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Material zu Intertextualität, Metaphern und Bildketten

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seines Unbewussten - gerade<strong>zu</strong> das Gegenteil dessen, was er bewusst <strong>zu</strong> tun vermeint. Auch in der<br />

bereits öfters angesprochenen Szene H2,8 hat das Messer eine phallische Konnotation.<br />

Kann man es in Anbetracht der hier nachgewiesenen komplexen Rhetorik in Büchners Dramenentwurf<br />

für möglich halten, dass dem Autor auf dem dramatischen Höhepunkt, unmittelbar vor der Einleitung<br />

des Ritualmordes, ein eminent inhaltsschwerer Umschlag der expliziten <strong>und</strong> impliziten<br />

Bedeutungsebene ohne Absicht – was kaum etwas ändern würde – <strong>und</strong> gegen seinen Willen<br />

unterläuft, so dass eine falsche Fährte gelegt wird? Der Zusammenklang von Peripetie <strong>und</strong> Erkenntnis<br />

als ungültig betrachtet werden muss?<br />

Die Frage muss offen bleiben <strong>und</strong> jeder für sich beantworten. Das Problem sollte allerdings registriert<br />

<strong>und</strong> markiert werden.<br />

Worum geht es?<br />

Auf dem Höhepunkt von Maries Versuch, Vergebung <strong>zu</strong> erlangen – indem sie nicht mehr sündigt,<br />

kommt ihr Ausruf (wie bei dem König in Hamlet): „Ich kann nicht“. Was hindert sie daran? Wohl kaum<br />

der Tambourmajor. Ihr Kind mit Woyzeck? Warum sollte das der Fall sein? Ihre sinnliche Natur?<br />

Dagegen spricht ihre echte wie grenzenlose Verzweiflung. Diese steht in keinem Verhältnis <strong>zu</strong> dem<br />

Seitensprung. (Schon gar nicht bei dem Autor von Dantons Tod sowie Leonce <strong>und</strong> Lena, möchte man<br />

meinen.)<br />

Der Kontext: Unmittelbar vorher, 15. Szene, kauft Woyzeck das Messer. Unmittelbar nachher macht er<br />

sein Testament – <strong>und</strong> ersticht Marie, wie man nach allem, was bislang erschlossen wurde annehmen<br />

muss bzw. so, wie es die Lese- <strong>und</strong> Bühnenfassungen bringen.<br />

Nun ruft Marie in der 16. Szene in einem Zustand höchster Erregung <strong>und</strong> größten Seelenschmerzes<br />

folgenden Satz: „Das Kind giebt mir einen Stich ins Herz.“ Zweifellos muss der Stich ins Herz als<br />

Metapher gelesen werden. Das verlangt schon der Nebentext: das Kind auf dem Arm drängt sich an<br />

sie. Marie sagt anschließend „fort!“, der Narr nimmt dann das Kind. Allerdings passt dieses<br />

Verständnis nicht <strong>zu</strong>r Handlung <strong>und</strong> <strong>zu</strong> den Gefühlen.<br />

Indessen könnte das Wortfeld „Messer“ – kontinuierlich präsent <strong>und</strong> in der Umgebung der Szene<br />

durch Handlung aktualisiert – auch die Lesart eines wörtlichen Stichs nahelegen. Das wäre der<br />

Umschlag der rhetorischen Ebenen in Verbindung mit dem Umschlag der Handlung, der<br />

Unausweichlichkeit des Schicksals der Hauptfiguren <strong>und</strong> gleichzeitige Erkenntnis des Gr<strong>und</strong>es.<br />

Dramatisch betrachtet, eine bestechende Sache. Was wäre die Aussage? Maries Ausruf wäre<br />

antizipierend <strong>zu</strong> verstehen, der Stich wörtlich <strong>zu</strong> nehmen, das gemeinte Kind nicht das auf dem Arm,<br />

sondern das mit dem echten Messer. Woyzeck.<br />

Ist es ein weiterer Zufall, das dieser Woyzeck in der nächsten, 17. Szene auf seine Mutter <strong>zu</strong><br />

sprechen kommt? In deren Bibel nunmehr Woyzeck liest <strong>und</strong> in der er (Maries?) schön Gold findet?<br />

So wie der Vater der weiblichen Figur einmal bezeichnend im Klartext erwähnt wird (H2,8) fällt hier<br />

der Name von Woyzecks Mutter wörtlich: „Meine Mutter fühlt nur noch, wenn ihr die Sonn auf die<br />

Händ scheint.“ Die Bedeutung ist codiert aber mittlerweile bekannt. Die kleinen goldenen Mücken<br />

wären aus der Märchenparabel <strong>zu</strong> ergänzen.<br />

Wenn man die Szene der Handschrift H3,2 (Idiot. Kind. Woyzeck) nicht - wie in der Dednerschen<br />

Bearbeitung – weglässt, ergibt sich ein roter Handlungsfaden, der das Kind quasi aus der Familie<br />

Woyzeck entfernt – <strong>und</strong> rettet. Es flieht <strong>zu</strong> <strong>und</strong> mit dem Narren, einer irrealen, aber antizipierenden<br />

Figur. Modern - <strong>und</strong> prosaisch - könnte man dafür das Jugendamt einsetzen.<br />

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