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Sabine Both<br />
Kein Sommer<br />
ohne<br />
Poolprinz<br />
Planet Girl
1.<br />
»Sweety, komm mal rüber! Anna, jetzt komm mal!<br />
Anna!«<br />
Mama ruft. Sie ruft dauernd. Immer hat sie irgendeinen<br />
Gedanken, irgendwas furchtbar Wichtiges saust<br />
ihr durch den Kopf, und sie kann es auf keinen Fall<br />
für sich behalten. Wenn Alessandro nicht da ist, muss<br />
sie es mir erzählen. Und sollte ich mal nicht da sein,<br />
dann quatscht sie wahrscheinlich die Waschmaschine<br />
voll.<br />
»Was ist denn?«<br />
»Komm mal! Komm schnell! Unser Lied!«<br />
Jetzt höre ich es auch. Unser Lied. Zumindest das,<br />
was Mama dafür hält. Dieser uralte Song. Wenn man<br />
ihr glauben will, haben wir schon dazu getanzt, als<br />
ich gerade auf meinen Beinen stehen konnte. You are<br />
the sunshine of my life.<br />
Mama ist in null Komma nichts ekstatisch. Ich seufze,<br />
gebe mich geschlagen, greife nach Mamas ausgestreckten<br />
Händen und lasse mich im Kreis herumwirbeln.<br />
Viel schneller als der Takt. Sie liebt das. Bis<br />
uns schwindelig wird. Da kann auch ich nicht anders,<br />
als zu kreischen und zu lachen. Wir kreiseln immer<br />
5
schneller. Wenn jetzt einer loslässt, kracht er gegen<br />
die Wohnzimmermöbel. Ist schon mehrmals passiert.<br />
Macht aber nichts. Alessandro hat alles wieder zusammengehämmert,<br />
was wir zerdeppert haben. Er fand<br />
das lustig. Papa hätte die Krise gekriegt. Kein Wunder,<br />
dass es bei meinen Eltern nicht geklappt hat.<br />
Seit sie geschieden sind, ist alles viel besser. Sie<br />
strei ten sich nicht mehr und sie wollen aus dem<br />
anderen nicht mehr das machen, was er einfach nicht<br />
sein kann. Papa kann nicht werden wie Mama. Dauernd<br />
auf Achse, immer Verrücktheiten im Kopf, von<br />
morgens bis abends Botschafter der guten Laune. Und<br />
Mama kann nicht sein wie Papa. Still, verkopft, ein<br />
Erfinder, Denker und Forscher, dem man mit emotionalen<br />
Themen nicht kommen kann.<br />
Ich weiß gar nicht, wieso die beiden überhaupt so<br />
lange verheiratet waren. Was fanden die bloß aneinander?<br />
Gut, hübsch sind sie beide, jeder auf seine<br />
Art. Papa wäre noch hübscher, wenn er seinen dämlichen,<br />
ach so pflegeleichten Bart abrasieren würde.<br />
Dann hätte er auch vielleicht mal Chancen auf dem<br />
Singlemarkt.<br />
Mama war sofort wieder vergeben. Zum Glück hat<br />
Alessandro sich Mama geschnappt. Ich mag ihn. Und<br />
ich bin froh, dass Mama glücklich ist. Papa soll auch<br />
wieder glücklich sein.<br />
Das findet Mama auch. Sie hat ihm schon tausend<br />
Vorschläge gemacht, die er alle ignoriert. Sie hat sogar<br />
schon ein heimliches Blind Date organisiert, gesagt,<br />
6
Papa habe ein Treffen mit einer angesagten Hirnforscherin,<br />
und dann war es doch nur eine ihrer Freundinnen<br />
und Papa hat die Flucht ergriffen.<br />
Unvermittelbar, so nennt Mama ihn und findet,<br />
dass das Alleinsein ihm nicht guttut.<br />
