Aufreger
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taz.amwochenende–gehtschonmalvor<br />
In dieser Ausgabe Hoeneß Münchner Stammtische bereiten sich auf den Prozess<br />
gegen den „Hundling“ vor Klitschko Wie „Doktor Eisenfaust“ als Volkstribun weiterkämpft<br />
Grütters Warum Sie von der Kulturstaatsministerin noch hören werden<br />
AUSGABEBERLIN |NR. 10296 |52.WOCHE |35.JAHRGANG |€3,50AUSLAND |<br />
€3,20DEUTSCHLAND | SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013<br />
<strong>Aufreger</strong><br />
Waswerdenwirtrinken?<br />
Worüberwerdenwirreden?<br />
Wenwerdenwirlieben?<br />
Wenwerdenwirhassen?<br />
Wiewerdenwirreisen?Eine<br />
Achterbahnfahrtdurchdas<br />
nächsteJahr<br />
Freiheit statt NSA<br />
ImUntergrund<br />
desInternets<br />
Im Darknet werden Drogen<br />
und Waffen gehandelt.<br />
Der finstere Ort<br />
macht trotzdem Hoffnung<br />
➤ SEITE 20, 21, 22<br />
Ikea Der<br />
Frühjahrskatalog schlägt<br />
vor, wie wir unser Leben<br />
einrichten sollten ➤ SEITE 6<br />
Mediterran Einst war<br />
das Mittelmeer das<br />
politische Zentrum<br />
Europas.Und das sollte<br />
es wieder werden ➤ SEITE 7<br />
Krise Die Bankenrettung<br />
zeigt, dass Moral nicht<br />
alles ist ➤ SEITE 10<br />
b apple taz.berlin<br />
Geschafft 2014 erinnern<br />
wir uns zum vorläufig<br />
letzten Mal an den<br />
Mauerfall ➤ SEITE 41, 44, 45<br />
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MERKUR<br />
DEUTSCHE ZEITSCHRIFT<br />
FÜR EUROPÄISCHESDENKEN<br />
Wir?<br />
Collage: taz, Fotos: Siepmann/Alimdi, dpa (3), Wolfgang Borrs, Getty (2); Matthias Schrader/ap (oben)<br />
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TAZ<br />
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Wir leben heute in einer Gesellschaft,<br />
die auf das, was einmal<br />
emphatisch »Gemeinschaft«<br />
hieß, im Ganzen gut verzichten<br />
könnte.<br />
Doch: Es gibt Zonen kollektiven<br />
Einvernehmens, gemeinsamer<br />
Wertbindung, es gibt Vereine<br />
und Schicksalsgemeinschaften,<br />
Netz-Communities und mafiöse<br />
Strukturen.<br />
Um diese Formen der Vergemeinschaftung,<br />
die es auch in<br />
einer liberalen Gesellschaft gibt,<br />
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02 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE NACHRICHTEN | taz<br />
WirQuerschnittsredakteure haben es<br />
nichtleicht.DennwirhabenkeinenGebietsschutz.<br />
Wir werden gezwungen,<br />
über alles zu quatschen. Man erwartet<br />
vonuns, bei allem mitzureden, immer<br />
einengeistreichenGedankenzuhaben,<br />
einenbrillantenEinfall,einegescheite<br />
Idee, einen anderen Zugang, einen superlustigen<br />
noch dazu. Und also plappernundplaudernwirdenganzenTag,<br />
Prophetie<br />
vomDach<br />
UmherschweifendeBlicke<br />
aufdas,waskommenkönnte<br />
die ganze Woche, von morgens bis<br />
abends, mit jedem und allem, aufden<br />
Konferenzen, den Sitzungen, am Telefon,perMail,imChatoderüberTwitter.<br />
Aberentscheidendürfenwirnichts.Bevorwir<br />
irgendetwas machen, müssen<br />
wir immer erstmal die Experten fragen.<br />
Und weil uns die Expertenmeinung<br />
oft zu expertenmeinungsmäßig<br />
ist, steigen wir sommers wie winters<br />
über die Wendeltreppe hinaufinden<br />
Pavillon,undvondorttretenwiraufdie<br />
Dachterrasse. Da oben, unter dem großen<br />
freien Himmel, atmen wir tief<br />
durch,lassendieBlickeschweifenund<br />
die Gedanken baumeln und machen<br />
uns so unsere Vorstellungen. Vorstellungen<br />
voneiner Welt ohne Expertenmeinung.Sommerssitzenwiraufdem<br />
sattgrünenRasen,lesenRilke,binden<br />
Sechs Tote<br />
bei Anschlag<br />
in Beirut<br />
LIBANONEhemaliger<br />
Ministerermordet.<br />
Hisbollahbeschuldigt<br />
BEIRUT ap/rtr | Bei einem Bombenanschlag<br />
inder libanesischenHauptstadtBeirutsindam<br />
Freitagmindestens sechs Menschen<br />
ums Leben gekommen,<br />
darunter der frühere Finanzminister<br />
Mohammed Chatah. Der<br />
62-jährigeChatahwarzuletztein<br />
enger Berater des früheren Ministerpräsidenten<br />
Saad Hariri,<br />
der2011seinAmtverlorenhatte.<br />
Dem Berichtzufolge tötete die<br />
BombeihnundseinenFahrersowie<br />
vier weitere Menschen. Zudem<br />
wurden nach Angaben des<br />
Gesundheitsministeriumsmehr<br />
als 70 Personen verletzt. In der<br />
schicken Hauptstraße in Beirut,<br />
indersichFünfsternehotelsund<br />
Edelboutiquen befinden, standen<br />
AutosinFlammen, waren<br />
vieleScheiben geborsten. Dicke<br />
Rauchschwaden standen über<br />
den Regierungsgebäuden in der<br />
Nähe.<br />
Chatah, der früher Botschafter<br />
in den USAwar,galtals bedeutender<br />
Volkswirtund gemäßigter<br />
sunnitischer Politiker.Er<br />
war bereits Berater des Vaters<br />
vonSaad Hariri, dem ehemaligen<br />
Ministerpräsidenten Rafik<br />
Hariri.Dieserwurde2005beieinem<br />
Anschlag–nichtweitentferntvonderAttackeamFreitag<br />
–getötet. Später wurdeChatah,<br />
als Saad Ministerpräsidentwurde,Finanzminister.<br />
In weniger als drei Wochen<br />
soll der Prozess gegen die Verdächtigen<br />
beginnen, die für die<br />
ErmordungRafikHaririsverantwortlich<br />
sein sollen. Fünf Mitglieder<br />
der Hisbollah sind angeklagt.DieHisbollahweistdieAnklage<br />
zurück und weigerte sich,<br />
dieVerdächtigenauszuliefern.<br />
Der frühere libanesische Ministerpräsident<br />
Saad al-Hariri<br />
machte die Hisbollah auch für<br />
den Bombenanschlagvom Freitagverantwortlich.<br />
„Soweit wir<br />
wissen, sind die Verdächtigen<br />
diejenigen,dievorderinternationalen<br />
Justiz fliehen und sich<br />
weigern, sich einem internationalem<br />
Tribunal zustellen“, erklärte<br />
HaririinBeirut. Er bezog<br />
sichdamitaufdenProzessgegen<br />
die mutmaßlichen Mörder seinesAmtsvorgängersundVaters.<br />
Dinosaurier<br />
fürEinweg-<br />
Lobby<br />
MÜLLHinterEmpfänger<br />
desNegativ-Preises<br />
stehenbekannteFirmen<br />
BERLIN taz | Ein Lobbyverband<br />
für Einwegverpackungen ist<br />
Empfänger des „Dinosauriers<br />
des Jahres“. Der Naturschutzbund<br />
(Nabu) zeichnet damit<br />
jährlich Personen oder Institutionenaus,dieeralsschädigendin<br />
SachenUmweltschutzerachtet–<br />
voriges Jahr etwadie damalige<br />
CSU-AgrarministerinIlseAigner.<br />
Hinter dem „Bund Getränkeverpackungen<br />
der Zukunft“ –so<br />
der volle Name des aktuellen<br />
Empfängers–steckenUnternehmen<br />
wie Aldi, Lidl und Red Bull.<br />
DerVerbandwillunteranderem<br />
eine Zwangsabgabe aufEinwegverpackungen<br />
verhindern. Die<br />
wärelautUmweltschützerneine<br />
umwelt- und verbraucherfreundlichere<br />
Alternative zum<br />
derzeitigenEinwegpfand. SVE<br />
Mehr unter taz.de/!130014<br />
McDonald’s<br />
brätsicheinen<br />
über<br />
FASTFOODInternetseite<br />
rietvoneigenen<br />
Produktenab<br />
NEWYORK ap | Für McDonald’s<br />
drohteinemitGesundheitstipps<br />
für Mitarbeiter gespickte Website<br />
zumPR-Fiaskozuwerden:<br />
Für einen gesunden Lebensstil<br />
sei der Genuss von Fast Food<br />
nicht zuempfehlen, stand auf<br />
der Internetseite „McResource“<br />
zulesen,wiederTV-SenderCNBC<br />
meldete. Betrieben wurde das<br />
Programm demnach voneinem<br />
externen Unternehmen. Der<br />
größte Burger-Brater der Welt<br />
reagierte prompt und ließ die<br />
Webseite abschalten. Zu dem<br />
Programm habe es irrelevante<br />
und überholte Informationen<br />
gegeben, teilte der Konzern am<br />
Donnerstagmit.Zudem hätten<br />
Außenseitergruppen Elemente<br />
ausdem Kontext gerissen und<br />
unangemessene Kommentare<br />
gemacht.<br />
SPEKULATIONSBLASE?<br />
Schönen Sonntag und<br />
guten Appetit!<br />
Foto: dpa<br />
… dass meine<br />
Kräfte infolge<br />
