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Material zu Intertextualität, Metaphern und Bildketten

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Georg Büchner: Woyzeck - Hinweise <strong>zu</strong>r rhetorischen Struktur - von Christian Milz<br />

Die gängigen Interpretations- <strong>und</strong> Unterrichtshilfen <strong>zu</strong> Büchners unvollendetem Dramenentwurf<br />

fokussieren auf die Verzweiflungstat eines von seiner Umwelt ausgebeuteten <strong>und</strong> gequälten<br />

psychisch Kranken.<br />

Die Frage nach der ethischen Legitimität eines Mordes aus Verzweiflung wird im Allgemeinen - auch<br />

seitens der Büchnerforschung - nicht problematisiert. Das Gleiche gilt für die ästhetische Gestaltung<br />

der Gewalttat. Damit findet bereits im literaturwissenschaftlichen Vorfeld pädagogischer Vermittlung<br />

quasi eine didaktische Reduktion im Sinne sozialpolitischer Paradigmen statt. (Georg Büchner als<br />

Dichter <strong>und</strong> Revolutionär)<br />

Eine fachgerechte Diskussion der wesentlichen Aspekte des Dramas – sowohl in ästhetischer als<br />

auch in ethischer Hinsicht – wird damit allerdings eher vermieden als gefördert <strong>und</strong> ermutigt. Das ist<br />

indes weder Sinn des Deutschunterrichtes noch dient es der Thematisierung fachübergreifender<br />

Zusammenhänge.<br />

Die folgenden <strong>Material</strong>ien stellen keinen Alternativentwurf dar. Sie dienen <strong>zu</strong>nächst einzig <strong>und</strong> allein<br />

<strong>zu</strong> einer – unbequemen - vertieften Auseinanderset<strong>zu</strong>ng des Unterrichtenden mit dem Gegenstand.<br />

Der Autor hat in dem aktuellen Georg Büchner Jahrbuch 11 (2005-2008) einen Artikel <strong>zu</strong> Dantons Tod<br />

veröffentlicht <strong>und</strong> 2006 in „texte“ (Passagen Verlag Wien) eine hermeneutische Untersuchung der<br />

Woyzeck-Handschriften veröffentlicht.<br />

Als Unterrichtsstoff ist Georg Büchners Woyzeck schon allein deswegen nicht unproblematisch, weil<br />

der Text in seinen zahlreichen Anspielungen die Kenntnis weiterer Texte voraussetzt. Am Wichtigsten:<br />

Shakespeares Hamlet. Des Weiteren: Goethes Faust <strong>und</strong> Passagen aus der Bibel. Schließlich<br />

müssten die zahlreichen, bislang kaum weiter beachteten Lieder des Dramenfragments mit der<br />

Vorliebe des 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts für Allegorien, insbesondere allegorische Jägerlieder, in<br />

Verbindung gebracht werden. Nicht <strong>zu</strong>letzt zitiert Büchner sich selbst, also sind Dantons Tod, Leonce<br />

<strong>und</strong> Lena sowie Lenz gleichfalls hin<strong>zu</strong><strong>zu</strong>ziehen.<br />

Bis auf Hamlet ist die <strong>Intertextualität</strong> in dem Dramenfragment in der Büchnerforschung Konsens.<br />

Schon der oberflächliche Blick auf das Verhältnis der Textmengen von Text <strong>und</strong> Prätexten <strong>zu</strong>einander<br />

lässt, rein fachlich gesehen, eine Behandlung des Woyzeck als für sich selbst stehenden Text kaum<br />

<strong>zu</strong>.<br />

Eine kompetente Vermittlung müsste also die Anspielungen wenigstens durch Auszüge der<br />

(literarischen) Prätexte verständlich machen, so wie das literaturwissenschaftliche Kommentare<br />

(beispielsweise die Reclam Studienausgabe von Dedner) auch tun. Dagegen hat die übliche<br />

Hin<strong>zu</strong>ziehung von historischen Sachtexten (Gerichtsgutachten usw.) in den Hintergr<strong>und</strong> <strong>zu</strong> treten, weil<br />

erst die rhetorische Analyse die Beurteilung gestattet, ob die Sachtexte hermeneutisch bedeutsam<br />

oder collagenartig (als bloßes <strong>Material</strong>) verwendet werden.<br />

