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<strong>Inhalt</strong><br />
Einleitung in Band 2 7<br />
Briefe Juli 1830 bis Juli 1832 39<br />
Kommentare Juli 1830 bis Juli 1832 583<br />
Anhang 739<br />
Verkürzt zitierte Literatur 741 RISM-Bibliothekssigel 746 Währungsverzeichnis<br />
747 Konkordanz der alten und neuen Orts namen 747<br />
Register 748<br />
Werkregister Felix Mendelssohn Bartholdy 783<br />
Werkregister Fanny Hensel 787<br />
Besitzernachweis 788 Abbildungsnachweis 788
Mendelssohns große Reise<br />
Einleitung in Band 2<br />
Der vorliegende Band enthält die Briefe, die Mendelssohn auf seiner großen<br />
Reise durch halb Europa geschrieben hat. Er hat sie im Mai 1830 angetreten<br />
und im Juni 1832 beendet. Den ersten Brief, den der Band wiedergibt, schrieb<br />
er am 5. Juli 1830 in München, den letzten am 30. Juli 1832 in Berlin. Es ist eine<br />
Besonderheit des Bandes, dass die Briefe Mendelssohns ohne die Kenntnis<br />
der Gegenbriefe ediert und kommentiert werden müssen, weil heute nur mehr<br />
wenige davon bekannt sind. 1<br />
Die Route<br />
Mendelssohn brach Mitte Mai 1830 auf. Er fuhr zunächst von Berlin über Dessau<br />
und Leipzig nach Weimar zu Goethe ; dort hielt er sich fast zwei Wochen<br />
auf. Er verweilte sodann jeweils mehrere Wochen in München und Wien. Von<br />
Wien fuhr er über Graz nach Venedig, wo er anderthalb Wochen zubrachte.<br />
Danach zog es ihn nach Rom. Er fuhr an Bologna vorbei, das er zunächst<br />
besuchen wollte, um Raffaels Heilige Caecilia zu sehen, hielt sich eine Woche<br />
in Florenz auf und traf am 1. November 1830 in Rom ein. Hier ließ er sich für<br />
fast ein halbes Jahr nieder. Danach besuchte er Neapel. Seinen Plan, Sizilien<br />
zu bereisen, lehnte sein Vater aus Angst vor den Italien durchziehenden Un -<br />
ruhen ab. So trat Mendelssohn die Rückreise an. Er berührte abermals Rom<br />
und Florenz und fuhr über Genua und Mailand in die Schweiz. Die Schweiz,<br />
die er seit Kindestagen liebte, durchwanderte er zu Fuß. Noch einmal suchte<br />
er danach für sechs Wochen München auf und wandte sich alsdann nach Westen,<br />
passierte Stuttgart, Frankfurt a. M., Düsseldorf und Lüttich und erreichte<br />
1 Die Briefe, die Mendelssohn während der Reise empfangen hatte, waren 1844 als ungebundenes<br />
Paket noch vorhanden. Siehe Peter Ward Jones, The Library of Felix Mendelssohn<br />
Bartholdy, in: Festschrift Rudolf Elvers zum 60. Geburtstag, hrsg. von Ernst Herttrich und<br />
Hans Schneider, Tutzing 1985, S. 320. – Grundlegend zur Biografie und zum Œuvre: R. Larry<br />
Todd, Felix Mendelssohn Bartholdy. Sein Leben, seine Musik. Aus dem Englischen übersetzt<br />
von Helga Beste unter Mitwirkung von Thomas Schmidt-Beste, Stuttgart 2008.<br />
7
am 9. November 1831 Paris. Dort lebte er fünf Monate und fuhr schließlich<br />
nach London, in die Stadt, der er sich bereits 1829 bekannt gemacht hatte. Er<br />
blieb dort zwei Monate. Am 27. Juni 1832 traf er wieder in Berlin ein.<br />
Die folgende Übersicht zeichnet die Reise nach und markiert die Städte,<br />
in denen Mendelssohn verweilte.<br />
Daten Stationen Bemerkungen Brief-Nr.<br />
Aufbruch am<br />
13. Mai 1830<br />
20. Mai bis 3. Juni<br />
1830<br />
6. Juni bis<br />
7. Au gust 1830<br />
13. August bis<br />
3. Oktober 1830<br />
10. bis 21. Oktober<br />
1830<br />
22. bis 30. Oktober<br />
1830<br />
1. November 1830<br />
bis 10. April 1831<br />
13. April bis 3. Juni<br />
1831<br />
5. bis 19. Juni<br />
24. bis 28. Juni<br />
1. Juni bis 5. Juli<br />
7. bis 26. Juli 1831<br />
27. Juli bis 4. Sep -<br />
tember 1831<br />
Reise über Dessau<br />
nach Leipzig<br />
Weimar FMB besucht täglich Goethe . 301–302<br />
München<br />
Wien<br />
Venedig<br />
FMB spielt privat und öffentlich Klavier und<br />
stellt in einer halb öffentlichen Probe seine<br />
1. Sinfonie vor.<br />
Kompositionen: Choral O Haupt voll Blut<br />
und Wunden – Ave Maria op. 23/2<br />
Kompositionen: Choral Aus tiefer Not<br />
op. 23/1 – Venetianisches Gondel lied op. 19b/6<br />
305–325<br />
331–347,<br />
349–350<br />
352–359<br />
Florenz Besuch der Galerien 360–365<br />
Rom<br />
Kompositionen: Mehrere geistliche Musiken,<br />
darunter der 115. Psalm Non nobis Domine<br />
op. 31, die Ouvertüre Die Hebriden op. 26,<br />
ferner Arbeiten an der Italienischen Sinfonie<br />
op. 90 , am Klavier konzert g-Moll, op. 25,<br />
und an der sinfo nischen Kantate Die erste<br />
Walpurgisnacht op. 60<br />
366–418<br />
Neapel FMB unternimmt Ausflüge in die Umgebung. 419–427<br />
Rückreise:<br />
Noch einmal Rom<br />
und Florenz,<br />
dann über Genua<br />
und Mailand, die<br />
Isola bella und<br />
den Simplon pass<br />
in die Schweiz<br />
Schweiz (Genf,<br />
Vevey, Unter -<br />
seen, Interlaken,<br />
Luzern, Rapperswil,<br />
St. Gallen)<br />
Besuch der Uffizien<br />
Rom:<br />
428–433<br />
Florenz:<br />
434–435<br />
437–446<br />
FMB durchquert die Schweiz zu Fuß. 447–458<br />
8
Daten Stationen Bemerkungen Brief-Nr.<br />
9. September bis<br />
6. (?) November<br />
1831<br />
9. Dezember 1831<br />
bis 20. April 1832<br />
22. April bis<br />
22. Juni 1832<br />
München<br />
Reise über Stuttgart,<br />
Heidelberg,<br />
Frankfurt a. M.,<br />
Düsseldorf und<br />
Lüttich<br />
Paris<br />
London<br />
FMB spielt privat und öffentlich Klavier und<br />
gibt ein großes Konzert. Er dirigiert seine<br />
1. Sinfonie op. 11 und spielt zum ersten Mal<br />
sein neues Klavierkonzert in g-Moll .<br />
Er erhält vom Intendanten des Königlichen<br />
Theaters einen Opernauftrag.<br />
FMB erhält den Auftrag, für den Frank -<br />
furter Cäcilienverein ein Orato rium zu<br />
komponieren.<br />
Er findet in Karl Immermann ver meint lich<br />
den Librettisten für seine Münchner Oper.<br />
FMB beendet Die erste Walpurgis nacht und<br />
das Streichquintett A-Dur, op. 18 .<br />
Er spielt Klavier in Soiréen und Konzerten.<br />
Baillot führt seine Quartette und das Oktett<br />
op. 20 auf. Habenecks Orche ster spielt die<br />
Sommernachtstraum-Ouvertüre op. 21 . FMB<br />
bereitet ein großes Konzert vor, in dem das<br />
Klavierkonzert g-Moll und zum ersten Mal<br />
die Reformationssinfonie op. 107 er klingen<br />
sollen. Die Cholera vereitelt es. Die Krankheit<br />
erfasst auch FMB.<br />