des vorgerückten<br />
Alters<br />
nicht mehr geeignet<br />
sind, um in<br />
angemessener<br />
Weise den Petrusdienst<br />
auszuüben<br />
PAPST FRANZISKUS AM 17. MÄRZ 2013 ZU<br />
DEN GLÄUBIGEN AUF DEM PETERSPLATZ<br />
IN ROM<br />
PAPST BENEDIKT XVI. AM 11. FEBRUAR<br />
2013 IN SEINER RÜCKTRITTSERKLÄRUNG<br />
Foto: ap<br />
DER DAX KNACKT DIE 9500-PUNKTE-MARKE.<br />
DIE AKTIEN LEGTEN 2013 ZU, DIE WIRTSCHAFT KAUM<br />
DEUTSCHER<br />
AKTIENINDEX<br />
23%<br />
DEUTSCHE<br />
WIRTSCHAFT<br />
0,5%<br />
QUELLE: Deutsche Börse, BMWi<br />
Justiz stoppt<br />
Allmacht<br />
Erdogans<br />
TÜRKEIRegierungerhält<br />
keinenEinblickin<br />
Polizeiermittlungen<br />
ISTANBULdpa/rtr|ImKorruptionsskandalinderTürkeihatein<br />
Gerichtden Versuch der Regierung<br />
gestoppt, mehr Einblick in<br />
die Ermittlungen der Polizei zu<br />
bekommen.DieRichterblockierten<br />
das Vorhaben, neue Regeln<br />
für die Informationspflichtvon<br />
Polizisten einzuführen. Unterdessen<br />
hatdie Regierungspartei<br />
AKP ein Parteiausschlussverfahren<br />
gegen drei kritische Abgeordnete<br />
eingeleitet. Dem früheren<br />
Kulturminister Ertugrul<br />
Günay sowie den Abgeordneten<br />
ErdalKalkanundHalukÖzdalga<br />
wirdvorgeworfen,ParteiundRegierunggeschadetzuhaben.Für<br />
Schlagzeilen sorgte außerdem<br />
die Ablösung des Istanbuler<br />
StaatsanwaltsMuammer Akkas<br />
von seinen Korruptionsermittlungen.<br />
Militärs<br />
gegen<br />
Islamisten<br />
ÄGYPTENMindestens<br />
dreiDemonstrantenbei<br />
Protestengetötet<br />
KAIROrtr/afp |NachderEinstufung<br />
der Muslimbruderschaft<br />
als Terroristengruppe ist esin<br />
mehreren ägyptischen Städten<br />
zu Zusammenstößen zwischen<br />
PolizistenundAnhängernderislamistischen<br />
Bewegung gekommen.MindestensdreiMenschen<br />
wurden getötet. 265 Demonstranten<br />
sollen festgenommen<br />
worden sein. Schon am Vortag<br />
war ein Demonstrant getötet<br />
worden. In Kairokam es zu Krawallen.<br />
Die Polizei ging dortmit<br />
Tränengas gegen Demonstranten<br />
aufdem Campus der Al-Ashar-Universitätvor,die<br />
Sicherheitskräfte<br />
mit Steinen bewarfen.<br />
In zwei Kairoer Vororten<br />
wurden Protestveranstaltungen<br />
durchdenEinsatzvonTränengas<br />
aufgelöst.AuchinanderenStädtenkameszuAusschreitungen.<br />
Deutschland<br />
heizt sich<br />
weiter arm<br />
ENERGIENochniewares<br />
soteuer,seineBudeim<br />
Winterwarmzuhalten<br />
BERLIN taz | Kohle, Öl und Gas<br />
werden immer teurer.2012 und<br />
2013warennacheinerStudieder<br />
Hamburger Energy Comment<br />
im Auftrag der Grünen-Bundestagsfraktion<br />
die teuersten Heizjahre,<br />
seitentsprechende Statistiken<br />
erhoben werden. Wermit<br />
Öl wärmt, musste für eine 80-<br />
Quadratmeterwohnung 2012 im<br />
Schnitt 204 Euro nachzahlen.<br />
2013 siehtesnichtbesser aus.<br />
NacheinerStudiedesDeutschen<br />
MieterbundeskommenfürFernwärme,ÖlundErdgasimSchnitt<br />
nochmals9Prozentdazu.<br />
„Wir diskutieren nur über<br />
Strompreise, obwohl sie den<br />
niedrigsten Anteil an den Energiekosten<br />
haben“, sagt die neue<br />
Vorsitzende des Bau- und Umweltausschusses<br />
im Bundestag,<br />
die Grünen-Politikerin Bärbel<br />
Höhn, der taz. Heizkosten seien<br />
vielrelevanterfürFamilien.<br />
Mitdem Anstieg schlägt ein<br />
Trenddurch,derseiteinemJahrzehntungebrochen<br />
ist: der unaufhaltsame<br />
Kostenanstieg bei<br />
fossilen Rohstoffen. Verglichen<br />
mitdenPreiseninderletztenDekade<br />
des 20. Jahrhunderts stiegendieKostenfürKohle,Ölund<br />
Gas in den nuller Jahren um ein<br />
Vielfaches an. Öl kostet heute<br />
mehrals5-malsoviel.DieFolgen<br />
für die deutsche Wirtschaft: Im<br />
Jahr 2012 gingen 3,5 Prozentdes<br />
Bruttoinlandsproduktes, 94 MilliardenEuro,fürdenImportvon<br />
Kohle,ÖlundGasdrauf,vorzehn<br />
Jahrenwarenes1,6Prozent.TeilweisegehtderAnstiegdaraufzurück,<br />
dass im Ruhrgebiet der<br />
Kohleabbauausläuft.<br />
Um der Preisspirale zuentkommen,<br />
schlagen die Grünen<br />
vor, die energetische Sanierung<br />
vonGebäuden schneller voranzutreiben.<br />
2Milliarden Euroim<br />
Jahr sollen in einen Fonds fließen,<br />
den Kommunen dazueinsetzen<br />
können, auch Wohnungen<br />
vonMietern mitgeringem<br />
Einkommen zu sanieren, ohne<br />
dass die Warmmieten steigen.<br />
Union und SPD hatten in ihrem<br />
Koalitionsvertrag zusätzliche<br />
Mittel für Sanierungen kurz vor<br />
Ende der Verhandlungen gestrichen.<br />
INGO ARZT<br />
AFGHANISTANBundesregierungverteidigtdeutschesBieramHindukusch:Trotzdeutlichmehr<br />
DisziplinarfällenwegenAlkoholmissbrauchgibteskeineneuenEinsatzregelnfürSoldaten<br />
Trinken bis zumAbzug<br />
tei hervor,die der taz vorliegt.<br />
Darin erklärt die Bundesregierung,<br />
dass Fälle von Alkoholmissbrauch<br />
nicht unmittelbar<br />
statistisch erfasst werden. Sie<br />
können daher nurüber die Zahl<br />
der Disziplinarmaßnahmen geschätztwerden.Ebenfallsunklar<br />
bleibt, wie vieleSoldaten bisher<br />
aufgrund von Alkoholkonsum<br />
vorzeitig ihren Einsatz beenden<br />
mussten.ErstseitMärz2013wird<br />
dies erhoben. Bei 16 Soldaten<br />
wurdebis Ende November demnach<br />
„die besondere Auslandsverwendung<br />
aufGrund vonAlkoholmissbrauchvorzeitigbeendet“,heißtesinderAntwort.<br />
DabeimüssteesdenSoldaten<br />
im Afghanistan-Einsatz eigentlich<br />
unmöglich sein, sich hemmungslos<br />
zu betrinken. Es gilt<br />
diesogenannte„Zwei-Dosen-Regelung“,wonachjederSoldatpro<br />
Taghöchstens zwei Dosen Bier<br />
oder zwei Gläser Wein „aus-<br />
BERLINtaz|TrotzstrikterRegeln<br />
kommtesinden Bundeswehrlagern<br />
in Afghanistan immer<br />
häufiger zu Fällen vonAlkoholmissbrauch.Sowurdenalleinim<br />
größten afghanischen Bundeswehrcamp<br />
inMasar-i-Scharif<br />
2013 gegen 32 Soldaten Disziplinarmaßnahmenwegenübermäßigen<br />
Alkoholkonsums verhängt.2012warenesnur15Fälle.<br />
Das gehtaus der Antwortauf<br />
einekleineAnfragederLinksparschließlich<br />
für den unmittelbarenKonsum“kaufendarf.Andere<br />
Länder haben ein komplettes<br />
Alkoholverbot für die Soldaten<br />
verhängt.Dazugehörenetwadie<br />
USA,KanadaundKroatien.<br />
In welchem Umfang Bundeswehrsoldaten<br />
im Auslandseinsatz<br />
illegaleDrogen konsumieren,<br />
konnte die Regierung nicht<br />
beantworten. Die Linkspartei<br />
hatte die Anfragegestellt, nach-<br />
demesimJunizumehrerenVor-<br />
fällen im Zusammenhang mit<br />
Alkoholkam.SohatteeinSoldat<br />
im CampinMasar-i-Scharif angetrunkenumsichgeschossen.<br />
Trotzdem ergreift die Regierung<br />
kaum Maßnahmen zur<br />
Drogenprävention bei Soldaten<br />
imAusland.Sieverweistaufkulturelle<br />
Unterschiede, um ihre<br />
fehlende Zusammenarbeit mit<br />
anderenNationenindiesemBereichzubegründen.<br />
„Es gibt mehrere Vorfällevon<br />
Alkoholmissbrauch und auch<br />
dadurchverursachteUnfälleam<br />
Einsatzort Afghanistan. Es ist<br />
deshalb nicht nachvollziehbar,<br />
warum die Bundeswehr zu diesemThemakeineinternationale<br />
Zusammenarbeitsucht, um aus<br />
InMasar-i-Scharif<br />
wurdengegen32SoldatenStrafenwegen<br />
Alkoholverhängt<br />
den gegenseitigen Erfahrungen<br />
zu lernen“, sagte Frank Tempel,<br />
drogenpolitischer Sprecher der<br />
Linkspartei im Bundestag. „Wie<br />
die neue Verteidigungsministerin<br />
bei ihrem Afghanistanbesuch<br />
kürzlich mitteilte, möchte<br />
sie sich mehr für das Wohl der<br />
SoldatenundihrerFamilieneinsetzen.<br />
Dazu gehört auch das<br />
ThemaderAlkohol-undDrogenprävention.“<br />
PAUL WRUSCH
taz |NACHRICHTEN<br />
SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE 03<br />
Blumenkränze, stricken Mützen, rauchen<br />