Papa behauptet, er wäre glücklich, so, wie es ist.<br />
Aber das kann er uns nicht weismachen. Niemand ist<br />
glücklich ohne Liebe. Ich übrigens auch nicht. Bei<br />
mir ist es auch schon viel zu lange her. Und das eine<br />
Mal war irgendwie nicht richtig. Zwei Wochen »gehen«<br />
mit Sven, ein Kuss auf die Wange und zweimal<br />
Händchen haltend durch die Stadt – das ist nichts.<br />
Ich bin genauso überfällig wie Papa. Aber solange<br />
noch Hoffnung für Papa besteht, besteht auch noch<br />
welche für mich.<br />
You are the sunshine of my life. Jetzt ist es zu Ende<br />
und Mama sinkt erschöpft aufs Sofa. Ich werfe mich<br />
neben sie.<br />
»Sag mal, Mama, wieso seid ihr, also du und Papa,<br />
eigentlich zusammengekommen, wenn ihr doch gar<br />
nicht zueinandergepasst habt?«<br />
»Wir haben uns angezogen wie zwei Magnete.«<br />
»Echt?«<br />
»Dein Vater mich jedenfalls. Er hat erst mal nichts<br />
mitgekriegt, er war mit irgendeiner Quantenphysiknummer<br />
beschäftigt, lief mit Diktafon durch den Park<br />
und ist alle paar Meter über seine eigenen Füße gestolpert.«<br />
»Und das fandest du anziehend?« Ich muss lachen.<br />
7
»Ich fand ihn unheimlich süß und dachte: Den<br />
musst du kennenlernen!«<br />
»Da hast du nicht lang gefackelt, wie ich dich<br />
kenne.«<br />
»Stimmt. Ich war damals in meiner Hippie-Phase<br />
…«<br />
»Damals?«<br />
»Damals hat sie angefangen …« Mama lacht. »Ich<br />
war mit ein paar Freunden zum Yogamachen im Park.<br />
Dein Vater hat uns genauso wenig wahrgenommen<br />
wie die spielenden Kinder und die Sommersonne.«<br />
»Hat er damals auch schon seine Cordhosen angehabt?«<br />
»Ja, genau. Und ein viel zu warmes Hemd. Ich bin<br />
jedenfalls raus aus dem herabschauenden Hund und<br />
zu ihm gelaufen.«<br />
»Einfach so?«<br />
»Einfach so. Wenn man was will, dann sollte man<br />
es sich auch nehmen.«<br />
»Ist notiert.«<br />
»Jedenfalls habe ich ihn angequatscht und er hat<br />
kaum ein Wort rausgekriegt und hat sich bestimmt<br />
dreimal verabschiedet, ohne dass ich ihn hab gehen<br />
lassen. Was man wirklich will, lässt man sich nicht<br />
so leicht wieder wegnehmen.«<br />
Ich kritzle auf einen unsichtbaren Notizblock.<br />
»Alles klar.«<br />
»Irgendwann hatte ich ihn. Er hat mir einen superlangen<br />
Vortrag über dieses Quantenphysikding gehal-<br />
8
ten und ich hab ihn am Ende mit einer Verabredung<br />
für den Abend überrumpelt.«<br />
»Und dann?«<br />
»Dann nahm die Sache ihren Lauf. Ich hab ihn einfach<br />
nicht mehr in Ruhe gelassen und irgendwann<br />
hat auch dein Vater gemerkt, dass es noch etwas<br />
anderes als Formeln und Gleichungen auf der Welt<br />
gibt.«<br />
»Dich!«<br />
»Und Sex.«<br />
»Mama!«<br />
Mama lacht. »Wir haben uns gegenseitig bereichert.<br />
Ich hab ihm Lebendigkeit gebracht, er hat mich<br />
fasziniert mit seinem Wissen.«<br />
»Und wieso habt ihr euch dann getrennt?«<br />
Mama seufzt. »Wir waren kaum einen Monat zusam<br />
men, als ich mit dir schwanger wurde. Wir schwebten<br />
