VI.5. 1945 und wir
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<strong>1945</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong><br />
Wie aus Tätern Opfer werden<br />
Von Norbert Frei<br />
Am 21. Januar verlassen die sächsischen NPD-Landtagsabgeordneten bei der<br />
Schweigeminute "für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft"<br />
demonstrativ geschlossen den Plenarsaal. In der anschließenden, auf Antrag der<br />
NPD-Fraktion zustande gekommenen aktuellen St<strong>und</strong>e zum 60. Jahrestag der<br />
Bombardierung von Dresden sprechen die NPD-Abgeordneten Holger Apfel <strong>und</strong><br />
Jürgen Gansel offen vom „Bomben-Holocaust".<br />
Dezidierter <strong>und</strong> kalkulierter ist in der Geschichte der B<strong>und</strong>esrepublik die Verkehrung<br />
der Unterscheidung von Opfern <strong>und</strong> Tätern bis dahin noch nicht betrieben worden.<br />
Dabei stellt der Skandal von Dresden nur den vorläufigen Höhepunkt einer langen<br />
Geschichte der Schuldabwehr <strong>und</strong> Schuldverkehrung dar. Diese reicht bis zu den<br />
Anfängen der B<strong>und</strong>esrepublik zurück - <strong>und</strong> erlebt in den vergangenen Jahren eine<br />
fatale Renaissance. Weit über das rechtsradikale Spektrum hinaus mehren sich die<br />
Anzeichen für einen Rückfall in die Deutungsmuster der 50er Jahre, in denen sich die<br />
Deutschen als Hitlers erste - <strong>und</strong> eigentliche - Opfer verstanden. 1<br />
"Wer sind denn <strong>wir</strong>klich die Kriegsverbrecher?" So fragte rhetorisch, im Oktober<br />
1952, Bernhard Rameke beim ersten Nachkriegstreffen der WaffenSS in Verden an<br />
der Aller. Die Antwort des Fallschirmjäger-Generals a. D. war damals weit über seine<br />
Zuhörerschaft hinaus populär: Jene, "die ohne taktische Gründe ganze Städte<br />
zerstörten, die die Bomben auf Hiroshima warfen <strong>und</strong> neue Atombomben<br />
herstellen". 2<br />
Solch scheinmoralische Kritik an den Siegermächten war Anfang der 50er Jahre im<br />
Westen Deutschlands keine Seltenheit, aber auch im Osten anzutreffen – dort freilich<br />
seitens des Regimes propagandistisch streng begrenzt auf das Stichwort Dresden<br />
<strong>und</strong> die Kriegführung von Briten <strong>und</strong> Amerikanern. Handelte es sich in der DDR um<br />
den "von oben" gelenkten Versuch, jüngst vergangene deutsche Leiderfahrung im<br />
Sinne der aktuellen Ost-West-Konfrontation politisch auszumünzen, so in der<br />
B<strong>und</strong>esrepublik um das "von unten" artikulierte Verlangen nach Rücknahme der<br />
politischen Säuberungsanstrengungen der westlichen Alliierten, das in der Forderung<br />
nach Freilas-<br />
*<br />
Dieser Text basiert auf dem soeben im C.H. Beck-Verlag erschienenen Buch des Autors "Hitlers<br />
Erbe: Die Deutschen <strong>und</strong> das Dritte Reich".<br />
1 Vgl. Robert G. Moeller, War Stories. The Search for a Usable Past in the Federal Republic of<br />
Germany, Berkeley, Los Angeles <strong>und</strong> London 2001; als Überblick <strong>und</strong> guter Einstieg in das<br />
Themenfeld: Klaus Naumann (Hg.), Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001.<br />
2<br />
Zit. n. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik, München 1996, S. 282.
sung der seit <strong>1945</strong> verurteilten Kriegsverbrecher gipfelte. Unter der Oberfläche<br />
allerdings ging es in diesen Diskursen hier wie dort um mehr, nämlich um<br />
sozialpsychische Schuldentlastung auf sozusagen breitester Front.<br />
Denn während die außenpolitische Räson der beiden neuen Staaten es gebot, der<br />
"Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft" bzw. der "Opfer des Faschismus"<br />
zu gedenken, erwartete die Mehrheit der vormaligen Volksgemeinschaft<br />
wie selbstverständlich die Anerkennung aller ihrer Opfer - auch jener, die sich für die<br />
Sache des Nationalsozialismus geopfert hatten.<br />
Von den Opfern der Deutschen zu den Deutschen als Opfer<br />
Das größte Interesse an dieser Politik der Schuldeinebnung lag bei der um 1905<br />
geborenen Funktionsgeneration des Nationalsozialismus, die die Geschicke der<br />
westdeutschen Gesellschaft noch lange bestimmte (<strong>und</strong> auch im Osten nicht ohne<br />
Einfluss blieb). Es war in aller Regel diese Altersgruppe, aus der – anders als heute<br />
vielfach behauptet: keineswegs erst nach Jahrzehnten, sondern regelmäßig seit<br />
Gründung der B<strong>und</strong>esrepublik – das Argument des tu quoque <strong>und</strong> der Hinweis auf<br />
Bombenkrieg, Flucht <strong>und</strong> Vertreibung kam, wenn sich das offizielle Bonn zu einem<br />
verantwortungsvollen Umgang mit der Jüngsten Geschichte" bekannte. Mit ihrer<br />
reflexartigen Schuldabwehr, die Besucher wie Hannah Arendt schon in den ersten<br />
Nachkriegsjahren konstatierten 3 , später mit dem beredten Schweigen auf die Fragen<br />
der eigenen Kinder, verstellten sich wohl die meisten aus diesen Jahrgängen, die an<br />
Hitler geglaubt <strong>und</strong> das System getragen hatten, die Möglichkeit einer echten Trauer<br />
auch über das eigene Leid.<br />
Die "skeptische Generation" der Wehler, Walser, Grass <strong>und</strong> Habermas zog aus<br />
dieser Gr<strong>und</strong>stimmung ihre eigenen Schlüsse. Dazu gehörte zunächst die<br />
Weigerung, sich dem Selbstmitleid der nach-nationalsozialistischen Volksgemeinschaft<br />
anzuschließen, seit den späten 50er <strong>und</strong> frühen 60er Jahren dann aber<br />
auch zunehmend der Mut, dem fortlebenden Hang zur Apologie einen anderen,<br />
aufklärerischen Diskurs entgegenzustellen. Herrschaftsfrei war daran freilich wenig;<br />
den einstigen Flakhelfern <strong>und</strong> jungen Frontsoldaten ging es, wie bald darauf den<br />
Acht<strong>und</strong>sechzigern, um politisch-kulturelle Hegemonie, die sich nicht zuletzt im<br />
richtigen – <strong>und</strong> das hieß: selbstkritischen – Sprechen über die Vergangenheit<br />
manifestierte.<br />
Für die "deutschen Opfer", für die Bomben- <strong>und</strong> Vertreibungstoten, auch für die<br />
gefallenen Soldaten, war in diesem neuen Diskurs tatsächlich wenig Platz -<br />
wenngleich, wie die florierende Verbandspublizistik <strong>und</strong> nicht zuletzt die offiziösen<br />
Großdokumentationen über Flucht <strong>und</strong> Kriegsgefangenschaft belegen, von einer<br />
"Tabuisierung" keine Rede sein konnte. Aber der Entschluss der damals um die<br />
30jährigen, links bis liberal gesinnten Intellektuellen, den Oktroi des Westens als<br />
"zweite Chance" (Fritz Stern) zur Demokratie kraftvoll zu nutzen, bedurfte einer<br />
gewissen Selbstimmunisierung: auch durch die Zurückweisung falsch gestellter<br />
Fragen <strong>und</strong> revisionistischer Antworten.<br />
3<br />
Hannah Arendt, Besuch in Deutschland, in: dies., Zur Zeit. Politische Essays, München 1989, S.43-<br />
70.
Aus dieser Einsicht in die demokratiepolitisch notwendige Unterscheidung zwischen<br />
privater Erinnerung <strong>und</strong> staatlicher Geschichtsrepräsentation erklären sich die<br />
Stärken wie manche Schwächen jener altb<strong>und</strong>esrepublikanischen "Vergangenheitsbewältigung",<br />
die sich als Gegenentwurf zur fortgesetzten Verdrängung<br />
herausbildete <strong>und</strong> inzwischen selbst schon Historie geworden ist. Wer ihren<br />
gesellschaftlichen Nutzen im Rückblick bewerten möchte, tut gut daran, die<br />
denunziatorische Opposition der Verstockten in Rechnung zu stellen, die in der<br />
kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit über Jahrzehnte hinweg stets<br />
nur eine schwarze Pädagogik der "Umerziehung" erblickten, die den nationalen<br />
Selbstbehauptungswillen der Deutschen unterminiere. 4<br />
Vielleicht spielte das Nachlassen dieser Abwehrhaltung eine Rolle, ganz sicher aber<br />
die veränderte Generationenkonstellation <strong>und</strong> ein die Selbstversöhnung des Alters<br />
suchender Blick auf die eigene Biographie, wenn sich im Laufe der 90er Jahre<br />
manche ihrer ursprünglichen Verfechter vom Ethos der "Vergangenheitsbewältigung"<br />
zu distanzieren begannen.<br />
Jedenfalls war jene Selbstentpflichtung aus dem "Erinnerungsdienst", die Martin<br />
Walser 1998 in der Paulskirche vortrug, nur das spektakulärste Beispiel für sich<br />
wandelnde Positionen. Die Suche nach einem Verhältnis zu unserer Vergangenheit,<br />
das den neuen Konstellationen angemessen scheint, ist seitdem eröffnet. Vielen geht<br />
es dabei, wie Günter Grass 2002 in seiner Novelle über den Untergang der "Wilhelm<br />
Gustloff ", offenbar um mehr Verständnis für die Erfahrungen <strong>und</strong> Zwangslagen des<br />
Einzelnen- <strong>und</strong> um nachgetragene Empathie (auch) für die Opfer unter den<br />
Deutschen. Irritierend an diesem "Krebsgang" bleibt allerdings Grass' rhetorischer<br />
Trick, in der Gestalt des "Alten" sich selbst als Überwinder eines ungerechtfertigten<br />
"Tabus" zu feiern – nämlich der angeblichen Vernachlässigung des Leids der<br />
Vertriebenen. Fast musste man den Eindruck bekommen, als habe der<br />
Nobelpreisträger seine Blechtrommel beiseite gestellt <strong>und</strong> eifere der frivolen<br />
vergangenheitspolitischen Egozentrik seines Altersgenossen Walser nach.<br />
Inzwischen zeichnet sich deutlicher ab, was bereits in der nicht sonderlich großen,<br />
aber signifikanten Gruppe der Soldatensöhne zu beobachten war, die seinerzeit<br />
gegen die Wehrmachtsausstellung demonstrierte: Auch in Teilen der Acht<strong>und</strong>sechziger-Generation,<br />
nicht zuletzt bei denen, die sich einst als Revolutionäre<br />
begriffen, wächst die Bereitschaft zum milderen Urteil, ja zur Revision. Der radikale<br />
Perspektivenwechsel – von den Opfern der Deutschen zu den Deutschen als Opfer<br />
–, wie ihn der vormalige Linksaußen Jörg Friedrich mit seinen expressionistischen<br />
Kaskaden über den Bombenkrieg zelebriert 5 mag immer noch die Ausnahme sein.<br />
Aber wer ein wenig darauf achtet, der vernimmt aus Kreisen, die einstmals alles,<br />
gerade auch das Private, für politisch hielten, unterdessen vielfach erstaunlich<br />
unpolitische Töne einer pri-<br />
4 Vgl. Caspar von Schrenck-Notzing, Charakterwäsche. Die amerikanische Besatzung in Deutschland<br />
<strong>und</strong> ihre Folgen, Stuttgart 1965; Armin Mohler, Der Nasenring. Im Dickicht der Vergangenheitsbewältigung,<br />
Essen 1989.<br />
5 Jörg Friedrich, Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg, München 2002; ders., Brandstätten. Der<br />
Anblick des Bombenkriegs, München 2003; kritisch dazu: Lothar Kettenacker (Hg.), Ein Volk von<br />
Opfern? Die neue Debatte um den Bombenkrieg 1940-45, Berlin 2003.