Hier stellt sich die Frage, was Büchners <strong>Intertextualität</strong> eigentlich bezweckte, bzw. sollte diese Frage<br />

gestellt werden. Zieht man die genannten literarischen Prätexte (bzw. die entsprechenden<br />

Anspielungen) <strong>zu</strong> einer Schlinge <strong>zu</strong>sammen, ergibt sich ein brisanter Kern: Hamlet behandelt<br />

Verbrechen <strong>und</strong> Tabubrüche im engsten Familienkreis in Verbindung mit mehrfachem, gespieltem <strong>und</strong><br />

ungespieltem Wahnsinn, im Faust geht es um Kindesmord, in der Bibel um Perversionen (Sodom <strong>und</strong><br />

Gomorra) sowie um Kindermord (Herodes). Die Liedanspielungen betreffen Sexuelles.<br />

Diese überblicksartige Anriss der Be<strong>zu</strong>gstexte lässt sowohl einen Gr<strong>und</strong> dafür erahnen, warum<br />

Büchner mit einer indirekten Ebene von Gestaltung operiert, als auch unterminiert er die gängige, aufs<br />

Ökonomische ausgerichtete Interpretationslinie erheblich. Die Analyse der Entwicklungsstufen der<br />

Handschriftenentwürfe stützt diese Einschät<strong>zu</strong>ng, denn die erste Handschrift (H1 nach Dedner) enthält<br />

zwar den ausführlichen, nicht mehr umgeänderten Komplex um die Mordtat, aber keine sozialen<br />

Hintergründe <strong>und</strong> keine Nebenfiguren Doktor <strong>und</strong> Hauptmann.<br />

Zudem weist der Büchnerforscher Reinhold Grimm im Sonderband Text <strong>und</strong> Kritik<br />

über Georg Büchner darauf hin, dass es sich bei der Tat quasi um einen Ritualmord handelt. („ Cœur<br />

<strong>und</strong> Carreau“. S. 299) Dafür spricht auch die Szene mit Gerichtsdiener, Barbier (=W<strong>und</strong>arzt), Arzt <strong>und</strong><br />

Richter: „Ein guter Mord, ein ächter Mord, ein schöner Mord, so schön als man ihn nur verlangen<br />

kann, wir haben schon lange so keinen gehabt.“ 25. Szene (H1,21)<br />

1


Im Folgenden wird der Versuch einer Analyse der rhetorischen Struktur des Dramenentwurfs<br />

vorgelegt. Er soll da<strong>zu</strong> ermutigen, eine revolutionäre, offene Dramenstruktur mit einer offenen,<br />

unvoreingenommenen Didaktik <strong>zu</strong> beantworten.<br />

<strong>Intertextualität</strong> in Georg Büchners Woyzeck – fremde <strong>und</strong> eigene Werke (in Auszügen)<br />

Szene<br />

Lesefassung<br />

Szene<br />

Handschrift<br />

Text/Anspiel.<br />

Woyzeck<br />

Text- Prätext Prätext<br />

HAMLET<br />

1 H2,1; H4,1 rollt der Kopf Kegel spielen V.1<br />

Igel zorniges Stacheltier I.5<br />

alles hohl da unten<br />

Eine Grube gar tief<br />

<strong>und</strong> hohl….<br />

übergreifend Motiv: Wahnsinn gespielter (Hamlet) <strong>und</strong> tragischer<br />

Wahnsinn (Ophelia)<br />

16 H4,16 Maries Gebet Gebet des Königs III.3<br />

18 H1,14 Großmutter erzählt<br />

Märchenparabel<br />

Schauspieler spielen<br />

metaphorische<br />

Theaterszene<br />

1 <strong>und</strong> 12 H1,6; H1,12; H2,1; Szenentitel „Freies „Trüber Tag. Feld“<br />