Haschisch, trinken Pfannebecker<br />
und herzen uns. Aber mit Liebe, nicht<br />
sowieRösler,alsernochMinister,und<br />
Diekmann,alsernochhauptamtlicher<br />
Nerdwar.UnserevonExpertentumbefreitenBlickebleibenanAxelSpringers<br />
Riesenlaufband hängen. Wiedas funkelt,<br />
blinkt und pulsiert! Da müssen<br />
echte Kreative am Werk sein. Da kann<br />
unsereDachbepflanzungnichtmithalten.<br />
Aufunserem Dach wehen Fahnen,<br />
sodassmanmeinenkönnte,hierwehte<br />
ein frischer Geist. AufSpringers Dach<br />
hingegen flackertdie Weltgeschichte<br />
vonSpandaubis Teltow,sodass man<br />
meinen könnte, es passierte was im<br />
Land.DieseQuelleinformativerUnterhaltung<br />
istfastsobreitwie das Haus,<br />
aufdemsiethront,undals„Laufband“<br />
nurunkorrekt beschrieben. Es isteine<br />
Reklametafel,dieausvielengroßenPixeln<br />
besteht, die unterschiedliche Farbenannehmenkönnen,wennsienicht<br />
geradekaputtsind.WirhieraufdemRasenzwischenRilke,Haschischundfrei<br />
schweifendem Umherdenken finden<br />
das gut, der psychedelischen Effekte<br />
wegen. Springer strebt nach Start-up-<br />
Tugenden,sagendieExperten.Wiraber<br />
sehen,dasssichbeimContentseit1967<br />
so viel nicht geändert hat. „Chaoten<br />
werfen Pflastersteine aufSPD-Zentrale“,<br />
heißtesauf Springers Display. Die<br />
Veränderungen kündigen sich unten<br />
an.Immerhäufigersehenwirsehrbärtige<br />
Männer in Kapuzenpullis auf<br />
Skateboards durch die Rudi-Dutschke-<br />
StraßeRichtungSpringer-Zentralerollen,solchermaßenstummdenSpirit<br />
FOTO DER WOCHE<br />
„Der Dicke“<br />
sorgtfür<br />
Freude<br />
SeitachtMonatenist<br />
Alfonso(links)aus<br />
LeganesbeiMadrid<br />
arbeitslos.Jetztaber<br />
hatteerGrundzum<br />
Feiern.Wie160andere<br />
Hauptgewinnertrug<br />
seinLosbeider<br />
Weihnachtslotteriedie<br />
Nummer62246.Für„El<br />
Gordo“(denDicken)<br />
gabesvierMillionen<br />
Euro–dieerstmals<br />
versteuertwerden<br />
müssen.<br />
Foto: Pablo B. Dominguez/Getty Images<br />
RUSSLANDDieausderHaftentlassenenPunk-Musikerinnenwollensichkünftigfüreinen<br />
humanerenStrafvollzugengagieren.SieverlangenweitereinEndederPutin-Herrschaft<br />
Pussy Riot gegen Lagerhaft<br />
VON BARBARA OERTEL<br />
BERLIN taz | Die zwei AktivistinnenderrussischenFrauen-Punkband<br />
Pussy Riot, Nadeschda Tolokonnikowaund<br />
Maria Alechina,wollensichkünftigfüreinen<br />
humaneren Strafvollzug einsetzen.<br />
Das kündigten die beiden<br />
FrauenamFreitagbeieinerPressekonferenz<br />
in Moskau an. „In<br />
den Straflagern gibt es Menschen,diesichamRandesdesTodes<br />
befinden“, sagte die 25-jährigeAlechina.<br />
Für ihre geplante Nichtregierungsorganisation<br />
„Rechtszone“<br />
gebeesnochkeineFinanzierung,<br />
esseiabereineZusammenarbeit<br />
mitdem oppositionellen BloggerAlexejNawalnygeplant.Dieser<br />
hatte im vergangenen September<br />
erfolglosfür den Posten<br />
des Moskauer Bürgermeisters<br />
kandidiert. Den kürzlich freigelassenen<br />
Ex-Ölmagnaten<br />
Michail Chodorkowski wolle<br />
mannichtumfinanzielleUnterstützung<br />
bitten. Auf die Frage<br />
nachihrerHaltungzuRusslands<br />
PräsidentenWladimirPutinsagtedie24-jährigeTolokonnikowa,<br />
diese habe sich nichtgeändert.<br />
„Wirwollenweiter,dassergeht.“<br />
DiebeidenMusikerinnen,die<br />
beideeinkleinesKindhaben,waren<br />
im Februar 2012 nach einer<br />
ProtestaktiongegenPutininder<br />
Moskauer Christi-Erlöser-Kathedralefestgenommenundwegen<br />
RowdytumsausHassaufGläubige<br />
angeklagt worden. Im August<br />
2012warensiezuzweiJahrenLagerhaft<br />
verurteilt worden. Der<br />
UrteilsspruchlösteinternationaleProtesteaus.DieHaftstrafefür<br />
ein weiteres Mitglied vonPussy<br />
Riot, Jekaterina Samuzewitsch,<br />
setzte ein Moskauer BerufungsgerichtimOktober<br />
2012 zurBewährungaus.<br />
Während AlechinainNischni<br />
Nowgorod, rund 450 Kilometer<br />
vonMoskau,einsaß, warTolokonnikowa<br />
erst kürzlich ins<br />
4.400 Kilometer vonder Hauptstadt<br />
entfernte ostsibirische<br />
Krasnojarsk verlegt worden. Am<br />
23. Dezember waren die beiden<br />
aufgrund einer Amnestie von<br />
PräsidentPutinfreigekommen.<br />
In ersten Stellungnahmen<br />
nach ihrer Freilassung gaben<br />
sich die beiden Musikerinnen<br />
kämpferisch. Gegenüber dem<br />
russischen TV-Sender Doschd<br />
bezeichnete Alechina die Amnestieals„PR-Trick“.Hättesiedie<br />
Wahlgehabt,dieAmnestieabzulehnen,<br />
so hätte sie dies getan.<br />
Tolokonnikowa, die während ihrer<br />
Haftzeitzweimal in einem<br />
Hungerstreik getreten war,<br />
nannte ganz Russland „ein großes<br />
Straflager“. „Russland ist<br />
nach dem Modell einer Strafkolonieaufgebaut“,sagtesie.„Straflager<br />
und Gefängnisse sind das<br />
GesichtdesLandes.“<br />
Derzeit sitzen in Russland<br />
rund700.000PersoneninHaft,<br />
davon600.000 in sogenannten<br />
Straflagern. Für die derzeit<br />
knapp60.000inhaftiertenFrauensehendieGesetzenureineArt<br />
vonLagervor.DieKomplexeaus<br />
Verwaltungsgebäuden, Schlafräumen<br />
für die Gefangenen so-<br />
Ungebrochen von der Haft in Ostsibirien:<br />
Nadeschda Tolokonnikowa<br />
von Pussy Riot Foto: dpa<br />
„Russlandistnach<br />
demModelleiner<br />
Strafkolonieaufgebaut.Straflagerund<br />
Gefängnissesinddas<br />
GesichtdesLandes“<br />
NADESCHDA TOLOKONNIKOWA<br />
wie einem Arbeitsbereich sind<br />
mit Zäunen, Stacheldraht und<br />
WachtürmenvonderAußenwelt<br />
abgeriegelt. Die Frauen sind in<br />
derRegelinBarackenmit100bis<br />
130 Gefangenen untergebracht.<br />
Jeder Insassin stehen mindestensdreiQuadratmeterPlatzzu.<br />
Je nach Schwere des Verbrechens<br />
gibt es drei Unterbringungsformen:<br />
normal, erleichtertund<br />
streng. Unter normaler<br />
Lagerhaft dürfen die Frauen pro<br />
Jahr sechs kurze (bis vier Stunden)<br />
und vier lange (bis zu drei<br />
Tage) Besuch bekommen. Das<br />
strenge Regime, das bei Regelverstößen<br />
verhängt wird, sieht<br />
zunächsteine Isolationszeitvon<br />
drei Monaten vor. Besuche sind<br />
verboten.<br />
ImGegensatzzudenPussy-Riot-Aktivistinnen<br />
bleibt den Mitgliedern<br />
der Umweltschutzorganisation<br />
Greenpeace eine Lagerhaft<br />
erspart. Nach dem Erhalt<br />
vonAusreisepapieren haben inzwischenmindestens7derrund<br />
30 Aktivisten Russland verlassen.„Dierestlichenfolgeninden<br />
kommenden Tagen“, sagte der<br />
Direktor vonGreenpeace Russland,IwanBlokow.TrotzderHaft<br />
wollten alleAktivisten aber weiter<br />
gegen Umweltzerstörung<br />
kämpfen.<br />
Die Justiz hatte im Zuge von<br />
Putins Amnestie auch die VerfahrenwegenRowdytumsgegen<br />
die Aktivisten eingestellt. Die<br />
Crewhatte an einer Ölplattform<br />
des russischen Staatskonzerns<br />
Gazprom gegen UmweltzerstörunginderArktisprotestiert.<br />
Ostafrika-Gipfel vermeldet<br />
guten Willen und setzt Frist<br />
SÜDSUDANHauptkontrahentenbleibenGipfelfern.<br />
DortdrohenNachbarstaatenMaßnahmenan<br />
NAIROBI/BERLIN rtr/taz | Südsudans<br />
Regierung hat nach<br />
knappzweiWochenBürgerkrieg<br />
angeblich in eine sofortige Einstellung<br />
der Kämpfe eingewilligt.Diesvermeldetenjedenfalls<br />
am Freitagnachmittagdie Teilnehmer<br />
eines Sondergipfels der<br />
Regionalorganisation Igad (Intergovernmental<br />
Authority on<br />
Development) in Kenias HauptstadtNairobi.<br />
„Igad begrüßtdie<br />
VerpflichtungderRegierungder<br />
Republik Südsudan zu einer sofortigenEinstellungderFeindseligkeiten“,hießes.SüdsudansEx-<br />
Vizepräsident Riek Machar,<br />
Hauptwidersacher der Regierung,seiebensowieandereParteien<br />
„aufgefordert, ähnliche<br />
Verpflichtungeneinzugehen“.<br />
Die Tragweite dieser Erklärungbleibtunklar,dawederRiek<br />
Machar noch Südsudans Präsi-<br />