auf Wolke sieben. Wir waren so glücklich über<br />
dich. Unser Sternchen.«<br />
»Jaja, weiter im Text.«<br />
»Aber mit den Jahren haben wir uns immer mehr<br />
auseinanderentwickelt.«<br />
»Und dann habt ihr entschieden, euch zu trennen.«<br />
»Ja.« Mama nickt und ist einen Moment weit weg.<br />
»So in etwa war das. Ich hab dann Alessandro kennengelernt<br />
und mich verliebt. Und dein Vater …«<br />
»Der hat leider noch immer niemanden kennengelernt.«<br />
9
»Aber wir arbeiten dran.« Mama hält die Hand<br />
hoch. Ich soll abklatschen.<br />
»Wir arbeiten dran!« Ich schlage ein. »Papa braucht<br />
wieder jemanden, der ihm Feuer unterm Hintern<br />
macht.«<br />
»Unbedingt.«<br />
»Stell dir zwei von seiner Sorte vor.«<br />
»Da passiert so viel, wie wenn du zwei Regenschirme<br />
zusammengeklappt an die Tür lehnst.«<br />
»Also, gesucht wird jemand wie du, nur nicht so<br />
schlimm.«<br />
»Nicht so schlimm?« Mama lacht.<br />
»Du bist schon sehr viel von allem. Eine abgeschwächte<br />
Form von dir. Jemanden, der Papa mitreißt<br />
und schnappt, aber ihn nicht nervt.«<br />
»Na, du hast ja ein Bild von mir.« Mama lacht<br />
immer noch. »Aber du hast recht. Genau so jemanden<br />
braucht Papa. Dumm nur, dass er nie vor die Tür geht<br />
und Singlefrauen nicht einfach so herein schneien.<br />
Und selbst wenn sie das tun, die meisten ergreifen<br />
schlagartig die Flucht, wenn er ihnen von dieser<br />
Quantenphysik oder intelligenten Computerviren erzählt.«<br />
Ich nicke. Ja, Papa ist wirklich schwerstens zu<br />
vermitteln. Einmal habe ich ihn mit einer Bäckereiverkäuferin<br />
reden hören, die ihn eindeutig gut fand.<br />
Und er drückt ihr ein Gespräch über die Wahrscheinlichkeit,<br />
dass sich in einem Brötchen ein Haar befindet,<br />
rein. Ich hab das mal versucht. Hab angesetzt,<br />
10
mit ihm über einen Jungen aus meiner Schule zu<br />
reden, den ich cool fand. Er hat so schnell das Thema<br />
gewechselt, dass mir fast schwindelig wurde.<br />
Mama reibt sich die Hände. »Und was machen wir<br />
heute?«<br />
»Keine Ahnung!«<br />
Es ist der erste Ferientag. Wie immer haben wir<br />
überhaupt nichts geplant. Alle anderen aus meiner<br />
Klasse wissen, wo es hingeht. Nach Mallorca. Nach<br />
Ibiza. An die Ostsee. Wenn ich gefragt werde, kann<br />
ich nur sagen: keine Ahnung. Bei uns ist nie was normal.<br />
Auch der Urlaub nicht. Pauschalreisen – negativ.<br />
Irgendwohin wird es uns schon treiben, sagt Mama<br />
immer. Wir haben ja den Bus.<br />
Der Bus. Meine Hassliebe. Es ist so einer, wie sie<br />
die Hippies früher hatten. Uralt. Total bunt. Überbunt.<br />
Mama ist eben Künstlerin. Nur leider steht ihre<br />
Kunst nicht im Museum oder gar in Galerien, wo<br />
man Geld dafür bekommen könnte, sondern sie ist<br />
dafür da, mich von der Schule abzuholen. Peinlich.<br />
Mit diesem Bus kann man nicht irgendwer sein. Man<br />
ist immer die mit dem Bus. Die mit dem Bus, in dem<br />
die bunte Mutter sitzt. Die bunte Mutter mit dem<br />