vatistischen Geschichtsbetrachtung, in der sich die Unterschiede zwischen Tätern,<br />
Opfern <strong>und</strong> Mitläufern verwischen.<br />
Wo man vor drei Jahrzehnten (meist vergeblich) nach dem "roten Großvater"<br />
fahndete, dominiert mittlerweile der Wunsch nach Aussöhnung mit den alten Eltern.<br />
Und wo diese nicht mehr möglich ist, entdeckt sich – <strong>wir</strong> leben im Zeitalter der<br />
Opferkonkurrenz – neues Leid aus der Scham über die vertane Chance. Entsprechend<br />
mahnt eine pathetische Psychohistorie, den letzten Zeitzeugen" Gehör zu<br />
schenken. Unter dem Motto: "Bevor es zu spät ist, geht es nicht mehr nur um<br />
Gespräche mit Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung, sondern ganz<br />
unterschiedslos – <strong>und</strong> gleichwohl empathisch – um" Begegnungen mit der Kriegsgeneration"<br />
6 . Die deutsche Gegenwartsliteratur reagiert auf dieses Bedürfnis nach<br />
weicheren Bildern mit dem grassierenden Genre des Familienromans ". 7<br />
Doch nicht allein in Büchern <strong>wir</strong>d den Mitläufern <strong>und</strong> Tätern, die zu Opfern wurden,<br />
das späte Mitgefühl ihrer Kinder zuteil; die Therapeutenszene kennt augenscheinlich<br />
viele Deutsche der "zweiten Generation", die als Täter-Kinder nun versuchen, ihre<br />
Väter <strong>und</strong> Mütter zu verstehen. Die Psychodynamik der Generationenfolge will es,<br />
dass sich für die Kinder des Krieges mit dem Verschwinden der letzten aus den<br />
Jahrgängen ihrer Eltern die Perspektiven auf die Vergangenheit noch einmal deutlich<br />
verändern – bis hin zur Chance, sich selbst <strong>und</strong> die eigene Kohorte als Opfer zu<br />
erkennen: des Bombenkriegs, der Vertreibung, der ererbten Schuldgefühle. Die<br />
Identifikation mit den Opfern des Holocaust, einstmals Ausdruck einer bewussten<br />
Distanzierung von der Elterngeneration, tritt darüber offenbar in den Hintergr<strong>und</strong>. 8<br />
Die Folge davon ist ein vielschichtiger Prozess der Diffusion, wenn nicht des<br />
Transfers von Empathie. Denn nicht nur rücken die Deutschen der "ersten<br />
Generation` in der Wahrnehmung ihrer Kinder dorthin zurück, wo sie sich selbst am<br />
Ende der Hitler-Zeit gesehen hatten, nämlich an der Seite oder gar an der Stelle der<br />
Opfer des Nationalsozialismus; darüber hinaus erheischt die "zweite Generation" –<br />
für sich selbst <strong>und</strong> für ihr Bild von ihren Eltern – die Anerkennung der eigenen<br />
Kinder, mithin der "dritten Generation". Damit stehen, weil die Täter fast ausnahmslos<br />
gestorben sind, den wenigen noch lebenden Opfern des Holocaust <strong>und</strong><br />
anderer nationalsozialistischer Verbrechen sowie deren Kindern <strong>und</strong> Kindeskindern<br />
inzwischen immer mehr Deutsche gegenüber, die sich ihrerseits als Opfer begreifen.<br />
Seit die Flakhelfer abgewählt sind, seit dem Ende der Ära Kohl, hat ein neuer Ton im<br />
Umgang mit der Vergangenheit auch Einzug in die Politik gehalten. Dabei ist es von<br />
verstörender Ironie zu sehen, mit welchem Behagen sich die Generation Schröder im<br />
Gnadenstand jener" späten Geburt" einrichtet, von der, seine Dankbarkeit zum<br />
Ausdruck bringend, der vormalige<br />
6 Bruni Adler, Bevor es zu spät ist. Begegnungen mit der Kriegsgeneration, Tübingen 2004.<br />
7 Vgl. exemplarisch Harald Welzer, Schön unscharf. Über die Konjunktur der Familien- <strong>und</strong> Generationenromane,<br />
in: "Mittelweg 36", 1/2004, S, 53-64.<br />
8 Dazu aus psychoanalytischer Sicht aufschlussreich: Christian Schneider, Der Holocaust als<br />
Generationsobjekt. Generationsgeschichtliche Anmerkungen zu einer deutschen Identitätsproblematik,<br />
in: Margrit Frölich, Yariv Lapid <strong>und</strong> Christian Schneider (Hg.), Repräsentationen des Holocaust<br />
im Gedächtnis der Generationen. Zur Gegenwartsbedeutung des Holocaust in Israel <strong>und</strong> Deutschland,<br />
Frankfurt a. M. 2004, S. 234-252.
Hitler-Junge Günter Gaus gesprochen hatte, noch ehe sich ein nur wenig älterer<br />
Helmut Kohl damit in Israel blarnierte. 9<br />
Von Kohl zu Schröder<br />
Doch das ist 20 Jahre her. Seitdem sind weitere Verkündungen des "Endes der<br />
Nachkriegszeit" ins Land gegangen, <strong>und</strong> der Nachfolger im Kanzleramt des "neuen<br />
Deutschland" (auch dies schon ein Kohl-Wort von damals) kann vieles äußern, was<br />
einem Vorgänger noch reichlich übel genommen worden wäre – zum Beispiel den<br />
bei Amtsantritt formulierten Wunsch nach einem Holocaust-Denkmal, zu dem die<br />
Menschen" gerne hingehen". 10 Wenn Gerhard Schröder im Irakkonflikt einen<br />
selbstbewussten "deutschen Weg“ bezeichnet, wenn er auf einem ständigen Sitz im<br />
UN-Sicherheitsrat beharrt – für Deutschland, nicht für Europa – <strong>und</strong> in der Normandie<br />
aus Anlass des 60. Jahrestages der alliierten Invasion postuliert, für eine Nation zu<br />
sprechen, die "den Weg zurück in den Kreis der zivilisierten Völkergemeinschaft"<br />
gef<strong>und</strong>en hat, 11 dann ist das alles keineswegs nur die Konsequenz einer durch den<br />
Epochenbruch von 1989/90 objektiv veränderten politischen Lage. Es ist vielmehr<br />
auch Ausdruck einer subjektiv als derart groß erlebten Distanz zum "alte[nl<br />
Deutschland jener finsteren Jahre", dass sogar ein neues Spiel auf der Klaviatur des<br />
symbolpolitisch wieder für attraktiv gehaltenen Patriotismus erlaubt zu sein scheint.<br />
Gerhard Schröder, Halbwaise, Jahrgang 1944, aufgewachsen in prekären materiellen<br />
Verhältnissen, hat beste Aussichten, zum heimlichen Repräsentanten jener<br />
rasch sich ausbreitenden Erinnerungsgemeinschaft der Kriegskinder12 zu werden,<br />
deren Selbsterfindung <strong>wir</strong> gerade erleben: "Das Grab meines Vaters, eines Soldaten,<br />
der in Rumänien fiel, hat meine Familie erst vor vier Jahren gef<strong>und</strong>en. Ich habe<br />
meinen Vater nie kennen lernen dürfen." - Wer als Staatsmann in diesem Modus des<br />
Privaten über die Geschichte spricht, der bekennt sich damit nicht nur zu einer<br />
kohortentypischen " Schicksalslage " (Helmut Schelsky), der <strong>wir</strong>kt auch mit an einer<br />
Umcodierung der Vergangenheit. In deren Mittelpunkt schieben sich nun: die<br />
Deutschen als Opfer.<br />
Dort aber liegen auch die Intentionen jenes "Zentrums gegen Vertreibungen", dessen<br />
Errichtung die Vorsitzende des B<strong>und</strong>es der Vertriebenen, Erika Steinbach, Jahrgang<br />
1943, seit einiger Zeit mit aller Macht verfolgt. Die beträchtliche mediale Resonanz 13 ,<br />
die das Projekt im Zeichen des Übergangs<br />
9 Kohl benutzte die von Gaus geprägte Wendung am 24.1.1984 zur Eröffnung einer Ansprache vor der<br />
Knesset: "Ich rede vor Ihnen als einer, der in der Nazizeit nicht in Schuld geraten konnte, weil er die<br />
Gnade der späten Geburt <strong>und</strong> das Glück eines besonderen Elternhauses gehabt hat.<br />
10 So Gerhard Schröder am 1.11.1998 in einem Interview mit dem Fernsehsender SAT1.<br />
11 Rede des B<strong>und</strong>eskanzlers am 6.6.2004 in Caen, dokumentiert in: "Blätter", 7/2004, S. 895 f.<br />
12 Vgl. Sabine Bode, Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen, Stuttgart<br />
2004; Hilke Lorenz, Kriegskinder. Das Schicksal einer Generation, München 2003.<br />
13<br />
Sowohl ARD als auch ZDF haben das Thema mit mehrteiligen Dokumentationen <strong>und</strong><br />
Begleitbüchern aus der Perspektive der Zeitzeugen aufgegriffen. Aus der Fülle der aktuellen Literatur<br />
vgl. Helga Hirsch, Schweres Gepäck. Flucht <strong>und</strong> Vertreibung als Lebensthema, Hamburg 2004.<br />
Exemplarisch für das demagogische Spiel mit angeblichen Tabus: Klaus Rainer Röhl, Verbotene<br />
Trauer. Ende der deutschen Tabus. Mit einem Vorwort von Erika Steinbach, München 2002.
von der "Erlebnis-" zur "Bekenntnisgeneration" der Vertriebenen erfährt, ist zweifellos<br />
einer der Gründe dafür, dass die B<strong>und</strong>esregierung dagegen bisher nur parteitaktische<br />
Ablehnung zu formulieren wagte, aber kaum inhaltliche Kritik. Ungeachtet<br />
der gravierenden Bedenken vieler in- <strong>und</strong> ausländischer Fachleute, 14 vor allem aber<br />
auch gegen die öffentliche Meinung in Polen <strong>und</strong> Tschechien, soll das Zentrum nun<br />
im nationalen Alleingang realisiert werden – <strong>und</strong> zwar in Berlin, in demonstrativer<br />
Konkurrenz zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas <strong>und</strong> zu anderen, zum<br />
Teil erst noch entstehenden Erinnerungsstätten für die Opfer der NS-Verbrechen,<br />
darunter dem Denkmal für die ermordeten Sinti <strong>und</strong> Roma. Steinbachs wiederholte<br />
Beteuerungen, man wolle mit der Stiftung die europäische Dimension der<br />
Vertreibung betonen <strong>und</strong> ein "weltweit" <strong>wir</strong>kendes Instrument schaffen, "das dazu<br />
beiträgt, Vertreibung <strong>und</strong> Genozid gr<strong>und</strong>sätzlich als Mittel von Politik zu ächten" 15 ,<br />
<strong>wir</strong>ken vor diesem Hintergr<strong>und</strong> wenig überzeugend. Die Verheerungen, die das<br />
Vorpreschen der Vertriebenenfunktionärin <strong>und</strong> ihre unklare Haltung zu den<br />
Restitutionsforderungen einer obskuren "Preußischen Treuhand" in den deutschpolnischen<br />
Beziehungen angerichtet haben, bedeuten nicht zuletzt einen schweren<br />
Rückschlag für die Bemühungen um ein gemeinsames europäisches Geschichtsbewusstsein<br />
hinsichtlich des Zweiten Weltkriegs <strong>und</strong> seiner Folgen.<br />
Nationalsozialismus <strong>und</strong> Stalinismus<br />
Doch die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus ist unterdessen<br />
noch auf einer anderen Ebene der Relativierung ausgesetzt, auf der es ebenfalls um<br />
deutsche Opfer geht: nämlich mit Blick auf die Verbrechen des Stalinismus. Das<br />
Problem liegt dabei nicht so sehr, wie noch zu Zeiten des Historikerstreits, in der<br />
Frage der Singularität des Holocaust <strong>und</strong> der Legitimität des Vergleichens, sondern<br />
in dem nivellierenden Anspruch auf Anerkennung einer "doppelten Diktatur". Wo<br />
historisch-politischer Verantwortungssinn es gebietet, auf Abfolgen, Kausalitäten <strong>und</strong><br />
Dimensionen des Terrors zu achten, neigt eine vor allem in Ostdeutschland (natürlich<br />
nicht bei der PDS) populäre Opferperspektive zur Entdifferenzierung des Gedenkens.<br />
Ausgangspunkt ist dabei das Gefühl, die Stätten politischer Verfolgung unter der<br />
sowjetischen Besatzung <strong>und</strong> in der DDR erführen weniger Beachtung <strong>und</strong> finanzielle<br />
Förderung als die Orte der Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus.<br />
Im Deutschen B<strong>und</strong>estag hat diese Auffassung ihren Niederschlag in einem Antrag<br />
gef<strong>und</strong>en, mit dem die Unionsfraktion – symbolträchtig am 17. Juni 2004 – ein<br />
"Gesamtkonzept für ein würdiges Gedenken aller Opfer der beiden deutschen<br />
Diktaturen" verlangte. Der "millionenfache Mord an den europäischen Juden" weide<br />
