungen, nach den Schulkategorien und geographisch<br />

geordnet, wird um die Mitte Novembers von jeder Regierung nach Leipzig gesandt.<br />

51 Ebd.<br />

52 Ebd., S. 637.<br />

53 Kirschbaum, Markus: Litteratura Gymnasii. Schulprogramme deutscher höherer Lehranstalten<br />

<strong>des</strong> 19. Jahrhunderts als Ausweis von Wissenschaftsstandort, Berufsstatus und gesellschaftspolitischer<br />

Prävention. Aus Beständen der Rheinischen Lan<strong>des</strong>bibliothek Koblenz. Koblenz: 2007<br />

(Schriften <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>bibliothekszentrums Rheinland-Pfalz, 2), S. 43.<br />

54 Ebd., S. 42.


182 Dietmar Haubfl eisch / Christian Ritzi<br />

Die Teubner’sche Verlagsbuchhandlung stellt danach sofort ein vollständiges, mit fortlaufenden<br />

Nummern versehen<strong>des</strong> Verzeichnis zusammen, 55 und versendet dasselbe in<br />

duplo direct zur Post franco an alle Directoren der betheiligten Gymnasien und Realschulen,<br />

an die Universitäten und <strong>Bibliothek</strong>svorstände im deutschen Reich, sowie an<br />

die Schulbehörden mit dem Ersuchen, binnen 14 Tagen ein Exemplar <strong>des</strong> Verzeichnisses<br />

zurückzusenden, worin die Programme, deren Mittheilung gewünscht wird, angestrichen<br />

sind.<br />

Die Universitäten werden in dem Verzeichnis ebenfalls aufgeführt, um die Bestellung<br />

<strong>des</strong> Katalogs der Vorlesungen zu ermöglichen. Der Gegenstand <strong>des</strong> Prooemiums wird<br />

dabei nicht angegeben.<br />

Es bleibt überlassen, außerdem von Gymnasien und Realschulen, welche etwa in dem<br />

betreffenden Jahre keine wissenschaftliche, pädagogische oder sonstige Abhandlung<br />

den Schulnachrichten beifügen, auch letztere zu bestellen.<br />

Das Versäumnis rechtzeitiger Benachrichtigung der Buchhandlung würde eventuell<br />

zur Folge haben, daß die zu spät eingehenden Bestellungen nicht mehr berücksichtigt<br />

werden können.<br />

3. Die Teubner’sche Verlagshandlung theilt, wo möglich noch vor Ende <strong>des</strong> Jahres, den<br />

betreffenden Stellen franco mit, wie viele Exemplare <strong>des</strong> Programms gebraucht werden,<br />

so daß danach die Stärke der Aufl age bemessen werden kann. Sie kann, um buchhändlerischen<br />

Nachfragen zu genügen, einige Exemplare mehr bestellen, ohne da<strong>für</strong> zu einer<br />

besonderen Vergütung verpfl ichtet zu sein.<br />

4. Die zur Vertheilung bestimmte Zahl der Programme ist demnächst unmittelbar nach<br />

deren Erscheinen an die Teubner’sche Buchhandlung abzusenden, welche ihrerseits die<br />

Weitersendung beschleunigen wird.<br />

5. Die Portokosten <strong>für</strong> die Zusendung sind von den Empfängern der bestellten Programme<br />

zu tragen. Bei der Bestellung ist anzugeben, auf welchem Wege die Zusendung<br />

55 Die Übernahme der Organisation <strong>des</strong> Programmtausches durch die Teubner’sche Verlagsbuchhandlung<br />

bedeutete damit eine neue Grundlage <strong>für</strong> deren bibliographische Erfassung: Teubner<br />

erstellte fortan jährlich eine exakte bibliographische Zusammenstellung der jeweiligen Programme:<br />

Verzeichnis von Programm-Abhandlungen, welche von Gymnasien, Realgymnasien, Real- und<br />

höheren Bürger-Schulen Deutschlands und Österreichs ... veröffentlicht worden sind. Leipzig. Jg.<br />

1: 1876 (1879) bis Jg. 36: 1912 (1916). – Die Programmnummern („Teubner-Nummern“) wurden<br />

als numerus currens zugewiesen und erschienen in der Regel in der unteren linken Ecke <strong>des</strong><br />

Titelblattes; sie ermöglichen eine eindeutige Identifi kation der Schulprogramme, die heute insbesondere<br />

auch dann hilfreich sein kann, wenn wissenschaftliche Abhandlung und Schulnachrichten<br />

getrennt veröffentlicht wurden; so auch Kirschbaum: Litteratura (wie Anm. 53), S. 47. – Zusätzlich<br />

erschienen, ebenfalls im Teubner-Verlag, ab 1876 zuverlässige, von Rudolf Klussmann erstellte<br />

Verzeichnisse: Klussmann, Rudolf: Systematisches Verzeichnis der Abhandlungen, welche in den<br />

Schulschriften sämtlicher an dem Programmtausche teilnehmenden Lehranstalten erschienen sind.<br />

Leipzig. 5 Bde. [Bd. 1: 1876 –1885 (1889); Bd. 2: 1886 –1890 (1893); Bd. 3: 1891–1895 (1899); Bd. 4:<br />

1896 –1900 (1903); Bd. 5: 1901–1910 (1916)]; Reprint: 5 Bde. in 3 Bänden. Hil<strong>des</strong>heim: 1976. – Vgl.<br />

in diesem Zusammenhang auch das später einsetzende Werk: Jahresverzeichnis der an den deutschen<br />

Schulanstalten erschienenen Abhandlungen. Hrsg. von der Königlichen <strong>Bibliothek</strong> Berlin.<br />

Berlin: Bd. 1: 1889 (1890) bis Bd. 28: 1916 –1930 (1931).


Schulprogramme – Geschichte und Bedeutung 183<br />

erfolgen soll, ob durch die Post oder auf der Eisenbahn oder durch Vermittlung einer<br />

namhaft zu machenden Sortiments-Buchhandlung am Orte <strong>des</strong> Empfängers; in letzterem<br />

Falle hat dieser sich über das Porto mit der betr. Buchhandlung zu verständigen.<br />

6. Zur Deckung der Kosten (Localmiethe, Portoausgaben, Druckkosten, Verpackungswesen<br />

u.s.w.) hat jede Schule, Universität und <strong>Bibliothek</strong>, welche sich an dem Pro -<br />

gramm austausch betheiligt, einen jährlichen Beitrag von vorläufi g 9 Mk. an die Teubner’sche<br />

Verlagshandlung zu zahlen. Nach den im ersten Jahre gemachten Erfahrungen<br />

wird der zu leistende Betrag defi nitiv normirt.<br />

7. Die Programme werden künftig alle in gleichem Format gedruckt. Sobald dasselbe<br />

defi nitiv festgestellt ist, wird die Teubner’sche Verlagshandlung eine Formatprobe an<br />

alle Lehranstalten versenden.“ 56<br />

Fortan mussten „Stadtverordnetenversammlungen wie Gemeindevertretungen<br />

[…] <strong>für</strong> die von den Gemeinden unterhaltenen höheren Schulen, wenigstens<br />

was die Bei lagen der Jahresberichte betrifft, je<strong>des</strong> Jahr bei der Etatberatung<br />

aufs neue Stellung nehmen“. 57 Es verwundert daher nicht, dass es Kommunen<br />

gab, die nun keine Mittel mehr bewilligten. So wurde zum Beispiel um<br />

1900 in der Berliner Stadtverordnetenversammlung die fi nanzielle Förderung<br />

gestrichen, weil die Meinung vorherrschte, dass der wissenschaftliche Wert<br />

<strong>des</strong> Durchschnitts der Programme so gering sei, dass sich die Kosten nicht<br />

lohnten. 58 Andererseits besteht der – anhand der Gesamtproduktion an wissenschaftlichen<br />

Abhandlungen zukünftig noch zu verifi zierende – Eindruck,<br />

dass die Schulen diese Arbeitserleichterung zunächst nicht oder nur zögerlich<br />

annahmen, die Zahl der Abhandlungen vielmehr bis 1900 kontinuierlich weiter<br />

anstieg, um dann bis 1914 zurückzugehen. 59<br />

3.3 Verzicht auf Einladungen zu öffentlichen Prüfungen<br />

Während Wert oder Unwert der Abhandlungen im 19. Jahrhundert heftig<br />

umstritten waren und im Zusammenhang mit dem Aufbewahrungsproblem<br />

der zur Massenerscheinung ausgewachsenen Schulprogramme zahlreiche Lö-<br />

56 Erlass vom 26.04.1875, veröffentlicht in: Zentralblatt, Jg. 17 (1875), S. 635 – 638, hier S. 637 f.<br />

57 Ullrich: Programmwesen (wie Anm. 21), S. 81.<br />

58 Ein Widerspruch zu dieser Einschätzung fi ndet sich u. a. bei: Paulsen: Der höhere Lehrerstand<br />

(wie Anm. 37).<br />

59 Ergebnis einer (vorläufi gen) Auszählung – auf der Grundlage von Kössler, Franz: Verzeichnis<br />

von Programm-Abhandlungen deutscher, österreichischer und schweizerischer Schulen der Jahre<br />

1825–1918. Alphabetisch geordnet nach Verfassern. Mit einem Vorwort von Hermann Schüling.<br />

München [u. a.]: Bd. 1– 4: 1987, Bd. 5 (Ergänzungsband): 1991 – <strong>für</strong> die Berliner Schulen, deren<br />

Ergebnisse jedoch auf die anderen preußischen Provinzen übertragbar sind bzw. sein dürften.