FMB komponiert das Capriccio brillant<br />
h-Moll, op. 22, für Klavier und Orchester.<br />
Die Ouvertüre Die Hebriden wird zum ersten<br />
Mal aufgeführt. FMB spielt das neue Capriccio<br />
brillant und stellt das Klavier konzert<br />
in g-Moll vor.<br />
22. Mai 1832 Rebecka heiratet in Berlin Peter Gustav<br />
Lejeune Dirichlet .<br />
ab 27. Juni 1832 Berlin FMB durchleidet eine schwere, den Rest des<br />
Jahres belastende Depres sion. – Er erkennt,<br />
dass er das Libretto von Immermann nicht<br />
vertonen kann. – Ende 1832 und Anfang<br />
1833 veranstaltet er einen Zyklus aus drei<br />
Wohltätigkeitskonzerten. Er bietet Musik<br />
»klassischer Komponisten« und eigene<br />
Kompositionen, im Wesentlichen diejenigen,<br />
die er auf der Reise komponiert<br />
und aufgeführt hat.<br />
459–469<br />
470–476<br />
477–534<br />
536–575<br />
576 ff.<br />
9
Hintergründe<br />
Der Charakter der Reise<br />
Die zweijährige Reise Mendelssohns hat vieles von einer klassischen Grand<br />
Tour, 2 in einem wesentlichen Moment aber geht sie – wie sich zeigen wird –<br />
entschieden darüber hinaus.<br />
Wie die vornehmen Absolventen der Tour war Mendelssohn nicht genötigt,<br />
selbst für seinen Unterhalt zu sorgen, der Vater finanzierte die Reise.<br />
Man sah ihn deshalb weithin, wie es die Engländer schon 1829 getan hatten,<br />
als einen Gentleman an, als unabhängigen jungen Mann, dessen Natur es entsprach<br />
oder Spleen es war, sich musikalisch zu betätigen. Wo er Geld erspielte,<br />
ließ er es Bedürftigen zukommen. Es kam dies gewiss seinem Ruf zugute.<br />
Wie die noblen Touristen fuhr auch Mendelssohn nicht als Unbekannter<br />
in die Fremde. Er gehörte einer Familie an, die weitreichende Verbindun gen<br />
hatte und pflegte. Er kannte, schon als er die Reise antrat, eine Vielzahl bedeutender<br />
Männer: Diplomaten, Wissenschaftler und Künstler aller Fächer,<br />
Maler vor allem und Musiker. Des Vorteils, den ihm dies verschaff te, war sich<br />
Mendelssohn sehr wohl bewusst. Er dankte dafür gelegentlich den Eltern : »Das<br />
ist überhaupt ein großes Glück bei meiner Reise«, schrieb er dem Vater aus<br />
Paris, »daß ich fast überall Leute finde, mit denen ich nicht erst die Anfangsgründe<br />
einer Bekanntschaft zu machen brauche und die mir dann Alles andre<br />
im guten Licht erscheinen lassen; […] so bist wieder Du es und Mutter und Euer<br />
Haus denen ich es verdanke, wenn ich mich in München und Wien und Rom<br />
und Paris gleich heimisch gefühlt habe.« 3<br />
Man darf darüber nicht vergessen, dass sich der junge Mendelssohn bereits<br />
selbst einen Namen gemacht hatte. Wie hilfreich dies sein konnte, zeigt<br />
eine »tolle« Episode, die sich in Mailand zugetragen hat. Mendelssohn kannte,<br />
als er die Stadt betrat, niemanden, mit dem er darin hätte verkehren können.<br />
So ließ er sich die bedeutenden Persönlichkeiten aufzählen. Unter ihnen<br />
war ein General namens Ertmann . Da ihn der Name an Musik erinnerte, zog<br />
er einen schwarzen Frack an, ging in den Palast, in dem der General Dienst<br />
tat, fragte nicht ohne Furcht einen der darin Herumstehenden nach dessen<br />
Wohnung, erfuhr, dass er den General selbst vor sich hatte, und richtete die<br />
schöne Rede, die er sich für dessen Gattin ausgedacht hatte, »im abrégé« 4 an<br />
diesen. »Der Mann« – so Mendelssohn – »schien sich aber dran nicht sonder-<br />
2 Grand Tour nannte man die Kavaliersreise: die Bildungsreise, die junge Adlige zu unternehmen<br />
pflegten, bevor sie Amt und Würden übernahmen. 3 FMB an Abraham Mendelssohn<br />
Bartholdy am 11. und 14. Dezember 1831 (Brief Nr. 479). 4 En abrégé, in Kurzform.<br />
10
lich zu erbauen, und wollte wissen, mit wem er die Ehre habe? Das war auch<br />
nicht angenehm, aber zum Glück kannte er meinen Namen, und wurde sehr<br />
höflich, seine Frau sey nicht zu Hause, ich würde sie um 2 treffen.« 5 Und so<br />
erlebte Mendelssohn denn, dass die vage Hoffnung, in der er sich auf den<br />
Weg ins Schloss gemacht hatte, tatsächlich in Erfüllung ging. Der General<br />
war der Gatte von Dorothea von Ertmann , die Beethoven einst gekannt und<br />
der er die A-Dur-Sonate, op. 101 , gewidmet hatte. Mendelssohn sprach mit<br />
ihr, hörte sie spielen, spielte ihr und dem General vor und sah den anfangs<br />
so stolzen Mann vor Glück weinen. Den Ausgang und Gewinn des »verrück -<br />
ten Streichs« hat Mendelssohn den Seinen ausführlich geschildert. 6<br />
Schließlich teilte Mendelssohn mit den klassischen Absolventen der Grand<br />
Tour das Interesse an Land und Leuten, an Natur und Kunst. In Italien entzückte<br />
ihn die Natur, bestaunte er die Reste der Antike, genoss und deutete<br />
sich die Werke der von ihm sogenannten alten Italiener, namentlich Bilder<br />
von Raffael und Tizian . Nicht die gegenwärtige »musikalische Musik« Italiens,<br />
sondern – wie er sich ausdrückte – die Musik seiner Natur und alten Kunst<br />
war es, die ihn in Rom belebte und ihm die Kraft zu produzieren gab. 7 In<br />
Frankreich ergab er sich dem Taumel des Pariser Lebens, um zu erfahren, was<br />
moderne Zivilisation sei. Sie war und blieb ihm fremd. Er sei, meinte er, kein<br />
zivilisierter Mensch, jedenfalls keiner – ist wohl anzumerken – der damaligen<br />
Pariser Façon. 8 In London genoss er die Rückkehr in den Kreis seiner dort<br />
lebenden Freunde und konzentrierte sich auf seine vielfältigen musikalischen<br />
Unternehmungen.<br />
Über den Charakter der klassischen Grand Tour ging das Ziel hinaus, das<br />
der Vater mit der Reise verknüpft hat. Er gab dem Sohn auf, während der Tour<br />
zu erkunden, wo er danach wirken wolle, dort sich und seine Kunst bereits<br />
bekannt zu machen und so seinem »späteren Wirken vorzuarbeiten«. 9 Es war<br />
dies mehr als ein Rat, es war – in der Sprache der Familie – ein Befehl. Doch<br />
muss man sagen: Der Vater formalisierte damit, was der Sohn gewiss ohnehin<br />
getan hätte, nämlich in Erfahrung zu bringen, wo man seiner Musik mit<br />
Liebe und Verständnis begegnet und wo Musiker sind, die sie auszuführen<br />
wissen. 10 Der Befehl des Vaters scheint die Verpflichtung eingeschlossen zu<br />
haben, Konzerte nicht zum eigenen finanziellen Vorteil, sondern zugunsten<br />
5 FMB an die Familie am 14. und 15. Juli 1831 (Brief Nr. 442). 6 Ebenda. 7 »So steht das<br />