FRAU BINH -36JAHRE, VIETNAM<br />
Spendenkonto: 1020100<br />
Bank für Sozialwirtschaft<br />
BLZ: 10020500<br />
Kennwort: Vietnam<br />
dentSalvaKiiramGipfelteilnah-<br />
men. Machar fordertvon Südsudans<br />
Regierung bedingungslose<br />
Direktverhandlungen und<br />
hat dafür eine Delegation benannt,<br />
die die wichtigsten verhafteten<br />
Oppositionspolitiker<br />
einschließt. Kiir hatimPrinzip<br />
Gespräche zugesagt, will jedoch<br />
offenbar erstdie vonmeuternden<br />
Soldaten besetzten Städte<br />
Südsudans zurückerobern. Eine<br />
TeilnahmeamTreffeninNairobi<br />
sagteerkurzfristigunterVerweis<br />
aufdieLageimLandab.<br />
Die Igad-Gipfelteilnehmer in<br />
NairobigabendenKontrahenten<br />
vier Tage Zeit–also bis Jahresende–umdieKämpfeeinzustellen.Andernfallswerdemanüber<br />
weitereSchrittenachdenken.Die<br />
Kämpfe im Südsudan dauerten<br />
derweil an und konzentrierten<br />
sichaufdieStadtMalakal. D. J.<br />
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VordreiJahren bestand<br />
Frau Binh ihreSchneiderprüfung<br />
und machte<br />
sich dank eines Kleinkredits<br />
selbstständig.<br />
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Frauen auf ihrem Weg<br />
in die Selbstständigkeit!<br />
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04 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE | wochenende@.taz.de DIE HOFFNUNG | taz<br />
vonSiliconValleyanrufend.Manchmal<br />
geraten sie in Händel, wenn sie beim<br />
Skaten die neusten Apps auschecken<br />
unddabeieinaltesMütterchenübersehen,dasgeradedieEinkäufenachHause<br />
bringen will: „Verschwenden Sie<br />
nichtmeineZeit!“,brülltesbarschvom<br />
Brettherunter,und,weiterrollend:„Informationwantstobefree!“Eskommt<br />
jetzt immer häufiger zu personalpolitisch<br />
heiklen Situationen an der Pforte<br />
inAxel-Springer-Alley,weilderDiensttuendenichtweiß,obereinenbärtigen<br />
ChaotenausKreuzberg,einenbärtigen<br />
Abteilungsleiter ausZehlendorfoder<br />
einen bärtigen Hochbegabten aus L.A.<br />
vorsich hat. Isteseine potenzielleBetriebsstörung<br />
oder hoch bezahltes Humankapital?<br />
Den Unterschied, falls es<br />
ihnüberhauptgibt,kannmanwomöglich<br />
nuramGeruch erkennen, wobei<br />
auchdasnichtsicherist,legtmanheute<br />
doch auch zu Haus bei FreaksWertauf<br />
Körperhygiene und olfaktorische Noblesse.<br />
Derweil besetzen brandneue<br />
Start-upsdiegeheimen,atombombensicherenNotredaktionsräumedesKonzerns,wofürmanerstdasbisdahindort<br />
geduldete Künstlertum ausfegen und<br />
dessenGraffitiübertünchenmuss.Was<br />
da wohl entwickeltwird? Sich das auszumalen,dafürreichtselbstunsereexpertenfreie<br />
Dachgartenfantasie nicht<br />
aus. „Die Diktaturder Manipulateure<br />
muss gebrochen werden. Es kommt<br />
daraufan, eine aufklärende Gegenöffentlichkeit<br />
zu schaffen“, hieß es mal.<br />
JetztwirdbeiSpringersausgechillt.Die<br />
Nerds übernehmen das Kommando.<br />
Gefummeltwirdbloßnochanden<br />
KRISEEuroschwäche,Bankenkrise,<br />
NSA-Affäre:VieleBürgersehenihre<br />
demokratischenRechteschwinden.<br />
DasGegenteilistderFall<br />
Demokratie<br />
aufErfolgskurs<br />
Die Bonner Demokratie in den 70ern: autoritär, hierarchisch, männlich. Schlussabstimmung über die Ostverträge 1972 Foto: ullstein bild/dpa<br />
VON PAUL NOLTE<br />
Ausgerechnet die Demokratie!Istdasnichteiner<br />
der unwahrscheinlichsten<br />
Kandidaten für einen<br />
strahlenden Auftritt im<br />
nächsten Jahr? Hängt dieser<br />
Himmel nicht längst voller<br />
dunkler Wolken, die sich in Zukunftehernochbedrohlicherzusammenballenwerden?<br />
Allenfalls können wir froh<br />
sein, halbwegs mitheiler Haut<br />
davonzukommen.Geradehaben<br />
mehr als 500 Schriftsteller und<br />
Intellektuelle flammend dazu<br />
aufgerufen, die Demokratie zu<br />
verteidigen in einem digitalen<br />
Zeitalter,dasliberalePrivatsphäre<br />
und Unverletzlichkeitdes Individuums<br />
mit seinen technischen<br />
Möglichkeiten und<br />
manchmal auch mitder vollen<br />
Absicht demokratisch legitimierter<br />
Staatsorgane auszuhebelndroht.<br />
Die europäische Währungsund<br />
Staatsschuldenkrise: Istsie<br />
überstanden, garerfolgreich bewältigt<br />
oder nurverdrängt, und<br />
welchen vermeintlichen SachzwängenderMärktewerdenParlamentebeimnächstenMalwiederausgesetztsein?DennamRegelwerkhatsichweniggeändert,<br />
und erst recht hat bisher die<br />
Hoffnung getrogen, die Krise<br />
werde einen demokratischen<br />
RuckdurchdieeuropäischeVerfassungsdebatte<br />
gehen lassen.<br />
Nunaber endlich ein EuropäischesParlamentmitvollemBudgetrecht,<br />
mit der Souveränität,<br />
Steuern zu erheben, und miteinerRegierung,diediesemParlamentwirklichverantwortlichist.<br />
Ach ja, der Arabische Frühling:<br />
Kommtdanoch was, oder<br />
können wir froh sein, wenn das<br />
Elend der syrischen Flüchtlinge<br />
nichtnoch schlimmer wirdund<br />
die Herrschaft des Militärs in<br />
Ägypten nicht allzu autoritäre<br />
Züge annimmt? Schließlich ist<br />
die Stimmung, im Jahrhundertjubiläum<br />
des Ersten Weltkriegs,<br />
ohnehin schon melancholisch<br />
geprägt. Könnten die fragilen<br />
RestevonFreiheit,vonhalbwegs<br />
erträglicher Existenz im kommenden<br />
Jahr nichterneutvollständigkollabieren?<br />
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Raus aus dem<br />
falschen Film!<br />
Vertraut auf eure<br />
Handlungsmacht!<br />
Dann kann die<br />
Demokratie im Jahr<br />
2014 einen großen<br />
Auftritt haben<br />
Die Melancholie allerdings<br />
reichttiefer als die Erinnerung<br />
an1914.IndenletztenJahren,zumalseitder<br />
Wirtschafts- und Finanzkrise<br />
von2008, istder demokratischen<br />
Entwicklung in<br />
den westlichen Ländern ebenso<br />
wie unter globaler Perspektive<br />
häufigkeingutesZeugnisausgestelltworden.<br />
In großen Teilen<br />
desintellektuellenLagersundin<br />
großen Teilen der Linken sind<br />
Verfallsdiagnosen und Untergangsängste<br />
weit verbreitet, ja<br />
beinahe schon selbstverständlichgeworden.<br />
Nichterstseitfünf oder zehn<br />
Jahren, sondern seit Jahrzehnten,<br />
im Grunde seitden 1970er<br />
Jahren,wirddemnachdasdemokratische<br />
Versprechen aufFreiheitund<br />
Partizipation öfter gebrochen<br />
als eingelöst. Der Ausbaudemokratischer<br />
Rechte, im<br />
Verein mit dem Ausbau des<br />
Wohlfahrtsstaates, istsoansein<br />
Ende gekommen. Die einstigen<br />
Bannerträger der euphorischen<br />
Expansion, die mitWillyBrandt<br />
und den neuen sozialen Bewegungen<br />
dazuaufgerufen haben,<br />
„mehr Demokratie zu wagen“–<br />
sie haben sich in ihren Verteidigungsstellungen<br />
eingegraben.<br />
Denn höchstens noch darum<br />
scheintesgehen zu können: die<br />
Demokratie zu verteidigen, den<br />
Besitzstandallenfallszuwahren.<br />
Schwer genug. Denn die jahrzehntelange<br />
Aushöhlung von<br />
Rechten und das Unterlaufen<br />
vonInstitutionen durch kapitalistischeMärkte,halblegitimierteBürokratienunddigitaleTechnologienhatwenigmehralseine<br />
Fassadestehenlassen.<br />
Wirsind,mitdeminDeutschland<br />
so besonders populär gewordenen<br />
Begriff des britischen<br />
Politikwissenschaftlers Colin<br />
Crouch, in „postdemokratischen“Verhältnissen<br />
angekommen.<br />
Fassadendemokratie, Placebodemokratie;<br />
eigentlich werden<br />
wir nurnoch, wasunsere<br />
Freiheitund unsere Rechte betrifft,anderNaseherumgeführt.<br />
AlsobesteigenwirdieZeitmaschineundlandenvor40Jahren,<br />
amEndedesJahres1973,dasdem<br />
Westen mit der ersten Ölkrise<br />
auchdenAbbruchderscheinbar<br />
immerwährenden Zuversicht,<br />
desüberbordendenOptimismus<br />
der Nachkriegszeit bescherte.<br />