184 Dietmar Haubfl eisch / Christian Ritzi<br />

sungsvorschläge diskutiert wurden, fand eine einschneidende Zäsur in der<br />

Geschichte der Schriftengattung nahezu unvermerkt statt.<br />

Die in der Anfangsphase als Einladungsschrift dienenden Schulprogramme<br />

hatten zunächst nur eine untergeordnete Funktion gegenüber der im Zentrum<br />

stehenden Festveranstaltung. Dieses Verhältnis wandelte sich im 19. Jahrhundert<br />

dahingehend, dass Schulprogramme einen immer selbständigeren Charakter<br />

einnahmen, während die öffentlichen Examina in den Hintergrund traten<br />

und schließlich ganz abgeschafft wurden. In Preußen stellte das Kultusministerium<br />

mit Erlass vom 07.10.1893 fest, „daß die Einrichtung der öffentlichen<br />

Prüfungen an höheren Schulen zum Schlusse <strong>des</strong> Schuljahres in den Augen <strong>des</strong><br />

Publikums fast überall dasjenige Interesse verloren hat, welches ihr in früheren<br />

Zeiten entgegengebracht wurde. Da somit der Hauptzweck der Einrichtung,<br />

die Vermittlung <strong>des</strong> Zusammenhangs zwischen Schule und Familie, nicht mehr<br />

erreicht wird und die Prüfung vielfach zu einer leeren Schaustellung zu werden<br />

droht“, 60 wurden die öffentlichen Prüfungen als Pfl ichtveranstaltung <strong>für</strong> höhere<br />

Schulen abgeschafft.<br />

Diese Zäsur hängt maßgeblich mit der Veränderung der schulischen Leistungskontrolle<br />

zusammen. Bereits 1788 wurde in Preußen das erste Abiturreglement<br />

erlassen, das erstmals den Zugang zu den Universitäten mit den<br />

Schulleistungen der Schüler verband. Es dauerte allerdings noch Jahrzehnte,<br />

bis sich die mit Noten zertifi zierte Überprüfung der Gymnasiasten als verbindliche<br />

Voraussetzung <strong>für</strong> ein Universitätsstudium endgültig durchsetzen<br />

konnte. 61 Damit wurden die öffentlichen Examina obsolet, die bis dahin zwar<br />

weniger eine Leistungskontrolle darstellten, aber immerhin die Funktion einer<br />

Leistungsschau der Schüler erfüllten. 62 Wie der Erlass von 1893 suggeriert, verkamen<br />

die öffentlichen Prüfungen mehr und mehr zu sinnentleerten Ritualen.<br />

Damit verloren die Schulprogramme ihre ursprüngliche Funktion als Medium<br />

zur Ankündigung von und Einladung zu öffentlichen Prüfungen.<br />

60 Erlass vom 07.10.1893, veröffentlicht in: Zentralblatt, Jg. 35 (1893), S. 779 f.<br />

61 Erst das preußische Prüfungsreglement von 1834 beseitigte bis dahin noch bestehende ständische<br />

Privilegien und wies dem „Gymnasium ein <strong>für</strong> alle verbindliches Berechtigungsmonopol“<br />

(Herrlitz: Bildung (wie Anm. 19), S. 97) zu.<br />

62 Während der öffentlichen Examina mussten Schüler beispielsweise Vorträge halten, disputieren,<br />

Schauspiele aufführen usw., d. h. die Defi nition <strong>des</strong>sen, was einen guten Schüler bestimmt,<br />

unterschied sich gravierend von jener, die im späten 18. Jahrhundert ihren Ausgang nahm.


Abb. 3: Zielgruppe Eltern: Angehefteter Zettel mit Hinweis auf <strong>für</strong> Eltern besonders<br />

relevante Partien auf der Titelseite <strong>des</strong> Jahresberichts <strong>des</strong> Königlichen Hohenzollerngymnasiums<br />

zu Düsseldorf <strong>für</strong> das Schuljahr 1913 –1914.


186 Dietmar Haubfl eisch / Christian Ritzi<br />

4. Die Jahresberichte vom Beginn <strong>des</strong> Ersten Weltkrieges<br />

bis zum Beginn <strong>des</strong> Zweiten Weltkrieges<br />

Der Erste Weltkrieg, konkret die kriegsbedingte Papierknappheit, die auch<br />

den Buchhandel und das Publikationswesen überhaupt in Bedrängnis brachte,<br />

bedeutete <strong>für</strong> das Schulprogrammwesen einen grundlegenden Einschnitt. 1915<br />

erschienen in Preußen letztmals ministeriell angeordnete gedruckte Programme.<br />

63 Dann wurde ihre Erstellung „mit Rück sicht auf die Not wendigkeit der<br />

Papierersparnisse“ untersagt. 64<br />

Für das Schuljahr 1920/21 bestimmte das preußische Kultusministerium,<br />

dass die höheren Schulen wieder Jah resberichte zu erstellen hätten, allerdings<br />

hand schriftlich oder maschinenschriftlich, d. h. nicht gedruckt, und ohne wissenschaftliche<br />

Abhandlungen. 65 Was offen bar nur provi sorisch gedacht war,<br />

wurde beibehalten: Die höheren Schulen in Preußen hatten weiterhin Jahresberichte<br />

zu erstellen, ohne dass sie angewiesen wurden, diese zu veröffentlichen.<br />

Damit entfi el automatisch die Basis <strong>für</strong> einen Tausch der Berichte – und die<br />

Funktion der Jahresberichte beschränkte sich auf eine Informationspfl icht <strong>für</strong><br />

die vorgesetzte Behörde.<br />

Im Februar 1921 wurde bestimmt, dass die Jahresberichte zweifach abzugeben<br />

seien, nämlich an das zuständige Provinzialschulkollegium und das Minis-<br />

63 Mit Erlass vom 17.12.1914, veröffentlicht in: Zentralblatt, Jg. 57 (1915), S. 284 f., betonte der<br />

preußische Kultusminister explizit, dass er der „Anregung, es möge mit Rücksicht auf die augenblicklichen<br />

Zeitverhältnisse von der <strong>für</strong> die höheren Lehranstalten angeordneten Herausgabe<br />

gedruckter Jahresberichte <strong>für</strong> das Schuljahr 1914/15 allgemein abgesehen werden, […] nicht zu<br />

entsprechen [vermochte]“.<br />

64 Vgl. etwa <strong>für</strong> Ostern 1916: Stemplinger, Eduard: Reform der Jahresberichte. In: Deutsches<br />

Philologen-Blatt. Jg. 24 (1916), S. 435 f. – Digitalisat: http://www.bbf.dipf.de/cgi-shl/digibert.<br />

pl?id=BBF0563029; hier S. 435: „Nach einer jüngsten Verfügung <strong>des</strong> preußischen Kultusministeriums<br />

unterblieb <strong>für</strong> Ostern 1916 die Ausgabe eines Jahresberichts […].“ – Für 1918/19: Erlass vom<br />

27.11.1918, veröffentlicht in: Zentralblatt, Jg. 60 (1918), S. 717, ebenso in: Deutsches Philologen-<br />

Blatt. Jg. 27 (1919), S. 12: „Im Verfolg <strong>des</strong> Erlasses vom 24. Oktober 1917 – U II 1360 – wird<br />

bestimmt, daß mit Rücksicht auf die Notwendigkeit der Papierersparnis von der Herausgabe von<br />

Jahresberichten der höheren Schulen <strong>für</strong> die männliche und die weibliche Jugend zu Ostern 1919<br />

abzusehen ist.“ – Für 1919/20: Erlass vom 25.09.1919, veröffentlicht in: Zentralblatt, Jg. 61 (1919),<br />

S. 603: „Im Verfolg <strong>des</strong> Erlasses vom 27. November 1918 – U II 1906 U II W – bestimme ich, daß<br />

von der Herausgabe von Jahresberichten der höheren Lehranstalten <strong>für</strong> die männliche und die<br />

weibliche Jugend auch zu Ostern 1920 abzusehen ist.“<br />

65 Im Anschluss an einen entsprechenden, nicht veröffentlichten Erlass vom 16.12.1920 spricht<br />

der Erlass vom 28.02.1921, veröffentlicht in: Zentralblatt, Jg. 63 (1921), S. 132, von „zu Ostern 1921<br />

handschriftlich anzufertigenden Jahresberichten der höheren Lehranstalten“, die je ein Exemplar<br />

an das Ministerium sowie an das zuständige Provinzialschulkollegium einzusenden hatten, „damit<br />

die vorgesetzten Behörden in die Lage kommen, sich einen Überblick über die allgemeinen inneren<br />

Zustände der Anstalten nach dem Kriege zu verschaffen.“ – Mit Erlass vom 30.11.1921, veröffentlicht<br />

in: Zentralblatt, Jg. 63 (1921), S. 476 f., wurde diese Festlegung bestätigt, ergänzt um den<br />

Hinweis, dass (auch) von der Drucklegung wissenschaftlicher Beilagen abzusehen sei.


Schulprogramme – Geschichte und Bedeutung 187<br />

terium. 66 Im Mai 1922 erweiterte man diese Regelung, indem man dazu aufforderte,<br />

ein drittes Exemplar an die Auskunftstelle <strong>für</strong> Schulwesen abzugeben. 67<br />

Die Auskunftstelle war zunächst 1899 als eine dem preußischen Ministerium<br />

der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten angegliederte<br />

staatliche Auskunftstelle <strong>für</strong> Lehrbü cher <strong>des</strong> höheren Unterrichtswesens<br />

(Auskunftstelle <strong>für</strong> Schulbücher) gegründet worden und ursprünglich dazu<br />

bestimmt, Auskunft zu erteilen über die in den höheren Lehranstalten Preußens<br />

gebrauchten Lehrbücher. Da sich das Aufgabengebiet der in der Grunewaldstr.<br />

6/7 in Berlin-Schöneberg gelegenen Institution in der Praxis jedoch immer<br />

weiter zog, wurde sie durch Ministerialerlass vom 21.05.1913 in Auskunftstelle<br />

<strong>für</strong> Schulwesen umbenannt und ihr Aufgabenfeld erweitert. 68 Sie wurde ermächtigt,<br />

„in allen Fragen, die das der Unterrichtsverwaltung unterstellte preußische<br />

Schulwesen einschließlich der Lehrer- und Lehrerinnen-Bildungsanstalten<br />

betreffen, insbesondere über Unterrichtsbetrieb, Lehrpläne, Lehrbücher, Lehr-<br />

und Anschauungsmittel und dergl. Auskunft zu erteilen oder zu vermitteln“ 69<br />

und „auf Grund <strong>des</strong> ihr zur Verfügung stehenden Materi als Auskunft zu geben<br />

und zu vermitteln über Fragen, die sich auf das Schulwesen in den Deutschen<br />

Bun<strong>des</strong>staaten, auf die Deutschen Schulen im Ausland sowie auf ausländisches<br />

Schulwesen beziehen.“ 70<br />

66 Erlass vom 28.02.1921, veröffentlicht in: Zentralblatt, Jg. 63 (1921), S. 132: „Von jeder Anstalt<br />

ist mir und dem zuständigen Provinzialschulkollegium je ein Durchschlag <strong>des</strong> Jahresberichts einzusenden,<br />

damit die vorgesetzten Behörden in die Lage kommen, sich einen Überblick über die<br />

allgemeinen inneren Zustände der Anstalten nach dem Kriege zu verschaffen.“<br />

67 Vgl. Erlass vom 02.09.1922, veröffentlicht in: Zentralblatt, Jg. 64 (1922), S. 427: „Die drei<br />

durch [unveröffentlichten] Erlaß vom 26. Mai 1922 […] <strong>für</strong> das Ministerium, das Provinzialschulkollegium<br />

und die Staatliche Auskunftstelle bestimmten Durchschläge der bis zum 15. Mai je<strong>des</strong><br />

Jahres einzureichenden Jahresberichte […]“, die „nicht einzeln an die genannten Stellen, sondern<br />

zusammen an das Provinzialschulkollegium einzureichen [sind], das die Berichte nach Prüfung<br />

weiterleiten wird.“ – Vgl. auch Erlass vom 01.04.1933, veröffentlicht in: Zentralblatt, Jg. 75 (1933),<br />