zwar, so hieß es in einer erst nach Protesten in die<br />
14 Als Einstieg ausgezeichnet: "Zeitschrift für Geschichtswissenschaft", 1/2003, Themenheft: Flucht<br />
<strong>und</strong> Vertreibung in europäischer Perspektive.<br />
15 Zit. n. www.b<strong>und</strong>-der-vertriebenen.de/infopool/zentrumggvertreibung.php3.
Vorlage aufgenommenen, nicht nur sprachlich misslungenen salvatorischen Klausel,<br />
"immer ein spezielles Gedenken erfordern"; im Übrigen aber seien beide deutschen<br />
Diktaturen "von einer Gewaltherrschaft geprägt [gewesen], die sich in der<br />
systematischen Verfolgung <strong>und</strong> Unterdrückung ganzer Bevölkerungsgruppen<br />
manifestiert hat". Die Sorge, dass eine solche Argumentation auf angleichende<br />
Deutung zielt, die kategorialen Unterschiede von Gewalt <strong>und</strong> Genozid verwischt <strong>und</strong><br />
zum Thema Zustimmung, Regimeloyalität <strong>und</strong> Täterschaft kein Wort verliert, vermag<br />
auch der Hinweis nicht zu zerstreuen, mit dem der einstige DDR-Bürgerrechtler<br />
Günter Nooke den Antrag im Parlament einbrachte: "Es steht ohne Zweifel: Bautzen<br />
ist nicht Auschwitz! " 16<br />
Diese Rhetorik der Plattitüden ist Teil des Problems, das zu lösen sie vorgibt. Ihr Ziel<br />
ist eine politische Diskursverlagerung <strong>und</strong> die staatliche Kanonisierung eines<br />
"nationalen Gedenkens", das die historischen Proportionen zu Gunsten der<br />
Erinnerung an die Opfer des deutschen Kommunismus – <strong>und</strong> nicht zuletzt: an die<br />
Vorkämpfer seiner friedlichen Überwindung – verschiebt. Anstelle der deutschen<br />
Täter <strong>und</strong> Mitläufer sollen die deutschen Opfer <strong>und</strong> Freiheitshelden in den<br />
Vordergr<strong>und</strong> treten, <strong>und</strong> dazu passt, dass die Antragsbegründung drei weitere<br />
"Ereignisse <strong>und</strong> Themenkomplexe" aufzählt, die "in der Erinnerungskultur der<br />
Deutschen zu Recht einen herausgehobenen Platz beanspruchen": die "Opfer von<br />
Flucht <strong>und</strong> Vertreibung", die "zivilen Opfer der alliierten Luftangriffe" sowie die<br />
"friedliche Revolution <strong>und</strong> Wiederherstellung der staatlichen Einheit " . 17<br />
Bereits vor dieser aufschlussreichen Geschichtsdebatte des B<strong>und</strong>estages, die im<br />
Ausland kritischere Beachtung als im Inland fand, hatte im Februar 2003, von einer<br />
breiteren Öffentlichkeit ebenfalls kaum registriert, der sächsische Landtag ein<br />
Gedenkstättengesetz verabschiedet, dessen "Analogisierung <strong>und</strong> Relativierung von<br />
NS-Verbrechen gegenüber denen des Stalinismus <strong>und</strong> der Staatssicherheit der<br />
DDR" den Zentralrat der Juden in Deutschland zur Aufkündigung seiner<br />
Zusammenarbeit mit der Stiftung Sächsische Gedenkstätten bewog. Auch die<br />
Empörung des stellvertretenden Zentralratsvorsitzenden Salomon Korn über die<br />
ethnozentrische Rede der vormaligen lettischen Außenministerin <strong>und</strong> nachmaligen<br />
EU-Kommissarin Sandra Kalniete, die im Frühjahr 2004 auf der Leipziger<br />
Buchmesse "Nazismus <strong>und</strong> Kommunismus" als "gleich kriminell" bezeichnete, von<br />
der Beteiligung der Letten am Holocaust jedoch geschwiegen hatte, stieß in den<br />
deutschen Feuilletons auf wenig Unterstützung – ganz zu schweigen von den herben<br />
Reaktionen auf Korns Plädoyer gegen die auf Wunsch des B<strong>und</strong>eskanzlers von der<br />
Stiftung Preußischer Kulturbesitz präsentierte "Friedrich Christian Flick Collection " in<br />
Berlin. 18<br />
Schröders dortige Eröffnungsrede demonstrierte, wie frei sich der Kanzler im<br />
Umgang mit der deutschen Vergangenheit fühlt: Nicht nur rechtfertigte er<br />
16 Vgl. Otto Köhler, Gedenkstättendialektik, in: "Blätter", 8/2004, S. 906-908.<br />
17 Deutscher B<strong>und</strong>estag, 15. Wahlperiode, Drucksache 15/3048 bzw. Stenographische Berichte, 114.<br />
Sitzung vom 17.6.2004.<br />
18 Beide Texte jetzt in: Salomon Korn, Die fragile Gr<strong>und</strong>lage. Auf der Suche nach der deutschjüdischen<br />
"Normalität", (erweiterte Auflage) Berlin 2004.
die Entscheidung zu Gunsten Flicks, dabei Ursache <strong>und</strong> Wirkung vertauschend, als<br />
eine "Garantie gegen "Geschichtsvergessenheit"; seinen Kritikern erteilte er auch<br />
noch Zensuren: "Die öffentliche Debatte, die um die Ausstellung <strong>und</strong> ihren Sammler<br />
entbrannt ist, ist produktiv - jedenfalls gelegentlich – <strong>und</strong> auch lehrreich – nicht<br />
immer. " 19 In den Medien verlief die Sache am Ende so, wie Schröders spin doctors<br />
sich das gewünscht haben mussten: im Sande, aber nicht folgenlos.<br />
"Schlussstrich mit links" ?<br />
Denn inzwischen gilt Gerhard Schröders Auftritt vor der Flick-Collection manchen<br />
Beobachtern bereits als Glied in einer Kette, die mit den Veranstaltungen zum 60.<br />
Jahrestag des D-Days <strong>und</strong> des Warschauer Aufstands begann <strong>und</strong> außenpolitisch<br />
mit der Teilnahme an den Moskauer Feierlichkeiten zum 9. Mai 2005 ihren Abschluss<br />
finden soll: "Bausteine einer Neupositionierung Deutschlands – einer sehr bewussten<br />
Vergangenheitspolitik", so ein Kommentator des ZDF. 20 Und unter der Überschrift<br />
"Schlussstrich mit links“ feierte im "Stern" einer der treuesten journalistischen<br />
Interpreten des Kanzlers diesen ob seines Eintretens für Flick gar als "Erlöser, der<br />
Schluss macht mit vergangenheitsverhafteter Selbstkasteiung. Die Bürde der NS-<br />
Verbrechen <strong>wir</strong>d umgeladen von der Schulter drückender Schuldgefühle auf die<br />
Schulter historischer Verantwortung - <strong>und</strong> damit leichter". 21<br />
Das Ende der Schuld scheint also nahe, <strong>und</strong> von links bis rechts sind die Erwartungen<br />
an diesen Zustand groß. Einem Land, in dem keine Täter mehr leben,<br />
eröffnen sich, so die Auguren, bisher nicht gekannte Chancen, Vielleicht noch größer<br />
als in der Politik, wo Europa Halt <strong>und</strong> Rahmen gibt, sind die Hoffnungen in der<br />
Wirtschaft, deren Wortführer auf den Abschied von "deutscher Selbstzerstörung"<br />
durch zu viel Geschichte setzen 22 <strong>und</strong> wo die erzwungene Zwangsarbeiterentschädigung<br />
als abgehakter letzter Akt auf dem Weg zu fürderhin ungestörten<br />
Geschäften mit dem Ausland gilt. Von dem Aufbruch in eine Unternehmenskultur, die<br />
Anfang der 90er Jahre Selbstaufklärung <strong>und</strong> historische Bewusstseinsbildung<br />
versprach, ist denn auch kaum mehr geblieben als ein Dutzend ungelesener<br />
Konzerngeschichten.<br />
Noch unausgegoren, aber unübersehbar, macht sich ein neues Geschichtsgefühl<br />
breit. 23 Gewiss, die politisch-normative Großdeutung der Kapitulation des Deutschen<br />
Reiches <strong>wir</strong>d auch im Abstand von 60 Jahren der Linie folgen, welcher Richard von<br />
Weizsäcker 1985 – spät genug – zur Durchsetzung ver-<br />
19 Rede von B<strong>und</strong>eskanzler Schröder zur Eröffnung der Friedrich Christian Flick Collection am<br />
21.9.2004 in Berlin, dokumentiert in: "Blätter“, 11/2004, S. 1398-1400.<br />
20<br />
Peter Frey, Der Kanzler <strong>und</strong> ein neues Klima. in: ZDF online vom 29.9.2004,<br />
http://zdf.de/ZDFde/inhalt/21/018722195925.00.html.<br />
21 Hans-Ulrich Jörges, Schlussstrich mit links, in: "Stern", 46/2004, S. 60.<br />
22 So jetzt Hans-Olaf Henkel, Die Kraft des Neubeginns, Deutschland ist machbar, München 2004.<br />
23 Anstelle einer Vielzahl publizistischer Belege <strong>und</strong> demoskopischer Daten vgl. die empirische<br />
Untersuchung auf der Basis einer Befragung von mehr als 2 000 Essener Studenten7 Klaus Ahlheim<br />
<strong>und</strong> Bardo Heger, Die unbequeme Vergangenheit. NS-Vergangenheit, Holocaust <strong>und</strong> die<br />
Schwierigkeit des Erinnerns, Schwalbach 2002; außerdem Alphons Silbermann <strong>und</strong> Manfred Stoffers,<br />
Auschwitz. Nie davon gehört? Erinnern <strong>und</strong> Vergessen in Deutschland, Berlin 2000.