H4,1; H4,12<br />

Feld“<br />

„Offen Feld“<br />

H1 Figur Margreth Figur Margarete<br />

23 H1,19 rothe Schnur um den<br />

Hals, Halsband<br />

Wie sonderbar muss<br />

diesen Hals ….<br />

1 H2,1; H4,1 rollt der Kopf …kann das Haupt<br />

auch unterm Arme<br />

tragen<br />

V.1<br />

III.2<br />

FAUST 1<br />

4203 - 4205<br />

4207 - 4208<br />

BIBEL<br />

1 H2,1 <strong>und</strong> H4,1 sieh nicht hinter dich Lot 1. Mose 19,17<br />

2 H2,2 <strong>und</strong> H4,2 steht nicht<br />

geschrieben ….<br />

1. Mose 19,24<br />

18 H1,14 König Herodes Matthäus 2,16<br />

16 H4,16 aber die Pharisäer … Johannes 8, 3-11<br />

18 H1,14 St. Lichtmess alttestament. /christl. Reinigungs- <strong>und</strong> Opferritual<br />

der Kindsmutter bzw. Marias<br />

DANTONS TOD<br />

- H2,4 Woyzeck hilft kleinem<br />

auf großen H<strong>und</strong><br />

Szenentitel „Freies<br />

Feld“<br />

1 <strong>und</strong> 12 H1,6; H1,12; H2,1;<br />

H4,1; H4,12<br />

Wahnsinn, Angst, Sprachlosigkeit<br />

19 H1,15 „Ritualmord“ (R.<br />

Grimm)<br />

Dogge <strong>und</strong><br />

Bologneser<br />

Szenentitel „Freies<br />

Feld“<br />

Angst, anfallsartige<br />

Zustände,<br />

Sprachlosigkeit bei<br />

Danton<br />

„Opferlamm“, „der<br />

Priester hebt schon<br />

das Messer“<br />

1 H2,1; H2,4; H4,1 Hasenlied erschöpfte<br />

Seidenhasen<br />

17 H4,17 Leiden sei all mein<br />

Gewinst …<br />

Identische Verse,<br />

Masturbation,<br />

anschließend<br />

Erscheinung der<br />

Mutter im Traum<br />

I.5<br />

II.4<br />

II.5<br />

LEONCE UND<br />

LENA<br />

I.4<br />

III.1<br />

LENZ<br />

S. 231<br />

(Deutscher Klassiker<br />

Verlag, 2006; TB, Hg.<br />

Poschmann)<br />

2


Liedallegorien im Woyzeck<br />

Das verkürzte Hasenlied:<br />

Fraßen ab das grüne, grüne Gras<br />

Fraßen ab das grüne, grüne Gras<br />

Bis auf den Rasen<br />

erscheint <strong>zu</strong>nächst in Handschrift H2,4 – gesungen von einem urinierenden Handwerksburschen.<br />

Die Originalhandschrift setzt den Gesang des betrunkenen Handwerksburschen fort mit einer Anspielung auf<br />

Masturbation: „mus bsorgn Mannes Fallulus <strong>und</strong> empfiehlt sich nit mehr ungezeugten Kind …“ (Faksimile<br />

Ausgabe Enrico de Angelis, Saur München, S. 81)<br />

In der Überarbeitung, Handschrift H4,1 bringt Büchner die Liedverse<br />

Saßen dort zwei Hasen<br />

Fraßen ab das grüne, grüne Gras<br />

bereits in der Eingangsszene. Die sexuelle Konnotation wird auch seitens der Büchnerforschung <strong>zu</strong>gegeben. Es<br />

handelt sich um Teile einer allegorischen Liedstrophe. Die umgebenden Strophen lauten:<br />

Was du da erfahren hast<br />

Kannst du mir wol sagen?<br />

Hab erfahren dass junge Leut<br />

Bei einander schlafen.<br />

Bei mir schlafen kannst du wol,<br />

Wills dirs gar nit wehren:<br />

Aber nur, herztausiger Schatz,<br />

Aber nur in Ehren.<br />

Zwischen Berg <strong>und</strong> tiefem Thal<br />

Saßen einst zwei Hasen,<br />

Fraßen ab das grüne Gras<br />

Bis auf den Rasen.<br />

Als sie sich nun sattgefressen hatt’n<br />

Legte sie sich nieder.<br />

Nun ade, herztausiger Schatz,<br />

Jetzt komm ich nicht wieder.<br />

(Quelle Deutscher Liederhort, zit. Nach Dedner: Erläuterungen <strong>und</strong> Dokumente, S. 14.)<br />

Das meist als rätselhaft empf<strong>und</strong>ene Eingangslied ist in dreifacher Hinsicht bedeutungsvoll: Erstens setzte es für<br />

die Zeitgenossen ein unübersehbares Signal, dass der Autor mit Allegorien usw. arbeitet.<br />