Co losseum und die Basilika des Constantin da, und jeder Mensch, der sieht, wie Alles das auch<br />
von Menschen gemacht ist, muß sich erhoben fühlen. Auch verdanke ich dem, was nicht die<br />
eigentliche, unmittelbare Musik ist: den Ruinen, den Bildern, der Heiterkeit der Natur, am<br />
meisten Musik.« FMB an Carl Friedrich Zelter am 1. Dezember 1830 (Brief Nr. 375). 8 FMB<br />
an die Familie am 21. Januar 1832 (Brief Nr. 505). 9 Ebenda. 10 Mendelssohn hatte bereits<br />
1829 in London – ohne den »Befehl« des Vaters – alles getan, was dafür von Bedeutung ist.<br />
11
von Armen zu geben. Der Vater hoff te oder wusste wohl, dass Wohltätigkeitskonzerte<br />
es dem Sohn erleichtern, die Gunst des Publikums, die Aufmerksamkeit<br />
der Honoratioren und womöglich auch die Gnade der Potentaten zu<br />
gewinnen. 11 Dass die Vorschrift alles andere als kleinmütig oder engherzig<br />
war, zeigt der Wunsch, den der Vater dem Sohn zu Beginn der Reise nachsandte.<br />
Er riet ihm: »Genieße Deine Jugend und Dein Glück.« 12 An dieses<br />
Wort erinnerte der Sohn die Eltern am Ende. Er wiederholte es und erwiderte:<br />
»Das habe ich von Herzen gethan, und werde es thun und danke es Euch.« 13<br />
Im Übrigen glaubte er schon am 21. Februar 1832, noch in Paris, gegenüber<br />
dem Vater bilanzieren zu können: »Ich hoffe« – schrieb er ihm – »den Theil<br />
Deiner Absicht, daß ich mich und meine Lage den Leuten bekannt machen<br />
solle, bei meiner Rückkunft nach Berlin erfüllt nennen zu können.« 14<br />
Revolution und Cholera<br />
Es war – so empfand es Mendelssohn – »eine böse Zeit«, in der er Europa bereiste.<br />
15 »Die Julirevolution, die Cholera und so vieles Andre« 16 haben damals<br />
den Kontinent überzogen. Mendelssohn hoff te, dass er am Ende der Reise<br />
wenigstens die Familie , die Eltern und Geschwister, wieder sehen würde. 17<br />
Dieses Glück wurde ihm zuteil. Jenseits davon aber veränderte sich während<br />
der Reise seine Umwelt. Die Liste derer, die er nach der Rückkehr nicht mehr<br />
sehen würde, war am Ende lang.<br />
Während sich Mendelssohn 1830 in München aufhielt, brach in Paris die<br />
Julirevolution aus. 18 Die Bewegungen, die damit einhergingen, erregten ihn, ja<br />
schienen ihn zu faszinieren. Er beneidete den Vater , der sich damals in Paris<br />
aufhielt, und spielte mit dem Gedanken, die Reise nach Italien aufzugeben<br />
und kurzerhand nach Paris zu fahren. 19 Da die bewegte Phase der Revolution<br />
indessen, kaum dass sie begonnen, vorüber war, blieb er beim verabredeten<br />
11 Gelegentlich beteuerte der Sohn gegenüber dem Vater , er lasse sich seine Konzerte nicht<br />
bezahlen, weil das Geldverdienen nicht zu den Zwecken der Reise gehöre (am 31. März 1832,<br />
siehe Brief Nr. 521). Vermutlich hatte ihn der Vater nur vorsichtshalber an die Verabredung erinnert.<br />
Dass Mendelssohn andererseits bemüht war, seine Werke den Verlegern vorteilhaft zu<br />
verkaufen, widersprach der Verabredung nicht. Mendelssohn hoff te, mit diesen Einkünften<br />
Zeit zum freien Komponieren finanzieren zu können. 12 Der Brief des Vaters ist nicht bekannt.<br />
Der Sohn zitiert den Wunsch des Vaters in dem in der folgenden Anmerkung er wähnten<br />
Brief. 13 FMB an die Familie am 15. Juni 1832 (Brief Nr. 569). – Mendelssohn gibt in dem<br />
Brief den Rat des Vaters wieder. 14 FMB an die Familie am 21. Februar 1832 (Brief Nr. 505).<br />
15 FMB an die Familie am 30. August bis 5. September 1831 (Brief Nr. 458). 16 Diese Zusammenstellung<br />
im Brief an die Familie vom 10. März 1832 (Brief Nr. 514). 17 Ebenda.<br />
18 Dazu der Brief FMBs an Abraham Mendelssohn Bartholdy vom 14. Juli 1830 (Brief Nr. 321).<br />
19 FMB an Abraham Mendelssohn Bartholdy am 8. August 1830 (Brief Nr. 326).<br />
12
383. FMB an Carl Friedrich Zelter in Berlin<br />
Rom, 18. Dezember 1830<br />
Rom d. 18 Dec. 30.<br />
Lieber Herr Professor<br />
Möge Ihnen der Brief zugleich für Ihren Geburtstag, für Weihnachten und für<br />
das neue Jahr ein fröhliches Fest wünschen. Sie wissen, wie meine Gedanken<br />
immer bei Ihnen sind, um Ihre Heiterkeit und Ihr Glück zu hoffen, und so<br />
lassen Sie mich denn diesmal nichts weiter sagen; am Ende eines so bewegten,<br />
ernsthaften Jahres, in so unruhiger veränderlicher Zeit, ist es fast ängstlich<br />
einen Brief zu schreiben, der erst nach einigen Wochen ankommt, wo sich<br />
vieles wieder verwandelt haben kann. Da schicke ich Ihnen denn etwas Musik,<br />
die bleibt doch still stehen, bis sie ankommt, und bitte Sie, sie freundlich aufzunehmen.<br />
Es ist ein Choral , den ich in Venedig componirt habe. Gern hätte<br />
ich Ihnen etwas andres von meinen neuen Sachen geschickt, weil viel bessere<br />
darunter sind, indessen hätten sie alle mehr Platz eingenommen, und ich hatte<br />
mir vorgesetzt mich auf 2 Bogen zu beschränken. Auch sagten Sie mir einmal,<br />
es sey Ihnen sowohl für sich, als für die Akademie unangenehm, daß gar nichts<br />
4 stimmiges componirt würde, sondern Alles gleich 2chörig oder 8stimmig,<br />
und da dies Stück ungefähr die Form hat, die Sie mir damals angaben, und<br />
insofern vielleicht mit Ihren Wünschen übereinstimmt, so habe ich es Ihnen<br />
denn abgeschrieben. Halten Sie es für werth, auf der Akademie gesungen zu<br />
werden, so wäre mir das natürlich die größte Freude. Auf jeden Fall aber bitte<br />
ich Sie mir ja recht ausführlich darüber zu schreiben, und mir, da ich die Partitur<br />
hier habe, die Stellen und Tacte anzugeben, die Ihnen nicht recht sind;<br />
namentlich sind einige Puncte über die ich ziemlich ungewiß bin, und die<br />
ich geändert haben würde, wenn sich mir hier nicht neue Arbeiten gehäuft<br />
hätten, und wenn es mit einem Versuch gethan gewesen wäre: das sind manche<br />
Stellen in den Chorälen, wo die Stimmen unruhig durch einander gehen und<br />
absetzen; sie werden Ihnen wohl auffallen, und es wäre schön, wenn Sie mir<br />
eine Veränderung dafür angeben könnten. Auch möchte ich wissen, ob es<br />
Ihnen störend erscheint, daß ich beim Fugenthema die erste Note des Chorals<br />
verlängert habe? Ich that es, weil ich erstlich gewohnt war, die Melodie so<br />
zu hören; und dann namentlich, weil sichs breiter macht, und mehr wie ein<br />
Thema, als wenn lauter Viertelnoten von gleicher Geltung darin sind. Endlich<br />