half <strong>und</strong> die nach einer weiteren Dekade im Westen Deutschlands so befestigt war,<br />
wie sie im Osten bezweifelt wurde: der 8. Mai <strong>1945</strong> als Tag der Befreiung. Doch<br />
wenn nicht alle Zeichen trügen, dann leben <strong>wir</strong>, was unseren Umgang mit der<br />
Vergangenheit betrifft, in einem Gezeitenwechsel. Zwar sind manche der Täter noch<br />
immer unter uns, <strong>und</strong> die jüngsten ihrer Opfer, die damals überlebten, werden uns,<br />
zu unserem Glück, noch ein Zeitlang begleiten. Dennoch <strong>wir</strong>d die Zukunft der<br />
Vergangenheit eine Gegenwart ohne die Überlebenden sein. Damit stehen <strong>wir</strong> an der<br />
Schwelle des Übergangs von der Erfahrung zur Geschichte.<br />
Im Unterschied zur Zeitgenossenschaft, die nun ihren Abschluss findet, ist die "Arena<br />
der Erinnerungen“ 24 jedoch gerade erst eröffnet. Denn das "Zeitalter des<br />
Gedenkens", für dessen Entstehen Auschwitz die erste <strong>und</strong> entscheidende Ursache<br />
war, 25 kommt nicht zu Ende, aber es geht nicht mehr in diesem Ursprung auf. In<br />
einer Welt vernetzter Gedächtnisse <strong>und</strong> globaler Imagologien ist der Holocaust zu<br />
einer Metapher geworden, die für vieles stehen kann, <strong>und</strong> Hitler – auch – zur<br />
Gruselgröße einer multimedialen Populärkultur.<br />
Eine angemessene – <strong>und</strong> das heißt nicht zuletzt: auf sich verändernde Fragen<br />
Auskunft gebende – Vergegenwärtigung der nationalsozialistischen Vergangenheit<br />
bleibt auch im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert politisch-moralisches Gebot <strong>und</strong> intellektuelle<br />
Herausforderung. Nötig allerdings ist dazu Wissen, nicht nur die Bereitschaft zur<br />
Erinnerung. Mit Blick auf eine Gegenwart, die kein persönliches Erinnern an die NS-<br />
Zeit mehr kennen <strong>wir</strong>d, sind deshalb neue Anstrengungen gefragt. Das ist im Übrigen<br />
nicht allein eine Frage unseres kulturellen Selbstverständnisses, sondern von<br />
praktischem Sinn <strong>und</strong> politischem Nutzen: Denn nur dort, wo aufgeklärtes<br />
Geschichtsbewusstsein entsteht, <strong>wir</strong>d der Abbau kollektiver Mythen möglich, die<br />
Europa auch sechs Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch<br />
beschweren.<br />
24 Vgl. den Katalog zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums: Monika Flacke (Hg.),<br />
Mythen der Nationen, <strong>1945</strong> – Arena der Erinnerungen, 2 Bde., Mainz 2004.<br />
25 Vgl. Henry Rousso, La hantise du passé, Paris 1998.<br />
Quelle: Blätter für deutsche <strong>und</strong> internationale Politik, Heft 3/2005, S.356-264,<br />
Blätterverlagsgesellschaft mbH, Bonn 2005
Rezension: Norbert Frei, <strong>1945</strong> <strong>und</strong> Wir– Das Dritte Reich im Bewusstsein der<br />
Deutschen<br />
In einer ausführlichen Besprechung des Buches von Norbert Frei in der tageszeitung vom<br />
17.03.05 schreibt Christian Semler unter anderem:<br />
„Über diesen Phasenablauf (unterschiedliche Phasen der Auseinandersetzung mit der<br />
Vergangenheit, G.St.) legt Frei ein Generationenmodell im 15 – Jahres – Rhythmus: die<br />
Tätergeneration, dann die der Flakhelfer <strong>und</strong> kurz vor Kriegsende Eingezogenen, die Frei mit<br />
der ‚skeptischen Generation’ identifiziert, <strong>und</strong> schließlich die 68er. Was danach kommt,<br />
verschwimmt. So verführerisch es ist, mit Generationen zu hantieren, so leicht gerät hier die<br />
Analyse auf Abwege. Frei untersucht nicht, um welches Sinn stiftende Erlebnis herum sich die<br />
einzelnen Generationen (vereinfacht die Jahreskohorten) konstituiert haben. Auch verzichtet<br />
er darauf, bei dieser glitschigen Erk<strong>und</strong>ung soziale <strong>und</strong> ökonomische Daten als Trennpflöcke<br />
zu verwenden. Ergebnisse der empirischen Sozialforschung, die einiges zur<br />
Selbsteinschätzung der jeweiligen Generation beitragen könnten, werden nicht berücksichtigt.<br />
Es fehlen trennscharfe Kriterien. Nur ein Beispiel: Wieso ist Habermas ein Vertreter der<br />
‚skeptischen Generation’, die sich doch nach ihrem Erfinder Schelsky durch Ablehnung von<br />
politischem Engagement <strong>und</strong> durch Misstrauen gegenüber großflächigen Ideen ausgezeichnet<br />
hat? Reichlich konstruiert scheint mir auch der Verdacht gegenüber ‚Teilen der 68er’, sie<br />
seien jetzt ebenfalls in den Opferwettbewerb als Kriegskinder eingetreten. Das Engagement<br />
vieler Vertreter dieser Generation, etwa für die Entschädigung der Zwangsarbeiter, spricht<br />
da eine andere Sprache. Damit soll nicht gesagt werden, ein Generationenschema sei wertlos.<br />
Nur, bei Norbert Frei erschließt sich seine Bedeutung nicht.<br />
Hat Frei Recht mit seiner Feststellung, es gebe heute in der Politik wie in der Gesellschaft die<br />
Tendenz, die Naziverbrechen ihres Orts, ihres Kontexts zu entkleiden <strong>und</strong> im Zeichen einer<br />
falschen Universalisierung des Leids im ‚Jahrh<strong>und</strong>ert der Barbarei’ untergehen zu lassen?<br />
Für diese Tendenz gibt es tatsächlich beunruhigende Hinweise, zu denen auch die<br />
entpolitisierende Wirkung vieler Erzeugnisse der Fernsehgeschichtsindustrie a la Guido<br />
Knopp oder Filme wie ‚Der Untergang’ gehören.<br />
Von deren emotionalen Subtexten wären freilich die offenen politischen Zielsetzungen zu<br />
unterscheiden, wie sie etwa das ‚Zentrum gegen Vertreibungen’ verfolgt. Hier gibt es<br />
mittlerweile klare politische Fronten, es gibt Argumente der Befürworter wie der Gegner des<br />
Zentrums (darunter übrigens auch 68er!), deren Stichhaltigkeit Frei zu prüfen hätte. Was<br />
aber nicht funktioniert, ist eine Art Symptomatologie, in der alles, von Äußerungen des<br />
B<strong>und</strong>eskanzlers bis zu Helga Hirschs Lebensläufen von Vertriebenen, als Indizienkette für den<br />
‚Gezeitenwechsel’ hinsichtlich der Beurteilung der Nazizeit aufgebaut <strong>wir</strong>d.<br />
Frei hat Recht, Bereitschaft zur Erinnerung reicht nicht, das Wissen um historische Kontexte<br />
ist gefragt. Das trifft allerdings auch auf die gegenwärtigen Akteure zu. Denken <strong>wir</strong> nur an<br />
die zwiespältige Wirkung des Menschrechtsdiskurses, der sowohl historisches Bewusstsein<br />
schärfen als auch abtöten kann. Der Massenmord von Srebrenica 1995 ist hierfür ein<br />
Beispiel. Einwände dieser Art mindern nicht die Bedeutung von Freis Arbeit. Sie hat einen<br />
Fehdehandschuh geworfen. jetzt ist der Weg der Auseinandersetzung mit den<br />
Geschichtsmythologen offen.“
Erika Steinbach MdB<br />
Präsidentin des B<strong>und</strong>es der Vertriebenen<br />
8. Mai <strong>1945</strong><br />
Die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa<br />
– integraler Bestandteil der deutschen Geschichte?<br />
In diesen Monaten blicken <strong>wir</strong> aus unterschiedlichen Perspektiven 60 Jahre zurück. Im<br />
Mittelpunkt steht mit Recht das offizielle Kriegsende am 8. Mai <strong>1945</strong>. Gedenkveranstaltungen<br />
<strong>und</strong> „Jubiläen“ dieser Art lassen in aller Regel entweder den Blick erleichtert<br />
zurückschweifen oder sie erzwingen eine beklemmende Rückschau. Das Ende des Zweiten<br />
Weltkrieges ist für uns Deutsche eine Symbiose beider Gefühle. Theodor Heuss, der erste<br />
deutsche B<strong>und</strong>espräsident unserer jungen Demokratie formulierte sehr treffend: „Erlöst <strong>und</strong><br />
vernichtet in einem.“<br />
Mit Ende dieses mörderischen Zweiten Weltkrieges atmeten nicht nur die Menschen in<br />
unseren Nachbarländern auf, sondern auch für Deutsche war es die Erlösung von<br />
allgegenwärtiger Angst um Brüder, Väter oder Söhne im Krieg, Angst vor Bombardements,<br />
Angst vor den feindlichen Truppen, Angst vor Bespitzelung <strong>und</strong> Denunziation. Das Grauen<br />
der nationalsozialistischen Diktatur, für die Auschwitz zum Synonym wurde, hat<br />
grenzenloses Leid in Europa erzeugt <strong>und</strong> die eigenen Bürger in den Abgr<strong>und</strong> gerissen. All<br />
das hat tiefe Brüche <strong>und</strong> Risse in den Herzen <strong>und</strong> Seelen der Menschen hinterlassen.<br />
Mit dem 8. Mai <strong>1945</strong> aber hatten Unmenschlichkeit <strong>und</strong> Grausamkeit in Europa noch immer<br />
kein Ende. Stalins harte Faust lag über Mittel- <strong>und</strong> Osteuropa <strong>und</strong> raffte Millionen Menschen<br />
vieler Völker dahin. Und über viele Jahre hinweg, bis fast in die fünfziger Jahre, wurden<br />
Deutsche aus ganz Mittel- <strong>und</strong> Osteuropa aus ihrer Heimat vertrieben oder waren in<br />
Zwangsarbeit geknechtet. Es gab keine Fragen nach individueller Schuld oder Verantwortung.<br />
Es reichte aus, deutscher Volksangehöriger zu sein, ob Säugling oder Greis,<br />
Mann oder Frau. Alle wurden in eine Kollektivhaftung genommen, wenn sie nicht im Westen<br />
Deutschlands ihre Heimat hatten.<br />
Von den Ursachen her war dies auch eine Folge der NS-Diktatur. Im Ergebnis aber waren diese<br />
Menschenrechtsverletzungen gleichermaßen unentschuldbar. Ein Historikerstreit darüber ist<br />
müßig. Es reicht, die Zeitzeugen zu Wort kommen zu lassen. Jeder forsche Satz von "gerechter<br />
Strafe" für die Verbrechen Hitlers bleibt dann im Halse stecken.<br />
Jürgen Thorwald berichtet in dem Sammelband "Die große Flucht", auch wiedergegeben im<br />
Schwarzbuch der Vertreibung von Heinz Nawratil, folgendes. Der deutsche Pfarrer Karl Seifert<br />
stand am Abend des 20. Mai <strong>1945</strong> in der Gegend des sächsischen Pirna mit einigen Männern<br />
seiner Gemeinde am Ufer der Elbe. Er hatte dem sowjetischen Kommandanten die Erlaubnis<br />
abgerungen, tote Deutsche zu bestatten, die Tag für Tag an dieses Ufer getrieben wurden. Sie<br />
kamen elbabwärts aus der Tschechoslowakei. Und es waren Frauen <strong>und</strong> Kinder <strong>und</strong> Säuglinge,<br />
Greise <strong>und</strong> Greisinnen <strong>und</strong> deutsche Soldaten. Und es waren Tausende <strong>und</strong> Abertausende,<br />
von denen der Strom nur wenige an jenen Teil des Ufers spülte, an welchem der Pfarrer <strong>und</strong><br />
seine Männer die Toten in die Erde senkten <strong>und</strong> ein Gebet über ihren Gräbern sprachen. An<br />
diesem 20. Mai geschah es, daß der Strom nicht nur solche Deutsche von sich gab, die<br />
zusammengeb<strong>und</strong>en ins Wasser gestürzt <strong>und</strong> ertränkt worden waren <strong>und</strong> nicht nur die<br />
Erdrosselten <strong>und</strong> Erstochenen <strong>und</strong> Erschlagenen, ihrer Zungen, ihrer Augen, ihrer Brüste<br />
Beraubten, sondern auf ihm trieb, wie ein Schiff, eine hölzerne Bettstelle, auf der eine ganze<br />
deutsche Familie mit ihren Kindern mit Hilfe langer Nägel angenagelt war. Als die Männer die<br />
Nägel aus den Händen der Kinder zogen, da konnte der Pfarrer nicht mehr die Worte denken,<br />
die er in den letzten Tagen oft gedacht hatte, wenn er sich mit den Tschechen beschäftigte <strong>und</strong>
wenn Schmerz <strong>und</strong> Zorn <strong>und</strong> Empörung ihn übermannen wollten: "Herr was haben <strong>wir</strong> getan,<br />
daß sie so sündigen müssen." Dies konnte er nicht mehr ...<br />
Ortswechsel: Im jugoslawischen Vernichtungslager Gakowo kamen innerhalb weniger Monate<br />
8500 Donauschwaben zu Tode. Ab Mai 1947 betreute Kaplan Paul Pfuhl die Sterbenden. In<br />
seinem späteren Bericht darüber heißt es unter anderem: „Diese Häuser waren Stätten des<br />
Grauens. Wie oft habe ich Beichte gehört <strong>und</strong> die letzte Ölung gespendet. Ein Fall steht mir<br />
noch ganz lebendig vor Augen. Da lag eine Frau im Hausgang, ich fragte sie, ob sie nicht<br />
beichten wolle. Schroff wies sie mich ab. Sie hätte nichts zu beichten. Als ich ihr zuredete, daß<br />
<strong>wir</strong> doch alle Sünden hätten <strong>und</strong> die Verzeihung Gottes brauchten, kam es hart über ihre<br />
Lippen: Mir hat Gott nichts zu verzeihen, höchstens habe ich ihm zu verzeihen.“ Für die meisten<br />
der deutschen Vertreibungs-, Deportations- <strong>und</strong> Lageropfer aber war Gott die einzige Zuflucht,<br />
ja der Rettungsanker in ihrem fast unerträglichen Leben, in ihrem entwurzelten Dasein.<br />
Bis zum Jahre 1950 fanden acht Millionen Heimatvertriebene <strong>und</strong> Flüchtlinge in den<br />
westlichen Besatzungszonen Aufnahme. Vier Millionen in Mitteldeutschland. Die<br />
Eingliederung so vieler seelisch <strong>und</strong> teils auch körperlich verw<strong>und</strong>eter <strong>und</strong> erschöpfter<br />