jungen Freund. Der junge Freund, der gerne mit nacktem<br />
Oberkörper in dem Bus sitzt. Dem bunten.<br />
Ich hab mir schon oft gewünscht, die mit dem Golf<br />
zu sein. Mit dem Golf und der Mutter mit dem Pagenschnitt.<br />
Die mit dem Mann, der in der Bank arbeitet.<br />
Mein Leben in der Schule wäre leichter.<br />
11
»Wir könnten schwimmen gehen. Nacktschwimmen!<br />
Im Badesee.«<br />
»Mama. Im Badesee darf man nicht nackt schwimmen.«<br />
»Ach, ist doch egal! Wir suchen uns ein geschütztes<br />
Plätzchen und hüpfen einfach rein.«<br />
»Und wenn uns einer sieht?«<br />
»Wir sind doch beide eine Augenweide!«<br />
»Ich bin echt zu alt für so was!«<br />
»Zum Freisein ist man nie zu alt, mein Küken.«<br />
»Ich bin nicht du!«<br />
Ich bin nun mal die Mischung aus Mama und<br />
Papa. Fifty-fifty. Eine Prise Verrücktheit und eisernen<br />
Willen von Mama, ein bisschen Schüchternheit und<br />
Bodenständigkeit von Papa.<br />
»Dann eben in voller Montur. Wir ziehen uns ganz<br />
dick an und springen als Michelin-Männchen ins<br />
Wasser. Wer schneller untergeht, hat verloren.« Mama<br />
kramt auf dem Couchtisch nach einem Skizzenblock.<br />
Die liegen bei uns überall rum, weil Mama und<br />
Alessandro unter Garantie zwanzig Mal am Tag eine<br />
Eingebung haben.<br />
»Das ist herrlich absurd!« Mama kritzelt los. »Dick<br />
wattierte Männchen an einem spießigen Badestrand.<br />
Und die dickbäuchigen Gäste staunen.«<br />
So was ist Mamas neuestes Steckenpferd. Die Wirklichkeit<br />
auf die Schippe nehmen. Knallbunt.<br />
»Mama, können wir nicht ganz normal schwimmen<br />
gehen wie andere Leute auch?«<br />
12
»Hm. Wenn’s sein muss.« Mama grinst. »Ich ruf<br />
mal Alessandro an, ob er auch kommt.«<br />
Sie wählt. »Chérie! Baden im See mit deinen zwei<br />
Grazien?«<br />
Sie kichert und wendet sich an mich. »Er kann es<br />
kaum erwarten. Und eine Überraschung hat er auch<br />
für uns.«<br />
Ausgerechnet. Ich sehe aus dem einen Augenwinkel<br />
Alessandro, aus dem anderen Sanni und Birte aus<br />
meiner Klasse. Sie liegen hinter ihren großen Sonnenbrillen<br />
auf zwei rosafarbenen Badetüchern und tun<br />
so, als würden sie nicht herschaun. Aber sie müssen<br />
gucken. Alessandro ist nicht zu übersehen, und erst<br />
recht nicht das, was er gerade tut. Er steht am Ufer,<br />
beugt und hebt sich, wedelt und fuchtelt und brummelt<br />
irgendwelches Zeug. Er behauptet, das sei Schamanismus.<br />
Ich sage, es ist Irrsinn.<br />
»Können wir nicht lieber …«, will ich das Unvermeidbare<br />
vermeiden, aber Mama wedelt schon ihrerseits<br />
mit den Armen und stürmt auf Alessandro zu.<br />
»Huhu!«, ruft sie. »Na, bereitest du die Geister des<br />
Wassers auf uns vor?«<br />
Er lacht. Und Birte und Sanni lachen auch. Leise,<br />
verstohlen. Und abfällig.<br />
»Anna!« Alessandro winkt mir. Sannis und Birtes<br />
Köpfe drehen sich um, sie zählen eins und eins zusammen,<br />
aaah, das sind die zwei Verrückten aus dem Bus,<br />