Aber kulturelle Stimmungen<br />
sindnichtmitderRealitätzuverwechseln.<br />
Wiesah denn die vermeintlichsorobusteDemokratie<br />
damalsaus,kurzbevorihrepostdemokratische<br />
Aushöhlung einsetzte?<br />
Um mitdem vielleichtWichtigstengleichzubeginnen:Frauen<br />
kamen in dieser Demokratie,<br />
praktisch gesehen, kaum vor.<br />
Klar,das Wahlrechtgab es seit<br />
1918, aber das war’sdann auch.<br />
EineAlibifrauinjedemKabinett,<br />
meistzuständig für Familie und<br />
Gedöns.DieSensationjenerZeit:<br />
eineFrau,AnnemarieRenger,als<br />
Bundestagspräsidentin für die<br />
SPD.Demokratie an der Basis?<br />
Abgesehendavon,dasseineVorstellung<br />
davonkaumexistierte,<br />
trifft der Zeitreisende aufMännerrunden<br />
in Hinterzimmern<br />
gleich welcher politischen Couleur.Jenseits<br />
der Geschlechterfrageein<br />
ähnlichesBild. Bürgerinitiativen?<br />
Man muss ersteinmallernen,wasdasist.<br />
Demonstrationen: nichtNormalfallundBestandteil,sondern<br />
StörfallderDemokratie,diedoch<br />
bitte in Parlamenten und Regierungen<br />
stattzufinden hat. Die<br />
Bürger(innen)dürfenjaschließlich<br />
wählen! Konsumentenrechte,<br />
Datenschutz? Vielleicht in<br />
Embryonalform, gerade noch<br />
mitderLupeerkennbar.Undwie<br />
wardasmitdernationalsozialistischenVergangenheit?Wieweit<br />
die personellen und mentalen<br />
Kontinuitäten in der Bundesrepublik<br />
reichten, wissen wir erst<br />
seitKurzem (und lernen immer<br />
noch dazu). Dass ein demokratischer<br />
Staatseine Identität, wie<br />
dasseitden90erJahrengeschehenist,aufdieentschiedeneZurückweisungvonRassismusund<br />
Völkermord inseiner eigenen<br />
Geschichte gründen würde, war<br />
damals noch weit entfernt. Der<br />
Kniefall Willy Brandts in WarschauimDezember1970irritierte<br />
vieleund warnur der Beginn<br />
einer ganz langsamen Bewusstseinsveränderung.<br />
MankönntedasBildnochweiter<br />
ausmalen, und manwürde<br />
nichts verzerren, wenn manzu<br />
dem Ergebnis käme: Vor40Jahren,da,wodie„Postdemokraten“<br />
vonheute den Gipfelpunkt der<br />
Demokratie sehen, wardie Demokratie<br />
nichtnur in Deutschland<br />
erstziemlich am Anfang,<br />
warsieziemlicheindimensional,<br />
autoritär, hierarchisch, männlich.<br />
Aber es gehtnichtumein<br />
billiges Aufrechnen einer Erfolgsgeschichte<br />
seitdem gegen<br />
neueRisikenundGefährdungen,<br />
womöglich auch Verluste, die<br />
ebensounbestreitbarsind.<br />
Verblüffend istvielmehr die<br />
Unfähigkeitder Linken, ihre eigenen<br />
Gewinne wahrzunehmen<br />
und in ein Narrativ von GeschichteundZukunftderDemokratie<br />
einzubinden. Denn zweifelloshandeltessichumeinelinkeundliberaleErfolgsstory.<br />
Sie sind die Sieger der Geschichte,mitdenneuenFormen<br />
demokratischen Handelns, die<br />
damalsdasLichtderWelterblickten:<br />
alternative Bewegungen,<br />
BürgerinitiativenundNGOs,basisdemokratische<br />
Formen der<br />
Partizipation, die zugleich den<br />
bisherigenRahmenderbloßnationalstaatlichen<br />
Demokratie<br />
nichtmehr akzeptieren wollten.<br />
Nunwollensievonihrereigenen<br />
Rolle und den Veränderungen,<br />
die sie, mutig und nichtselten<br />
überdieSträngeschlagend,herbeigeführthaben,<br />
nichts mehr<br />
wissen?<br />
Vonder eigenen Handlungsmacht,<br />
vonder eigenen Rollein<br />
derVeränderungvonPolitikund<br />
Gesellschaft nichts wissen wollen,<br />
darin liegt seiteiniger Zeit<br />
überhaupt ein mentales GrundproblemderlinkenBewegungen<br />
–oder mansolltebesser sagen:<br />
mancherlinkenTheoriegespinsteundapokalyptischenWeltdeutungen.Dennwährenddieeinen<br />
munter die dicken Bretter der<br />
Realitäten bohren, sich organisieren,Spielräumeaustesten,die<br />
Einlösung universaler Rechte<br />
Stück um Stück vorantreiben<br />
(bei der Homo-Ehe), lokale Politik<br />
breiter legitimieren (mit<br />
Volksentscheiden zur Energieversorgung),jammerndieanderen<br />
über die totaleHilflosigkeit:<br />
Die feindlichen Systeme haben<br />
die totaleMachtübernommen,<br />
ja tatsächlich uns einen neuen<br />
Totalitarismus beschert, eine<br />
„Blockwartgesellschaft“ der Unfreiheit<br />
und der Nicht-mehr-<br />
Demokratie, wie sogar der<br />
klugeGeistEnzensbergerdiesen<br />
Sommer schwadronierte, offenbar<br />
in Unkenntnis der Verfolgungs-<br />
und Vernichtungspraxis<br />
der Nationalsozialisten.<br />
Oder der amerikanische Schriftsteller<br />
T.C.Boyle indem eingangs<br />
erwähnten Manifest vor<br />
drei Wochen: „Während wir<br />
schliefen, haben die Maschinen<br />
dieMachtübernommen.“<br />
AberMillionenMenschenhaben<br />
keineswegs geschlafen, sondern<br />
haben sich engagiertund<br />
immer wieder demokratische<br />
Fortschritte erkämpft, ohne die<br />
wir noch in der Welt von1970<br />
stünden.<br />
Raus ausdem falschen Film!<br />
Vertraut auf eure Handlungsmacht!DannkanndieDemokratie<br />
im Jahr 2014 einen großen<br />
Auftritthaben. Vielleichtinder<br />
Ukraine oder in Russland oder<br />
im Iran. Oder bei den Frauenrechten<br />
in Saudi-Arabien. Oder<br />
im Kampf gegen den Moloch<br />
NSAinAmerika. Und nichtzuletzt<br />
aufdem heimischen Spielfeld:<br />
im Jahr der Europawahlen<br />
als mächtiger Druck aufdie Demokratisierung<br />
der Europäischen<br />
Union oder als Ausbau<br />
parlamentarischer Minderheitenrechte<br />
gegen großkoalitionäre<br />
Selbstzufriedenheit oder an<br />
hunderttausend anderen Plätzen,<br />
die ausder ach so hohen<br />
Wartepseudolinker kulturkritischer<br />
Verfallstheorien garnicht<br />
in den Blick gelangen. Warum<br />
sollte das alles ausgerechnet<br />
2014 passieren?So gutwie in jedemanderenJahr.<br />
■ Paul Nolte ist Historiker, Publizist<br />
und Professor amFriedrich-Meinecke-Institut<br />
der Freien Universität<br />
Berlin
taz |DER HELD<br />
wochenende@taz.de | TAZ.AMWOCHENENDEapple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 05<br />
Erwartungen der Shareholder. Wilde<br />
bärtigeMännerundFrauen riefenfrüher:„EnteignetSpringer!“Heutehaben<br />
die Springer-Kollegen statt Budapestern<br />
nurnoch Turnschuhe ausLeinen<br />
an den Füßen. Nichtmal Schnürsenkel<br />
sinddran.IstdasnochNerdoderschon<br />
Franziskus? Über Franziskus geraten<br />
wir hier oben aufdem Dach in Streit.<br />
Die Experten unten behaupten, der<br />
Mann sei ein gewiefter PR-Stratege.<br />
Gut, istjanichtschlimm, gute PR verkauft<br />
sich gut, und was kann daran<br />
falschsein,einkleinesAutozufahren?<br />
AberistFranziskuswirklicheinsoguter<br />
PR-StrategewieDiekmann?MussFranziskus,<br />
wenn er es denn ernstmeint,<br />
nicht umziehen? Sein Gästehaus verlassen<br />
und ins Silicon Valley mitdem<br />
Skateboardfahren,umdortdigitalmesses<br />
zu feiern? Wirstellen uns vor, wie<br />
FranziskushierzuunsaufsDachsteigt<br />
undmitunsdasGastmahlbegeht.Wie<br />
Sokrates würden wir ihn empfangen<br />
undbisindasMorgengrauenmittrunkenem<br />
Kopf über die Fragen vonPR-<br />
Strategie bis Parusieverzögerung diskutieren.<br />
Doch diese beschwingende<br />
Idee wirdjäh zerstört.Denn durch die<br />
schwere Eisentür trittein Experte zu<br />
uns aufs Dach. Mitdem Papstauf dem<br />
taz-Dach rumliegen? Ha! Das hätte er<br />
wohl gern. „Der Mann hatWichtigeres<br />
zu tun“,ermahntunsderExperte.Klar,<br />
die Welt istböse, und daran kann man<br />
mit ein bisschen Rumhängen und<br />
RumspinnenimGrasnichtvieländern.<br />
UndalsoergebenwirunsdemExperten<br />
sowieeinstAgathonundAristophanes<br />
demSokratesundhörenunsan,wasder<br />
DoktorEisenfaustundMisterVolkstribun<br />
VON BERTRAM JOB<br />
Indiesen aufreibenden Wochen<br />
istVitali Klitschkoimmer<br />
beides gewesen, einer<br />
von vielen und gleichzeitig<br />
ein herausragender Akteur.Die<br />