Zweitens wird ohne Umschweife aber verdeckt auf das Thema Sexualität angespielt – <strong>und</strong> das nicht in Woyzecks<br />

Eifersuchtsphantasien, sondern durch eine Figur Andres, deren übertriebene Rationalität klar deutlich wird <strong>und</strong><br />

augenscheinlich auf Engstirnigkeit beruht. Das könnte als Vorausdeutung der Untreue interpretiert werden, wie<br />

auch der Narr die Funktion der Vorausdeutung übernimmt. Drittens aber wird aus der allegorischen Strophe das<br />

spätere Kinderlied, wann die Transformation stattfindet, ist nicht genau bekannt. Insofern müssen der Kontext <strong>und</strong><br />

die rhetorische Struktur hier weitere Aufschlüsse geben. Woyzecks erste Worte „Ja Andres“ <strong>und</strong> die<br />

offensichtliche Verkür<strong>zu</strong>ng auch der Strophe selbst (das „Zwischen Berg… usw. bleibt ja ausgespart) weisen<br />

indes weniger auf eine Vorausdeutung, als auf einen Blick in die Vergangenheit hin. Das häufige Singen <strong>und</strong> die<br />

Figurenkonstellation mit den zahlreichen Kindern usw. (Märchen) sollten Gr<strong>und</strong> genug sein, die Verbindung von<br />

Sexualität auf der verdeckten Textebene <strong>und</strong> Kindern im Auge <strong>zu</strong> behalten.<br />

Der Dramenentwurf enthält eine weitere, meist unbekannte Liedallegorie. Das bekannte Jägerlied „Ein Jäger aus<br />

der Pfalz“ (Szene 11 der Lese- <strong>und</strong> Bühnenfassung, in den Handschriften H4,11) offenbart die Allegorie erst in<br />

der 3. Strophe. Dort heißt es: "Hubertus auf der Jagd, der schoß ein Hirsch <strong>und</strong> einen Has; er traf ein Mägdlein an<br />

<strong>und</strong> das war achtzehn Jahr." Eine der bekannten Fortset<strong>zu</strong>ng hört sich wie folgt an: "Des Jägers seine Lust, das<br />

hat der Herr noch nicht gewusst, wie man das Wildpret schießt. Wol zwischen die Bein, da muss der Hirsch<br />

geschossen sein..." (Quelle: Deutscher Liederhort; Ludwig Erk, Lied 1454, S. 315.)<br />

3


<strong>Bildketten</strong>, <strong>Metaphern</strong>, Symbole, Codes<br />

Büchners Dramenentwurf enthält neben den intertextuellen Verweisen ein Netzwerk von <strong>Bildketten</strong>,<br />

Wortfeldern, Symbolen <strong>und</strong> <strong>Metaphern</strong>, das man als Intratextualität bezeichnen könnte. Als Ganzes<br />

transportiert dieses Intranet im Woyzeck einen codierten Text. An bestimmten Stellen stellt der Autor<br />

eine Verknüpfung mit dem Klartext her. Unabhängig von interpretatorischen Schlussfolgerungen ist es<br />

interessant, diese Kulminationspunkte <strong>zu</strong> registrieren, denn sie lassen eine Dramenstruktur erkennen,<br />

die im gängigen Diskurs noch unbekannt ist. Letzterer erweist sich daher als äußerst vorläufig.<br />

Die rhetorische Strukturierung des Dramas durch Bild- bzw. <strong>Metaphern</strong>ketten setzt bereits im ersten<br />

Handschriftenentwurf in der Exposition mit den Jahrmarkts- <strong>und</strong> Budenszenen ein. Die späteren<br />

Fassungen, wie auch die Lese- <strong>und</strong> Bühnenfassung versetzt diese Szenen etwas nach hinten,<br />

während Büchners überarbeitete Eingangsszenen ab Handschrift H2 die bereits analysierten<br />

Prätextbezüge in den Vordergr<strong>und</strong> rücken. Eine Beschreibung der <strong>Bildketten</strong> folgt daher besser dem<br />

früheren Entwurf, setzt also mit der 3. Szene der Lesefassung ein. Bei Bedarf wird die Analyse<br />