Annas Familie, und setzen hämische Gesichter auf.<br />
13
»Hallo, Anna.«<br />
»Hallo«, brumme ich und gehe wackelig an ihnen<br />
vorbei, bis zu Alessandro, dem ich ins Ohr flüstere:<br />
»Kannst du bitte sofort damit aufhören?!«<br />
»Wieso denn? Ich …«<br />
»Weil ich es sage. Einfach machen.«<br />
Er schaut sich um, sieht in meinem Rücken wohl,<br />
dass wir spezielles Publikum haben, und nickt. »Für<br />
dich tu ich doch fast alles.«<br />
»Wo ist denn die Überraschung? Her damit!« Mama<br />
stürzt sich von hinten auf Alessandro und wirft ihn<br />
um. Die beiden kugeln ins Wasser und führen sich<br />
auf wie zwei Welpen. Keine Frage, da hätte Alessandro<br />
auch weiter Geister anrufen können.<br />
»Haben! Haben! Haben!«, ruft Mama und kitzelt<br />
Alessandro.<br />
»Rette mich mal!«, ruft er.<br />
Ich zeige ihm einen Vogel. Das hätte mir gerade<br />
noch gefehlt, vor Birte und Sanni eine Wasserschlacht<br />
zu vollführen. Mir hat schon die letzte Schulstunde<br />
gereicht, um mir mal wieder von ihnen klarmachen<br />
zu lassen, dass ich anders bin.<br />
Das war so:<br />
Birte: Na, und du, wo fährst du hin?<br />
Ich: Weiß nicht.<br />
Sanni: Also, wir fahren wieder nach Ibiza. Das war<br />
letztes Jahr schon so geil. Tolles Hotel. Super Animation.<br />
Und die Jungs – einfach spitze. Es hat keine drei<br />
Tage gedauert, da hatte ich einen Urlaubsflirt. Der<br />
14
schreibt mir immer noch. Schade, dass er so weit weg<br />
wohnt.<br />
Birte: Ohne Urlaubsliebe geht so ein Urlaub ja auch<br />
wirklich gar nicht. Wir fahren nach Fuerte, da ist das<br />
auch ganz einfach mit dem Kennenlernen. Ich denke,<br />
das dauert keine zwei Tage. Und du, Anna? Wie war<br />
dein letzter Ferienflirt?<br />
Ich: Negativ.<br />
Sanni: Gar keinen?<br />
Ich: Positiv.<br />
Birte: Du Arme. Na ja, kann ja noch werden.<br />
Und dann hat sie mir auf die Schulter geklopft und<br />
ist mit Sanni abgezogen und ich musste nicht mal<br />
hören, ich konnte auch sehen, dass sie sich einig waren:<br />
Das wird nie was! Und wahrscheinlich haben sie<br />
recht. Alessandro will mit dem Bus zu irgendeinem<br />
Schamanentreffen. Mama will inspirierende Naturerlebnisse.<br />
Wo zur Hölle soll es da einen Ferienflirt für<br />
mich geben?<br />
»Also …« Alessandro macht es spannend. Zurück<br />
aus dem Wasser zückt er seinen Nie-ohne-meinen-<br />
Skizzenblock und hält ihn uns vor die Nase. »Da!«<br />
»Was ist das?« Zwei Tauben, die in einem bunten<br />
Bus sitzen. Eine Prinzessin, die mit einem bärtigen<br />
Alten in einem Gummiboot auf den Wellen tanzt.<br />
»Das sind die Ferien dieses Jahr«, orakelt Alessandro.<br />
»Janine und ich, wir machen Urlaub im Bus, und<br />
Anna fährt schick und voll pauschal in die Ferien. Mit<br />
Hartmut.«<br />
15
»Was???« Ich war doch gar nicht im Wasser, kann<br />
also auch keins in den Ohren haben.<br />
Alessandro erklärt alles noch einmal und grinst<br />
breit.<br />
»Mit Papa?« Der Papa, der Urlaubsreisen für überflüssig<br />
