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Wütend 'und hilflos zugleich

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Seite: 71<br />

Ernst<br />

Mädchengewalt<br />

<strong>Wütend</strong> <strong>'und</strong> <strong>hilflos</strong> <strong>zugleich</strong><br />

Mädchen lassen ihre Aggressionen meist ohne Fäuste raus. Dafür sind sie Meisterinnen des<br />

Mobbings.<br />

Claudia ist sechzehn und hat schon manche Strafanzeige am Hals - unter anderem wegen<br />

Körperverletzung und versuchten Totschlags. Angefangen hatte alles mit der Situation zu Hause. Die<br />

war unerträglich, "jeder hatte mit jedem Stress". "Mein Adrenalinspiegel stand den ganzen Tag auf<br />

hundert." Regelmässig hatte sie Wutanfalle, und sie zertrümmerte Gegenstände. Dabei fühlte sie sich<br />

<strong>hilflos</strong>; niemand merkte, was sie beschäftigt. Als sie zwölf war, griff sie ihre Mutter an. Die hatte sie<br />

"eh genervt", und als sie ihr dann verbot, sich ein Butterbrot zu schmieren, ist sie ausgerastet:<br />

Claudia packte ihre Mutter und drückte sie gegen die Wand. Später übt sie auch gegenüber Fremden<br />

unkontrolliert Gewalt aus und wird mehrmals ins Jugendgefangnis gesteckt. Doch das habe sie bloss<br />

zu weiteren Gewalttaten provoziert, sagt Claudia.<br />

WUT IST EIN<br />

Leitmotiv der Mädchengewalt. "Sie hängt meist mit einer emotional vernachlässigenden Erziehung<br />

zusammen", glaubt Mirja Silkenbeumer. Die Pädagogin aus Hannover hat im Rahmen ihrer<br />

Diplomarbei t am Kriminologischen Institut Niedersachsen fünfzehn gewalttätige Mädchen<br />

interviewt. Sie hörte sich auch die Lebensgeschichte von Claudia an. Claudia ist ein Einzelfall: In der<br />

von Jungen dominierten Hooliganszene ist sie ein Exot, ihre Gewaltkarriere ist für ein Mädchen<br />

imposant. Sie lebt in Hamburg, aber sie könnte genauso gut in einer Schweizer Stadt wohnen. Oder<br />

sonst wo auf der Welt. Denn: Mädchen, die ihre Fäuste brauchen, gibt es überall.<br />

"Das Gewaltpotenzial von Mädchen ist genauso gross wie das der Jungen", sagt Mirja Silkenbeumer.<br />

Auch der Psychologe Allan Guggenbühl, der seit Jahren in Deutschschweizer Schulklassen<br />

Gewaltkonflikte managt, kann sich über die "eigenartige Vorstellung, dass Mädchen weniger<br />

aggressiv sein sollen", nur wundem.<br />

Trotzdem werden Mädchen selten handgreiflich. "Letztes Jahr hatten wir ein paar Raubzüge<br />

jugendlicher Räuberinnen und auch einen Fall sexueller Demütigung", erzählt Silvia Steiner,<br />

Kriminalpolizeichefin der Stadt Zürich. Dramatisch sei die Mädchenkriminalität aber keineswegs.<br />

"Laut den Kriminalstatistiken begehen junge Frauen ungefahr zehnmal weniger Gewaltdelikte als<br />

männliche Jugendliche", sagt der Soziologieprofessor Manuel Eisner von der ETH Zürich. Es sei zwar<br />

seit einigen Jahren eine Zunahme der Mädchengewalt zu verzeichnen, und "vielerorts tauchen<br />

erstmals Mädchen in den jugendlichen Strassengangs auf", weiss Mirja Silkenbeumer. Aber: "Bei<br />

miinnlichen Jugendlichen ist die Zunahme der Gewalttaten grösser." Das heisst: Die Schere zwischen<br />

Mädchen und Jungen weitet sich, und der Prozentsatz gewalttätiger Mädchen sinkt - von einer neuen<br />

Mädchengewalt kann also keine Rede sein. Der Soziologe Manuel Eisner liest Zahlen über die<br />

Entwicklung der Mädchenkriminalität ohnehin mit Vorsicht: "Je seltener die Fälle, desto<br />

schwieriger ist es, Trends ausmachen." Zudem sei die seit einigen Jahren anschwellende<br />

Jugendkriminalität in den Statistiken zumindest teilweise dadurch verursacht, dass harmlose<br />

Verbrechen heute häufiger bei der Polizei angezeigt würden.<br />

"MADCHEN KRATZEN,<br />

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cmd-dok cgi?RA2000012001359


Mittwoch, 16 Februar 2000 smd-dok cgi Seite: 2<br />

beissen oder schlagen mit heftiger emotionaler Beteiligung", weiss Allan Guggenbühl. Ihre<br />

Raufereien seien lärmig und dramatisch. Auf den Psychologen wirken die Gewaltausbrüche von<br />

Mädchen "kompromisslos, fast krankhaft". Buben würden sich hingegen unter Wahrung einer<br />

gewissen Coolness verdreschen: "Ihre Gewalt ist stark ritualisiert." Für Mädchen sei Gewalt<br />

hingegen oft mit einem Kontrollverlust verbunden, meint Mirja Silkenbeumer: "Sie sind wütend und<br />