Menschen schien nach <strong>1945</strong> schier unmöglich. Das Land lag in Trümmern. Ein fünf Jahre<br />
währendes Bombardement hatte mehr als tausend Städte <strong>und</strong> Ortschaften durch nahezu<br />
eine Millionen Tonnen Spreng- <strong>und</strong> Brandbomben überwiegend dem Erdboden<br />
gleichgemacht. Aus den öden Fensterhöhlen schaute das Grauen. Diesen „mörderischen<br />
Verheerungen“, wie der Spiegel am 6. Januar 2003 schrieb, fielen mehr als eine halbe<br />
Million Menschen zum Opfer. Die seit dem Mittelalter gewachsene deutsche<br />
Städtelandschaft war weitgehend vernichtet. Hinzu kam der moralische Schock mit den<br />
Bildern aus den geöffneten Konzentrationslagern, die niemanden kalt lassen konnten. Es<br />
war kaum vorstellbar, dass aus dieser Wüstenei ein geordnetes Miteinander <strong>und</strong> eine stabile<br />
Demokratie erwachsen konnte.<br />
Zu den obdachlosen, verarmten <strong>und</strong> hungernden Einheimischen strömten schon ab 1944<br />
Millionen <strong>und</strong> Abermillionen deutsche Flüchtlinge <strong>und</strong> Vertriebene aus ganz Mittel-, Ost- <strong>und</strong><br />
Südosteuropa. Sie kamen aus den baltischen Ländern, aus Rumänien, Jugoslawien,<br />
Ungarn, Polen, der Sowjetunion <strong>und</strong> der Tschechoslowakei, aus den Ländern, in denen sie<br />
seit Jahrh<strong>und</strong>erten siedelten. Einige aus den Gebieten, in die sie von Hitler umgesiedelt<br />
worden waren. Und sie kamen aus dem Osten Deutschlands, der heute zu Polen <strong>und</strong><br />
Russland gehört. Ohne jede Habe, heimatlos, verzweifelt <strong>und</strong> mit der festen Hoffnung im<br />
Herzen auf Rückkehr.<br />
Wie sollte, wie konnte dieses kumulierte menschliche Elend zu einer stabilen Demokratie<br />
führen? Das war völlig unvorstellbar. Stalin hatte gehofft, dass die Millionen Vertriebenen das<br />
ohnehin daniederliegende Deutschland destabilisieren würden <strong>und</strong> auch Westdeutschland<br />
unweigerlich in die Arme des Kommunismus treiben würde.<br />
Konrad Adenauer, der erste deutsche B<strong>und</strong>eskanzler, war sich dessen bewusst. Zu Beginn<br />
seiner Kanzlerschaft 1949 stellte er fest: „Ehe es nicht gelingt, den Treibsand der Millionen<br />
von Flüchtlingen durch ausreichenden Wohnungsbau <strong>und</strong> Schaffung entsprechender<br />
Arbeitsmöglichkeiten in festen Gr<strong>und</strong> zu verwandeln, ist eine stabile innere Ordnung in<br />
Deutschland nicht gewährleistet“. In der Aufnahme <strong>und</strong> Eingliederung dieser riesigen<br />
Menschenmasse sah er eines der drängendsten Probleme der jungen westdeutschen<br />
Demokratie, in der die ersten Früchte des Marshall-Plans erst langsam wuchsen. Er schuf<br />
ein eigenes Ministerium für Flüchtlinge <strong>und</strong> Vertriebene mit dem Schlesier Hans Lukaschek<br />
an der Spitze. Und in einer ganzen Reihe von Gesetzen wurde in dieser ersten<br />
Legislaturperiode unserer jungen Demokratie der Gr<strong>und</strong>stein für eine friedliche Zukunft<br />
gelegt. Stalins Rechnung ging nicht auf.<br />
Wie aber fand die Aufnahme dieses Teils deutscher Geschichte in unsere Gesetze,<br />
Lehrbücher <strong>und</strong> Köpfe der Menschen statt? Was ist bis heute geblieben an Folgen für die<br />
Praxis <strong>und</strong> an Anteilnahme im Bewusstsein der Vertriebenen <strong>und</strong> der Nicht-Vertriebenen?
Die „integralen Bestandteile der deutschen Geschichte“ spiegeln sich auch, aber nicht nur<br />
am Niedergeschriebenen in Geschichtsbüchern wieder. Im folgenden <strong>wir</strong>d daher der Reihe<br />
nach eingegangen auf die Gesetzgebung unmittelbar nach Kriegsende, auf die Integration<br />
der Menschen, ihres Kulturgutes <strong>und</strong> der landsmannschaftlichen Zusammenschlüsse, auf<br />
die politische <strong>und</strong> insbesondere wissenschaftliche Aufbereitung- <strong>und</strong> Erinnerungskultur <strong>und</strong><br />
damit auf das öffentliche Bewusstsein in Deutschland.<br />
Eines der ersten überhaupt vom Deutschen B<strong>und</strong>estag verabschiedeten Gesetze war das<br />
Soforthilfegesetz vom September 1949. Von Gewicht war auch das Lastenausgleichsgesetz<br />
von 1952. Mit dem B<strong>und</strong>es-Vertriebenen- <strong>und</strong> Flüchtlingsgesetz vom 19. Mai 1953 war die<br />
so genannte Kriegsfolgengesetzgebung vorläufig abgeschlossen. Dieses Gesetz ging über<br />
die sozialen Aspekte weit hinaus. Es hatte <strong>und</strong> hat den Sinn, den Deutschen aus dem Osten<br />
einen angemessenen Platz in der hier heimischen Gesellschaft zu gewährleisten <strong>und</strong> per<br />
Legaldefinition festzuschreiben, wer Heimatvertriebener, wer Vertriebener, wer Flüchtling ist.<br />
Der <strong>wir</strong>tschaftlichen Eingliederung zu Beginn der 50er Jahre <strong>und</strong> der ersten Sicherung<br />
wenigstens elementarster Gr<strong>und</strong>bedürfnisse sollte nun die gesellschaftliche Eingliederung<br />
folgen. Integration, nicht Assimilation war <strong>und</strong> ist das Ziel dieses Gesetzes. Das sind die<br />
ideellen Gr<strong>und</strong>gedanken von Eingliederungspolitik, die den Vertriebenen nicht mit bloßer<br />
Caritas, sondern mit Solidarität <strong>und</strong> Gleichberechtigung begegnen will.<br />
Den grausamen Kriegs- <strong>und</strong> Nachkriegsverlusten Deutschlands stehen auf der anderen<br />
Seite unschätzbare Gewinne der Aufnahmegesellschaft gegenüber, auch wenn diese das<br />
zunächst überhaupt nicht so gesehen hat: Das „unsichtbare Fluchtgepäck“ der Vertriebenen,<br />
ihr technisches, handwerkliches oder akademisches know how, ihre sieben-,<br />
achth<strong>und</strong>ertjährige kulturelle Erfahrung im Neben- <strong>und</strong> Miteinander mit ihren slawischen,<br />
madjarischen, baltischen oder rumänischen Nachbarn hat Deutschland nachhaltig geprägt –<br />
Erfahrungen, die in Verbindung mit vielfacher Mehrsprachigkeit in keinem anderen<br />
westlichen Industriestaat so verdichtet sind wie in Deutschland! Die Heimatvertriebenen<br />
haben interkulturelle Kompetenz mitgebracht. Und sie haben als unsichtbares Fluchtgepäck<br />
ihre kulturelle Identität eingebracht. Es war nichts, was sofort sichtbar gewesen wäre,<br />
sondern das, was in Kopf <strong>und</strong> Herzen mitgetragen wurde aus der Heimat hierher. Es war<br />
allerdings hörbar in den Klangfarben der regionalen M<strong>und</strong>arten.<br />
Das B<strong>und</strong>esvertriebenengesetz macht deutlich, dass das Kulturgut der Vertriebenen<br />
gesamtdeutsche Aufgabe ist. Unverzichtbarer Teil der Identität des ganzen deutschen<br />
Volkes. Das Erbe der Karlsuniversität in Prag hat unser Volk genauso geprägt wie das der<br />
Universitäten Königsberg, Breslau, Dorpat, Czernowitz oder Heidelberg, Tübingen, Marburg,<br />
München, Leipzig oder Berlin. Das zu ignorieren hieße, geistige Wurzeln kappen. So war es<br />
weise, dass B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Länder der jungen B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland 1953 mit diesem<br />
Gesetz die Verantwortung für das gesamte kulturelle Erbe unabhängig von Grenzen <strong>und</strong> von<br />
staatlicher Zugehörigkeit hervorhoben. So heißt es in § 96 BVFG: „B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Länder haben<br />
das Kulturgut der Vertreibungsgebiete in dem Bewusstsein der Vertriebenen <strong>und</strong> Flüchtlinge,<br />
des gesamten deutschen Volkes <strong>und</strong> des Auslandes zu erhalten, Archive, Museen <strong>und</strong><br />
Bibliotheken zu sichern, zu ergänzen <strong>und</strong> auszuwerten, sowie Einrichtungen des<br />
Kunstschaffens <strong>und</strong> der Ausbildung sicherzustellen <strong>und</strong> zu fördern. Sie haben Wissenschaft<br />
<strong>und</strong> Forschung bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus der Vertreibung <strong>und</strong> der<br />
Eingliederung der Vertriebenen <strong>und</strong> Flüchtlinge ergeben, sowie die Weiterentwicklung der<br />
Kulturleistungen der Vertriebenen <strong>und</strong> Flüchtlinge zu fördern“. Dieser gesetzliche Auftrag ist<br />
geboren aus der Erkenntnis, dass es ein einheitliches, ein gemeinsames kulturelles<br />
F<strong>und</strong>ament gibt. Hier liegt heute in der Umsetzung des Gesetzesauftrages manches im<br />
Argen.<br />
Die schönsten Seiten unseres Vaterlandes sind in seinem kulturellen Reichtum mit vielen<br />
unterschiedlichen Facetten zu finden. In schöpferischem Geist erwuchsen über die<br />
Jahrh<strong>und</strong>erte Musik, Literatur, Philosophie, Baukunst <strong>und</strong> Malerei. Neugier an Wissenschaft<br />
<strong>und</strong> Forschung hatten Heimstatt an den Hochschulen. Studenten aus aller Welt pilgerten
deshalb zu deutsch geprägten Universitäten in <strong>und</strong> außerhalb Deutschlands. Bedeutende<br />
Frauen <strong>und</strong> Männer hatten ihre Wurzeln in den Vertreibungsgebieten:<br />
• Gregor Mendel, Ferdinand Porsche, Bertha von Suttner, Adalbert Stifter, Marie von<br />
Ebner Eschenbach, Rainer Maria Rilke, Franz Kafka oder Franz Werfel in Böhmen<br />
<strong>und</strong> Mähren,<br />
• Andreas Schlüter, Arthur Schopenhauer oder Franz Halbe in Danzig,<br />
• Nikolaus Kopernikus oder Emil von Behring in Westpreußen,<br />
• Immanuel Kant, Johann Gottfried Herder, E.T.A. Hoffmann, Lovis Corinth, Käthe<br />
Kollwitz, Agnes Miegel, Ernst Wiechert oder Hannah Arendt in Ostpreußen,<br />
• Angelus Silesius, Friedrich Schleiermacher, Joseph von Eichendorff, Adolf von<br />
Menzel, Gustav Freytag, Gerhart Hauptmann oder Edith Stein in Schlesien,<br />
• Ernst Moritz Arndt, Caspar David Friedrich, Philipp Otto Runge, Rudolf Virchow oder<br />
Otto Lilienthal in Pommern,<br />
• Werner Bergengruen im Baltikum <strong>und</strong><br />
• Gregor von Rezzori <strong>und</strong> Rose Ausländer in der Bukowina oder<br />
• die Familie unseres derzeitigen B<strong>und</strong>espräsidenten Horst Köhler in Bessarabien.<br />
Und das ist nur eine kleine Auswahl.<br />
Eine andere, ebenso wichtige Wegmarkierung enthält dieses Gesetz. Es legt fest, wer als<br />
deutscher Vertriebener oder Flüchtling gilt <strong>und</strong> dauerhaft hier Aufnahme finden durfte <strong>und</strong><br />
darf. Das hat Aus<strong>wir</strong>kungen bis heute. Seit dem Abschluss der so genannten allgemeinen<br />
Vertreibungsmaßnahmen 1950 sind auf der Gr<strong>und</strong>lage dieses Gesetzes über vier Millionen<br />
Deutsche <strong>und</strong> Familienzugehörige als Aussiedler aus den Vertreibungsgebieten in die<br />
B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland gekommen, die meisten seit 1988/89. H<strong>und</strong>erttausende warten<br />
noch auf ihre Aufnahmebescheide, weil sie es in den jetzigen Wohnsitzstaaten nicht mehr<br />
aushalten.<br />
Das trifft insbesondere auf die Deutschen aus Russland zu. Die gesamte deutsche<br />
Volksgruppe in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion war seit 1941 über Jahrzehnte von<br />
kollektiven Strafmaßnahmen betroffen. Die Aus<strong>wir</strong>kungen reichen bis heute. Die<br />
jahrzehntelange zwangsweise Verbannung mit den Einweisungen in Sondersiedlungen, der<br />
jahrelange Dienst als Zwangsarbeiter in der Trudarmee, der Verlust der Bürgerrechte <strong>und</strong><br />
aller kulturellen Einrichtungen haben nicht nur die Existenz des Einzelnen <strong>und</strong> seiner<br />
Familie, sondern auch die Gr<strong>und</strong>lagen der nationalen Identität der Volksgruppe erschüttert<br />
<strong>und</strong> vielfach zu einer dauerhaften Entwurzelung geführt, unter der die Deutschen aus<br />
Russland noch immer zu leiden haben.<br />
Die Härte des Lebens in der Verbannung, der Mangel an einfachen Unterrichtsmaterialien,<br />
strikte Verbote oder administrative Hürden haben dazu geführt, dass 16 Jahre lang ein<br />
großer Teil der Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen keine Möglichkeit hatte, eine Schule zu besuchen.<br />
Damit war eine ganze Generation der partiellen oft sogar der totalen Analphabetisierung<br />
Preis gegeben. Eine Rehabilitierung der Deutschen hat es nie gegeben. Mit dem<br />
Aufkommen nationalistischer Tendenzen in den mittelasiatischen Republiken, den<br />
Verbannungsgebieten, in denen sie überwiegend nach wie vor leben, waren sie in den 90-er<br />
Jahren einem verstärkten Aussiedlungsdruck ausgesetzt. Rechtlich <strong>und</strong> moralisch trägt<br />
Deutschland eine besondere Verantwortung für diese Menschen, die länger <strong>und</strong><br />
schmerzhafter als andere darunter leiden mussten, dass sie als Deutsche geboren <strong>und</strong><br />
Opfer einer unmenschlichen Nationalitätenpolitik Stalins wurden.