hält, weil er doch in seinem Kopf überallhin<br />
reisen kann. Der Papa, der lieber bei heruntergelassenem<br />
Rollladen am PC sitzt und sich den Kopf über<br />
physikalische Gesetzmäßigkeiten heiß denkt. Der Papa,<br />
der im Schrank nicht eine kurze Hose hat? »Papa fährt<br />
nie in Urlaub!«<br />
»Dieses Jahr schon!«<br />
»Hast du ihn bestochen? Bedroht? Unter Drogen<br />
gesetzt?«<br />
»Ich habe einfach nur von Mann zu Mann mit ihm<br />
gesprochen. Ich habe ihm gesagt, dass Janine und<br />
ich mal für uns sein müssen. Und dass du mal einen<br />
Urlaub brauchst, den du dir wünschst. Einen, wie<br />
deine Klassenkameraden ihn machen. Das sagst du<br />
doch immer. Du willst mal all-inclusive. Mit Animation.<br />
So für mächtig viel Kohle. Und Hartmut hat<br />
doch genug und gibt eh nie was aus. Es geht nach<br />
Italien. Er freut sich.«<br />
»Er hat bestimmt gerade über den Urknall nachgedacht<br />
und hätte auch eine Waschmaschine gekauft,<br />
wenn ihm jemand eine angedreht hätte.«<br />
»Er war ganz bei Sinnen.« Alessandro klopft sich<br />
selbst auf die Schulter. »Es musste ihm nur mal einer<br />
klarmachen, was er wirklich will.«<br />
16
So richtig kann ich mir die Szene immer noch nicht<br />
vorstellen. Alessandro fährt fünfzig Kilometer, klingelt<br />
bei Papa und taucht schillernd bunt in die Eremitenhöhle<br />
ein. Nicht dass Papa und Alessandro sich<br />
noch nie gesehen hätten. An meinen Geburtstagen,<br />
an Weihnachten, bei Familienfesten haben sie schon<br />
öfter zusammengestanden und ein paar Worte gewechselt.<br />
Es herrscht keine dicke Luft zwischen den<br />
beiden. Aber dass Alessandro ihm verklickert, er<br />
bräuchte mal Zeit mit Mama alleine und ich …<br />
»Wie schön!« Mama fällt Alessandro und mir<br />
gleichzeitig um den Hals. »Das werden tolle Ferien<br />
für uns alle!« Sie wendet sich an mich und schaut mir<br />
tief in die Augen. »Und das ist doch DIE Gelegenheit.<br />
Wenn du Papa zwei Wochen unter deinen Fittichen<br />
hast. Wenn ihr in einem traumhaften, entspannten<br />
Ambiente weit weg von seinem Schreibtisch Zeit verbringt.<br />
Wenn all die allein reisenden Singlefrauen<br />
deinen Vater in Badehose sehen. Dann kannst du ihn<br />
mit links an die Frau bringen.«<br />
Und mich an den Ferienflirt, denke ich und werfe<br />
einen Blick auf Sanni und Birte. »Entschuldigt mich<br />
mal kurz«, sage ich und stapfe auf die beiden zu. »Ich<br />
wollte nur schnell erzählen: Ich fahre dieses Jahr nach<br />
Italien. All-inclusive. Mit Animation. Und die Jungs<br />
sollen da alle Rehaugen haben und voll auf deutsche<br />
Touristinnen abfahren.«<br />
Sie gucken mich an, als wäre Mitleid die einzig<br />
wahre Option für mich.<br />
17
»Wie schön für dich«, flötet Sanni.<br />
»Dann wünschen wir dir viel Spaß«, sagt Birte.<br />
Und ich muss es nicht mal hören, ich kann, als ich<br />
gehe, im Rücken spüren, dass sie sagen: Sie könnte<br />
überall hinfahren, verrückt, wie sie ist, findet die sowieso<br />
keinen Jungen, der sie will.<br />