S. 105: „Der Jahresbericht selbst muß spätestens am 1. Juni 1933 bei mir, bei dem Provinzialschulkollegium<br />

und bei der Staatlichen Auskunftstelle <strong>für</strong> Schulwesen vorliegen.“<br />

68 Erlass vom 21.05.1913, veröffentlicht in: Zentralblatt, Jg. 21 (1913), S. 600.<br />

Zur Geschichte der Auskunftstelle s. zahlreiche Veröffentlichungen von Max Kullnick, z. B.:<br />

Kullnick, Max: Die Königlich Preußische Auskunftstelle <strong>für</strong> Schulwesen und ihre Tätigkeit. In:<br />

Jahrbuch der Königlich-Preußischen Auskunftstelle <strong>für</strong> Schulwesen. Jg. 1 (1913), Berlin: 1914,<br />

S. III –X. – Kullnick, Max: Die staatliche Auskunftstelle <strong>für</strong> Schulwesen. In: Der Elternbeirat. Jg.<br />

2 (1921), S. 63 f. – Kullnick, Max: Die Reichsstelle <strong>für</strong> Schulwesen. In: Deutsche Schulerziehung.<br />

Jahrbuch <strong>des</strong> Deutschen Zentralinstituts <strong>für</strong> Erziehung und Unterricht 1940. Bericht über die Entwicklung<br />

der deutschen Schule 1933–1939. Berlin: 1940, S. 355 – 360. – S. insbesondere auch: Ritzi,<br />

Christian: „Die nationalsozialistische Staatsführung hat sofort erkannt, welche Dienste ihr die<br />

Auskunftstelle <strong>für</strong> Schulwesen leisten konnte.“ Zur Nützlichkeit einer pädagogischen Behörde in<br />

vier politischen Systemen. In: Ritzi, Christian; Wiegmann, Ulrich (Hrsg.): Behörden und pädagogische<br />

Verbände im Nationalsozialismus. Zwischen Anpassung, Gleichschaltung und Aufl ösung.<br />

Bad Heilbrunn: 2004, S. 89 –144.<br />

69 Erlass vom 21.05.1913, veröffentlicht in: Zentralblatt, Jg. 21 (1913), S. 600.<br />

70 Ebd.


188 Dietmar Haubfl eisch / Christian Ritzi<br />

Wie Max Kullnick, der die Einrichtung – die 1936 in Reichsstelle <strong>für</strong> Schulwesen<br />

umbenannt wurde und von 1946 bis 1966 die Be zeichnung Hauptstelle<br />

<strong>für</strong> Erziehungs- und Schulwesen trug – von 1913 bis 1950 leitete, im Dezember<br />

1923 schrieb, sei das Ausbleiben der Jahresberichte als Quelle <strong>für</strong> die Auskunftserteilung<br />

in der Auskunftstelle „besonders fühlbar“ 71 gewesen. Aber<br />

auch darüber hinaus habe sich das Fehlen der Berichte als „ein Quell, aus dem<br />

jeder, der am höheren Schulwesen Anteil nahm, die Kenntnisse schöpfen konnte,<br />

deren er <strong>für</strong> seinen besonderen Zweck benötigte“, 72 bald „in vieler Hinsicht<br />

störend be merkbar“ 73 gemacht; denn nun waren „weder zahlenmäßige Angaben<br />

über den Stand der höheren Lehranstalten […] mehr zu erlangen, noch<br />

ver mochte man einen Einblick zu gewinnen in ihr Leben und Treiben, ihre<br />

Leistungen und Erfolge, ihre Mängel und Nöte.“ 74<br />

Als bei einem Besuch, „den Herr Minister Dr. Boelitz in Be gleitung <strong>des</strong> Herrn<br />

Ministerialdirektors Dr. Jahnke und mehrerer an deren Herren seines Ministeriums<br />

der Auskunftstelle am 19. No vember 1921 abstattete, das Gespräch auch<br />

auf die Jahresbe richte“ kam, sei man sich darin einig geworden, „daß etwas<br />

geschehen müßte, um den Inhalt der von den Direktoren hand schriftlich zu<br />

erstatten den Berichte der Allgemeinheit wieder zugänglich zu machen“. Es sei<br />

der Wunsch aufgekommen, „daß eine Re gelung gefunden wer den möchte, die<br />

eine bequemere Benutzung der Jahresberichte [als vor 1915] ermöglichte.“ 75<br />

Die Verhandlungen endeten damit, „daß die Auskunftstelle beauftragt wurde,<br />

die Jahresbe richte – erstmalig diejenigen über das Schul jahr 1921/22 – zu<br />

einem Bande zu verarbeiten und diesen in Druck zu geben; der Mi nisterial-<br />

Erlaß, der den Schulen von diesem Ergebnis Mitteilung machte, er ging unter<br />

dem 26. Mai 1922.“ 76 Damit konnten die Jahresberichte über die Bearbeitung<br />

71 Kullnick, Max: Vorwort [Dezember 1923]. In: Jahresberichte der höheren Lehranstalten in<br />

Preußen. Schuljahr 1921/22. Bearb. von der Staatlichen Auskunftstelle <strong>für</strong> Schulwesen. Leipzig:<br />

1923, S. III f.<br />

72 Ebd., S. III.<br />

73 Ebd.<br />

74 Ebd.<br />

75 Ebd.<br />

76 Ebd. – Der genannte Erlass vom 26.05.1922 wurde nicht veröffentlicht. – Vgl. die am 06.12.1922<br />

vom preußischen Kultusministerium bekanntgemachte Verfügung <strong>des</strong> Provinzialschulkollegiums in<br />

Schleswig vom 20.08.1922, veröffentlicht in: Zentralblatt, Jg. 64 (1922), S. 534: „Nachdem die Jahresberichte<br />

der Anstalten nicht mehr vervielfältigt und ausgetauscht werden, können Versuche und<br />

Erfahrungen der einen Schule <strong>für</strong> die andere nicht mehr in ausreichendem Maße nutzbar gemacht<br />

werden. Wir haben diesem Übelstand schon durch Einrichtung von Bezirksfachkonferenzen abzuhelfen<br />

versucht, auf denen Fragen <strong>des</strong> Unterrichts und der Erziehung besprochen werden. Um aber auch<br />

von dem Schulleben der einzelnen Anstalten Nachricht geben zu können, beabsichtigen wir, gelegentlich<br />

nichtamtliche Mitteilungen herausgeben zu lassen, in denen in knappster Form solche Versuche,<br />

Erfahrungen, Unternehmungen berichtet werden, die auch <strong>für</strong> andere Anstalten Interesse haben<br />

könnten. Sie sind zum Teil den Schulprogrammen entnommen, zum Teil stammen sie aus unmittelbaren<br />

Berichten der Direktoren oder aus Beobachtungen der Anstaltsdezernenten. Wir bemerken noch


Schulprogramme – Geschichte und Bedeutung 189<br />

durch die Auskunftstelle zumin<strong>des</strong>t indirekt an ihre Tradition als Medium der<br />

Fachkommunikation anschließen.<br />

Entsprechend dieser ministeriellen Bestimmung erschien 1924 ein ge druckter<br />

Band mit einer Auswahl der von den Schulen einge gangenen Jahresberichte <strong>des</strong><br />

Schuljahrs 1921/22. 77 Der zweite Band <strong>für</strong> das nachfolgende Schuljahr 1923/24<br />

erschien mit fast doppeltem Umfang 1925. 78 Der dritte und letzte, noch deutlich<br />

voluminösere Band erschien <strong>für</strong> das Schuljahr 1927/28 im Jahr 1930. 79 Die<br />

Vorstellung, „daß der Jahresberichts-Band stets inner halb <strong>des</strong> folgenden Schuljahres<br />

erscheinen soll“, 80 funktio nierte also schon beim ersten Band nicht und<br />

wurde auch bei den Folgebänden nicht realisiert.<br />

ausdrücklich, daß diese Mitteilungen nicht den Charakter von Verfügungen haben, sondern lediglich<br />

als Anregungen und Fingerzeige dienen sollen, wie dieses oder jenes auch gemacht werden kann.“<br />

77 Jahresberichte der höheren Lehranstalten in Preußen. Schuljahr 1921/22. Bearb. von der<br />

Staatlichen Auskunftstelle <strong>für</strong> Schulwesen. Leipzig: 1924.<br />

78 Jahresberichte der höheren Lehranstalten in Preußen. Schuljahr 1922/23. Bearb. von der<br />

Staatlichen Auskunftstelle <strong>für</strong> Schulwesen. Leipzig: 1925.<br />

79 Jahresberichte der höheren Lehranstalten in Preußen. Schuljahr 1927/28. Bearb. von der<br />

Staatlichen Auskunftstelle <strong>für</strong> Schulwesen. Berlin: 1930. – Kullnick, Max: Vorwort [Juni 1930].<br />

In: Jahresberichte der höheren Lehranstalten in Preußen. Schuljahr 1927/28. Bearb. von der Staatlichen<br />

Auskunftstelle <strong>für</strong> Schulwesen. Berlin: 1930, S. III. – Hier heißt es u. a.: „[…] und wenn<br />

auch <strong>für</strong> die folgenden Schuljahre die statistischen Teile sämtlich fertiggestellt werden konnten, so<br />

war es mir bei der Fülle der Aufgaben, die der Staatlichen Auskunftstelle <strong>für</strong> Schulwesen zufi elen,<br />

doch nicht möglich, die Muße zu fi nden, um auch nur <strong>für</strong> ein Schuljahr den Textteil zusammenzustellen.<br />

Müssen doch <strong>für</strong> jeden Jahrgang fast 1.400 Jahresberichte durchgearbeitet werden, von<br />

denen Hunderte handschriftlich eingereicht zu werden pfl egen; mancher davon ist zwar mager<br />

und inhaltslos und kann rasch beiseite gelegt werden, aber die meisten sind doch umfangreich und<br />

ergiebig und erfordern ein sorgsames, mit zahlreichen Rückfragen verbundenes Studium.“ – Und:<br />

„[…] so hoffe ich doch, dass der vorliegende Band ein ziemlich getreues Bild geben wird von dem<br />

Leben und Streben unserer höheren Lehranstalten, von ihren Sorgen und Nöten, aber auch von<br />

ihren Freuden und Erfolgen.“<br />

80 Über die immensen Probleme bei der Erstellung <strong>des</strong> Ban<strong>des</strong>, u. a. die zu späte Ablieferung<br />

der Berichte durch die Schulen, die in den Berichten fehlenden, unvollständigen oder falschen,<br />

unzählige Nachfragen erforderlich machenden Angaben, aber auch über Druckkostenprobleme u.<br />

Ä.: Kullnick: Vorwort [Dezember 1923] (wie Anm. 71), S. III f.; hier heißt es S. IV: „Es besteht die<br />

Absicht, den nächsten Jahresberichtsband, der das Schuljahr 1922/23 umfassen wird, möglichst im<br />