Hannah Arendt, in Königsberg aufgewachsen, gehörte zu den vielen Vertriebenen der<br />
Hitlerdiktatur. Für sie gab es keinen Determinismus, der in die Barbarei führen muss. Ihr<br />
Werk ist bis heute eine Schatzkammer für politisches Denken. Mit ihrem scharfen Intellekt<br />
erkannte sie als eines der brisantesten Probleme der modernen Zivilisation das Phänomen<br />
der Flüchtlinge. Das erste Menschenrecht ist nach Hannah Arendt das Heimatrecht, denn<br />
„der erste Verlust, den die Rechtlosen erlitten, war der Verlust der Heimat. Die Heimat<br />
verlieren heißt die Umwelt verlieren, in die man hineingeboren ist <strong>und</strong> innerhalb der man sich<br />
einen Platz geschaffen hat, der einem sowohl Stand <strong>und</strong> Raum gibt“. Wie ähnlich klingt es<br />
doch in der Charta der deutschen Heimatvertriebenen: „Heimatlose sind Fremdlinge auf<br />
dieser Erde. Gott hat die Menschen in ihre Heimat hineingestellt. Den Menschen mit Zwang<br />
von seiner Heimat zu trennen bedeutet, ihn im Geiste zu töten“.<br />
Heute, 60 Jahre nach Beginn der gezielten Massenvertreibungen kann man von einer alles<br />
in allem gelungenen Eingliederung von weit über zwölf Millionen Vertriebenen <strong>und</strong> vier<br />
Millionen Aussiedlern in die deutsche Gesellschaft sprechen, wenn <strong>wir</strong> von den<br />
Spätaussiedlern dieser Tage absehen. Vieles, was in den 50er Jahren noch dringend <strong>und</strong><br />
drängend war, ist es eben heute nicht mehr – dank der Eingliederungsleistung, die die<br />
Vertriebenen, die Aussiedler <strong>und</strong> die Einheimischen gemeinsam erbracht haben. Diese<br />
großartige Gemeinschaftsleistung war <strong>und</strong> ist nahezu ein W<strong>und</strong>er. Erst daraus konnte<br />
Frieden <strong>und</strong> Wohlstand in Deutschland erwachsen.<br />
Der französische Politikwissenschaftler Alfred Grosser hat die Integration der Vertriebenen<br />
<strong>und</strong> Flüchtlinge als die größte sozial- <strong>und</strong> <strong>wir</strong>tschaftspolitische Aufgabe bezeichnet, die von<br />
der B<strong>und</strong>esrepublik gemeistert worden sei. Dem kann ich nur zustimmen. Dennoch <strong>wir</strong>d in<br />
der Darstellung der Nachkriegsgeschichte Deutschlands diese grandiose Leistung praktisch<br />
nicht benannt, sondern überwiegend ignoriert. Warum aber konnte diese Herkulesaufgabe<br />
gelingen? Die Aufnahme einer solch großen Zahl von Menschen in so kurzer Zeit hätte<br />
schon ein intaktes Staatswesen vor kaum lösbare Probleme gestellt.<br />
Zweierlei hat dazu beigetragen. Der erste Gr<strong>und</strong>: Die Heimatvertriebenen haben nicht<br />
Rachegedanken kultiviert, sondern immer <strong>und</strong> immer wieder manifestiert, dass sie<br />
Versöhnung wollen mit den Staaten <strong>und</strong> den Menschen, die sie vertrieben haben. Und in der<br />
schon legendären Charta von 1950 zudem artikuliert: „Wir werden durch harte, unermüdliche<br />
Arbeit teilnehmen am Wiederaufbau Deutschlands <strong>und</strong> Europas“. Aber auch in der DDR<br />
haben die Vertriebenen unter ganz anderen, viel schwierigeren Bedingungen ihren Beitrag<br />
zum Aufbau geleistet. Obwohl sie sich nicht zusammenschließen durften, keine Not- <strong>und</strong><br />
Trostgemeinschaften bilden konnten wie die Vertriebenen im Westen Deutschlands.<br />
Der zweite Gr<strong>und</strong>, warum unsere Demokratie eine Chance hatte, zu wachsen <strong>und</strong> stabil zu<br />
werden: Die Parteien der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland unterstützten über zwei Jahrzehnte<br />
einmütig die Anliegen der Vertriebenen <strong>und</strong> waren sich ihrer Verantwortung sehr bewusst.<br />
Nicht nur B<strong>und</strong>eskanzler Adenauer, sondern auch der Fraktionsvorsitzende der<br />
Sozialdemokratischen Opposition, Kurt Schumacher, <strong>und</strong> Erich Ollenhauer als Parteivorsitzender<br />
standen an der Seite der Heimatvertriebenen <strong>und</strong> mit ihnen der freidemokratische<br />
B<strong>und</strong>espräsident Theodor Heuss.<br />
Doch Ende der 60-er Jahre wandelte sich das Klima. Es kam zu einem Prozess der<br />
Entsolidarisierung großer Teile der politischen Klasse, insbesondere der politisch links<br />
Stehenden gegenüber den Vertriebenen. Ein Mantel des Schweigens <strong>und</strong> Verschweigens<br />
begann sich über Deutschland zu legen.<br />
Selbstkritisch stellte B<strong>und</strong>esinnenminister Otto Schily 1999 in seiner Rede im Berliner Dom<br />
fest: „Die politische Linke hat in der Vergangenheit, das lässt sich leider nicht bestreiten,<br />
zeitweise über die Vertreibungsverbrechen, über das millionenfache Leid, das den<br />
Vertriebenen zugefügt wurde, hinweggesehen, sei es aus Desinteresse, sei es aus<br />
Ängstlichkeit vor dem Vorwurf, als Revanchist gescholten zu werden, oder sei es in dem<br />
Irrglauben, durch Verschweigen <strong>und</strong> Verdrängen eher den Weg zu einem Ausgleich mit
unseren Nachbarn im Osten zu erreichen. Dieses Verhalten war Ausdruck von Mutlosigkeit<br />
<strong>und</strong> Zaghaftigkeit. Inzwischen wissen <strong>wir</strong>, dass <strong>wir</strong> nur dann, wenn <strong>wir</strong> den Mut zu einer<br />
klaren Sprache aufbringen <strong>und</strong> der Wahrheit ins Gesicht sehen, die Gr<strong>und</strong>lage für ein gutes<br />
<strong>und</strong> friedliches Miteinander finden können“. Das hat sich auf das Gesamtklima unseres<br />
Landes positiv ausge<strong>wir</strong>kt. Auch wenn bis heute noch nicht jeder davon zu überzeugen war,<br />
so gibt es immerhin eine lebendige Diskussion, der sich kein Medium verschließt.<br />
Dem objektiven Sachverhalt der völligen gewaltsamen Umformung der beiden deutschen<br />
Nachkriegsgesellschaften BRD <strong>und</strong> DDR durch die Aufnahme soziokulturell, religiös oder<br />
dialektal teilweise total von den Aufnahmeregionen unterschiedenen Vertriebenen <strong>und</strong><br />
„Flüchtlingen“ stand über sehr lange Zeit eine subjektive Wahrnehmungsverweigerung dieser<br />
ganz Deutschland <strong>und</strong> das gesamte Deutsche Volk betreffenden einschneidenden<br />
Katastrophe gegenüber. Das Thema Vertreibung wurde primär als soziales Problem<br />
gesehen <strong>und</strong> nicht als deutsche Identitätsfrage. In jüngster Zeit hat sich das deutlich<br />
geändert.<br />
War es während des Kalten Krieges noch wenig opportun <strong>und</strong> „nicht politisch korrekt“, sich<br />
mit Völkermord, Vertreibung <strong>und</strong> ethnischer Säuberung zu beschäftigen, wenn Deutsche<br />
eben nicht Täter, sondern unschuldige Opfer waren, so änderte sich dies spätestens in der<br />
Zeit der grausigen Balkankriege 1991-95 <strong>und</strong> endgültig 1999, als deutsche<br />
B<strong>und</strong>eswehrsoldaten mit ihren NATO-Kameraden dem Gemetzel auf dem Amselfeld<br />
(Kosovo) ein Ende bereiteten. Doch selbst damals vor sechs Jahren kamen führende<br />
b<strong>und</strong>esdeutsche Außenpolitiker nicht ohne eine Rechtfertigung der NATO-Intervention unter<br />
Beteiligung der B<strong>und</strong>eswehr durch eine Parallelisierung der serbischen Verbrechen mit<br />
„Auschwitz“ aus, obwohl eine solche mit dem Grauen im Deutschen Osten oder auf dem<br />
Balkan 1944/46 doch sehr viel näher gelegen hätte: Vukovar, Ossijek (Esseg) oder Slavonski<br />
Brod waren nicht erst 1991/92, sondern schon 1944/48 Orte schrecklicher „ethnischer<br />
Säuberungen“, doch waren damals die Opfer nicht Kroaten, sondern deutsche<br />
Donauschwaben. Der Vertreibung der Donauschwaben aus Jugoslawien, die nur von zwei<br />
Dritteln der nicht zuvor bereits Geflüchteten überlebt wurde, hat der Würzburger<br />
Völkerrechtler Dieter Blumenwitz in einem wissenschaftlichen Gutachten Völkermordcharakter<br />
attestiert.<br />
Nur wenige begriffen bereits in den 50er Jahren, was die Vertreibung <strong>und</strong> die Aufnahme<br />
Millionen ost- <strong>und</strong> sudeten- <strong>und</strong> südostdeutscher Heimatvertriebener in West- <strong>und</strong> dem<br />
damaligen Mitteldeutschland bedeutete. Der bedeutende Soziologe Eugen Lemberg<br />
beschrieb schon 1950 den unter tumultuarischen, von Not <strong>und</strong> Mangel bestimmten<br />
Nachkriegsverhältnissen verlaufenden <strong>und</strong> oft auch konfliktreichen Prozeß wissenschaftlich<br />
kühl-distanziert als die „Entstehung eines neuen Volkes aus Binnendeutschen <strong>und</strong><br />
Ostvertriebenen“, also gewissermaßen als intraethnische Ethnomorphose. Niemals seit dem<br />
Augsburger Religionsfrieden 1555 oder seit dem Dreißigjährigen Krieg waren die<br />
demographischen <strong>und</strong> konfessionellen Verhältnisse in Deutschland dermaßen umgestürzt<br />
worden. Jeder zweite Deutsche lebte schon <strong>1945</strong> nicht mehr dort, wo er 1939 seinen<br />
Lebensmittelpunkt gehabt hatte. Nicht nur die Vertriebenen, auch die Ausgebombten,<br />