<strong>hilflos</strong> <strong>zugleich</strong>." Haben sie sich abreagiert, empfinden sie Scham und fühlen sich noch elender als<br />

vorher. "Gewalt macht Mädchen keinen Spass." Nur gerade ein Mädchen habe erzählt, es sei "lustig,<br />

den Kopf einer Feindin in die Kloschüssel zu tauchen".<br />

In den Selbstbehauptungskursen des Zürcher Mädchentreffs hört die Leiterin Maya Mäder schon<br />

mal, dass sich ein Mädchen von anderen Mädchen bedroht fühlt. Und gewaltsame Girls würden<br />

zuweilen auch offen mit ihren Taten prahlen. Aber gewöhnlich würden Mädchen ihre Ellbogen immer<br />

noch zu wenig gebrauchen, findet Maya Mäder: "Zoff mit physischer Gewalt auszutragen passt nicht<br />

zu ihrem Rollenverständnis", sagt sie. "Junge Frauen werden immer noch auf Anpassung getrimmt",<br />

glaubt auch Mirja Silkenbeumer. Tätlichkeiten gelten nicht gerade als weiblich. Dafür sind Girls<br />

wahre Meisterinnen des Mobbings. Allan Guggenbühl kennt etwa den "Briefliterror" der Schülerinnen<br />

("Du wirst den heutigen Abend nicht mehr erleben!"). Für Maya Mäder gehört das Ausschliessen von<br />

Schwächeren zum typischen Mädchenterror. Ausserdem richteten sich die Aggressionen der jungen<br />

Frauen öfters gegen sich selbst. "Ritzen" nennen sie etwa das selbstzerstörerische Gravieren der<br />

Haut mit Glasscherben.<br />

FUR SILVIA STEINER<br />

von der Kriminalpolizei Zürich ist Mädchengewalt kein polizeiliches, sondern ein gesellschaftliches<br />

Problem. Ein Nebenprodukt der Emanzipation quasi, denn Mädchen müssten heute genauso tough<br />

und stark sein wie Jungen. Und der Jugendgewaltexperte Allan Guggenbühl glaubt, dass sich<br />

emanzipierte junge Frauen heute auch mit Gewalt profilieren wollen. Das heisst aber nicht, dass die<br />

Gewalttäterinnen gleichberechtigt leben. Für diese Frauen sei der Gewaltakt zwar ein Mittel, um<br />

aus der Rolle des lieben Mädchens auszubrechen, glaubt Mirja Silkenbeumer. Nach dem Motto:<br />

"Wenn die Typen das können, können wir das auch!" Aber der Zusammenhang zwischen<br />

Emanzipation und Delinquenz ist für die Pädagogin "ein Konstrukt, das voll an der Lebensrealität<br />

der gewalttätigen Mädchen vorbeigeht." Meist kommen gerade sie nämlich in der Familie zu kurz<br />

und erfahren Benachteiligungen. Die Mädchen sind wahnsinnig böse. Und kommen trotzdem<br />

nirgendwo hin.<br />

Autor: TEXT RUTH JAHN ILLU BENJAMIN GÜDEL<br />

Weibliche Rambos<br />

Mirja Silkenbeumer 82 7) hut Müdcheiz niit aiiffalliger Gewultkurrieren interviewt. Sie ist<br />

Pädagogiii in Harinover.<br />

ERNST: Was interessiert Sie an schwierigen, rabiaten Mädchen?<br />

Mirja Siklenbeumer: Manner besetzen das Gewaltrnonopol. Wenn Mädchen und Frauen sich wie<br />

Rambos benehmen, werden sie verteufelt oder als hormonell gestört betrachtet. Da hat mich<br />

interessiert, genauer hinzusehen und zu fragen: Welchen Sinn kann Gewalt für Mädchen haben?<br />

Brachiale Gewalt soll sinnvoll sein?<br />

Meist geht es darum, sich Respekt zu verschaffen. Viele gewalttägige Mädchen haben es satt, immer<br />

nur klein und niedlich zu sein. Siw wollen die gleichen Rechte wie die Jungs. Sogar bei<br />

Raubüberfallen geht es Madchen selten ums Geld. Männliche Gewalttäter hingegen führen<br />

materialistische Motive an, sie fühlen sich sozial benachteiligt und wünschen sich mehr Prestige.<br />

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Mittwoch, 16. Februar 2000 smd-dok cgi Seite. 3<br />

Vermöbeln die Girls auch Jungen?<br />

Ja. Es bleibt meist nicht bei der "Jagd auf andere Mädchen". Manch gewlatbereits Mädchen<br />

verdrischt auch Jungen. Angst vor der körperlichen Unterlegenheit scheinen diese Mädchen nicht zu<br />

haben.<br />

Tun sich Mädchen in Girlgangs zusammen?<br />

Mädchenbanden sind eher die Ausnahme. Wir beobachten aber, dass sich einzelne Mädchen<br />

klassischen Männergruppen anschliessen, die sich zum Beispiel "Streetfighters" nennen. Oder sie<br />

laufen mit rechtsradikalen Truppen mit. Einige Mädchen sind dort bloss ein Anhängsel eines Jungen<br />

und klatschen in der zweiten Reihe Beifall. Aber es gibt auch solche Mädchen, die Gewalt für sich<br />

beanspruchen.<br />

Sind Mädchen genauso aggressiv wie Jungen?<br />

Ja. Mädchen verspüren nicht weniger Wut als Jungen. Aber: Sie halten diese länger zurück. Sie<br />

schlagen nicht so schnell zu. Sie versuchen es häuft erstmal mit Reden. oder sie finden ganz andere<br />

Wege: Sie rasieren sich zum Beispiel eine Glatze.<br />

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