Fernsehkameras hatten wenig<br />
Mühe,ihnmitseinen2,01Meter<br />
einzufangen, wenn sie in Kiew<br />
das Hin und Her am zentralen<br />
Platz der Unabhängigkeit, dem<br />
Maidan,aufzeichneten.Derehemalige<br />
Boxchampion im gefütterten<br />
Parkawar unter den Demonstranten<br />
weder zu übersehen<br />
noch zu überhören.Das Mikrofon<br />
warsein Taktstock, mit<br />
dem er sie bald ermutigen und<br />
baldinihrerRagebremsenwollte.<br />
„Lasst euch nicht provozieren!“,rieferdannbeispielsweise,<br />
„Bleibt besonnen!“ und noch so<br />
allerlei,ohnedabeiselbstgefällig<br />
zuwirken.<br />
Ausgerechnet ein gefürchteterKönigdesK.o.wirdnunnicht<br />
müde,imProtestgegendengerade<br />
eher aufRussland fixierten<br />
Regierungskurs der Ukraine ein<br />
gewaltlosesVorgehenanzumahnen.<br />
Der „ChampionEmeritus“,<br />
sonenntmanTitelträgerdesangesehenenWorldBoxingCouncil<br />
imAusstand,zeigtaufdieseWeise<br />
Führungsqualitäten auf einem<br />
völlig anderen Gebiet. Und<br />
werdarin eine Bewerbung um<br />
höchste politische Ämter sehen<br />
will, liegt vermutlich nicht so<br />
falsch. Vielleichtauch schon für<br />
das kommende Jahr. Klitschko<br />
fordertjaNeuwahlen.<br />
Den Unbezwingbaren mit<br />
dem Kampfnamen „Dr. Eisenfaust“<br />
kann Vitali Klitschko in<br />
seinem 43. Lebensjahr ohnehin<br />
nichtviel länger geben. In der<br />
derzeitigen Situationinseinem<br />
Heimatlandallerdingskönnteer<br />
gebrauchtwerden. Hilft ihm dabei<br />
irgendwie auch seine ErfahrungalsBoxer?<br />
Vorteileausnutzen, wenn der<br />
Augenblickeshergibt:dashater<br />
in mehr als 17 Profijahren im<br />
Ring verinnerlicht. Er versucht,<br />
mitseiner Fraktion „Udar“,also:<br />
Fausthieb, und mit anderen<br />
Oppositionsparteien in die Deckungslücken<br />
hineinzustoßen,<br />
diedieRegierungWiktorJanukowitschszeigt.DieChancefürdie<br />
OppositionliegtimUnmutalljener<br />
Ukrainer, die im AssoziierungsvertragmitderEUeinehistorischeChancesehen,diemarode<br />
Wirtschaft des Landes aufzurichten<br />
und westwärts auszurichten.Unddiedagegenprotestieren,<br />
dass der Vertragauf Eis<br />
gelegt wurde, weil er ihnen eine<br />
Chance bot, die mansich durch<br />
keineLockungoderDrohungaus<br />
Moskauentgehen lassen dürfe.<br />
DarumsagtKlitschkoderÄltere:<br />
„Wirmüssenkämpfenfürunsere<br />
VisionundunserLand.“<br />
Wann immer der Kämpfer in<br />
Kiew deutsche Reporter empfing,<br />
erwies er sich als leidenschaftlicherBotschafterderjungen<br />
Republik. Wieein offizieller<br />
Repräsentant führte er seine<br />
Gäste, an Kirchen und Denkmälernentlang–undentschuldigte<br />
sich jedes Mal, wenn hier ein<br />
Platznichtsauber,dorteinHotel<br />
oder Café zu nachlässig gemanagtwar.Dasergaböftersseltsame<br />
Wortwechsel. Schöne, breite<br />
Boulevards? Könnten gepflegter<br />
sein.EinAbstecherzurKrim?Lieber<br />
erst, wenn da wieder ein<br />
GrandHoteleröffnet.<br />
DawilleinerstolzseinaufseineNationinihrerAufbruchstimmung.<br />
Und Aufbruch ist für<br />
KlitschkoimmereineBewegung<br />
hinzuDemokratieundzumWesten.Ähnlichwieaucherundsein<br />
Bruder Wladimir sich in der<br />
westlichen Welt bewährthaben:<br />
zwei dominante Schwergewichte,dieüberdieJahreChampions,<br />
Publikumsmagneten und Promoter<br />
wurden. Nichtdurch Protektion<br />
vonzweifelhaften Box-<br />
Tycoons wie Don King, sondern<br />
indemsiemitLeistungundsolidem,<br />
mehrsprachigem Auftritt<br />
am Weltmarkt überzeugten. Gut<br />
oder böse, korrupt oder makellos:esgibtimKlitschko-Kosmos<br />
nichtviel Platz für Zwischentöne.<br />
Das machtVitali so populär<br />
KAMPF2014<br />
entscheidetsich,<br />
obdieUkraine<br />
sichdochin<br />
RichtungWesten<br />
orientiert.Vitali<br />
Klitschkowird<br />
einezentrale<br />
Rollespielen.<br />
MitdemWissen<br />
desBoxers<br />
wie auch suspekt: Er hatdas Gespür<br />
für die kurzfristigen Deckungslücken,aberziehterauch<br />
die Schlangengruben im politischen<br />
Alltag ins Kalkül? Seine<br />
Geradlinigkeit, sein Charme<br />
könnten auch zum Handicap<br />
werden.WaszumTeilerklärt,warum<br />
er trotz aller Sympathien<br />
fürihnschonzweimaldarangescheitertist,Bürgermeister<br />
der<br />
Hauptstadtzuwerden.<br />
Du darfst ein, zwei Runden<br />
verlieren,sagtmanbeimBoxen,<br />
nur nicht den ganzen Kampf.<br />
Klitschkoist wieder aufgestanden,<br />
um dann stärker zurückzukommen.<br />
Inzwischen hatererklärt,<br />
für das Amtdes Staatspräsidenten<br />
kandidieren zu wollen,<br />
wieerjüngstmehrfachangedeutethat.DasmachtihnzurJahreswende<br />
zum erklärten Hoffnungsträger–vorallemfürjene,<br />
die sich eine neue, richtungweisende<br />
Politik jenseits etablierter<br />
SeilschaftenimMachtgefügeerhoffen.<br />
„VieleshatsichinderUkraine<br />
in den letzten Jahren getan“,<br />
heißtesinder DoppelautobiografiederKlitschkosmitdemTitel„UnterBrüdern“dazu–„trotzdem<br />
gibt es noch einen riesigen<br />
Berg vonProblemen. Die Demokratieistlängstnichtsoweitvorangeschritten,<br />
wie sich die Bevölkerungdas<br />
wünscht. Und die<br />
Kriminalitätsrateistzwargesunken,<br />
aber nach wie vorerschreckendhoch.“<br />
DieserneunJahrealteBefund<br />
giltmehroderwenigerunverändert,wieKlitschkoMitteDezember<br />
in einem Interviewmit dem<br />
Spiegel betonthat.Das Magazin<br />
machte den unverbrauchten<br />
Quereinsteiger zum Objekt diverser<br />
Projektionen. Endlich sei<br />
da einer,hieß es, der sich nicht<br />
kaufen lasse. Und der nichteinzuschüchternoderzuumgarnen<br />
seivonPutinsRussland,dasdem<br />
klammen Nachbarn kürzlich<br />
durch neue Kredite und gesenkte<br />
Ölpreise fürs Erste den Arsch<br />
gerettethat.<br />
Obdasreicht,umamEndeerfolgreichzu<br />
sein?ImRinghater<br />
in 47 Kämpfen nurzweimal verloren,alserjeweilswegenVerletzungen<br />
ausdem Kampfgenommenwurde.ErselbsthättevorallemimPrestigeduellmitLennox<br />
Lewis 2003 trotz einer klaffenden<br />
Wunde über dem Auge weitergemacht.SolcheEpisodenhaben<br />
den Mythos vom willensstarken<br />
Helden weiter befeuert.<br />
IhrMannkönneeinfachalleserreichen,<br />
wasersich in den Kopf<br />
setze,gabsichseineFrauNatalie<br />
nacheinemWM-Triumphzuversichtlich.<br />
InlangenHosenwirddieSituation<br />
naturgemäß etwas komplexer.GeradehatVitaliKlitschko<br />
nunseinen WM-Titel zurückgegeben.<br />
„Meine Konzentration<br />
giltder Politik in der Ukraine“,<br />
hatervoreinpaarTagenwieder<br />
betont,„ichspüre,dassdieMenschen<br />
mich brauchen.“ So<br />
sprichtderVolkstribunvoneigenenGnaden.<br />
Zwei dominante Schwergewichte, zunächst einmal sportlich: Wladimir und Vitali Klitschko Foto: Volker Roloff/Focus<br />
■ Bertram Job ist Journalist und<br />
Autor zahlreicher Bücher. Eines<br />
seiner Themen: Boxen. Er war<br />
bei jedem WM-Kampf von Vitali<br />
Klitschko live dabei
06 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE | wochenende@taz.de DER TREND | taz<br />
Experte für schlechte Nachrichten zu<br />
prophezeien hat: „Von wegen Franziskusundseindurchihnpersonifizierter<br />
katholischen Freisinn. Es gehtum<br />
Europa.DerMannwirdnochvielzutun<br />
haben. Angespornt durch den Erfolg<br />
beim Referendum wider die Rechtsgleichheit<br />
von Homosexuellen in<br />
Kroatien,sorgendieBischöfegleichfür<br />
die nächste Renaissance antifreiheitlicher<br />
Politik: VonKanzeln predigen sie,<br />
dassAbtreibungendesTeufelssindund<br />
Frauen, die sich für eine solche entscheiden,<br />
ins Gefängnis sollen. Aus<br />
Brüssel wirdeskeine Proteste geben –<br />
schließlich hatneulich die konservative<br />
Regierung in Spanien auch das<br />
Rechtauf Abtreibung erheblich eingeschränkt.Europa–daswirdmitsolchen<br />
Entscheidungen ein politischer Teppich,<br />