Evakuierten oder Kriegsgefangenen. Jedoch: Außer den Vertriebenen konnten alle in ihre<br />
Heimatorte zurückkehren, wenn sie denn wollten. Nicht so die Vertriebenen. H<strong>und</strong>erttausende<br />
zogen es deshalb vor, aus dem zertrümmerten Deutschland nach Übersee<br />
auszuwandern.<br />
Wie hat sich die Wissenschaft zur Vertreibung der Deutschen verhalten? Unverzichtbares<br />
Standardwerk ist nach wie vor die Dokumentation der Vertreibung, die so genannte<br />
Schieder-Dokumentation, hat Karl Schlögel sehr richtig festgestellt. Er selbst hat im letzten<br />
Jahrzehnt bemerkenswerte Beiträge geliefert. Die bedeutendsten Beiträge zur Aufarbeitung<br />
der Vertreibung <strong>und</strong> ihrer Vorgeschichte in den späten 60er <strong>und</strong> den 70er Jahren kamen von<br />
Ausländern; beispielhaft seien genannt der Amerikaner Alfred de Zayas mit seinem bis heute<br />
nicht überholten Standardwerk „Die Anglo-Amerikaner <strong>und</strong> die Vertreibung der Deutschen“<br />
(1978) <strong>und</strong> der Niederländer Hiddo M. Jolles „Zur Soziologie der Heimatvertriebenen <strong>und</strong>
Flüchtlinge“, 1965. Natürlich gab es über die ganzen Jahrzehnte unzählige wissenschaftliche<br />
Veröffentlichungen <strong>und</strong> wichtige Bücher zum Geschehen. Eine breite Rezeption fand jedoch<br />
nicht statt. Die ganze Thematik galt offen-k<strong>und</strong>ig bis weit in die 80er Jahre der mittlerweile<br />
etablierten „68er“ ´scientific community´ als anachronistisch, wenn nicht gar als suspekt <strong>und</strong><br />
anrüchig. Erst gegen Ende der 80er Jahre begann man im Zuge einer theoretisch hoch<br />
aufgeladenen <strong>und</strong> alimentierten Welle zur „Migrationsforschung“, sich auch wieder für die<br />
ost- <strong>und</strong> sudetendeutschen Migranten zu interessieren. Zahllose <strong>und</strong> oft verdienstvolle Lokal<strong>und</strong><br />
Regionalstudien zur Aufnahme <strong>und</strong> Eingliederung der Vertriebenen sind seither<br />
erschienen.<br />
Die Vertreibung selber als historisches prae kam aber erst in den 90er Jahren wieder ins<br />
Blickfeld der akademischen Öffentlichkeit. Dies hatte wohl zwei Gründe: Zum einen die<br />
„ethnischen Säuberungen“ im zerfallenen Jugoslawien 1991-95, die man jeden Abend per<br />
TV dokumentiert bekam <strong>und</strong> ganz andere Einstellungen evozierte als irgendwelche vielleicht<br />
viel schlimmeren Massenmorde in Vorderasien, Zentralafrika oder sonst wo „weit hinten in<br />
der Türkei“ (J.W. Goethe). Zum anderen die Tatsache, daß sich seit dem Zusammenbruch<br />
des Kommunismus in Ostmittel- <strong>und</strong> Südosteuropa dort junge Historiker, Germanisten,<br />
Sozialwissenschaftler etc. nach der teilweisen – <strong>und</strong> inzwischen zum Teil auch wieder<br />
zurückgenommenen – Öffnung der Archive offen <strong>und</strong> unbefangen mit den Nachkriegsgeschehnissen<br />
in den früheren Ostprovinzen <strong>und</strong> anderen Herkunftsgebieten deutscher<br />
Vertriebenen befassten.<br />
In der jüngsten Zeit sind sehr viele gediegene <strong>und</strong> wissenschaftlich wertvolle Arbeiten nicht<br />
mehr nur zu Aufnahme <strong>und</strong> Eingliederung der Vertriebenen, sondern zur Vertreibung <strong>und</strong><br />
ihrer Vorgeschichte selber erschienen. In Polen, in Ungarn, in Tschechien, mit einiger Verzögerung<br />
in Deutschland <strong>und</strong> inzwischen z.B. sogar in Serbien – <strong>und</strong> das sogar noch zu<br />
Zeiten eines Milosévic´.<br />
Im Falle der deutschen Geschichte im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert haben <strong>wir</strong> es mit dem einzigartigen<br />
Fall zu tun, daß seit eineinhalb Generationen dutzende Schülerjahrgänge – ausdrücklich, oft<br />
unausdrücklich – die Geschichte ihres Heimatlandes nur in Fragmenten kennengelernt<br />
haben. Glücklicherweise ändert sich das zur Zeit. Deutsche Vertriebene hatten keinen Platz<br />
in einem häufig gewollt, des öfteren aber fast fahrlässigen ideologisiertem<br />
Bildungsprogramm. Wer diese Feststellung für überspitzt hält, lese die luzide <strong>und</strong> im<br />
Ergebnis äußerst ernüchternden Analyse von Richtlinien <strong>und</strong> Schulbüchern im Fach<br />
Geschichte von <strong>1945</strong> bis zur Gegenwart „Der historische deutsche Osten im Unterricht“ von<br />
Jörg-Dieter Gauger (2001). Der Verfasser resümiert. „ Das beruhigende, pazifizierte <strong>und</strong><br />
stillgelegte Europa, in dem <strong>wir</strong> heute leben, ist in Wahrheit aus einem ungeheuren Tumult<br />
von Flucht- <strong>und</strong> Umsiedlungsbewegungen hervorgegangen. Dieser Tumult hatte so ziemlich<br />
alles erfasst: die Grenzen, die einmal anders verliefen, die Städte, in denen einmal andere<br />
Bevölkerungen <strong>und</strong> Bevölkerungsgruppen lebten, die Regionen, in denen andere Sprachen<br />
gesprochen wurden. Wer heute über Europa sprechen will, muß ... von den Säuberungen<br />
<strong>und</strong> Entmischungen, denen es unterworfen war, sprechen.“<br />
Die überwältigende Mehrheit der 15 Mio. deutschen Vertriebenen stammte nicht aus<br />
irgendwelchen Mischzonen, Gemengelagen oder Minderheitengebieten, sondern aus seit<br />
Jahrh<strong>und</strong>erten kompakt deutsch besiedelten Gebieten, über 70 Prozent davon überdies aus<br />
deutschem <strong>und</strong> Danziger Staatsgebiet. So etwas hatte es seit biblischen Zeiten nicht mehr<br />
gegeben. Das macht einen enormen qualitativen Unterschied etwa zu den „ethnischen“<br />
Säuberungen in Kroatien <strong>und</strong> Bosnien-Herzegovina 1991-95 aus, wo es sich tatsächlich um<br />
eine freilich gleichfalls verbrecherische menschenrechtswidrige gewaltsame „Entmischung“<br />
handelte.<br />
Darüber sollte nicht vergessen werden, daß auch h<strong>und</strong>erttausende Deutscher über zum Teil<br />
abenteuerliche Odysseen aus Gegenden nach Deutschland gelangten, von denen außer<br />
Fachleuten heute kaum jemand mehr etwas weiß. Wer weiß denn, daß in der heute<br />
serbischen Vojvodina die donauschwäbischen Siedlungsgebiete Batschka sowie Teile des
Banats <strong>und</strong> Syrmiens liegen? Wer weiß, daß die Sathmarer Schwaben nicht aus dem Allgäu<br />
stammen, sondern aus dem Nordwesten Rumäniens – oder dem Südosten Ungarns, wie<br />
mans nimmt. Die weitverbreitete Unkenntnis über die Vielfalt der Herkunftsgebiete der<br />
deutschen Vertriebenen <strong>wir</strong>d beispielhaft deutlich an der allgemeinen Ver<strong>wir</strong>rung über die<br />
Herkunft unseres jetzigen B<strong>und</strong>espräsidenten. Die Köhlers waren eine deutsche Familie in<br />
Bessarabien – also dem heutigen Moldawien – wo deutsche Kolonisten seit Beginn des 19.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts auf den Ruf der damaligen russischen Zaren hin siedelten. Nach der<br />
Umsiedlung 1940 infolge des Hitler-Stalin-Pakts <strong>und</strong> der erzwungenen Abtretung<br />
Bessarabiens durch Rumänien an die UdSSR landete die Familie zwischenzeitlich in<br />
Siebenbürgen <strong>und</strong> nach einiger Zeit im – heutigen – Südosten Polens, also in West-Galizien,<br />
wo Horst Köhler 1943 zur Welt kam.<br />
Man mag diesen prominenten „Fall“ als Beispiel für die Irrungen <strong>und</strong> Wirrungen der<br />
Geschichte der Deutschen in <strong>und</strong> außerhalb Deutschlands in den 40er Jahren des<br />
vergangenen „Jahrh<strong>und</strong>erts der Vertreibungen“ nehmen; eine anekdotische Ausnahme war<br />
er nicht. Für die außerhalb der Reichsgrenzen lebenden Volksdeutschen – aus Bessarabien<br />
<strong>und</strong> dem Buchenland, aus den baltischen Ländern <strong>und</strong> Wolhynien, aus Ost-Galizien <strong>und</strong> der<br />
Dobrudscha zwischen Unterlauf der Donau <strong>und</strong> Schwarzem Meer - war es eher der<br />
Regelfall, aufgr<strong>und</strong> von ihnen nicht oder kaum zu beeinflussenden politischen Entwicklungen<br />
<strong>und</strong> Entscheidungen umgesiedelt, „eingedeutscht“, angesiedelt <strong>und</strong> schlußendlich vertrieben<br />
zu werden wie auch die neun Millionen Reichsdeutschen.<br />
All diese Facetten deutscher Geschichte gehören zur gesamtdeutschen Identität. Hier ist<br />
heute nach wie vor ein riesiger weißer Fleck zu sehen. Wer sind <strong>wir</strong>? Wie haben <strong>wir</strong> im<br />
heutigen Deutschland zueinander gef<strong>und</strong>en? Das ist für die meisten Deutschen Terra<br />
incognita. Die Stiftung ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN will diesen Mangel beheben<br />
helfen.<br />
Die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa – integraler Bestandteil der deutschen<br />
Geschichte? Unbedingt. Aber eben zugleich ein noch im kollektiven Bewusstsein zu<br />
integrierender. Dieser Teil deutscher <strong>und</strong> europäischer Geschichte <strong>und</strong> Schicksale geht nicht<br />
nur die Opfer an, sondern alle Deutschen. Im Bewusstsein ist das bis heute nicht.