werden Sie in der Stimmenführung manches Unpolirte finden, es kommt<br />
aber auch von obigem Grunde her, daß ich es nicht sehr oft habe durchsehen<br />
können, und dann weil niemand hier ist, dem ich es zeigen konnte; so zeige<br />
ich es Ihnen also, und dann ists schon gut. Fertig sind außerdem ein Ave<br />
Maria und ein Lutherscher Choral für 8 Stimmen a capella, ein Psalm „non<br />
5<br />
10<br />
15<br />
20<br />
25<br />
30<br />
35<br />
Rom, 18. Dezember 1830<br />
171
40<br />
45<br />
50<br />
55<br />
60<br />
65<br />
70<br />
75<br />
nobis Domine“ und ein Deutscher Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“<br />
für Chor und Orchester, und endlich eine Ouvertüre für’s Orchester. Sie schienen<br />
mir in Ihrem vorigen Briefe zu fürchten, ich möchte, durch Vorliebe für<br />
irgend einen der großen Meister geleitet, mich viel an Kirchenmusik machen,<br />
um mich einer Nachahmung hinzugeben. Das ist aber wohl bestimmt nicht<br />
der Fall, denn nirgends, glaub’ ich entwächst man dem bloßen Glauben an<br />
Namen mehr, als hier, wie man denn auch dafür nirgends mehr Achtung und<br />
Ehrfurcht für das Geleistete fühlt.<br />
Was wir kennen und verehren ist hier fremd und unbekannt, man sieht<br />
fast ein, daß es so sein müsse, und dann stehn wieder unvergängliche, ewige<br />
Denkmale vor einem, die nach Jahrhunderten von neuem ans Licht treten,<br />
ohne daß man den Namen des Künstlers wissen könnte; da gilt dann nur das,<br />
was im tiefsten Ernst aus der innersten Seele geflossen ist, und wenn auch<br />
die Aesthetiker und Kunstgelehrten sich quälen von außen hinein beweisen<br />
zu wollen, warum dies schön und das weniger schön sey, durch Epochen, Styl,<br />
und wie alle ihre Schubfächer heißen mögen, so ist nur jenes, glaub’ ich, der<br />
einzige unveränderliche Maaßstab für Bauwerke, Malerey, Musik und Alles.<br />
Wenn nicht der Gegenstand allein das Werk hervorgerufen hat, so wird es nie<br />
„Herz zu Herzen schaffen“ und da ist dann Nachahmung gleich das Aeußerlichste,<br />
dem Gedanken Fremdeste. Freilich kann mir niemand verbieten, mich<br />
dessen zu erfreuen und an dem weiter zu arbeiten, was mir die großen Meister<br />
hinterlassen haben, denn von vorne soll wohl nicht jeder wieder anfangen,<br />
aber es soll auch ein Weiterarbeiten nach Kräften sein, nicht ein todtes Wieder -<br />
holen des schon Vorhandnen, und wie denn jedes Eigenthümliche, Aufrich tige<br />
seinen Platz einmal einnehmen muß, wenn auch in spätester Zeit, das kann<br />
man nirgends herrlicher sehen, als in Rom und das ist auch der Faden, an dem<br />
ich durch alles Gewirre der reichen Museen, Gallerien, und aller Schönheiten<br />
mich immer festhalte. Dasselbe bestätigt mir Alles Neue, was ich jeden Tag<br />
sehe (denn ich fahre immer noch fort täglich einen neuen Gegenstand kennen<br />
zu lernen) so weiß ich gleichsam schon vorher, welchen Eindruck ich zu erwarten<br />
habe, und da ist denn das Eintreffen und dennoch die Überraschung<br />
ein glückliches Gefühl.<br />
Sie verlangen nähere Nachrichten von mir über den jungen Goethe , aber<br />
ich bedauere Ihnen nichts sagen zu können als, was Sie schon wissen, es ist<br />
plötzlich und unerwartet gekommen, und noch sind die Aerzte nicht drüber<br />
einig, was ihm eigentlich gefehlt habe; doch soll sein sehr wildes Leben in<br />
Neapel kurz vorher die Sache wenigstens beschleunigt haben, glauben sie.<br />
Seine Papiere hat sein Gesandter sämmtlich in Empfang genommen, und<br />
Kestner der hanövr. Gesandte, hat alles Nähere nach Weimar an den Kanzler<br />
Müller berichtet, von wo Sie es schon längst wissen werden. Eckermann hatte<br />
172
sich schon längst von ihm getrennt, und war zurückgekehrt. Die Gräfinn Julie<br />
Egloffstein ist hier, malt viel, und hat sich meiner noch freundlich erinnert.<br />
Sie, sowie der Prof. Schadow tragen tausend Grüße an Sie auf.<br />
Die Cardinäle sind nun im Conclave, alle Ceremonien sind vorüber, ich<br />
habe täglich die päpstliche Capelle gehört; da ist es mir nun recht wieder aufs<br />
Herz gefallen, wie sonderbar es hier mit Allem geht: sie sangen nicht besonders,<br />
die Compositionen taugten nichts, andächtig waren die Leute auch nicht,<br />
und das Ganze that doch eine göttliche Wirkung. Das kam blos davon her,<br />
weil sie sich in das Schiff von St. Peter stellen und da singen; nun hallen die<br />
Töne in allen Ecken und in der Höhe wieder, vermengen sich, verklingen und<br />
die wunderbarste Musik entsteht, ein Akkord schlingt sich in den andern,<br />
und woran kein Musiker zu denken wagt, das bringt die Peterskirche zu Stande.<br />
Es geht damit eben wieder, wie es in allen Dingen hier ist: sie mögen thun was<br />
sie wollen, die schlechtesten Häuser bauen, die geschmacklosesten Gärten anlegen,<br />
mittelmäßige Musiken aufführen, so ist Natur und Vorzeit so reich, daß<br />
Alles schön und bewundernswerth wird; auf die beiden stützt sich dann aber<br />
auch Alles, und wenn man sich nicht die nöthige Gegenwart selbst mitbringen<br />
kann, so fehlt es freilich an allen Ecken. Wenn ich die jungen Musiker hier<br />
umhersteigen sehe, und klagen, für Musik sey doch eigentlich nichts hier zu<br />
holen, und sie hätten sich ganz andre Vorstellungen gemacht, und wie ihre<br />
Litaney dann weiter geht, so möchte ich sie immer mit der Nase auf ein Säulen -<br />
capitäl stoßen, denn da steckt die Musik drin. Was mache ich mir denn draus,<br />
daß hier im Orchester der jämmerliche Fagottist pustet, daß die Italiäner weder<br />
an Malerey, noch an Musik, noch sonst die rechte Freude haben? Ich freue<br />
mich ganz genugsam daran allein, und es ist mehr Göttliches hier, als man in<br />
einem Leben fassen kann. Darum thut mir denn die schlechte Musik wenig<br />
zu Leide; aber es muß gesagt sein, daß sie schlecht ist, der Wahrheit zu Ehren.<br />
Was ich von Bainis Composition kenne, ist genug um von seiner Musik einen<br />
Begriff zu haben, denn das dies irae , welches zu seinen besten Stücken gehören<br />
soll, habe mehreremal gehört, und sie singen es ganz vortreff lich. Es ist weit<br />
unter der Mittelmäßigkeit, ohne allen Character, sogar die Aeußerlichkeiten<br />
wie Stimmenführung u. dgl. fast schülerhaft, die leerste Zusammensetzung,<br />