Szenen aus den Handschriftenentwürfen hin<strong>zu</strong>ziehen, die nicht in den gängigen Bearbeitungen<br />

enthalten sind.<br />

Die Bild- bzw. <strong>Metaphern</strong>ketten, Wortfelder usw.<br />

Hauptzweck der ursprünglichen Einführungsszene „Buden.Lichter. Volk“ ist die Verankerung einiger<br />

rhetorischer Ketten im Zusammenhang mit einschlägigen Bildern. Diese Ketten ziehen sich durch alle<br />

Szenen <strong>und</strong> werden immer wieder untereinander verknüpft <strong>und</strong> mit eindrucksvollen Bildern sinnlich<br />

aufgeladen. Die Verbindung von rhetorischen Strukturen mit Klartext wird im Folgenden durch<br />

Unterstreichung markiert.<br />

Vieh/Mensch<br />

Idealtypisch etabliert Büchner in der dritten Szene die „vernünftige Viehigkeit“ <strong>und</strong> deren Umkehrung,<br />

die viehische Vernunft, szenisch durch Pferd, Affe usw. illustriert. Diese groteske Kombination<br />

gewollter Gegensätze wird <strong>zu</strong>dem mit dem Begriff Erziehung <strong>und</strong> dessen zirkusartiger Präsentation<br />

verknüpft. Beispielhaft <strong>und</strong> stichwortartig werden hier einige Kettenglieder aufgezeigt, es lohnt sich<br />

aber, die Linie systematisch nach<strong>zu</strong>zeichnen.<br />

1. Szene: Andres singt Hasenlied.<br />

2. Szene: Der Tambourmajor steht auf den Füßen wie ein Löw.<br />

6. Szene: „Wild Thier“<br />

11. Szene: Alles wälzt sich in Un<strong>zu</strong>cht übereinander, Mann <strong>und</strong> Weib, Mensch <strong>und</strong> Vieh. „Thuts einem auf den Händen wie die<br />

Mücken.<br />

12. Szene: „Stich die Zickwolfin tot“ – In der ersten Handschrift H1 heißt es noch „stich die Woyzecke tot“. Büchner wandelt<br />

diese direkte Familienbeziehung später in eine durchschaubare Verschlüsselung durch das Programm Vieh/Mensch um. Aus<br />

Wölfin <strong>und</strong> kleiner Ziege wird Zickwolfin gepaart.<br />

18. Szene: Der Höhepunkt der Märchenparabel erfolgt in der Entlarvung der Sterne als kleine golden Mücken, die angesteckt<br />

sind. Die Ursache davon wird im Bild eines Vogels, des Neuntöters angezeigt.<br />

Handschriften<br />

H3,1: Der Professor wirft eine Katze aus dem oberen Fenster auf den Hof. Woyzeck soll sie auffangen <strong>und</strong> wird als Bestie<br />

bezeichnet. Er soll mit den Ohren wackeln wie die Katze, das seien Übergänge <strong>zu</strong>m Esel, Folgen weiblicher Erziehung <strong>und</strong> die<br />

Muttersprache. Die Mutter reißt Woyzeck aus Zärtlichkeit Haare aus. (Nackenbiss v. Katzen <strong>und</strong> Hasen beim Geschlechtsakt;<br />

Parallele Erziehung - Jahrmarkszene.)<br />

groß/klein<br />

Diese Bildkette wird von vorneherein mit der obigen Kette Vieh/Mensch vernetzt.<br />

3. Szene: Das Pferd ist astronomisch, die Canaillevögele sind klein.<br />

4. Szene: Auch das Kind auf Maries Arm muss als Teil dieser Kette angesehen werden.<br />

9. Szene: Der lange Woyzeck <strong>und</strong> der kurze Doktor werden mit dem Spinnebein (Vieh) sowie Blitz <strong>und</strong> Donner verglichen <strong>und</strong><br />

quasi vermengt.<br />

11. Szene: Thut’s einem auf den Händen wie die Mücken.<br />

18. Szene: kleine Krabben (Kinder) <strong>und</strong> König Herodes.<br />

22. Szene: Riese <strong>und</strong> Menschenfleisch<br />

Handschriften<br />

H2,3: Woyzeck hilft einem großen auf einen kleinen H<strong>und</strong>. (Vgl. Dantons Tod I.5) Außerdem verknüpft Büchner in dieser Szene<br />

die unnatürlich kopulierenden H<strong>und</strong>e mit <strong>zu</strong>schauenden Buben <strong>und</strong> Mädchen.<br />