Sommer 1924 und den darauf folgenden (Schuljahr 1923/24) gegen Ende <strong>des</strong> Jahres 1924 erscheinen<br />

zu lassen; dies wird jedoch nur möglich sein, wenn alle Jahresberichte rechtzeitig eingehen und die<br />

<strong>für</strong> die Bearbeitung erforderlichen Angaben vollständig enthalten, da die sonst unvermeidlichen<br />

Rückfragen stets Verzögerungen im Gefolge haben. Außerdem wird die in der Reihe der veröffentlichten<br />

Jahresberichte entstandene Lücke, die die Schuljahre 1915 bis 1920 umfasst, durch einen<br />

Sammelband geschlossen werden, der ebenfalls im Jahre 1924 fertiggestellt werden soll und in dem<br />

Min.–Erl. vom 28. Mai 1922 bereits angekündigt worden ist.“ – Kullnick, Max: Vorwort [September<br />

1925]. In: Jahresberichte der höheren Lehranstalten in Preußen. Schuljahr 1922/23. Bearb. von<br />

der Staatlichen Auskunftstelle <strong>für</strong> Schulwesen. Leipzig: 1925, S. III; hier heißt es u. a.: „Leider hat<br />

sich die Herausgabe <strong>des</strong> Ban<strong>des</strong> verzögert; der Grund lag vor allem darin, daß die handschriftlichen<br />

Jahresberichte nicht regelmäßig eingingen und zahlreiche Rückfragen erforderlich machten.<br />

Da die Druckereien mit Aufträgen überhäuft waren, hat sich dann zuguterletzt die Drucklegung<br />

über sieben Monate hingezogen, ein Vorgang, der sich nicht wiederholen wird.“


190 Dietmar Haubfl eisch / Christian Ritzi<br />

Folgt man einer Rezension der ersten beiden Bände im Zentralblatt und einer<br />

Besprechung <strong>des</strong> dritten Ban<strong>des</strong> im Deutschen Philologen-Blatt, 81 so wurden<br />

sie sehr positiv aufgenommen. Sie hätten „seinerzeit berechtigtes Aufsehen<br />

erregt und die denkbar günstigste Aufnahme in der Fach- wie in der Tagespresse<br />

ge funden“ 82 und seien als „getreues Spiegel bild <strong>des</strong> Innenle bens der höheren<br />

Schule“ 83 gewertet worden, als „eine wahre Fund grube <strong>für</strong> alle diejenigen, die<br />

sich mit ir gendwelchen Fra gen <strong>des</strong> höheren Schulwesens befassen.“ 84<br />

Andererseits schien die Erwartungshaltung <strong>des</strong> preußischen Kultusministeriums,<br />

dass jede höhere Schule den ersten Band erwerben werde, enttäuscht<br />

worden zu sein. 85 Denn <strong>für</strong> den zweiten und den dritten Band ordnete das<br />

Ministerium einen Pfl ichtbezug an. 86<br />

Obgleich die höheren Schulen in Preußen gemäß ministerieller Verpfl ichtung<br />

nur handschriftliche oder maschinenschriftliche Jahresberichte zu verfassen<br />

und einzureichen hatten und obgleich zahlreiche Schulen heftige Probleme mit<br />

deren termingerechter, vollständiger und korrekter Ablieferung hatten, bestätigt<br />

ein Blick auf die überlieferten Berichte, was der Berliner Gymnasiallehrer,<br />

Schulpolitiker und Publizist Paul Hildebrandt 1931 feststellte, dass nämlich die<br />

Jahresberichte „nur zum kleineren Teil noch in Maschinenschrift, zum größeren<br />

Teil wieder im Druck“ erstellt wurden. 87<br />

81 Simon: Jahresberichte der höheren Lehranstalten in Preußen. Schuljahr 1922/23. In: Zentralblatt<br />

<strong>für</strong> die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen. Jg. 67 (1925), S. 335 –337. – Oberle,<br />

W.: Die Jahresberichte der höheren Lehranstalten in Preußen (Schuljahr 1927/28). In: Deutsches<br />

Philologen-Blatt. Jg. 38 (1930), S. 801– 806.<br />

82 Simon: Jahresberichte (wie Anm. 81), S. 335.<br />

83 Ebd.<br />

84 Ebd.<br />

85 Mit Erlass vom 21.02.1922, veröffentlicht in: Zentralblatt, Jg. 66 (1924), S. 70, sandte der preußische<br />

Kultusminister einen Band an das Provinzialschulkollegium und betonte, er lege „Gewicht<br />

darauf“, dass den 25 Goldmark kostenden Band, angesichts „der Fülle <strong>des</strong> wertvollen Stoffes“, den<br />

er enthalte und der sich „namentlich auch zur Heranziehung bei den Besprechungen in den Lehrerkonferenzen<br />

und bei den Sitzungen in pädagogischen Seminaren [eigne], da er die in den mehr<br />

als 1.000 Jahresberichten verstreuten Tatsachen von besonderer Bedeutung in leicht übersichtlicher<br />

Form zur Ausnutzung zusammenstellt“, „jede höhere Lehranstalt in Preußen aus eigenen Mitteln<br />

anschafft“.<br />

86 Mit nicht veröffentlichtem Erlass vom 12.02.1925 (s. dazu Erlass vom 02.01.1931, veröffentlicht<br />

in: Zentralblatt, Jg. 33 (1931), S. 20) und mit Erlass vom 02.01.1931, veröffentlicht in: Zentralblatt,<br />

Jg. 33 (1931), S. 20, ordnete das Ministerium den „Pfl ichtbezug der jeweils erscheinenden<br />

Sammelbände“ an. Hintergrund war, dass, wie es im letztgenannten Erlass heißt, die Bände „von<br />

den Provinzialschulkollegien und den höheren Schulen bislang nur in sehr geringem Umfange<br />

bezogen worden“ waren.<br />

87 Hildebrandt, Paul: Das Wesen der Schülerselbstverwaltung. In: Monatsschrift <strong>für</strong> höhere<br />

Schulen. Jg. 30 (1931), S. 249–274, hier S. 263. – Hildebrandt arbeitete damals die Berichte <strong>des</strong><br />

Schuljahres 1928/29 von 1.299 höheren Schulen in Preußen mit Erlaubnis <strong>des</strong> preußischen Ministeriums<br />

<strong>für</strong> Wissenschaft, Kunst und Volksbildung durch, um Antwort auf seine Frage zu erhalten,<br />

wie es mit der Einrichtung der vom preußischen Kultusminister vorgeschriebenen Schülerselbstverwaltung<br />

an den höheren Schulen in Preußen stehe.


Schulprogramme – Geschichte und Bedeutung 191<br />

Dies wird durch die Auszählung der Jahresberichte zweier preußischer Provinzen<br />

bestätigt, deren Ergebnisse auf den Gesamtstaat übertragbar sein dürften:<br />

Ostpreußen und Westfalen. Alle Jahresberichte <strong>des</strong> Schuljahres 1921/22<br />

wurden handschriftlich oder maschinenschriftlich erstellt, sind also Unikate.<br />

Ihre Funktion war auf das Informationsbedürfnis der vorgesetzten Behörde<br />

beschränkt. Die meisten Schulen erinnerten sich aber schon bald an den Nutzen,<br />

den die früheren Jahresberichte <strong>für</strong> ihre Öffentlichkeitsarbeit hatten. Im<br />

Schuljahr 1924/25 erschienen von den 37 Jahresberichten ostpreußischer Schulen<br />

31 in gedruckter Form (84 %). Dieses Verhältnis fi ndet sich in gleicher Weise<br />

in Westfalen: Von insgesamt 85 Schuljahresberichten liegen 71 (83,5 %) als<br />

Druckausgaben vor. In der Folge steigerte sich der Anteil gedruckter Jahresberichte<br />

bezogen auf das Schuljahr 1929/30 auf 91,5 % in Ostpreußen und<br />

88 % in Westfalen.<br />

Dass diese gedruckten Jahresberichte tatsächlich eine Doppelfunktion wahrnahmen,<br />

wird durch die nahezu durchgängig anzutreffende Rubrik „Mitteilungen<br />

an die Eltern“ belegt. Und diese zweifache Aufgabenstellung wurde in<br />

einem Erlass vom 25.04.1930 ausdrücklich bestätigt, wobei es eher als Kuriosum<br />

anzumerken ist, dass die Verordnung einer bereits praktizierten Realität<br />

hinterherlief:<br />

„1. Jede Schule gibt – an Stelle der bisherigen Jahresberichte – zu Beginn eines jeden<br />

Schuljahres, spätestens bis zum 15. Juni, gedruckte Mitteilungen heraus, die den Eltern<br />

der Schüler in geeigneter Weise Einblick in die Arbeit der Schule gewähren. Diese Mitteilungen<br />

sollen eine lebendige Verbindung der Schule mit dem Elternhaus ermöglichen,<br />

die Eltern über Wege und Ziele der Schule aufklären und sie zur tatkräftigen Mitarbeit<br />

heranziehen. Ihre Ausgestaltung überlasse ich der Entschließung der einzelnen Schule.<br />

Ihr steht frei […], die Mitteilungen in der Form von Jahrbüchern, Mitteilungs- oder<br />

Merkblättern oder in ähnlichen Formen herauszugeben. Ich weise darauf hin, daß gerade<br />

in letzter Zeit einzelne städtische höhere Schulen ansprechende neue Formen solcher<br />

<strong>für</strong> die Eltern bestimmten, jährlich erscheinenden Veröffentlichungen gefunden haben,<br />

u. a. unter Beteiligung von Schülern, Beigabe von Abbildungen und Schülerarbeiten<br />

usw. Die Mitteilungen enthalten zweckmäßig stets Angaben über Veränderungen im<br />

Lehrkörper, eine Übersicht über die Reifeprüfl inge, die Vorschriften über die Aufnahmeprüfung,<br />

die Ferienordnung, ein Verzeichnis der an der Schule gebrauchten Lehrbücher<br />

und die Erlasse und Verfügungen der Behörden, soweit sie <strong>für</strong> die Erziehungsberechtigten<br />

von Bedeutung sind.<br />

2. Die Kosten <strong>für</strong> die Drucklegung der Mitteilungen sind in angemessenen Grenzen zu<br />

halten. Sie dürfen die Kosten der bisher üblichen Jahresberichte nicht übersteigen […].<br />

3. Die Mitteilungen ebenso wie alle sonstigen Veröffentlichungen der Schule sowie<br />

Jahrbücher, Schülerzeitungen, Festschriften, Abhandlungen usw. sind in je 2 Stücken


192 Dietmar Haubfl eisch / Christian Ritzi<br />

regelmäßig der Auskunftstelle <strong>für</strong> Schulwesen einzusenden, ferner nach Möglichkeit je<br />

1 Stück der Deutschen Bücherei in Leipzig (vgl. Erlaß vom 27. Januar 1930 – U II 21<br />

U I –) und der Comeniusbücherei in Leipzig […].“ 88<br />

Dieser Erlass hatte nur kurzfristigen Bestand, denn aufgrund fi nanzieller Nöte<br />

im Kontext der Weltwirtschaftskrise verordnete das preußische Kultusministerium<br />