die man sich vorstellen kann. Denken Sie sich ein langes Dies irae (bis zum<br />
Domine Jesu Chr.) ohne eine einzige musikalische Idee, aus lauter Gängen<br />
bestehend, wie z.B. der Anfang (nach einigen Akkorden )<br />
<br />
<br />
<br />
sol<br />
<br />
<br />
<br />
- - vet sae - clum in fa - vil - la, te<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
-<br />
<br />
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ste<br />
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Rom, 18. Dezember 1830<br />
173
Da - vid cum Sy bil<br />
<br />
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<br />
- ste Da - vid cum<br />
<br />
<br />
<br />
- - la, te<br />
<br />
<br />
Sy<br />
etc<br />
115<br />
und später<br />
Solo<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
in - ter o<br />
<br />
Tutti<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Solo<br />
<br />
- ves lo- cum prae-sta<br />
et<br />
<br />
<br />
ab<br />
<br />
Tutti<br />
<br />
hae - dis me<br />
<br />
<br />
<br />
se - que-stra<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
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130<br />
135<br />
140<br />
was sich dann sehr oft wiederholt, um uns Bock und Schaf recht anschaulich<br />
zu machen. Sein miserere soll noch schlimmer sein; er selbst gefällt mir indeß<br />
sehr gut, weil er ein so vollkommner, pfiffig-kluger abbate ist, wie man sich nur<br />
denken kann. Wie er alle seine Sachen erst unbedeutend und schlecht findet,<br />
sich dann endlich doch einmal ins Feuer spricht, und in ordentliche Begeisterung<br />
geräth über sich selbst und seine Compositionen, wie er behauptet der<br />
einzige Sohn der Kunst sey Palestrina , er sey nur höchstens ihr Enkel, wie er<br />
frägt, ob man in Deutschland auch den Contrapunct kenne, wie er einen vollkommnen<br />
Heiligenschein um sich her verbreitet, nie ausgeht, nur zu einer gewissen<br />
Stunde Leute Abends vorläßt, seine Manuscripte nie aus Händen giebt<br />
sondern die Stimmen selbst ausschreibt aus Furcht, wie er sich endlich für<br />
einen Märtyrer der heil. Kunst und für einen todtkranken Mann ausgiebt,<br />
aber dick und fett und vergnügt aussieht und gewaltig schallend lacht, sobald<br />
er dies Thema einmal vergißt, – das Alles kommt unser einem, fremd und<br />
verwunderlich vor, und wir vertragen uns prächtig. So geht es denn in allen<br />
möglichen Beschäftigungen leise über den Winter hinweg, denn heute hab<br />
ich noch die Orangen im Freyen in der Sonne hängen sehen. Und da ich vom<br />
ernsten Römerleben gesprochen habe, so darf ich auch nicht verschweigen,<br />
daß ich vorgestern auf einem großen Balle war, und mehr und mit größerm<br />
Vergnügen getanzt habe, als je sonst in meinem Leben. So genieße ich die<br />
schönste Mischung von Lust und Ernst, wie sie nur Rom geben kann. Nun<br />
grüßen Sie mir alle die Ihrigen tausendmal und leben Sie wohl und glücklich,<br />
wie ich es hoffe Ihr treuer<br />
Felix.<br />
174
384. FMB an die Familie in Berlin, adressiert an Rebecka Mendelssohn Bartholdy<br />
Rom, 20. und 21. Dezember 1830<br />
Rom d. 20 Dec. 30.<br />
Nun habe ich Euch im vorigen Briefe vom ernsthaften Römerleben gesprochen;<br />
da ich aber in meinen Briefen gern schreiben will, wie ich lebe, so muß<br />
ich diesmal vom lustigen Leben viel erzählen; denn das hat diese Woche vor -<br />
geherrscht. Die Post ist noch nicht angekommen und ich weiß also noch nicht,<br />
was sie mir bringen wird, die polnischen Unruhen versetzen alle Leute in die<br />
größte Sorge und Angst, und so schreibe ich, ehe ich etwas Näheres von Euch<br />
weiß, und kann desto besser beschreiben, wie froh die Welt hier in Rom ist.<br />
Heut ist nämlich wieder der wärmste Sonnenschein, blauer Himmel, klare Luft,<br />
und an solchen Tagen habe ich meine eigne Lebensart; bin fleißig bis 11 und<br />
von da an bis zur Dunkelheit thue ich nichts, als Luft athmen; gestern war seit<br />
mehreren Tagen wieder zum erstenmal ganz heiteres Wetter; nachdem ich<br />
denn also des Morgens ein Stück am Salomon gearbeitet hatte, ging ich auf den<br />
monte pincio, und ging da den ganzen Tag, sage den ganzen Tag auf und ab.<br />
Es ist ein unglaublicher Eindruck, den diese Luft und diese Heiterkeit macht,<br />
und als ich heut aufstand und wieder den klaren Sonnenschein sah, so freute<br />
ich mich auf das Nichtsthun, das heut wieder eben so anfangen soll. Vielleicht<br />
reite ich auch spazieren. Da geht denn die ganze Welt auf dem Berg hin und<br />
her, und freut sich des Frühlings im December, man trifft alle Augenblicke<br />
Bekannte, geht mit ihnen ein Stück, verläßt sie und bleibt wieder allein, und<br />
kann schön träumen, von den schönsten Gesichtern wimmelts, wie die Sonne<br />
rückt so verändert sie die ganze Landschaft und alle Farben, kommt das ave<br />
Maria so geht es in die Kirche von Trinità de’ Monti , da singen die französischen<br />
Nonnen und es ist wunderlieblich. Ich werde bei Gott ganz tolerant<br />
und höre schlechte Musik mit Erbauung an, aber was ist zu thun? Die Composition<br />
ist lächerlich, das Orgelspiel noch toller, aber nun ists Dämmrung, und<br />
die ganze kleine bunte Kirche voll knieender Menschen, die von der Sonne<br />
hell beschienen werden sobald die Thür einmal aufgeht, die beiden singenden<br />
Nonnen haben die süßesten Stimmen von der Welt, ordentlich rührend zart,<br />
und namentlich wenn die eine mit ihrem sanften Ton das Responsorium singt,<br />
was man gewohnt ist von den Priestern so rauh und streng und einförmig<br />
zu hören, da wird einem ganz wunderlich. Nun weiß man noch dazu, daß<br />
man die Sängerinnen nicht zu sehen bekommen darf – da habe ich denn einen<br />
sonderbaren Entschluß gefaßt; ich componire ihnen etwas für ihre Stimmen,<br />
die ich mir recht genau gemerkt habe, und schicke es ihnen zu, wozu mir<br />
mehrere Wege zu Gebote stehen. Singen werden sie es dann, das weiß ich,<br />
und das wird nun hübsch sein, wenn ich mein Stück von Leuten, die ich nie<br />
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Rom, 20. und 21. Dezember 1830<br />
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gesehn habe, anhören werde, und wenn sie es wieder dem barbaro Tedesco<br />
den sie auch nicht kennen vorsingen müssen. Ich freue mich sehr darauf, der<br />