»Wusstest du eigentlich, dass das Rauschen des Meeres<br />
einem physikalischen Gesetz unterliegt?«<br />
»Nein, wusste ich nicht, Papa. Aber du wirst es mir<br />
sicher gleich erklären.« Ich grinse. Das ist also Papas<br />
Art, sich auf unseren Urlaub vorzubereiten. Ich kaufe<br />
mir einen neuen Bikini und Papa stöbert in seinem<br />
viel zu großen Gehirn nach physikalischen Gesetzen,<br />
die es ihm erlauben, sich auf das Abenteuer Ferienklub<br />
einzulassen.<br />
Während er mir einen Vortrag über kollabierende<br />
Wasserbläschen hält, gehe ich parallel meine Liste<br />
durch. Ich habe noch nie für einen richtigen Urlaub<br />
gepackt, ich darf nichts vergessen. Sonnencreme. iPod.<br />
iPad. Handy. Drei kurze Hosen. Brauche ich auch<br />
lange?<br />
»Hier!« Als hätte er meine Gedanken gelesen, legt<br />
Papa mir fünf Seiten ausgedrucktes Tabellenmaterial<br />
vor die Nase. Die Wetterkurven von Italien der letzten<br />
fünf Jahre. »Empirisch gesehen …«<br />
Jetzt referiert Papa wetterfeemäßig über Hochs und<br />
Tiefs und ich streiche die Fleecejacke von meiner<br />
Liste.<br />
18
»Hast DU eigentlich schon gepackt?«, frage ich.<br />
»Alles fertig. Da hinten steht der Koffer.«<br />
Ich schaue in die Ecke, in die Papa zeigt, aber da ist<br />
nichts zu sehen. Nur Kartons. Die Rechner und Gerätschaften,<br />
die Papa immer wieder kauft, werden in<br />
Kartons geliefert. Und die verwahrt er, falls er mal was<br />
reklamieren muss, und, wie ich vermute, auch weil<br />
er sich nicht trennen kann. Sie sind ihm lieber als<br />
Möbel.<br />
Ich hab ihm schon ein paarmal gesagt, dass es bei<br />
ihm ganz schön chaotisch aussieht. Aber er hat den<br />
Kopf geschüttelt: Das sei Ordnung und Beständigkeit,<br />
auf Hartmut-Art. Und irgendwie stimmt das auch.<br />
Bei Papa ist, außer dass ab und zu ein Karton dazukommt,<br />
immer alles gleich. Wenn ich zur Tür hereinkomme,<br />
habe ich ein Gefühl von Sicherheit, von<br />
Klarheit. Ich muss nicht denken. Es gibt zwei Stühle,<br />
zwei Teller, zwei Gabeln, zwei Messer und einen<br />
Löffel. Der ist für mich, weil Papa es ablehnt, etwas zu<br />
essen, für das man einen Löffel benötigt. Altes Brei-<br />
Trauma aus Babytagen.<br />
Bei Papa gibt es nur das Nötigste, keinen Schnickschnack,<br />
keine Überraschun gen. Bei Mama gibt es aus<br />
siebzehn verschiedenen ertrödelten Service je weils<br />
maximal sieben Teile. Und sucht man einen Löffel,<br />
muss man schon mal die ganze Küche auf den Kopf<br />
stellen, weil Mama aus einem Impuls heraus alles umgeräumt<br />
hat, um irgend eine neue Regalkonstruktion<br />
in den Mittelpunkt zu rücken.<br />
19
Kein Wunder, dass die beiden nicht zusammenbleiben<br />
konnten.<br />
»Wo ist dein Koffer?«<br />
»Na, da! Der große!«<br />
»Du meinst die winzige Aktentasche? Du kannst<br />
doch unmöglich alles, was du für zwei Wochen<br />
brauchst, in dieses Teil gepackt haben.«<br />
»Nicht? Pullover, Hose, ein Dutzend Unterhosen<br />
und Unterhemden. Der Laptop kommt extra.«<br />