„Sparmaßnahmen auf dem Gebiet <strong>des</strong> höheren Schulwesens“, dem auch<br />

der Druck von Jahresberichten zum Opfer fi el. In einem Erlass vom 26.02.1931<br />

hieß es: „Die Jahresberichte werden […] in den nächsten drei Jahren nicht mehr<br />

gedruckt.“ 89<br />

Ein weiterer Erlass vom 15.04.1931 wiederholte diese Bestimmungen und<br />

ergänzte, dass „auch die durch Erlaß vom 25. April 1930 […] empfohlenen<br />

Jahrbücher, Mitteilungsblätter usw. nicht mehr gedruckt werden“ dürften; um<br />

der Auskunftstelle <strong>für</strong> Schulwesen wie in den Jahren zuvor „eine Durchprüfung<br />

der Jahresberichte zu ermöglichen“, ordnete das Ministerium an, „daß die<br />

Jahresberichte <strong>für</strong> die nächsten drei Jahre wieder nach den Anweisungen <strong>des</strong><br />

Erlasses vom 12. Februar 1925 […] aufgestellt und spätestens bis zum 1. Juni<br />

mir, dem Provinzialschulkollegium und der Auskunftstelle <strong>für</strong> Schulwesen […]<br />

handschriftlich eingereicht werden.“ 90 Eine Überprüfung der Jahresberichte<br />

<strong>des</strong> Schuljahres 1931/32 zeigt, dass die Anordnung durchgängig befolgt wurde.<br />

Auch in den Folgejahren bis 1940 wurden – bis auf wenige Ausnahmen – alle<br />

Schulprogramme handschriftlich und/oder maschinenschriftlich erstellt.<br />

Nach Beginn <strong>des</strong> Zweiten Weltkrieges ordnete der Reichsminister <strong>für</strong> Wissenschaft,<br />

Erziehung und Volksbildung mit Erlass vom 10.04.1940 an, dass die<br />

Jahresberichte „in verkürzter Form“ zu erstatten und beim „Oberpräsidenten,<br />

Abteilung <strong>für</strong> höheres Schulwesen“, sowie bei „der Reichsstelle <strong>für</strong> Schulwesen“<br />

einzureichen seien. 91 Mit Erlass vom 10.04.1942 schließlich wurde angeordnet,<br />

„daß von der Erstattung der Jahresberichte der Höheren Schulen während<br />

<strong>des</strong> Krieges abgesehen wird.“ 92 Mit diesem Erlass fanden die preußischen<br />

Schulprogramme ihr endgültiges Ende.<br />

88 Erlass vom 25.04.1930, veröffentlicht in: Deutsches Philologen-Blatt. Jg. 38 (1930), S. 411.<br />

89 Erlass vom 26.02.1931, veröffentlicht in: Zentralblatt, Jg. 73 (1931), S. 85.<br />

90 Erlass vom 15.04.1931, veröffentlicht in: Zentralblatt, Jg. 73 (1931), S. 130.<br />

91 Erlass vom 10.04.1940, veröffentlicht in: Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung.<br />

Jg. 6 (1940), S. 239.<br />

92 Erlass vom 10.04.1942, veröffentlicht in: Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung.<br />

Jg. 8 (1942), S. 131: „In Abänderung meines Erlasses vom 10. April 1940 […] ordne ich an,<br />

daß von der Erstattung der Jahresberichte der höheren Schulen während <strong>des</strong> Krieges abgesehen<br />

wird […].“


Schulprogramme – Geschichte und Bedeutung 193<br />

5. Zur Forschungsrelevanz der Schulprogramme<br />

Im letzten Drittel <strong>des</strong> 20. Jahrhunderts erfolgte ein Wandel der pädagogischen<br />

Historiographie von der traditio nellen Geschichte der Pädagogik zur historischen<br />

Bildungsforschung. 93 Die neuen sozialge schichtlichen Fragestellungen<br />

richten ihren Blick einerseits auf übergreifende Strukturen und Prozesse, wie<br />

sie etwa im Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte 94 zum Ausdruck<br />

kommen. An dererseits wird dieser als ‚makrohistorisch‘ bezeichnete Ansatz<br />

um Forschungen zur Mikrohistorie erweitert, also zu Alltag und gesellschaftlicher<br />

Realität von Erziehung und Bildung.<br />

Die im Zuge dieses Wandels veränderten Fragestellungen erfordern Quellen,<br />

die in der traditionellen Ge schichte der Pädagogik eher vernachlässigt wurden.<br />

Dies betrifft u. a. serielle Daten, die mit zunehmend elabo rierten statistischen<br />

Analysen zu neuen Erkenntnissen führen. Zum anderen gibt es einen Bedarf<br />

an Materialien, die Einblicke in konkrete Wahrnehmungen, Erfahrungen und<br />

Verarbeitungsweisen institutioneller Orte der Er ziehung ermöglichen. Gerade<br />

der letztgenannte Ansatz verlagert die Analyse weg von der Makroebene hin<br />

zu kleineren Einheiten, die jedoch eine feinere Beobachtungsgenauigkeit versprechen.<br />

95<br />

Angesichts <strong>des</strong> konstatierten Mangels alltagsgeschichtlicher Untersuchungen<br />

zu Erziehung in Schulen und außerschulischen Erziehungsinstitutionen bietet<br />

der Bestand an Schuljahresberichten einzigartige Quellen, „eine wahre Fundgrube<br />

<strong>für</strong> so zialwissenschaftliche Studien zum Bildungswesen“. 96<br />

Die Vielzahl von Einzeldaten ermöglichen zum einen Vergleichsstudien zu<br />

zahlreichen bildungshistorischen Frage stellungen. Zum anderen bietet insbesondere<br />

die jedem Bericht beigefügte Chronik <strong>des</strong> abgelaufenen Schuljahres<br />

Materialien zur Alltagsgeschichte der Erziehung. Sie vermitteln detaillierte<br />

Einblicke in Entwicklungsverläufe der pädagogischen Praxis und in didaktische<br />

Trends einer großen Anzahl von Schulen, die andere Quellen nicht vermitteln<br />

können. Neben dem Quellenwert <strong>für</strong> die schul- und bildungsgeschichtliche<br />

Forschung fi nden sich in den berichtenden und teils mit statistischen Angaben<br />

angereicherten Teilen der Schulprogramme wichtige Grundlagen <strong>für</strong> sozial-,<br />

kultur- und mentalitätsgeschichtliche Forschungsarbeiten. Einige, etwa zu<br />

Fragen der Schulentwicklung, entstanden bereits auf der Grundlage dieser<br />

93 Vgl. Tenorth, Heinz-Elmar: Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge ihrer<br />

neuzeitlichen Entwicklung. 5. Aufl . Weinheim [u. a.]: 2009.<br />

94 Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte. Göttingen: 1987 ff.<br />

95 Vgl. z. B. Haubfl eisch, Dietmar: Schulfarm Insel Scharfenberg. Mikroanalyse der reformpädagogischen<br />

Unterrichts- und Erziehungsrealität einer demokratischen Versuchsschule im Berlin<br />

der Weimarer Republik. Frankfurt [u. a.]: 2001 (Studien zur Bildungsreform, 40), bes. S. 1–17.<br />

96 Schubring: Bibliographie (wie Anm. 29), S. VII.


Abb. 4: Informationen über die benutzten Lehrbücher: Jahresbericht <strong>des</strong> Königlichen<br />

Gymnasiums zu Düsseldorf <strong>für</strong> das Schuljahr 1903 –1904, S. 10.


Schulprogramme – Geschichte und Bedeutung 195<br />

Dokumente, 97 allerdings auf einzelne Regionen und Zeitabschnitte begrenzt.<br />

Weiterhin bieten diese Unterlagen <strong>für</strong> die Geschichte der Fachdidaktiken einen<br />

herausragenden Quellenwert, etwa zur Ermittlung <strong>des</strong> Lektürekanons innerhalb<br />

der Unterrichtsfächer, 98 der Verteilung und Gewichtung von Unterrichtsfächern,<br />

zur Verwendung von Lehrmitteln wie physikalischen Geräten oder<br />

naturkundlichen Sammlungen bis hin zu Untersuchungen zur Entwicklung<br />

von Schulbibliotheken. 99<br />

Der Mainzer Buchwissenschaftler Hans-Joachim Koppitz weist auf die<br />

Bedeutung der Jahresberichte als vorzügliches biographisches Auskunftsmittel<br />

hin: „Noch in anderer Beziehung sind diese Schriften eine hervorragende Quelle:<br />

als biographische Auskunftsmittel, woran viel zuwenig bei entsprechenden<br />

97 Vgl. u. a. Tosch, Frank: Gymnasium und Systemdynamik. Regionaler Strukturwandel im<br />

höheren Schulwesen der preußischen Provinz Brandenburg 1890 –1938. Bad Heilbrunn: 2006.<br />

98 Vgl. z. B. Schubring: Bibliographie (wie Anm. 29). – Zu Schubring vgl. Kraul, Margret:<br />

[Rezension zu:] Gert Schubring, Bibliographie der Schulprogramme in Mathematik und Naturwissenschaften<br />

(wissenschaftliche Abhandlungen) 1800 –1875. Bad Salzdetfurth: 1986. In: Bildung<br />

und Erziehung, Jg. 40 (1987), S. 496 f. – Als Beispiel <strong>für</strong> eine maßgeblich auf der Auswertung von<br />

Schulprogrammen basierende Geschichte eines Unterrichtsfaches: Halasik, Anna Margret: Der<br />

Chemieunterricht während <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts im Rheinland. Beitrag zur Geschichte <strong>des</strong> Chemieunterrichts<br />

im 19. Jahrhundert, dargestellt an ausgewählten Beispielen aus dem Rheinland, Witterschlick<br />

[u. a.]: 1988 (Beiträge zu Erziehungswissenschaften, 2). – S. nicht zuletzt: DFG-Projekt<br />

„Der deutschsprachige Literaturkanon in den höheren Schulen Westfalens: Erschließung und<br />

Dokumentation anhand von Schulprogrammen <strong>des</strong> 19. und frühen 20. Jahrhunderts“ an der Universität<br />

Siegen; Arbeitsergebnisse in der Reihe „Siegener Schriften zur Kanonforschung“, Frankfurt<br />

[u. a.]: bislang 9 Bde.: Bd. 1 (2005): Korte, Hermann (Hrsg.): „Die Wahl der Schriftsteller ist<br />

richtig zu leiten“. Kanoninstanz Schule. Eine Quellenauswahl zum deutschen Lektürekanon in<br />

Schulprogrammen <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts. – Bd. 2 (2005): Korte, Hermann; Rauch, Marja (Hrsg.):<br />