Text ist Lateinisch, ein Gebet an die Maria . Gefällt Euch nicht die Idee? Nach<br />
der Kirche geht es wieder auf dem Berge spazieren, bis es dunkel ist; da spielen<br />
dann Mde. Vernet und ihre Tochter , auch die hübsche Mde. Vollard , für deren<br />
Bekanntschaft ich Rösel sehr dankbar bin, große Rollen unter uns Deutschen,<br />
die wir dann in Gruppen stehn, oder nachfolgen, oder neben her gehen; den<br />
Hintergrund machen bleiche Maler mit gräßlichen Bärten, sie rauchen Taback<br />
auf dem mte pincio, pfeifen ihren Hunden, und genießen auf ihre Weise den<br />
Sonnenuntergang. Heute Morgens tritt in mein Zimmer ein freundlicher, mir<br />
fremder Franzose, sagt mir, daß er mich kenne, frägt nach Euch Allen, und es ist<br />
Mr. Deodati aus Genf, der den Winter hier mit seinen Schwägerinnen und der<br />
Familie Eynard (dem Griechenfreunde) zubringen wird, der sich noch aller<br />
Umstände unsres Aufenthalts von damals erinnerte, und so mit mir Bekanntschaft<br />
erneuerte. Durch ihn lernte ich nun wieder einen neuen angenehmen<br />
Kreis kennen, und so bildet sich das Leben im Winter sehr vergnügt aus. Da ich<br />
aber heut doch einmal frivol bin, so muß ich Euch, liebe Schwestern , ausführlich<br />
berichten, wie ich neulich auf einem großen Balle war, und mit einer Lust<br />
getanzt habe, wie fast noch nie, ich hatte dem maître de Danse, (denn hier muß<br />
so einer in der Mitte stehen und Alles ordnen) ein gutes Wort gegeben, und so<br />
ließ der Mann den Galopp über eine halbe Stunde dauern, da war ich denn<br />
nun in meinem Element, und erinnerte mich sehr genau, daß ich im palazzo<br />
Albani in Rom jetzt tanzte, und noch dazu tanzte ich mit dem schönsten Mädchen<br />
in Rom, nach dem Urtheil competenter Richter (cf. Thorwaldsen , Vernet<br />
u. a.) Wie ich deren Bekanntschaft gemacht habe, ist wieder eine Römi sche<br />
Geschichte: ich stand bei Torlonia auf dem ersten Balle, keine Dame kennend,<br />
also nicht tanzend, und sah mir die Leute an; auf einmal klopft mir einer auf<br />
die Schulter und sagt: „Sie bewundern also auch die schöne Engländerinn?<br />
Ich bin ganz erstaunt.“ Das war der Herr Etatsrat Thorwaldsen , der in der Thür<br />
stand und sich gar nicht satt sehen konnte; kaum hat er aber das gesagt, so<br />
erschallt hinter uns ein Schwall von Worten „mais où est elle donc, cette petite<br />
Anglaise? ma femme m’a envoyée pour la regarder; per bacco“ und daß der<br />
kleine, dünne Franzose, mit dem grauen struppigen Haar, und dem Bande<br />
der Ehrenlegion Horace Vernet sein mußte, war wohl klar; nun unterhielt der<br />
sich mit Thorwalds . ganz ernsthaft und gelehrt von dieser Schönheit, und sie<br />
waren ganz voll Bewunderung, und mich freute es in der Seele von solch einem<br />
jungen Mädchen, wie die beiden alten Meister da standen, und bewundern<br />
mußten, da sie ganz unbefangen tanzte; dann ließen sich die beiden Herrn den<br />
Eltern vorstellen, ich fiel also sehr weg und konnte nicht mitreden; ein Paar<br />
Tage danach war ich aber bei meinen Bekannten aus Venedig von Attwood’s<br />
176
her, weil sie mich wie sie sagten einigen ihrer Freunde vorstellen, wollten; das<br />
waren nun die Freunde, und da war Euer Sohn und Bruder vergnügt. Wir haben<br />
Bekanntschaft angeknüpft, und ich erlebe noch, daß ich Emil Bendemann da<br />
einführen muß. Mein Clavierspielen verschafft mir hier eine besondre Freude;<br />
Ihr wißt wie Thorwaldsen die Musik liebt, und da spiele ich ihm des Morgens<br />
zuweilen vor, während er arbeitet, er hat ein recht gutes Instrument bei sich<br />
stehen, und wenn ich mir dazu den alten Herrn ansehe, wie er an seinem<br />
braunen Thon knetet, und den Arm oder ein Gewand so fein ausglättet, kurz<br />
wenn er das schafft, was wir alle nachher als fertig und dauernd bewundern<br />
müssen, so freut michs sehr, daß ich ihm ein Vergnügen bereiten kann. Übrigens<br />
bin ich bei alle dem doch hinter der Arbeit her; die Hebriden sind endlich fertig<br />
und ein sonderbares Ding geworden, das Nonnenstück habe ich im Kopfe, zu<br />
Weihnachten denke ich mir den Lutherschen Choral zu componiren, denn<br />
diesmal werde ich ihn mir allein machen müssen: das ist dann freilich ernsthafter,<br />
und auch die silberne Hochzeit, wo ich mir viel Lichter anstecken will,<br />
und mir das Liederspiel vorsingen, und meinen englischen Taktstock dazu ankucken,<br />
und auch das Neujahrsfest; nach Neujahr will ich mich an die Instrumentalmusik<br />
wieder machen, mehreres fürs Clavier schreiben, und vielleicht<br />
noch eine oder die andre Sinfonie , denn mir spuken zwei im Kopfe herum<br />
Abends Euer lieber Brief ist nun da, und da will ich denn diesen lustigen<br />
an Dich richten, mein liebes Beckchen ; Du schreibst jetzt zuweilen so ernst<br />
und hast schon mehremale einen Privatbrief an Dich verlangt, und wie ich<br />
denn möchte, daß sich Alles zu Deiner Freude gestaltete, so thue ich von Rom<br />
aus das Meinige für Deinen alten Humor, den ich sehr lieb habe, und schicke<br />
Dir dies hier was Bälle, und Damen, und Promenaden genug enthält, nach<br />
denen Du frägst. Du siehst ich mache mich froh und lebe hoch, nun mußt Du<br />
mir aber auch munter seyn, denn eins geht ohne das andre nicht. Seitdem habe<br />
ich (mit Emil ) einen prächtigen Punct kennen lernen: Das Grab der Caecilia<br />
Metella ; die Sabinerberge hatten Schnee, himmlischer Sonnenschein war, das<br />
Albanergebirge lag vor einem wie eine Erscheinung im Traum, Ferne giebts<br />
hier in Italien gar nicht, sondern alle Häuser auf den Bergen lassen sich zählen<br />
mit ihren Fenstern und Dächern, und so trabte man auf seinem Pferdchen<br />
munter in den Hain der Egeria; da kamen Damen und es wurde galoppirt, der<br />
blaue Überrock versteht sich, kurz es war, als ritte ich nach Spandau, nur mit<br />
dem Unterschied daß ich einen Platzregen, der auf dem Rückwege kam bequem<br />
unter dem Triumphbogen des Septimius Severus abwarten konnte. Eine<br />
Menge Italiäner standen auch da und bettelten natürlich, und da ich nichts<br />
geben wollte, sagte der eine: ich ritte ja doch nun nach Hause zu meinem<br />
Vater, und bekäme da soviel Essen und Geld wie ich haben wollte. Das war<br />
ein Irrthum in der distance. So habe ich mich denn wieder an der Luft satt<br />