Der folgende Text von Hans-Ulrich Wehler ist ein Auszug aus seiner Einleitung<br />
zu: Die Flucht. Über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Hrsg.<br />
Stefan Aust <strong>und</strong> Stephan Burgdorf, dtv, München 2005, S. 9 - 14<br />
Jahrzehntelang blieb die Diskussion über dieses euphemistisch "Transfer" genannte<br />
Verbrechen eine Sache der Landsmannschaften <strong>und</strong> Vertriebenenverbände.<br />
Dagegen wurde die allgemeine Öffentlichkeit in Westdeutschland – in der<br />
Sowjetischen Besatzungszone <strong>und</strong> dann in der DDR blieb das Thema ohnehin tabu -<br />
durch dieses Problem nur relativ selten bewegt. Diese Zurückhaltung besaß geraume<br />
Zeit ihre Berechtigung. Denn die Deutschen mussten sich erst den eigenen<br />
Verbrechen stellen, mithin die Gefahr vermeiden, deutsches Leid sogleich gegen<br />
deutsche Untaten aufzurechnen – etwa gegen das Menschheitsverbrechen des<br />
Holocaust. Bei diesem Massenmord an zwei Dritteln der europäischen Judenheit<br />
ging es um eine geradezu industrielle Liquidierung ohne Ansehen von Person, Alter<br />
<strong>und</strong> Geschlecht, während die deutschen Vertriebenen trotz aller Schrecken ungleich<br />
verteilte Überlebenschancen besaßen.<br />
Jahrzehntelang lief die Mehrheitsmeinung darauf hinaus, den Vertriebenen die<br />
Privatisierung ihres Leids zuzumuten. Nach ersten Untersuchungen in den<br />
1950er/60er Jahren kam auch im Gr<strong>und</strong>e keine seriöse Vertreibungsforschung in<br />
Gang. Erst in den letzten zehn, fünfzehn Jahren ist Bewegung in diese Problematik<br />
geraten. Mit der Fusion der beiden Neustaaten von 1949 entstand erstmals ein<br />
deutscher Staat, der ohne Grenz- <strong>und</strong> Minderheitenprobleme existiert. Diese<br />
neuartige Konstellation erleichtert die nüchterne Analyse, die nach Möglichkeit eine<br />
vergleichende Perspektive besitzen sollte. So gehört etwa die Vertreibung der<br />
Deutschen aus Schlesien in ein <strong>und</strong> den selben Zusammenhang mit der Vertreibung<br />
der Polen aus dem im Hitler-Stalin-Pakt der Sowjetunion zugesprochenen Ostpolen.<br />
Überdies haben die Balkankriege der 1990er Jahre die Gräuel der "ethnischen<br />
Säuberung" erneut heraufbeschworen. Sie erinnern an die Erfahrungen der<br />
Vertriebenen ein halbes Jahrh<strong>und</strong>ert zuvor, <strong>und</strong> sie demonstrieren auch den damals<br />
nicht betroffenen jüngeren Deutschen die barbarischen Schrecken dieser<br />
Gewaltpolitik.<br />
Die jetzt in der B<strong>und</strong>esrepublik einsetzende Diskussion könnte eine befreiende<br />
Wirkung insofern haben, als die verdrängte, abgesunkene Leidensgeschichte von<br />
Millionen Menschen zutage gefördert <strong>wir</strong>d <strong>und</strong> endlich im hellen Licht der<br />
Öffentlichkeit ernsthaft diskutiert werden kann. Offensichtlich gibt es dabei aber eine<br />
Gefahr: Wenn diese Diskussion nicht behutsam, auch ohne Selbstgerechtigkeit,<br />
geführt <strong>wir</strong>d, könnte sie eine Hemmschwelle aufbauen, die sich gegen den EU-Beitritt<br />
der osteuropäischen Staaten aus<strong>wir</strong>kt. Doch ihre Aufnahme ist nach den Schrecken<br />
des Zweiten Weltkriegs <strong>und</strong> der Sowjetisierung schon deshalb geboten, um die<br />
politische <strong>und</strong> sozialökonomische Verfassung dieser genuin europäischen Länder<br />
endlich zu stabilisieren.<br />
Wie konnte es zu den Massenvertreibungen in Osteuropa <strong>und</strong> Ostdeutschland<br />
kommen: erst der Polen durch die deutsche Besatzungsherrschaft, dann der<br />
Deutschen <strong>und</strong> "Volksdeutschen" in Polen <strong>und</strong> der Tschechoslowakei, in Ungarn<br />
Rumänien <strong>und</strong> Jugoslawien? Die Vorläuferphänomene, die Vertreibung der<br />
Armenier, Türken <strong>und</strong> Griechen, galten bis 1939 als Schreckenstaten in Kleinasien<br />
<strong>und</strong> auf dem Balkan, abseits der Kernzone europäischer Zivilisation. Wozu man aber<br />
eben dort fähig war, trat seit 1939 zutage. Den Anfang machte die NS-Politik, mitten
in Europa, mit einer riesigen "Umsiedlung" von Polen, um für "Volksdeutsche" aus<br />
Osteuropa Platz zu schaffen: für die Baltendeutschen <strong>und</strong> die deutschsprachigen.<br />
"Volksgruppen" aus Wolhynien, Galizien <strong>und</strong> den Karpaten, später aus der<br />
Bukowina, aus Siebenbürgen <strong>und</strong> Bessarabien, aus der Dobrudscha <strong>und</strong> der<br />
Gottschee.<br />
Hitler hatte im Herbst 1939 die Neuordnung der nationalen Landkarte Europas<br />
angekündigt. Dem "Reichsführer SS" Heinrich Himmler wurde als neu ernanntem<br />
"Reichskommissar für die Festigung Deutschen Volkstums" die umfassende<br />
Germanisierung des Ostensübertragen. Dort sollte ein riesiges Vorfeld des<br />
"Großgermanische Reiches“ entstehen, besiedelt mit "volksdeutschen" <strong>und</strong><br />
reichsdeutschen Wehrbauern. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion sollte<br />
sich dieses Gebiet bis zum Ural erstrecken, da der "Generalplan Ost", später<br />
umfassender noch der "Generalsiedlungsplan", eine derartige Expansion mit einer<br />
kühl einkalkulierten Verlustquote von r<strong>und</strong> 32 Millionen Russen vorsah.<br />
Zunächst wurden in kurzer Zeit 500 000 Polen aus Westpreußen <strong>und</strong> Posen in das<br />
südliche Restpolen, das Generalgouvernement", abtransportiert, während zwei<br />
Millionen polnische Zwangsarbeiter ins Reich verschleppt wurden. In die entleerten<br />
polnischen Dörfer wurden "volksdeutsche" Umsiedler eingewiesen, die nach drei, vier<br />
Jahren vor der Roten Armee flüchteten. Der Hexenkessel dieser deutschen<br />
Germanisierungspolitik mit ihren brutalen Bevölkerungsverschiebungen von<br />
gewaltigem Ausmaß erzeugte einen selbstgeschaffenen Druck, der auch den<br />
Übergang zur "Endlösung" der "Judenfrage" beförderte, da das Chaos ausgenutzt<br />
wurde, um "judenfreie" Gebiete zu schaffen. Die Umsiedlung von "Volksdeutschen"<br />
erfasste die Zone vom Baltikum bis zur Krain, aber für die Germanisierung der weiten<br />
Räume des Osten fehlten dann nach Himmlers Berechnungen immer noch fünf bis<br />
sechs Millionen reichsdeutsche Siedlungswillige. Doch die Bauernsöhne im "Altreich"<br />
dachten nicht daran, als Wehrbauern in die Ungewissheit des östlichen Vorfelds zu<br />
ziehen.<br />
Hinzu kam seit 1941 aber auch noch die rabiate Umsiedlungspolitik Stalins. Der ließ,<br />
als die deutschen Truppen schnell vorrückten, ganze Völkerschaften, wie etwa die<br />
Tschetschenen, <strong>und</strong> die große Minderheit der Wolgadeutschen wegen des<br />
Kollaborationsrisikos in die kasachische Steppe abtransportieren, ohne jede<br />
Rücksicht auf die horrenden Verluste an Leben. Eine künftige Siegermacht<br />
demonstrierte damit ganz konkret die Möglichkeiten menschenfeindlicher Politik.<br />
Nach dem Kriegsende erwies sich: Der gewaltsame "Transfer" als Folge deutscher<br />
<strong>und</strong> russischer Politik hatte den Erfahrungs- <strong>und</strong> Denkhorizont der Zeitgenossen<br />
unheilvoll ausgeweitet. Die Planung eines neuen "Transfers" der deutschsprachigen<br />
Minderheiten aus Osteuropa <strong>und</strong> der deutschen Bevölkerung aus Ostdeutschland<br />
galt seither als ein legitimes Mittel zur Beseitigung künftiger Konflikte (wie das auch<br />
Churchill glaubte), zugleich als verständlicher Racheakt, um den Todfeind aus dem<br />
eigenen Land oder aus dem soeben annektierten ehemaligen deutschen<br />
Staatsgebiet möglichst lückenlos zu vertreiben. Als Folge des anlaufenden<br />
"Transfers" wurden die Deutschen, sofern sie nicht rechtzeitig geflüchtet waren, mit<br />
gnadenloser Härte vertrieben. Die riesige Verlustziffer liegt weit über einer Million,<br />
nähert sich aber vielleicht, wenn man die späteren Todesfälle als Folge wochenlang<br />
anhaltender Transporte oder Trecks mit einbezieht, sogar der Zwei-Millionen-Grenze.
Wurde dadurch tatsächlich, wenn man das unermessliche Leid einmal verdrängt, der<br />
innere Frieden in Europa gesichert, wie das die politisch verantwortlichen Akteure<br />
anfangs beansprucht haben? H<strong>und</strong>erttausende von deutschsprachigen Bewohnern<br />
Ungarns <strong>und</strong> Rumäniens, wo keine derart fanatische Vertreibung wie in Polen oder in<br />
der Tschechoslowakei stattfand, warfen mit ihrer Anwesenheit für diese Staaten kein<br />
gravierendes Problem auf. Die inhumane Vertreibung aus Polen, der<br />
Tschechoslowakei <strong>und</strong> aus Jugoslawien löste auch nicht die inneren Nachkriegsprobleme<br />
dieser Länder, reduzierte aber die Konfliktmöglichkeiten der Nationalitätenpolitik.<br />
Ein bitter erkaufter Gewinn: Die B<strong>und</strong>esrepublik hat heute keine Irredentaprobleme,<br />
keine "unerlösten" Minderheiten jenseits ihrer Ostgrenzen, auch wenn eine<br />
Landsmannschaft wider alle Vernunft die kleine deutsche Minderheit in Polen<br />
künstlich zu vergrößern sucht. Solch eine Entspannung entkräftet indes nicht die<br />
Gefahr, dass aus der Konfliktminderung auf dem Feld der Nationalitätenspannungen<br />
eine quasi-moralische Rechtfertigung grässlicher Verbrechen hergeleitet <strong>wir</strong>d.<br />
Gegen die unterkühlte, mit dem Argument des inneren Friedens operierende<br />
Legitimierung der Vertreibung der Deutschen <strong>und</strong> "Volksdeutschen" lässt sich<br />
einwenden: Im Kalten Krieg sorgte das Gleichgewicht des atomaren Schreckens für<br />
einen prekären Frieden, nicht aber die "ethnische Säuberung" mit ihrer<br />
Nomadisierung von Millionen Menschen. Die verblüffend schnelle Integration der<br />
Vertriebenen <strong>und</strong> Flüchtlinge in die Wachstumsgesellschaft des westdeutschen<br />
Wirtschaftsw<strong>und</strong>ers verhinderte einen militanten Revanchismus, mithin die<br />
Erzeugung gefährlicher Spannungen nicht nur in Deutschland, das die Alliierten doch<br />
hatten ruhig stellen wollen.<br />
Was bleibt? Die osteuropäischen Siedlungsgebiete <strong>und</strong> die ostdeutschen Provinzen<br />
sind ein für allemal verloren. Es überlebt ein wenig Folklore, die Erinnerung an<br />
historische Leistungen, für Ältere die nostalgische Beschwörung der Heimat.<br />
Millionen zahlten mit dem Verlust ihrer Heimat <strong>und</strong> den erlebten Schrecken der<br />
Vertreibung einen hohen Preis für den zweiten verlorenen totalen Krieg, für den<br />
Gegenschlag gegen die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik. Doch die<br />
Lebensverhältnisse in der B<strong>und</strong>esrepublik haben es ermöglicht – <strong>und</strong> ermöglichen es<br />
weiterhin – diese Bürde zu ertragen.<br />
Sollte es in naher Zukunft tatsächlich zu einem "Zentrum der Erinnerung" an die<br />
Vertreibung kommen, müssen zwei Vorbedingungen erfüllt sein. Zum einen müsste<br />
eine solche Begegnungsstätte der Erinnerung einer gemeineuropäischen<br />
Katastrophe gewidmet sein, mithin nicht auf eine isolierte Behandlung der<br />
Vertreibung der Deutschen beschränkt werden. Zum anderen läge ein solches<br />
Zentrum ungleich besser in Breslau als in Berlin. Denn in Schlesien fördert es die<br />
Verständigung mit Polen, das ebenfalls den Millionen seiner Vertriebenen eine neue<br />
Heimat schaffen musste. Vor allem aber implizierte die symbolpolitische Konkurrenz<br />
eines Berliner Zentrums mit dem Holocaust-Denkmal die Gefahr, dass in nächster<br />
Nähe des Totenmals doch noch eine Aufrechnung unvergleichbaren Leidens<br />
unternommen würde.<br />
Stefan Aust/Stephan Burgdorff (Hg.), Die Flucht. Über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten.<br />
(c) 2002 Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart/München <strong>und</strong> SPIEGEL-Buchverlag, Hamburg