Literaturvermittlung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Vorträge <strong>des</strong> 1. Siegener Symposions zur<br />

literaturdidaktischen Forschung. – Bd. 3 (2006): Korte, Hermann; Zimmer, Ilonka (Hrsg.): Das<br />

Lesebuch 1800–1945. Ein Medium zwischen literarischer Kultur und pädagogischem Diskurs.<br />

Vorträge <strong>des</strong> 2. Siegener Symposiums zur Literaturdidaktischen Forschung. – Bd. 4 (2007): Korte,<br />

Hermann; Zimmer, Ilonka; Jakob, Hans–Joachim (Hrsg.): Der deutsche Lektürekanon an höheren<br />

Schulen Westfalens von 1820 bis 1870. – Bd. 5 (2008): Thielking, Sigrid; Buchmann, Ulrike (Hrsg.):<br />

Lesevermögen. Lesen in allen Lebenslagen. – Bd. 6 (2009): Dawidowski, Christian: Literarische<br />

Bildung in der heutigen Mediengesellschaft. Eine empirische Studie zur kultursoziologischen<br />

Leseforschung. – Bd. 7 (2009): Dawidowski, Christian; Korte, Hermann (Hrsg.): Umbrüche, Literaturkanon<br />

und Literaturunterricht in Zeiten der Modernisierung. Die 1920er und 1960er Jahre.<br />

Vorträge <strong>des</strong> 3. Siegener Symposions zur Literaturdidaktischen Forschung. – Bd. 8 (2009): Zimmer,<br />

Ilonka: Uhland im Kanon. Studien zur Praxis literarischer Kanonisierung im 19. und 20. Jahrhundert.<br />

– Bd. 9 (2009): Jazbec, Saša: „Man taucht in eine andere Welt ein …“. Lesestrategien beim<br />

Lesen fremdsprachiger Literatur. Eine empirische Studie am Beispiel slowenischer Germanistikstudentinnen<br />

und -studenten.<br />

99 Zum Quellenwert von Schulprogrammen <strong>für</strong> die Geschichte der <strong>Bibliothek</strong>en der höheren<br />

Schulen vgl. Koppitz, Hans-Joachim: Zur Bedeutung der Schulprogramme <strong>für</strong> die Wissenschaft<br />

heute. In: Gutenberg-Jahrbuch. Jg. 63 (1988), S. 340–358. – Digitalisat: http://www.digizeitschriften.de/main/dms/img/?PPN=PPN366382810_1988_0063&DMDID=dmdlog44,<br />

hier S. 352. Auf<br />

S. 353 –356 (Anhang 1) listet Koppitz Schulprogramme auf, in denen der Bücherbestand einzelner<br />

<strong>Bibliothek</strong>en oder Teile davon verzeichnet sind.


Abb. 5: Verzeichnis der Abiturienten: Jahresbericht <strong>des</strong> Königlichen Hohenzollerngymnasiums<br />

zu Düsseldorf <strong>für</strong> das Schuljahr 1907–1908, S. 14.


Schulprogramme – Geschichte und Bedeutung 197<br />

Recherchen gedacht wird, sind doch hier biographische Angaben über Tausende<br />

und Abertausende von Schulabsolventen zu fi n den, vor allem über Abiturienten<br />

[…]. Die Personalnachrichten in den Schulprogrammen können dann<br />

mit Erfolg befragt werden, wenn man weiß, an welcher Schule jemand das Abitur<br />

abgelegt hat. Erst recht erfährt der Suchende etwas Näheres über jemanden,<br />

von dem er weiß, an welcher Schule oder zumin<strong>des</strong>t an welchem Ort oder<br />

auch nur in welcher Gegend er unterrichtet hat. Wenn der Gesuchte längere<br />

Zeit an der Schule tätig gewesen ist, ist in der Regel an mehreren Stellen etwas<br />

über ihn zu fi nden. Über neue Lehrer wird immer berichtet, über Verstorbene<br />

fi nden wir Nachrichten, die sonst kaum zu fi nden sind: Woher sie kommen,<br />

welche Ausbildung sie nachzuweisen haben und weiteres mehr. Selbst wenn<br />

über bedeutende Persönlichkeiten Biographien erschienen sind, haben die Biographen<br />

nur selten daran gedacht, sich die Pro gramme der Schulen anzusehen,<br />

die die Biographierten besucht und an denen sie vielleicht das Abitur abgelegt<br />

haben. Aus den Programmen ist Wissenswertes über die Schule, die Lehrer, das<br />

Gesicht der Schule und anderes zu erfahren, was zur Abrundung <strong>des</strong> Lebensbil<strong>des</strong><br />

beitragen könnte.“ 100<br />

Zu den zentralen Fragen im Bereich der Erforschung der Reformpädagogik<br />

der Weimarer Republik gehört die nach ihrer Relevanz, ihres Erfolges, ihrer<br />

Wirksamkeit. Hier gilt es u. a. zu klären, ob sich das Praktizieren von Reformpädagogik<br />

auf einzelne in ihrem Geiste arbeitende Schulen beschränkte, oder<br />

ob reformpädagogische Unterrichtsprinzipien Einzug in die Schulwirklichkeit<br />

<strong>des</strong> Normalschulwesens der Weimarer Republik gefunden hatten – und<br />

ob damit zumin<strong>des</strong>t partiell das Ziel vieler Reformpädagogen, einzelne Schulversuche<br />

und Versuchsschulen könnten als „Keimzellen <strong>für</strong> die Umgestaltung<br />

unseres gesamten Schulwesens“ 101 fungieren, erreicht wurde. Das Heranziehen<br />

von Jahresberichten, zum Beispiel durch eine quantifi zierende Untersuchung,<br />

eine systematische Suche nach den <strong>für</strong> die Reformpädagogik relevanten keywords<br />

in einem umfangreicheren Bestand an Jahresberichten, könnte grundlegende<br />

Erkenntnisse zur Klärung dieser Fragen bringen. 102<br />

100 Koppitz: Zur Bedeutung (wie Anm. 99), hier S. 351.<br />

101 Hilker, Franz: Versuchsschulen und allgemeine Schulreform. In: Hilker, Franz (Hrsg.): Deutsche<br />

Schulversuche. Berlin: 1924, S. 448 – 463, hier S. 448.<br />

102 S. etwa: Haubfl eisch, Dietmar: Berliner Reformpädagogik in der Weimarer Republik. Überblick,<br />

Forschungsergebnisse und -perspektiven. In: Röhrs, Hermann; Pehnke, Andreas (Hrsg.):<br />

Die Reform <strong>des</strong> Bildungswesens im Ost-West-Dialog. Geschichte, Aufgaben, Probleme. Frankfurt<br />

[u. a.]: 1994 (Greifswalder Studien zur Erziehungswissenschaft, 1), S. 117–132; unverändert wieder<br />

in: Ebd., 2., erw. Aufl ., Frankfurt [u. a.]: 1998, S. 143 –158; leicht akt. wieder: Marburg 1998: http://<br />

archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1998/0013.html. – Vgl. auch Schmitt, Hanno: Topographie der<br />

Reformschulen in der Weimarer Republik: Perspektiven ihrer Erforschung. In: Amlung, Ulrich;<br />

Haubfl eisch, Dietmar; Link, Jörg-W.; Schmitt, Hanno (Hrsg.): „Die Alte Schule überwinden“.<br />

Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Frankfurt:


Abb. 6: Auszug aus dem Kapitel „Mitteilungen an die Eltern“ <strong>des</strong> Jahresberichts <strong>des</strong><br />

Staatlichen Hohenzollerngymnasiums mit Realgymnasium zu Düsseldorf <strong>für</strong> das<br />

Schuljahr 1929/30, S. 21.


Schulprogramme – Geschichte und Bedeutung 199<br />

Während der berichtende Teil der Schulprogramme vor allem <strong>für</strong> die Bildungsgeschichte<br />

einen herausragenden Fundus darstellt, sind die Abhandlungen<br />

von transdisziplinärem Interesse, weil sie eine wichtige Quelle <strong>für</strong> die Entwicklung<br />

aller Disziplinen bilden. Problematisch ist allerdings die Frage nach<br />

ihrer Qualität. Für Koppitz ist der Wert der Abhandlungen unbestreitbar. Er<br />

begründet dieses Urteil damit, dass viele berühmte oder zumin<strong>des</strong>t in der Wissenschaft<br />

bekannte Gelehrte als aktuelle oder ehemalige Gymnasiallehrer Programmabhandlungen<br />

geschrieben hätten. 103 Als Beleg da<strong>für</strong> nennt er u. a. Hegel<br />

und Görres, die um viele weitere prominente Namen ergänzt werden können.<br />

Tatsächlich fanden viele Abhandlungen insbesondere jener Lehrer, die an den<br />

bedeutendsten Schulen unterrichteten, in der Gelehrtenwelt Anerkennung. Die<br />

bereits oben dargestellte Kontroverse verdeutlicht jedoch, dass die Qualität der<br />

Arbeiten höchst unterschiedlich bewertet wurde. So heißt es im Vorbericht <strong>des</strong><br />

ersten Heftes <strong>des</strong> Magazins <strong>für</strong> Schulen und die Erziehung überhaupt: „Es ist<br />

bekannt, daß diese Art von Schriften, welche meistens geschrieben werden,<br />

weil man schreiben muß, selten der Ehre einer genauern Kritik gewürdigt werden,<br />

weil sie nur gar zu oft unter der Kritik sind.“ 104<br />

Während der Quellenwert <strong>für</strong> die allgemeine Wissenschaftsgeschichte bei den<br />

Abhandlungen der späten Erscheinungsjahre insgesamt und bei der davorliegenden<br />

Phase partiell fragwürdig ist, bleibt er <strong>für</strong> die Historische Bildungsforschung<br />

unbestreitbar. Allein die zahlreichen Schulgeschichten bilden unverändert<br />

eine wichtige Quelle, zumal die damaligen Historiographen vielfach über<br />

heute nicht mehr vorhandene Unterlagen verfügen konnten. Ein anderer, bislang<br />

wenig beachteter Forschungsaspekt sind Wandlungen in den Fachdidaktiken,<br />

soweit sie sich aus Schulprogramm-Abhandlungen erschließen lassen.<br />

Zwar fand der Diskurs pädagogischer Fragen im Zuge der Professionalisierung<br />

<strong>des</strong> Berufsstan<strong>des</strong> der Lehrer höherer Schulen zunehmend in Fachzeitschriften<br />

statt, aber der Aspekt, das schulische Umfeld, vor allem die Eltern, <strong>für</strong> fachdidaktische<br />

Veränderungen zu sensibilisieren und zu gewinnen, lässt sich kaum<br />

besser beobachten als in Schulprogramm-Abhandlungen.<br />

Wie weit gefächert die Bandbreite und die Bedeutung wissenschaftlicher Abhandlungen<br />

sind, zeigt sehr anschaulich der Gießener <strong>Bibliothek</strong>ar Lothar<br />

Kalok, der auf Arbeiten zur lokalen Flora und Fauna hinweist:<br />

1993 (Sozialhistorische Untersuchungen zur Reformpädagogik und Erwachsenenbildung, 15),<br />

S. 9–31.<br />

103 Koppitz: Bedeutung (wie Anm. 99), hier S. 341.<br />

104 Vorbericht. In: Magazin <strong>für</strong> Schulen und die Erziehung überhaupt. Nördlingen. Jg. 1. 1766<br />

(1766/67), H. 1, S. 1–11. – Digitalisat: http://www.bbf.dipf.de/cgi-shl/digibert.pl?id=BBF0542410;<br />

hier S. 4.