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gesogen, und morgen wird wohl wieder das ernste Leben angehen müssen,<br />
denn der Himmel ist bezogen und es regnet scharf; welch ein Frühling wird das<br />
aber werden! Wenn nun Mutter meint, April sey für Neapel zu heiß, so weiß<br />
ichs doch nicht anders zu machen, denn Anfang April’s fällt Ostern, da muß ich<br />
natürlich in Rom sein, und es einzurichten, wie die Engländer, die zwischen<br />
Carnaval und Ostern geschwind Neapel besehen und wiederkommen, dazu<br />
freue ich mich zu sehr darauf, bin zu wohl hier, und habe zu viel zu thun. Auch<br />
soll es am allerschönsten in der Jahreszeit dort sein und wo andre den Sommer<br />
zubringen da werde ich es im April schon ertragen können. Wirklich ist mein<br />
Aufenthalt hier zu reizend, als daß ich ihn in der Mitte abbrechen, und eine unbelaubte<br />
Landschaft dem Frühling vorziehen sollte. Bunsen, mit dem ich darüber<br />
gesprochen, rieth durchaus zum April, und ich denke, es ist wohl auch das<br />
Beste; so daß ich unmittelbar nach dem Feste abzureisen gedenke. Doch muß<br />
das Alles erst reifen und glücklich eintreffen!<br />
d. 21 sten . Der kürzeste Tag ist trübe, wie es vorauszusehen war; heut muß also<br />
wieder an Fugen, Choräle, Bälle u. dgl. gedacht werden. Donnerstags müßt Ihr<br />
Euch mich ein für allemal in gewaltiger Gesellschaft denken, denn Bunsen ,<br />
Torlonia , Vernet , Ingenheim u.m a. empfangen an demselben Tage. Laßt mich<br />
doch wissen warum Devrient kein Wort schreibt? Ich hatte Antwort auf meinen<br />
Venetianischen Brief erwartet. Auch alle andern sind stumm. Meine Engländer,<br />
deren Namen Du wissen willst, Beckchen, heißen Mr . & Mrs. New man ,<br />
und Mr . und Mrs. Goodman ; sie sind aber jetzt während des Conclaves nach<br />
Neapel. Wir wünschen alle daß der Cisterziensercardinal Cappellari Papst<br />
werde; die Leute meinen aber Obizzoni werde gewählt; das ist Euch einerley.<br />
Nun laufen wir aber alle Tage um den Rauch aufsteigen zu sehen, der beweis’t<br />
daß es noch unentschieden ist (cf. Hensel ) Die Nachrichten aus Polen sind<br />
entsetzlich, wenn der liebe Gott mal Krieg will, so hilft es den Königen nichts,<br />
und ich fürchte selbst es wird so kommen. Aber Beckchen , soll ich mit Dir von<br />
Politik sprechen? Il parait que les beaux arts ne vous intéressent guère. Lieber<br />
erzähl ich Dir nächstens von der Aurora von Guido , die ich sehr oft besuche,<br />
und die ein Bild zum Wändeeinrennen ist, denn solch eine Eile, solch ein Vor -<br />
dringen daß alles klirrt und schallt hat kein Mensch sich je gedacht; die Maler<br />
behaupten es sey von zwei Seiten beleuchtet; never mind, sie sollen ihre Bilder<br />
meinethalben von dreien her beleuchten, wenn es hilft, aber es liegt anderswo.<br />
Lieber erzähle ich Dir von Baini , dessen abbate mich mit einer Fackel bis<br />
zur Thür begleitet, und dann ein Stückchen davon abbricht und mir ansteckt,<br />
damit ich die hohen Treppen glücklich herunterkomme, so daß ich mir nun<br />
allein mit meiner eignen Fackel herunterleuchte. Eben kommen Santini und<br />
Deodati und wollen durchaus Musik hören; da leb denn wohl, und bleibe<br />
Beckchen. Ich kann kein ordentlich Lied machen, wer soll sie mir singen? Aber<br />
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eine große Fuge mach’ ich „Wir glauben all’ “ und singe selbst dazu, daß mein<br />
Hauptmann erschreckt die Treppe herunterkommt und hineinsieht, ob mir<br />
was fehle. Ich antworte dann: ein Contrathema. Was fehlt mir aber nicht Alles!<br />
Und was hab’ ich nicht Alles! So geht nun das Leben weiter. Sey glücklich<br />
Dein<br />
F.<br />
160<br />
385. FMB an die Familie in Berlin, adressiert an Abraham Mendelssohn Bartholdy<br />
Rom, 28. Dezember 1830<br />
Rom d. 28 Dec 30.<br />
Rom im Regenwetter ist das Fatalste, Unbehaglichste was es in der Welt geben<br />
kann. Wir haben nun seit mehreren Tagen fortwährend Sturm, Kälte und<br />
Strö me vom Himmel, und ich begreife kaum, wie ich vor 8 Tagen einen Brief<br />
voll Spaziergängen, Orangenbäumen und allem Schönen schreiben konnte;<br />
in solchem Wetter wird Alles häßlich. Darum muß ich aber doch davon<br />
schrei ben, denn sonst hätte der vorige Brief kein Gegenstück, und das bleibt<br />
einmal nicht aus. Wenn man in Deutschland von Wintertagen wie die heitern<br />
keinen Begriff hat, so kann man sich auch von einem nassen Wintertage keine<br />
Vorstellung machen: alles ist aufs schöne Wetter eingerichtet, und so erträgt<br />
man das schlechte, wie eine Landplage, und wartet auf beßre Zeit. Schutz<br />
giebt es nirgends; in meinem Zimmer, das sonst eines der behaglichsten ist,<br />
läuft das Wasser reichlich durch die Fenster, die nun einmal nicht schließen,<br />
der Wind pfeift durch die Thüren, die nun einmal nicht zugehn, der steinerne<br />
Fußboden kältet trotz aller doppelten Decken, und von dem Kaminfeuer<br />
wird der Rauch in die Stube getrieben, daß das Feuer nicht brennen will: die<br />
Fremden frieren sämmtlich, wie Schneider. Das ist aber noch golden, gegen<br />
die Straßen, und ich betrachte es als ein Unglück, wenn ich ausgehen muß:<br />
bekanntlich ist Rom auf sieben großen Hügeln gebaut, es sind aber noch eine<br />
Menge kleinerer da, und alle Straßen gehen abschüssig, da strömt einem das<br />
Wasser mit Macht entgegen, erhöhte Fußsteige oder Trottoirs nirgends, von<br />
der spanischen Treppe fluthets, wie von der großen Wasserkunst in Wilhelmshöhe,<br />
die Tiber ist ausgetreten und überschwemmt die nächsten Straßen: das ist<br />
das Wasser von unten. Von oben kommt es in Regengüssen, aber das ist das<br />
wenigste: die Häuser haben keine Dachrinnen sondern die verlängerten Dächer<br />
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gehen abschüssig herab, so: nun sind aber die Dächer von verschiedener<br />
Länge, und gießen von beiden Seiten der Straße mit Wuth herunter, so daß<br />
man, man gehe wo es sey, nah an den Häusern oder in der Mitte, von einem<br />
Rom, 28. Dezember 1830<br />
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Pallast oder einer Barbierstube begossen wird, und ehe man es sich versieht<br />
so steht man unter einer solchen Traufe, wo das Wasser auf den Schirm knallend<br />
fällt, hat einen Strom vor sich, der sich nicht überspringen läßt, und<br />