H2,8 Louisel erwähnt den sie „angreifenden“ Vater im Zusammenhang mit ihrem Alter von zehn Jahren.<br />

Kurz vorher bringt der Autor die Verknüpfung groß/klein mit Vieh: Wespen, Kuh <strong>und</strong> Hornisse.<br />

4


heiß/kalt – Sonne<br />

Weite Teile der <strong>Metaphern</strong>kette hieß/kalt folgen dem Muster der Vermischung von artfremden<br />

Gegensätzen, letzteres stellt übrigens eine mögliche Definition des Grotesken dar. Büchners<br />

spezielles Codewort lautet „Sonne“. Der Klartext für „Sonne“ findet sich in Dantons Tod I.5: Die Mädel<br />

guckten aus den Fenstern, man sollte vorsichtig sein <strong>und</strong> sie nicht einmal in der Sonne sitzen lassen,<br />

die Mücken treiben’s ihnen sonst auf den Händen, das macht Gedanken. Diese Passage bietet ein<br />

exemplarisches Beispiel, wie der Autor seine rhetorischen Ketten auf engstem Raum verknüpft: Der<br />

genannte Satz enthält in Verbindung mit der Sonne die Ketten „Vieh/Mensch“ (Mücken/Mädchen),<br />

groß/klein (Hände/Mücken) <strong>und</strong> Fenster/Auge, sowie den Klartext, das „es Treiben“.<br />

1. Szene: Ein Feuer fährt um den Himmel.<br />

4. Szene: Das Kind schwitzt im Schlaf, das Träumen ist Arbeit unter der Sonne.<br />

10. Szene: Woyzeck: „Was sie heiße Händ haben.“<br />

11. Szene: Warum bläst Gott nicht die Sonn aus, dass Alles in Un<strong>zu</strong>cht sich übereinanderwälzt.<br />

16. Szene: Das Kind gibt Marie einen Stich ins Herz; es wärmt sich in der Sonne. (An ihr)<br />

17. Szene: Woyzecks Mutter fühlt nur noch, wenn ihr die Sonn auf die Händ scheint.<br />

19. Szene: Marie friert, <strong>und</strong> doch ist es ihr warm. Sie hat heißen Hurenatem. Woyzeck macht sie kalt.<br />

21. Szene: Woyzeck ist heiß, Käthe ist heiß <strong>und</strong> wird auch noch kalt werden.<br />

Handschriften<br />

H1,8: Andres berichtet, der Unteroffizier habe über Margreth gesagt, sie hätte Schenkel <strong>und</strong> alles so heiß.<br />

Auge/Fenster<br />

Die zitierte Passage aus Dantons Tod hat bereits die einschlägige Zugehörigkeit der Kette<br />

Auge/Fenster <strong>zu</strong> dem Komplex Un<strong>zu</strong>cht usw., d.h. ihre enge Verknüpfung mit den anderen<br />

einschlägigen Motiven erwiesen. Eine sorgfältige Interpretation hat daher auch die entschärften<br />

Passagen, die demonstrativ Auge/Fenster enthalten, im Sinne der etablierten Struktur <strong>zu</strong> deuten. Die<br />

folgende Zusammenstellung beschränkt sich auf einige wenige exponierte Beispiele.<br />

5. Szene: Hauptmann. „Wenn ich am Fenster lieg, wenn es geregnet hat <strong>und</strong> den weißen Strümpfen so nachsehe, wie sie über<br />

die Gassen springen, - verdammt Woyzeck, - da kommt mir die Liebe.<br />

8. Szene: Doktor. „Ich streckte gerade die Nase <strong>zu</strong>m Fenster hinaus <strong>und</strong> ließ die Sonnenstrahlen hineinfallen um das Niesen <strong>zu</strong><br />

beobachten, … (sieht Woyzeck pissen).<br />

16. Szene: Marie, auf dem Höhepunkt ihrer Verzweiflung, öffnet das Fenster.<br />

Handschriften<br />

H2,6: Aufschlussreich ist die frühere, noch wesentlich direktere Fassung der Doktorszene, die <strong>zu</strong>dem die Kette Vieh/Mensch mit<br />

einbezieht: Aber ich hab’s gesehen, daß er an die Wand pißte, ich streckte gerad meinen Kopf hinaus, zwischen zwei<br />