200 Dietmar Haubfl eisch / Christian Ritzi<br />

„So wird im Jahresbericht der höheren Mädchenschule in Gießen von 1895 in der<br />

Abhandlung ‚Der Schulgarten der höheren Mädchenschule in Gießen‘ von Carl Zimmer<br />

bei selteneren Pfl anzen angegeben, wo sie in der Nähe von Gießen gefunden und<br />

wie sie dann aus Samen im Schulgarten nachgezüchtet wurden. Es fi nden sich dort<br />

zahlreiche Pfl anzenarten, die es heute in Gießen und Umgebung nicht mehr gibt. Als<br />

Beispiele <strong>für</strong> systematische Untersuchungen seien genannt: Eduard Würth: ‚Übersicht<br />

der Laubmoose <strong>des</strong> Großherzogthums‘ (Wiss. Beilage zum Programm <strong>des</strong> großherzoglichen<br />

Realgymnasiums und der Realschule zu Darmstadt. 1888) und Wilhelm Lahm:<br />

‚Flora der Umgebung von Laubach (Oberhessen)‘ (Beilage zum Programm <strong>des</strong> Gymnasium<br />

Fridericianum in Laubach. 1887), die aus seiner Giessener Dissertation bestand.<br />

Wie diese Beispiele illustrieren, haben Lehrer im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert<br />

erheblich zur Kenntnis der einheimischen Flora und Fauna beigetragen.“ 105<br />

6. Die gegenwärtige Lage der Erschließung und Nutzung der<br />

Schulprogramme und mögliche Perspektiven<br />

Gesammelt wurden Schulprogramme zunächst in jenen Schulen, die Programme<br />

verfassten, im Tausch bezogen und in ihren zum Teil hervorragenden<br />

(wissenschaftlichen) Schulbibliotheken (Lehrerbibliotheken) aufbewahrten. 106<br />

Noch heute fi nden sich in <strong>Bibliothek</strong>en zahlreicher älterer Gymnasien umfangreiche<br />

Bestände an Schulprogrammen. Das belegt u. a. ein Blick in das Handbuch<br />

der historischen Buchbestände in Deutschland: 107 Von den hier verzeichneten<br />

<strong>Bibliothek</strong>en, die Schulprogramme mit Bestandsangaben nennen, weist<br />

das Görres-Gymnasium in Düsseldorf mit ca. 140.000 Schulprogrammen den<br />

zweitgrößten aller im Handbuch nachgewiesenen Bestände auf. 108 Das Kaiser-<br />

Karl-Gymnasium in Aachen folgt mit ca. 50.000 Bänden auf Platz fünf. 109<br />

Viele der höheren Schulen begannen jedoch bereits im Laufe <strong>des</strong> 19. und<br />

beginnenden 20. Jahrhunderts, ihre Bestände aus Platzgründen zu begrenzen,<br />

105 Kalok, Lothar: Schulprogramme – eine fast vergessene Literaturgattung. In: Aus mageren<br />

und aus ertragreichen Jahren. Hrsg. von Irmgard Hort und Peter Reuther. Gießen: 2007 (Berichte<br />

und Arbeiten aus der Universitätsbibliothek und dem Universitätsarchiv Gießen, 58), S. 174 –199,<br />

hier S. 179.<br />

106 Zur Verwendung und Aufbewahrung von Schulprogrammen in den Schulen: Struckmann,<br />

Caspar: Schulprogramme und Jahresberichte. Zur Geschichte einer wenig bekannten Schriftenreihe.<br />

Berlin: 1999: http://www.bbf.dipf.de/archiv/1999/abhand-003.htm; hier: o. S. [Kap. I].<br />

107 Fabian, Bernhard (Hrsg.): Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland. 27<br />

Bde. Hil<strong>des</strong>heim [u. a.]: 1992–2000 [zitiert als: Handbuch]. – Fabian, Bernhard (Hrsg.): Handbuch<br />

der historischen Buchbestände in Deutschland, Österreich und Europa. Digitalisiert von Günter<br />

Kükenshöner. Hil<strong>des</strong>heim 2003: http://www.b2i.de/fabian.<br />

108 Handbuch (wie Anm. 107), Bd. 3: Nordrhein-Westfalen, Teil A – I. Hil<strong>des</strong>heim [u. a.]: 1992,<br />

S. 287.<br />

109 Ebd., S. 76.


Schulprogramme – Geschichte und Bedeutung 201<br />

gaben sie aus Mangel an Interesse entweder an öffentliche oder wissenschaftliche<br />

<strong>Bibliothek</strong>en ab 110 oder – falls dies nicht gelang – entsorgten sie. 111 Man<br />

kann, wie Koppitz konstatierte, nur erahnen, wie viele „Tausende und Abertausende<br />

von solchen Publikationen, die sich in den Schulbibliotheken befanden“,<br />

in den letzten Jahrzehnten „einfach verschwunden und zum großen Teil nicht<br />

in den Bestand wissenschaftlicher <strong>Bibliothek</strong>en eingegliedert worden sind“. 112<br />

Was die großen wissenschaftlichen <strong>Bibliothek</strong>en anbelangt, so dürften mehr<br />

oder weniger alle über Splitterbestände von Schulprogrammen verfügen. Doch<br />

in der Regel fristen sie hier ein Schattendasein: Die <strong>Bibliothek</strong>en haben keinen<br />

Überblick darüber, wie viele Programme sich im eigenen Bestand befi nden, und<br />

die Bestände sind nicht oder nicht angemessen erschlossen und entsprechend<br />

wenig genutzt. Auch was die Bestandspfl ege anbelangt, erfahren die Schulprogramme<br />

zumeist eine stiefmütterliche Behandlung. So besitzt zum Beispiel die<br />

Universitätsbibliothek Marburg eine umfangreiche Sammlung an Schulprogrammen,<br />

hat diese auch in Katalogen nachgewiesen, hat aber laut Handbuch<br />

der historischen Buchbestände keinen Überblick darüber, wie umfangreich der<br />

Bestand in etwa ist. 113<br />

Als eine Besonderheit kann der Bestand der Universitätsbibliothek Gießen<br />

bezeichnet werden. Die <strong>Bibliothek</strong> konnte wegen hoher Kriegsverluste bei der<br />

Verteilung der Sondersammelgebiete durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft<br />

nicht berücksichtigt werden. Beseelt von dem Wunsch nach einer überregional<br />

bedeutsamen Sammlung, die ohne allzu große Kosten aufgebaut wer-<br />

110 So gibt die im Handbuch der Historischen Buchbestände mit einem Bestand von ca. 54.000<br />

Schulprogrammen ausgewiesene Universitätsbibliothek Kassel an, dass es sich bei ihrem Schulprogramm-Bestand<br />

überwiegend um Bände handelt, „die der <strong>Bibliothek</strong> von Kasseler Schulen übereignet<br />

wurden“ (Handbuch (wie Anm. 107), Bd. 5: Hessen, A – L. Hil<strong>des</strong>heim [u. a.]: 1992, S. 321).<br />

111 Struckmann: Schulprogramme (wie Anm. 106), o. S. [Kap. III], weist auf den Fall <strong>des</strong> Königlichen<br />

Gymnasiums in Oels (Schlesien) hin, wo die Schule anlässlich ihres Umzugs in einen Neubau<br />

1904 ihren Bestand kurzerhand von 35.600 auf 8.200 Schulprogramme reduzierte.<br />

112 Koppitz: Bedeutung (wie Anm. 99), S. 341.<br />

113 Handbuch (wie Anm. 107), Bd. 6: Hessen, M–Z. Rheinland-Pfalz, A–Z. Hil<strong>des</strong>heim [u. a.]:<br />

1993, S. 15 – 45. – Das Gros der Jahresberichte ist in einem gesonderten Zettelkatalog (Ordnungsfolge:<br />

Orte, Schulen, Jahrgänge) nachgewiesen, <strong>des</strong>sen Pfl ege spätestens Anfang der 1990er Jahre<br />

endete und der unter der Bezeichnung ‚Schulschriftenkatalog der UB Marburg‘ als Imagekatalog<br />

im Internet einsehbar ist: http://retro.hebis.de/marburg/indexschulschriften.html. Die wissenschaftlichen<br />

Abhandlungen sind davon getrennt in einem Dissertationenkatalog der UB Marburg<br />

nachgewiesen, <strong>des</strong>sen Pfl ege ebenfalls spätestens Anfang der 1990er Jahre endete und der ebenfalls<br />

als Imagekatalog im Internet aufrufbar ist: http://retro.hebis.de/marburg/indexdissertationen.html.<br />

Zusätzlich sind die Schulprogramme – und zwar die Jahresberichte und die wissenschaftlichen<br />

Abhandlungen gemeinsam – <strong>des</strong> hessischen Raumes in einem sog. Bandkatalog (Ordnungsfolge:<br />

Orte, Schulen, Jahrgänge) nachgewiesen, wobei ein Abgleich zwischen dem Bandkatalog und den<br />

oben genannten Zettelkatalogen nie stattgefunden hat. Schulprogramme, die z. B. als Abgaben aus<br />

Institutsbibliotheken oder als Geschenke seit Anfang der 1990er Jahre in den Bestand aufgenommen<br />

wurden, dürften in der Hessischen Verbunddatenbank verzeichnet sein.


Abb. 7: Aufbewahrung der Schulprogramme in der Universitäts- und<br />

Lan<strong>des</strong>bibliothek Düsseldorf.