muß denselben Weg umkehren: das ist das Wasser von oben. Nun fahren die<br />
Wagen noch dicht an den Häusern in der größten Schnelligkeit, so daß man<br />
sich in die Thüren stellen muß bis sie vorbey sind, die bespritzen dann noch<br />
Menschen, Häuser, einander selbst, und begegnen sich gar zwey, so daß bei<br />
den engen Straßen der eine in den Rennstein, der nun ein Strom ist, fahren<br />
muß, so ist das Unglück groß. Ich sah neulich, wie ein abbate mit seinem<br />
RegenSchirm einem Bauer seinen breiten Hut in der Eile vom Kopfe riß, und<br />
der Hut fiel mit der offnen Seite unter solch eine Traufe; der Bauer kehrte sich<br />
nach der falschen Seite, um ihn zu suchen, und als er ihn fand, war der Kopf<br />
schon ganz mit Wasser gefüllt. Scusi sagte der abbate; Padrone, antwortete der<br />
Bauer. Dazu halten die Fiaker nur bis 5, und wenn man also in Gesellschaft ist,<br />
so kostets einen scudo; fiat justitia & pereat mundus; Rom im Regen wetter<br />
ist unglaublich unbehaglich. – Mein Leben ist fortwährend das Froheste, Angenehmste,<br />
das man sich vorstellen kann; es ist nicht möglich in froheren Verhältnissen<br />
zu leben, als ich bisher, seit einer Woche werde ich mit den Italiänern<br />
bekannter, und es gefällt mir unter ihnen; ich sage Dir Beckchen , insgeheim,<br />
daß es eine junge Italiänerinn giebt, die hübsch singt, ist, und Clemen tina<br />
Giustiniani heißt: Das nenne ich doch Wohlklang. Da wird denn viel Musik<br />
gemacht, und ich kann über Nationen urtheilen, denn von der schönen Engländerinn<br />
habe ich schon geschrieben, an schönen Italiäne rinnen fehlt es nicht,<br />
und die Schwägerinn von Mr. Deodati, die junge [. . .] Stael ist auch nicht übel<br />
(cf. Soldatentrost von Goethe ) Vor zwei Tagen aber war der 26 ste , und ich<br />
konnte den ganzen [Tag zu nich]ts recht kommen, als zu Erinnerung; Abends<br />
gegen 10 ging ich nach Hause, machte es hell im Zimmer, legte meinen weißen<br />
Taktstock neben mich aufs Clavier, und spielte Fannys Musik , die Trompeten<br />
kamen am Ende nicht, dann sah ich Devrient in gemeinem Anzug auf dem<br />
Flur stehen, und führte mir nun das Liederspiel auf, mein Hauptmann sagt,<br />
er habe mit Vergnügen zugehört. Ich hatte meine Freude daran; Fannys Stück<br />
ist ganz prachtvoll und mein Liederspiel im Dorf ist mir auch ans Herz gewachsen.<br />
Vielleicht erfahre ich, wenn Euer Brief heut kommt, was Ihr den<br />
Abend gethan habt; bisjetzt sind die Posten wegen des gräßlichen Wetters<br />
ausgeblieben. Am Weihnachtsabend war ich bei Bunsens und Bendemanns<br />
und wurde von beiden auf das Freundlichste aufgenommen und beschenkt,<br />
Bunsens gaben mir einen Kupferstich von Ruschweyh nach Marc Anton ,<br />
Raphaels erste Composition des Parnasses vorstellend; bei Bendem . erhielt<br />
ich eine Tuchnadel mit einem geschnittenen Stein, worauf ein Amor die Leyer<br />
spielt, und einen Paganini von Zucker, Aepfel und Nüsse lagen ihm zu Füßen.<br />
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Bei Bunsen bin ich oft, und wir haben etwas Großes mit einander vor; es<br />
liegt aber noch im weitesten Felde, und sobald es näher kommt, schreibe ich<br />
Euch davon. Jetzt componire ich an dem Weihnachtslied . Lüders ist ein angenehmer<br />
bescheidner Mensch; er spielt auch die Blaseinstrumente und so<br />
zeigte ich ihm meine Sinfonie und die Hebriden , in denen ich viel tolles Zeug<br />
riskirt habe, und hatte die Freude, daß er mich versicherte, es läge Alles sehr<br />
leicht und bequem. Nun aber noch etwas Wichtiges, worüber ich mir Antwort<br />
erbitte: ich erhielt neulich die Briefe von Redens , für die ich sehr danke,<br />
ebenso den von den Schwestern über Goethe und ein Schreiben von Devrient .<br />
Aus dem letztern sehe ich, daß ein Brief von mir an ihn, den ich selbst in<br />
Venedig auf die Post am 17 ten Okt. trug, am 19 ten Nov. noch nicht angekommen<br />
war. Eben so scheint ein andrer Brief, den ich an demselben Tage an Schauroths<br />
schickte, nicht eingetroffen; beide Briefe enthielten Noten, und da liegt<br />
der Grund davon. Man hat mir nämlich damals in Venedig alle meine Manuscripte<br />
auf der Douane weggenommen, als man in der Nacht kurz vor Abgang<br />
der Post meine Sachen visitirte, und ich habe sie erst hier nach vielem<br />
Aerger und Hin- und Herschreiben sämmtlich wieder erhalten. Man versicherte<br />
auch hier allgemein, der Grund sey, weil man eine geheime Chiffercorrespondenz<br />
in den Noten vermuthete; ich konnte eine solche jämmerliche<br />
Dummheit nicht glauben, da aber gerade die beiden Briefe mit Musik aus<br />
Venedig auch nicht angekommen sind, und zwar nur diese, so ist es klar genug.<br />
Ich werde mich hier beim Oesterr. Gesandten deshalb beklagen, es wird mir<br />
aber gar nichts helfen, und die Briefe, um die es mir sehr leid thut; sind verloren.<br />
Nun wünsche ich nur zu wissen, ob mehrere die ich von hier aus schrieb<br />
und in denen ebenfalls Noten enthalten waren, richtig und unerbrochen angekommen<br />
sind, und schreibe Euch daher das Verzeichniß dieser Briefe;<br />
einer an Vater , vom 11 Dec. mit einem Liedanfang , einer an Zelter vom 7 ten (?)<br />
mit Responsorien, einer an Mutter und die Schwestern vom 14 ten , mit dem<br />
Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“, und einem Lied aus amoll , endlich<br />
einer an Zelter vom 18 ten mit dem Choral „aus tiefer Noth“ und einigen Stellen<br />
von Baini . Ferner etwa noch ein Brief aus Florenz an Ritz , der eine kleine<br />
Stelle aus den Hebriden enthielt. Schreibt mir dies ja genau, und adressirt<br />
doch gerade an mich, piazza di Spagna no. 5, denn ich bleibe hier bis Ende<br />
meines Aufenthaltes wohnen, es ist ein freundliches Zimmer und bei guten<br />
Leuten; die Ellenrieder hat aber nicht hier gewohnt, sondern nebenan, mein<br />
Haus ist 2 Fenster breit, und unten ist ein Café. à propos nächstens erfolgt<br />
ein Capitel über die Malerinnen. Einen Papst haben wir noch nicht. Heute<br />
Abend bin ich bei Eynard’s . Ich bitte Dich liebe Fanny , Marx einen Brief<br />
von mir an zukündigen, den ich abschicke sobald ich weiß, ob die Noten angekommen<br />
sind, denn es soll viel Musik hineingelegt werden. Von Deodati ,<br />
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