»Was ist mit einer Badehose? Mit einem Strandtuch?«<br />
Papa verzieht das Gesicht bei dem Gedanken, in<br />
ei ner Badehose auf einem Strandtuch zu liegen.<br />
Wusste ich es doch! »Papa. Diesen Urlaub, den<br />
willst du doch nicht wirklich, oder?«<br />
»Doch, natürlich!«<br />
»Papa!«<br />
»Ich will nichts mehr! Abgesehen davon, herauszufinden,<br />
wie das mit dem Urknall genau abgelaufen<br />
ist.«<br />
»Ich fühle mich geehrt.«<br />
»Und den Nobelpreis in Physik.«<br />
»Papa!« Ich boxe ihm in die Rippen und wir müssen<br />
beide lachen.<br />
»Und was das Badetuch angeht, pack du mir doch<br />
eins in deinen Koffer mit ein, ja?«, schlägt Papa vor.<br />
Also kommt es noch als letzter Punkt auf meine<br />
Liste. »Fertig!«<br />
»Na, dann können wir ja jetzt.« Papa reibt sich<br />
20
erfreut die Hände. Er wartet schon die ganze Zeit<br />
darauf, meine ungeteilte Aufmerksamkeit zu bekommen.<br />
Für sein neuestes Baby. Ein Sternenhimmelerklär-Computerprogramm,<br />
das er bereits an eine<br />
Softwarefirma verkauft hat. Wahrscheinlich fahren<br />
wir davon in den nicht gerade billigen Urlaub.<br />
Papa macht die Rollläden runter, fummelt am<br />
Computer, und der Beamer wirft das übliche Sternenwirrwarr<br />
an die Wand. Dann startet die Software und<br />
führt mich raumschiffmäßig und selbst für Laien<br />
wie mich verständlich und überaus witzig durch das<br />
All.<br />
»Das ist echt cool!« Ich bin begeistert. »Du solltest<br />
immer so was erfinden und programmieren, dann<br />
würden wir reich werden wie Bill Gates.«<br />
»Aber dann hätte ich keine Zeit mehr für die<br />
wirklich wichtigen Dinge.«<br />
»Mich!«<br />
»Dich!« Papa nickt. »Und das Denken und Forschen.<br />
Es gibt so viele interessante Fachbereiche auf der Welt<br />
und ich habe nur einen Bruchteil davon im Auge.«<br />
»Auch du hast nur ein Gehirn.«<br />
»Und da ist noch Platz.«<br />
Papa fährt das Programm runter und seufzt. »Ist es<br />
nicht wunderbar zu wissen, wo dein Platz im Universum<br />
ist?«<br />
»Solange ich im Flugzeug den Platz am Fenster<br />
bekomme, soll es mir recht sein.«<br />
Er lacht.<br />
21
»Und dann haben wir auch noch Zeit für meinen<br />
Privatkurs im Hacken?«, nutze ich die Gelegenheit.<br />
Papa windet sich.<br />
»Och, bitte, nur noch ein Mal. Zeig mir doch bitte,<br />
wie man an das Adressbuch von anderen kommt.<br />
Und wie man Dateien ins ewige Nirwana schicken<br />
kann und …«<br />
»Ich weiß nicht.«<br />
»Ich werde mein Wissen auch für mich behalten<br />
und nie anwenden!«, schwöre ich wie immer.<br />
Papa seufzt. »Na gut. Aber nur noch das eine Mal.«<br />
Und die nächsten hundert Male, die nur noch das<br />
eine Mal sind, wie die hundert Male davor, die auch<br />
schon das eine Mal waren. Papa kann sich gegen<br />
meinen Scheidungskind-Dackelblick einfach nicht<br />
erwehren. Und ich liebe es, mit ihm über kriminellen<br />
Machenschaften zu hocken und imaginären Gegenagenten<br />
das virtuelle Leben schwer zu machen.<br />
22