der vonreligiösen Maden durchsetzt<br />
istund dringend Reinigung verdient.<br />
Allein, auch in anderen Ländern<br />
wird vieles infragegestellt, waszueinem<br />
Europa des guten Lebens mal<br />
selbstverständlich gezähltwurde. BürgerrechtefürHomosexuelle,Gleichberechtigung<br />
der Frau.Nein, das wollen<br />
vieleinder EU nicht, vorallem die seit<br />
demFalldesEisernenVorhanghinzugekommenen<br />
Länder nicht. In Frankreich,<br />
wo schon vorigen Frühsommer<br />
Massen gegen das Adoptionsrechtvon<br />
LesbenundSchwulenmarschierten,als<br />
ginge es um den Untergang ihres<br />
Abendlandes,wirddaspolitischeEstablishmentschockiertdas<br />
Wahlergebnis<br />
der EU-Wahlen Ende Mai anschauen:<br />
Marine Le Pen–das istdie Marianne<br />
vonLaFranceschlechthin.Einegiftige<br />
KosmosderschwedischenMöglichkeiten<br />
VON ARNO FRANK<br />
WereinenBriefkasten<br />
hat, wirdihn darin<br />
finden.Weltweithat<br />
er eine Auflage von<br />
mehrals175MillionenExemplarenundmindestensebensoviele<br />
Kunden.MitdemErkenntniswillenvonArchäologen,dieSchicht<br />
umSchichteinerantikenKloake<br />
ausheben, blättern FeuilletonistendeshalballeJahrewiedermit<br />
spitzenFingerndurchdiesenKatalog.<br />
Er istwohlnichteinmal<br />
überbewertet,wennmanihnals<br />
ein Kompendium der Möglichkeiten<br />
liestund als universelles<br />
Wohnzimmer betrachtet. Was<br />
Archäologen über die Vergangenheitlernen<br />
wollen, dass wollendieExegetenvoneinem<br />
Möbelhaus<br />
über unsere Zukunft<br />
oder doch wenigstens Gegenwarterfahren.Wersindwir?Wie<br />
werden wir leben? Worauf werdenwirdabeisitzen?<br />
Ein guter Freund, Schauspielerund<br />
Regisseur,schrieb einmalaneinemDrehbuchübereinen<br />
Raubüberfall aufIkea. Dort<br />
wärewohl,soseinKalkül,amEnde<br />
eines langen Tages ausden<br />
Kassen und den Taschen der<br />
Kunden einiges zu holen. Gemeinsam<br />
besichtigten wir den<br />
Schauplatz, das Möbelhaus. Unauffällig<br />
schauten wir uns um,<br />
wiemansichbeiIkeaüberhaupt<br />
immer unauffällig umschaut,<br />
wenn man der vorgegebenen<br />
Routefolgt.NachdemLagermit<br />
seinen Hochregalen, das sich in<br />
einem Showdownwirklich gut<br />
machen würde, standen wir vor<br />
dieser endlosen Kassenreihe,<br />
breiter als die Mautstelleauf einer<br />
französischen Autobahn. Da<br />
dämmerte meinem Freund: Das<br />
gehtnicht,ausdemdramaturgischenZusammenprallvonskandinavischer<br />
Kumpeligkeit und<br />
krimineller Energie würde<br />
nichtswerden.DieKumpeligkeit<br />
wareinfachzugroß.<br />
Offenbar istsie das auch für<br />
manche Kunden. In den USA<br />
drehten2009einpaarLaiendarsteller<br />
die Seifenoper „Ikea<br />
Heights“,dieKulissenimMöbelhaus<br />
einfach als Filmkulissen<br />
nutzend.UndindenneuenHäusern<br />
in Peking oder Schanghai<br />
gehen die Leute sogar noch weiter.Sie<br />
halten in den ausgestelltenBettengernemalihrNickerchen<br />
oder packen auf den Tischen<br />
der Modellküchen das<br />
Abendessen aus. Hier vollzieht<br />
eine Gesellschaft sozusagen den<br />
realeSchritthineinindenvirtuellen<br />
Katalog. In Rom waresder<br />
Haruspex, der in den EingeweidenvonVögelndieZukunftlesen<br />
konnte. Heute wirdvom Kulturwissenschaftlererwartet,dasser<br />
ausdenFarbenundMusternder<br />
Waren im Ikea-Katalog so etwas<br />
wieeinegesamtgesellschaftliche<br />
Befindlichkeitdestilliert.<br />
Dabei istallein der Glaube an<br />
die Möglichkeit eines solchen<br />
Hokuspokus eigentlich schon<br />
die ganze Geschichte. Wieverwirrt<br />
vom weißen Grundrauscheneinerexponentiellsichbeschleunigenden<br />
Hypermoderne<br />
muss mansein, um ausgerechnet<br />
bei ein paar schwedischen<br />
Betriebswirtschaftlern, Markt-<br />
forschernundDesignerndieGa-<br />
WOHNWELTWie<br />
wollenwirsitzen,<br />
schlafen,leben?<br />
DerIkea-Katalog<br />
hatauch2014<br />
fürjeden<br />
idyllisches<br />
Gerümpel<br />
be zu vermuten, hier einen<br />
Durchblickzuhaben,einenAusblickwagenzukönnen?TatsächlichistIkeavorallembillig,allgegenwärtig<br />
und daher so marktbeherrschend,<br />
dass sein Katalog<br />
aus330 Seiten den ganzen KosmosderMöglichkeitenabbildet.<br />
Somit nimmt der Katalog mit<br />
seinem idealisierten Angebot<br />
nur die mögliche Möblierung<br />
unserer Realitätvorweg. WirhabenebenkeineWahl.<br />
Weralsosindwir?Dieabgebildeten<br />
Menschen entstammen<br />
augenscheinlich allen nurdenkbaren<br />
ethnischen Zusammenhängen.Würdensieinihreneinladenden<br />
Interieurs fröhlich<br />
Wo das Private öffentlich wird, bei Ikea in Nanjing/China Foto: Tony Law/Redux/laif<br />
miteinander vögeln, etwa im<br />
Fjall-BettgestellaufeinerHövag-<br />
Federkernmatratze,dannnähertenwirunsauch2014einwenig<br />
mehrderbereits1925vommexikanischenPhilosophenJoséVasconcelos<br />
entworfenen raza cósmica.<br />
Eine gute Nachricht. Und<br />
einerealistischeAussicht,zumal<br />
Ikea ausRücksichtauf wertkonservativeNationenwieRussland<br />
diesmalaufdieverstörendeDarstellung<br />
homosexueller Paare<br />
verzichtethat.<br />
Wiewerdenwirleben?Tja,wer<br />
will das sagen? Was uns die<br />
Schweden2014alsGerümpelanbieten,<br />
unterscheidet sich kaum<br />
vomGerümpelvergangenerJahre.<br />
Nur weil unter den knapp<br />
8.000 Produkten sich auch ein<br />
Nierentischfindet,lässtsichdarausnoch<br />
lange keine Sehnsucht<br />
nachdemBiedermeierderFünfzigerjahreableiten.Auchkönnte<br />
manwohltrefflich über die unterschiedlichenHolzsortenräsonieren,<br />
wüsste mannicht, dass<br />
beim Zusammenschrauben des<br />
Krempels doch wieder nurder<br />
klassisch bröselige TafelpressspanzumVorscheinkommt.Das<br />
Verhältnis zurWeltbestehtdarin,ihrdenRückenzukehren.<br />
Raum und Zeitsind knappe<br />
Güter,weilWohnraumteuerund<br />
ZeitbekanntlichGeldist.Sokonsequentwie<br />
penetrantschraubt<br />
Ikeadeshalbaneinemganzeigenen<br />
Raum-Zeit-Kontinuum. Die<br />
Botschaft lautet, noch dem<br />
„engsten Raum“ sei über ein<br />
„kreatives“ Möbelmanagement<br />
„mehr Zeit“ abzutrotzen. Ikea<br />
kenntnurausgeglicheneSingles<br />
oder glückliche Paare, die Beruf<br />
und Familie dank „cleverer Lösungen“unter<br />
einen Hutbringen.<br />
In dieser Welt sind Bücher<br />
farblich abgestimmtes Accessoire,<br />
in den Tableaus perfekter<br />
Wohnzimmerexistierenschlicht<br />
keine Fernseher,Computer nur<br />
an ausgewiesenen Arbeitsplätzen.<br />
Wienebenbei wirdhier die<br />
nostalgische Sehnsuchtnach einemZuhausebedient,daswenigerdigitalerKnotenpunktistals<br />
vielmehr ein Idylldes sozialen<br />
Zusammenlebens.<br />
Was ein richtiges Idyll sein<br />
will, darfnichtnur nach außen<br />
abgedichtet sein, das muss auch<br />
abstrahleninsElend.GemütlichkeitwirderstmitreinemGewissen<br />
genießbar,und so tutIkea<br />
nichtnur Gutes, Ikea redet auch<br />
darüber.Eine ganzeDoppelseite<br />
zeigt eine triste Wüstenlandschaft,überdieeinKindeinskizzenhaftes<br />
Zeltgemaltzuhaben<br />
scheint. „Ikea-Mitarbeiter“,steht<br />
da,„habendemUNHCRihrWissen<br />
darüber zugänglich gemacht,<br />
wie Zelte für Flüchtlinge<br />
effizienter und effektiver konstruiert,<br />
verpackt und schneller<br />
verschicktwerdenkönnen.“Und<br />
weil Ikea also dem offenbar völlig<br />
hilflosen Hohen Flüchtlingskommissar<br />
der Vereinten Nationensoselbstlossein„Wissenzugänglich<br />
macht“,können Flüchtlingeeinen„sicherenOrtzumLebenbekommen“.<br />
Fehltnurnoch,<br />
dass McDonald’sder WHO sein<br />
Wissen zugänglich macht, und<br />
dem nachhaltigen Weltfrieden<br />
wirdnichts mehr im Wege stehen.<br />
Apropos, vonkeinem Produkt<br />
ist imKatalog so oft die<br />
Rede wie von jener guten Fee<br />
namens Nachhaltigkeit, sie<br />