Blattläuse, die sich begatteten …<br />

H3,1: Der Professor steht am Dachfester. Meine Herren, ich bin auf dem Dach, wie David, als er die Bathseba sah; aber ich<br />

sehe nichts als die culs de Paris der Mädchenpension im Garten trocknen. Bemerkenswert die implizite Sonne <strong>und</strong> die explizite<br />

enttäuschte Erwartung hinsichtlich voyeuristischer Genüsse.<br />

4. Szene: Im rhetorischen Kontext dürfte der zerbrochene Spiegel nicht nur die materielle Armut, sondern eine metaphorische<br />

Armut bedeuten: die zerstörte Integrität der Figur. Deutlichster Gr<strong>und</strong> im Klartext: s. o. H2,8.<br />

Messer<br />

Die Analyse der rhetorischen Struktur lässt darauf schließen, dass Büchner in seinen späteren<br />

Fassungen die brisanten Inhalte besser tarnt, d.h. rhetorisch verschlüsselt. Szene 9 enthält einen Teil<br />

der zweiten Entwurfsstufe, in der Büchners unbekümmerter Umgang mit dem Wortfeld Messer<br />

aufscheint:<br />

9. Szene: Woyzeck läuft wie ein offenes Rasiermesser, er ersticht den Hauptmann mit seinen Augen.<br />

Büchners sorgfältige Rücksicht, die Codes usw. auch sichtbar, d.h. handlungsrelevant <strong>zu</strong> machen <strong>und</strong><br />

nicht im Abstrakten <strong>zu</strong> belassen, wird in daran deutlich, dass aus dem Barbier des ersten Entwurfs ein<br />

Woyzeck wird, der seinen Hauptmann rasiert. Desgleichen wird aus den Kindern im Figurenensemble<br />

das Kind auf dem Arm der Marie. Deswegen treten Tiere in der Jahrmarktszene auf, <strong>und</strong> deswegen<br />

wirft der Professor in der (bei Dedner nicht in der Lese- <strong>und</strong> Bühnenfassung enthaltenen) Hofszene<br />

die Katze von oben in Woyzecks Arm – die bühnenmäßige Demonstration der aristotelischen<br />

Fallhöhe, die einem Woyzeck seitens der Literaturwissenschaft angeblich nicht <strong>zu</strong>kommt. Sie wird an<br />

der Katze exemplifiziert, die wiederum für Marie bzw. die weibliche Figur steht <strong>und</strong> gegen Ende der<br />

Hofszene H3,1 gegen den Klartext konvergiert. (Großmutter, Mutter, Zärtlichkeit)<br />

Aristotelisch auch der Zusammenfall von Peripetie <strong>und</strong> Anagnorisis – wenn das hier ausgebreitete<br />

rhetorische Netzwerk nicht ins Niemandsland führt. Bevor darauf eingegangen wird, eine gleichfalls in<br />

der Lese- <strong>und</strong> Bühnefassung ausgesparte symbolträchtige Szene:<br />

Handschriften<br />

Szene H1,12 (Freies Feld): Louis. (er legt das Messer in die Höhle) Du sollst nicht töten. Lieg da! Fort! (er entfernt sich eilig)<br />

Woyzecks Gewissen („du sollst nicht töten“) kämpft gegen seine innere Stimme – <strong>und</strong> steht auf<br />

verlorenem Posten. Die Höhle ist tiefenpsychologisch gesehen eindeutig ein Muttersymbol (Schoß der<br />

Erdmutter). Woyzecks Vermeidungsversuch auf der Gewissensebene unternimmt – im Interesse<br />

5


seines Unbewussten - gerade<strong>zu</strong> das Gegenteil dessen, was er bewusst <strong>zu</strong> tun vermeint. Auch in der<br />

bereits öfters angesprochenen Szene H2,8 hat das Messer eine phallische Konnotation.<br />

Kann man es in Anbetracht der hier nachgewiesenen komplexen Rhetorik in Büchners Dramenentwurf<br />

für möglich halten, dass dem Autor auf dem dramatischen Höhepunkt, unmittelbar vor der Einleitung<br />

des Ritualmordes, ein eminent inhaltsschwerer Umschlag der expliziten <strong>und</strong> impliziten<br />