Schulprogramme – Geschichte und Bedeutung 203<br />

den konnte, begann sie Ende der 1960er Jahre mit dem Aufbau einer Sammlung<br />

von Schulprogrammen ohne regionale Begrenzung. Dies gelang über antiquarische<br />

Käufe, beginnend mit dem Ankauf von 12.000 Schulprogrammen aus<br />

dem Zentralantiquariat der DDR, und Bestandsübernahmen aus anderen Einrichtungen,<br />

u. a. aus Lehrerbibliotheken von höheren Schulen aus Gießen und<br />

Umgebung, sodass eine Sammlung von ungefähr 55.000 Programm-Abhandlungen<br />

und min<strong>des</strong>tens ebensoviel beigedruckter oder ge trennter Schul-Jahresberichte<br />

und damit eine der umfangreichsten Schulprogrammsammlungen<br />

nicht nur deutscher und schweizerischer, sondern auch österreichisch-ungarischer<br />

Schulen (d. h. auch Titel von Orten, die heute in Italien und in osteuropäischen<br />

Ländern liegen) entstand. 114<br />

Der Gießener Bestand kann, wie Schubring schrieb, als „besonders gut<br />

gepfl egte Sammlung“ bezeichnet werden, „da hier zusätzlich auch viele<br />

Daten über die Lehrer als Autoren gesammelt sind, um beim Auftreten gleicher<br />

Autorennamen bei verschiedenen Schulen entscheiden zu können, ob es<br />

sich tatsächlich um den gleichen Verfasser handelt.“ 115 Vor allem aber ist die<br />

Sammlung der UB Gießen bekannt geworden durch das von Franz Kössler<br />

erstellte Verzeichnis von Programm-Abhandlungen deutscher, öster reichischer<br />

und schweizerischer Schulen der Jahre 1825–1918, das 1987 in vier Bänden, mit<br />

einem Ergänzungsband 1991, veröffentlicht wurde und seit einiger Zeit als frei<br />

zugängliche Datenbank zur Verfügung steht. 116<br />

Das Verzeichnis stellt im Kern einen Katalog der in der UB Gießen vorhandenen<br />

wissenschaftlichen Abhandlungen dar. Es weist darüber hinaus im<br />

Sinne einer Bibliographie alle von Kössler ausfi ndig gemachten wissenschaftlichen<br />

Abhandlungen nach, auch wenn sie sich nicht im Bestand der UB Gießen<br />

befi nden. Verzeichnet sind ebenso Veröffentlichungen, die außerhalb <strong>des</strong><br />

angegebenen Zeitrahmens von 1825 bis 1918 liegen. Leider wurden diejenigen<br />

Jahresberichte höherer Schulen, die ohne wissenschaftliche Abhandlungen<br />

erschienen sind, nicht berücksichtigt. 117<br />

114 Zum Hintergrund der Schulprogramm-Sammlung der UB Gießen: Schüling, Hermann: Vorwort.<br />

In: Kössler, Franz: Verzeichnis von Programm-Abhandlungen deutscher, österreichischer<br />

und schweizerischer Schulen der Jahre 1825–1918. Alphabetisch geordnet nach Verfassern. Mit<br />

einem Vorwort von Hermann Schüling. München [u. a.]: Bd. 1– 4 1987, Bd. 5 (Ergänzungsband)<br />

1991; hier Bd. 1, S. V–VI. – Kalok: Schulprogramme (wie Anm. 105), bes. S. 185 –195.<br />

115 Schubring: Bibliographie (wie Anm. 29), S. XVI.<br />

116 Gießener Schulprogrammsammlung: http://www.uni-giessen.de/ub/kataloge/schulprog.<br />

html. – Noch immer besteht Hoffnung, dass sich der von Koppitz: Bedeutung (wie Anm. 99),<br />

S. 342, geäußerte Wunsch erfüllt, die „Veröffentlichung dieses Verzeichnisses könnte […] zu einer<br />

angemesseneren Würdigung dieser Publikationsform beitragen“ und helfen „von den <strong>Bibliothek</strong>en<br />

unzureichend katalogisierte Bestände von Programmschriften – und deren gibt es mehr als genug –<br />

endlich vollständig zu erschließen.“<br />

117 Zur Problematik: Jakob, Hans-Joachim: Schulprogramme im 19. Jahrhundert. Anatomie


204 Dietmar Haubfl eisch / Christian Ritzi<br />

Nur an zwei Stellen wurden die seit 1825 entstandenen preußischen Schulprogramme<br />

bis 1915 vollständig gesammelt: an der Königlichen <strong>Bibliothek</strong> zu<br />

Berlin, der heutigen Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbe sitz, und<br />

in der <strong>Bibliothek</strong> <strong>des</strong> preußischen Kultusministeriums. Während im Bestand<br />

der Staatsbibliothek Kriegsverluste nicht ausgeschlossen sind, 118 ist der der <strong>Bibliothek</strong><br />

<strong>des</strong> ehemaligen preußischen Kultusministeriums vollständig erhalten.<br />

Im Zuge der bereits dargestellten Wieder einführung von Schulprogrammen<br />

Anfang der 1920er Jahre wurde deren Auswertung zu statistischen Zwecken<br />

der Auskunftstelle <strong>für</strong> Schulwesen übertragen. Zugleich wurde dieser Einrichtung<br />

die in der <strong>Bibliothek</strong> <strong>des</strong> Kultusministeriums befi ndliche Sammlung<br />

an Schulprogrammen überge ben. 1940 konnte der damalige Leiter der Reichsstelle<br />

zu Recht behaupten, dass es sich bei seiner Sammlung um „die vollständigste<br />

Sammlung [handelt], die irgendwo besteht“. 119<br />

Während <strong>des</strong> Zweiten Weltkrieges erlitt die Auskunftstelle bzw. Reichsstelle<br />

<strong>für</strong> Schulwesen zwar Beschädigungen auch in Archiv und <strong>Bibliothek</strong>, der<br />

Bestand der Schulprogramme konnte aber trotz mehrfa cher Bombentreffer<br />

gerettet werden, wenn auch einzelne Bände Brandschäden erlitten. 120 Er gelangte<br />

nach einer Zwischenstation (im Berliner Pädagogischen Zent rum, später<br />

Berliner Institut <strong>für</strong> Lehrerfort- und -weiterbildung, heute Lan<strong>des</strong>institut <strong>für</strong><br />

Schule und Medien (LISUM) 121 ) in die <strong>Bibliothek</strong> <strong>für</strong> <strong>Bildungsgeschichtliche</strong><br />

Forschung (BBF), wo er sich seit 1997 befi ndet. 122<br />

einer Publikationsform. In: Korte, Hermann (Hrsg.): „Die Wahl der Schriftsteller ist richtig zu<br />

leiten“. Kanoninstanz Schule. Eine Quellenauswahl zum deutschen Lektürekanon in Schulprogrammen<br />

<strong>des</strong> 19. Jahrhunderts. Frankfurt [u. a.]: 2005 (Siegener Schriften zur Kanonforschung, 1),<br />

S. 135 –154, hier S. 143 f.<br />

118 Schubring: Bibliographie (wie Anm. 29), S. XVI, geht davon aus, dass „die Sammlungen<br />

in den Magazinen der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in Berlin (West)“ eine „relativ<br />

vollständige Sammlung“ darstellen könnten, dass diese „allerdings überhaupt nicht katalogmäßig<br />

erschlossen [sind], so daß eine Benutzung recht aufwendig und mühsam ist“ und damit eine Prüfung<br />

der Lückenhaftigkeit <strong>des</strong> Bestan<strong>des</strong> faktisch nicht möglich ist.<br />

119 Max Kullnick: Die Reichsstelle <strong>für</strong> Schulwesen. In: Deutsche Schulerziehung. Jahrbuch <strong>des</strong><br />

Deutschen Zentralinstituts <strong>für</strong> Erziehung und Unterricht 1940. Bericht über die Entwicklung der<br />

deutschen Schule 1933–1939. Berlin: 1940, S. 355–360, hier S. 356.<br />

120 Betroffen davon sind Schulprogramme aus den 1920er Jahren, von denen zwischenzeitlich<br />

die Mehrzahl aufwendig restauriert wurde.<br />

121 Schubring: Bibliographie (wie Anm. 29), S. XXXIII, bedauerte zu Recht, dass (damals) in<br />

der Gutachterstelle <strong>für</strong> deutsches Schul- und Studienwesen, einer Abteilung <strong>des</strong> Pädagogischen<br />

Zentrums, „nicht die personellen und sachlichen Mittel vorhanden sind, um diese ausgezeichnete<br />

Sammlung zu pfl egen“, und dass die „wertvollen bildungshistorischen Sammlungen nicht den Stellenwert<br />

haben, den sie verdienen.“ Aus heutiger Sicht muss man es fast als ein Wunder begreifen,<br />

dass die Dokumente bis heute überhaupt ‚überlebt‘ haben.<br />

122 Der Kernbestand umfasst alle Schulprogramme der höheren Schulen Preußens zwischen<br />

1825 und 1940. Zur Übernahme der Schulprogramme und anderer bildungshistorischer Quellen<br />

aus dem LISUM vgl. Basikow, Ursula: Aus dem Archiv der <strong>Bibliothek</strong> <strong>für</strong> <strong>Bildungsgeschichtliche</strong><br />

Forschung <strong>des</strong> Deutschen Instituts <strong>für</strong> Internationale Pädagogische Forschung. In: Rundbrief der


Schulprogramme – Geschichte und Bedeutung 205<br />

Es wurde in diesem Aufsatz zu skizzieren versucht, welch reichhaltige, bislang<br />

nicht ansatzweise ausgeschöpfte Quelle die Schulprogramme <strong>für</strong> eine große<br />

Bandbreite wissenschaftlicher Fragestellungen darstellen. Einer Intensivierung<br />

neuer – und Schulprogramme in den Mittelpunkt <strong>des</strong> Interesses rückender –<br />

Forschungsarbeiten steht die augenblickliche Lage der Erschließung hemmend<br />

im Weg. Hier sind die wissenschaftlichen <strong>Bibliothek</strong>en als Dienstleister <strong>für</strong> die<br />

Forschung massiv gefordert – indem sie ihre Bestände kennenlernen, sachgemäß<br />

lagern und schützen, sie bibliographisch erschließen und durch Digita lisierung<br />

der Wissenschaft ort- und zeitungebunden zur komfortablen Nutzung bereitstellen.<br />

Unter anderem wegen <strong>des</strong> Gesamtvolumens der in den <strong>Bibliothek</strong>en<br />

lagernden Schulprogramme und der Überlieferungsgeschichte, aber auch mit<br />

Blick auf einen nutzerfreundlichen Zugang zu den zu schaffenden Digitalisaten<br />

erscheint hier ein kooperatives Vorgehen mehr als sinnvoll.<br />

Historischen Kommission der Deutschen Gesellschaft <strong>für</strong> Erziehungswissenschaft. Jg. 7 (1998),<br />

Heft 1: Mai 1998, S. 41– 45, hier S. 43 f. –<br />

Zu den Schulprogrammen in der BBF s. auch: Mönch, Regina: Die Preußen wußten noch, was<br />

in ihren Schulen los war. – Lehranstalten brauchen Schulprogramme: Ein Gang ins bildungsgeschichtliche<br />

Archiv. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.11.2002. – Ritzi, Christian: Schulprogramme/Jahresberichte.<br />

Zur Geschichte einer wenig beachteten Publikationsform. In: Sedina-<br />

Archiv. Familiengeschichtliche Mitteilungen Pommerns. Mitteilungen <strong>des</strong> Pommerschen Greif<br />

e. V., N.F. Bd. 11. Jg. 50 (2004), S. 155 –163. – Digitalisat: http://www.bbf.dipf.de/pdf/Aufsatz-<br />

Schulprogramme.pdf.

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