Bedeutungsebene ohne Absicht – was kaum etwas ändern würde – <strong>und</strong> gegen seinen Willen<br />

unterläuft, so dass eine falsche Fährte gelegt wird? Der Zusammenklang von Peripetie <strong>und</strong> Erkenntnis<br />

als ungültig betrachtet werden muss?<br />

Die Frage muss offen bleiben <strong>und</strong> jeder für sich beantworten. Das Problem sollte allerdings registriert<br />

<strong>und</strong> markiert werden.<br />

Worum geht es?<br />

Auf dem Höhepunkt von Maries Versuch, Vergebung <strong>zu</strong> erlangen – indem sie nicht mehr sündigt,<br />

kommt ihr Ausruf (wie bei dem König in Hamlet): „Ich kann nicht“. Was hindert sie daran? Wohl kaum<br />

der Tambourmajor. Ihr Kind mit Woyzeck? Warum sollte das der Fall sein? Ihre sinnliche Natur?<br />

Dagegen spricht ihre echte wie grenzenlose Verzweiflung. Diese steht in keinem Verhältnis <strong>zu</strong> dem<br />

Seitensprung. (Schon gar nicht bei dem Autor von Dantons Tod sowie Leonce <strong>und</strong> Lena, möchte man<br />

meinen.)<br />

Der Kontext: Unmittelbar vorher, 15. Szene, kauft Woyzeck das Messer. Unmittelbar nachher macht er<br />

sein Testament – <strong>und</strong> ersticht Marie, wie man nach allem, was bislang erschlossen wurde annehmen<br />

muss bzw. so, wie es die Lese- <strong>und</strong> Bühnenfassungen bringen.<br />

Nun ruft Marie in der 16. Szene in einem Zustand höchster Erregung <strong>und</strong> größten Seelenschmerzes<br />

folgenden Satz: „Das Kind giebt mir einen Stich ins Herz.“ Zweifellos muss der Stich ins Herz als<br />

Metapher gelesen werden. Das verlangt schon der Nebentext: das Kind auf dem Arm drängt sich an<br />

sie. Marie sagt anschließend „fort!“, der Narr nimmt dann das Kind. Allerdings passt dieses<br />

Verständnis nicht <strong>zu</strong>r Handlung <strong>und</strong> <strong>zu</strong> den Gefühlen.<br />

Indessen könnte das Wortfeld „Messer“ – kontinuierlich präsent <strong>und</strong> in der Umgebung der Szene<br />

durch Handlung aktualisiert – auch die Lesart eines wörtlichen Stichs nahelegen. Das wäre der<br />

Umschlag der rhetorischen Ebenen in Verbindung mit dem Umschlag der Handlung, der<br />

Unausweichlichkeit des Schicksals der Hauptfiguren <strong>und</strong> gleichzeitige Erkenntnis des Gr<strong>und</strong>es.<br />

Dramatisch betrachtet, eine bestechende Sache. Was wäre die Aussage? Maries Ausruf wäre<br />

antizipierend <strong>zu</strong> verstehen, der Stich wörtlich <strong>zu</strong> nehmen, das gemeinte Kind nicht das auf dem Arm,<br />

sondern das mit dem echten Messer. Woyzeck.<br />

Ist es ein weiterer Zufall, das dieser Woyzeck in der nächsten, 17. Szene auf seine Mutter <strong>zu</strong><br />

sprechen kommt? In deren Bibel nunmehr Woyzeck liest <strong>und</strong> in der er (Maries?) schön Gold findet?<br />

So wie der Vater der weiblichen Figur einmal bezeichnend im Klartext erwähnt wird (H2,8) fällt hier<br />

der Name von Woyzecks Mutter wörtlich: „Meine Mutter fühlt nur noch, wenn ihr die Sonn auf die<br />

Händ scheint.“ Die Bedeutung ist codiert aber mittlerweile bekannt. Die kleinen goldenen Mücken<br />

wären aus der Märchenparabel <strong>zu</strong> ergänzen.<br />

Wenn man die Szene der Handschrift H3,2 (Idiot. Kind. Woyzeck) nicht - wie in der Dednerschen<br />

Bearbeitung – weglässt, ergibt sich ein roter Handlungsfaden, der das Kind quasi aus der Familie<br />

Woyzeck entfernt – <strong>und</strong> rettet. Es flieht <strong>zu</strong> <strong>und</strong> mit dem Narren, einer irrealen, aber antizipierenden<br />

Figur. Modern - <strong>und</strong> prosaisch - könnte man dafür das Jugendamt einsetzen.<br />

6

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