schwebt über die Seiten 6, 104,<br />
112,164,224,226,238und328.<br />
Eine andere Doppelseite erzähltdanndochnochetwasdarüber,wie<br />
die Strategen vonIkea<br />
sich unsere Zukunft vorstellen:<br />
„Selbstwenn du in der Innenstadt<br />
auf kleinem Raum lebst,<br />
kannstdudirmaleinenPlatzim<br />
Freien einrichten. Nur anden<br />
Parkschein solltestdudenken.“<br />
ZusehenisteinvergnügtesHipsterpärchen,<br />
das aufdem Kopfsteinpflaster<br />
zwischen einem<br />
Volvo und einem Ford seinem<br />
Hampen-Teppichausgerolltund<br />
seine Locksta-Sessel aufgestellt<br />
hat, während zwei mit Älgört-<br />
Meterware ausgeschlagene Ivar-<br />
Seitenteile einen notdürftigen<br />
Sicht- und Spritzschutzdarstellen.KeinWunder,dassdieaufgeschlossene<br />
Nachbarschaft dergleichen<br />
dufte findet. Gentrifizierung,woistdeinStachel?Klag<br />
unsraus,undwirwerdenaufder<br />
Straße „kreativ“ sein. Wenn uns<br />
dasGeldfürdenParkscheinausgeht,<br />
werden wir es uns unter<br />
denBrückengemütlichmachen.<br />
AuchdafürwirdIkeasichgewiss<br />
eine praktische „Lösung“ einfallenlassen.<br />
■ Arno Frank ist Hessenkorrespondent<br />
der taz und lebt schon
taz |DIE UTOPIE<br />
wochenende@taz.de | TAZ.AMWOCHENENDEapple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 07<br />
GöttinwiderdierepublikanischeIdee.<br />
Sieist,wierechtspopulistischeKräftein<br />
anderenLändern,nurdieStärksteunter<br />
allen.SieallehabennurdasZiel,Europa<br />
alssäkularen,alsmultikulturellenund<br />
freiheitlichen Raum zugunsten einer<br />
losenSammlungchristlicherNationalstaaten<br />
abzulösen. Seltsam istjajetzt<br />
schon,dasssich,allenAversionenzum<br />
Trotz, die religiösen Kräfte in diesem<br />
EuropaeinigsindinihrenKämpfenwider<br />
die –wie sie es verstehen – Gottlosigkeit.EssindOrthodoxe,Katholiken,<br />
Protestanten mancherorts, aber auch<br />
JudenundMuslime.Dieheterosexuelle<br />
Familie mit einer ammengleichen<br />
MutterundeinemVateralsOberhaupt,<br />
das wollen sie. Sitte und Ordnung, das<br />
wollensie.KeinBabylonderLebensstile,das<br />
sich aufdas demokratische Miteinander<br />
verständigt. Sie heißen nicht<br />
allein Le Pen, sondern auch Orban,<br />
Kaczynski oder Putin. Man muss sie<br />
wohl verstehen: Ihre Sorge istnur die<br />
Eurokrise, der Verlustder HerrschaftspositionaufderErde,dieBeibehaltung<br />
des kolonialen Anspruchs wider die<br />
Auflösung alter Ordnungen. Wenn<br />
schon Ordnung, sagen sie, dann eine,<br />
die sich wie Gott und Vaterland defi-<br />
niert.UnddieTürkei?Diewirdsichwei-<br />
ter einigen und vonder EU abgrenzen.<br />
DergriechischeNachbar,dersichnoch<br />
in den Siebzigern hochmütig vonden<br />
NeureichenamBosporusabgrenzte,ist<br />
nunabgehängt –ein Armenhaus, das<br />
nurdeshalbnichtaufdieBeinekommt,<br />
weilesnichtsandereskenntalsdieAlimentationdurchBrüssel(unddenVerzichtaufReparationsforderungennach<br />
Grenzzaun zwischen Marokko und der spanischen Enklave Melilla. Das ging auch einmal anders Foto: Juan Medina/reuters<br />
MediterraneLehren<br />
UFERDas<br />
Mittelmeerzeigt,<br />
wieUnterschiede<br />
unsvoranbringen<br />
undunsGrenzen<br />
überwinden<br />
lassen.Wir<br />
müssennur<br />
seineschillernde<br />
Geschichte<br />
betrachten<br />
VON DAVID ABULAFIA<br />
Das Mittelmeer istderzeit<br />
zerrissen, zerstückelt<br />
und zerbrochen. Dabei<br />
wardas Wesen des Mittelmeers<br />
in den vergangenen<br />
Jahrhunderten,jaJahrtausenden<br />
die meiste Zeitein anderes, ein<br />
integratives. Nurinden, historischbetrachtet,seltenenPhasen<br />
des Ausschlusses, bedingt durch<br />
politische und ökonomische<br />
Spannungen,verloresseinenintegrativenCharakter.<br />
Aufder Suche nach einer Lösung<br />
ihrer ökonomischen ProblemeschauendieLänderanden<br />
nördlichen Küsten des Mittelmeers<br />
heute auf Brüssel oder<br />
Berlin. Sie kehren ihrem Meer<br />
den Rücken zu und damitihrer<br />
Berufung, die mindestens so<br />
sehr im Mittelmeer liegt wie in<br />
Europa. Es istalso Zeit, diesem<br />
Meer seine historische Rollezurückzugeben:<br />
als Ort imZentrum<br />
der globalen Ökonomie,<br />
PolitikundKultur.<br />
DasMittelmeerhatteinseiner<br />
ganzen Geschichte immer ein<br />
großes ökonomisches Potenzial.<br />
In den integrativen Zeiten war<br />
und istdie Summe seiner Teile<br />
beeindruckend. So erreichten<br />
dieantikenRömeretwas,dasweder<br />
vorher noch nachher jemals<br />
gelang: die politische Kontrolle<br />
über das gesamte Mittelmeer.<br />
Zwischen den Küsten herrschte<br />
reger Verkehr,was dazuführte,<br />
dass sich ethnische, religiöse<br />
und sozialeGrenzen auflösten,<br />
vor allem in Alexandria oder<br />
Rom. Auch in späteren Jahrhunderten<br />
waren die Städte an den<br />
RänderndesMittelmeersOrte,in<br />
denen Menschen verschiedener<br />
ethnischerundreligiöserIdentitäten<br />
zusammenlebten –Juden,<br />
ChristenundMuslime.<br />
Im 19. Jahrhundertschuf die<br />
Kolonisierung der südlichen<br />
Küsten durch die Europäer ein<br />
sehrenges,abersehrunsymmetrisches<br />
Verhältnis zwischen<br />
dem Norden und dem Süden.<br />
Doch mit der Dekolonisierung<br />
wurden die Probleme nichtgelöst,mit<br />
denen sich die daraus<br />
entstandenen neuen Länder<br />
konfrontiertsahen. Das Mittelmeer<br />
warvon nunaninnördliche<br />
und südliche Zonen geteilt,<br />
dieweitgehendgetrenntvoneinander<br />
agierten. Keinesfalls sollenmitdieserFeststellungdieTaten<br />
der Kolonisatoren verteidigt<br />
werden,diebesondersinAlgerienäußerstbrutalundkontraproduktivwaren.EinrabiaterNationalismushattebereitsimfrühen<br />
20. Jahrhundertmit der ZerstörungdesMittelmeersbegonnen.<br />
JeneOrte,dieeinstfürdieBegegnungderKulturen,Religionund<br />
Menschen gefeiertwurden, degradierten<br />
zu monochromen<br />
Städten, die ausschließlich von<br />
der Mehrheitsbevölkerung des<br />
Hinterlandes bewohntwurden.<br />
MitdemBevölkerungsaustausch<br />
der 1920er Jahre zwischen Griechen,TürkenundArmeniernbegannen<br />
ethnische Gruppen ihre<br />
Reviereabzustecken,umdieherum<br />
Menschen und religiöse<br />
Gruppen rangiert wurden. Ein<br />
Prozess, der anhält. Heute beobachtenwirihninSyrienalsAuswanderungvonChristen.<br />
Der Kampf umStabilität,<br />
Wohlstand und Demokratie im<br />
islamischen Mittelmeer wird<br />
langwierig sein. Aber Algerien,<br />
Tunesien und Libyen besitzen<br />
ausreichend Ressourcen, um ihreStädteunddasLebenihrerBewohner<br />
so transformieren zu<br />
können,wieesauchdieGolfstaatengetanhaben.Unmöglich,den<br />
Ausgang des Arabischen Frühlings<br />
vorherzusagen. Hoffen<br />
kannmannur,dasseinebessere<br />
Zukunft am Mittelmeer ohne<br />
den massenhaften Bau von<br />
Shopping-MallswieindenGolfstaatenbewerkstelligtwird.<br />
Instabil aber sind nichtnur<br />
die südlichen Mittelmeeranrainer.WeilimmermehrFlüchtlinge<br />
vorVerfolgung oder ausökonomischer<br />
Notfliehen und an<br />
den Küsten Italiens, Spaniens<br />
und anderer EU-Länder stranden,<br />
wirkt sich diese Instabilität<br />
auchaufdienördlichenAnrainer<br />
aus.AuflangeSichtkannEuropa<br />
also garnichtanders, als wieder<br />
jene gemischten Gesellschaften<br />
desaltenMittelmeerszufördern<br />
undzuzulassen,aufdiemanhistorischsostolzseinkann.Städte<br />
wieBarcelonaundMarseillelernen<br />
längst, wie eine urbane Gemeinschaft<br />
Menschen mitverschiedensten<br />
Hintergründen integriertundorganisiert.<br />
Bedauerlich ist, dass Angst<br />
und Vorurteilediesem neuerlichen<br />
Prozess der kulturellen IntegrationimWege<br />
stehen. Diese<br />
Vorurteilefinden sich unter einerMinderheitderEuropäer,die<br />
die Vielfaltfürchtet, und unter<br />
der Minderheitder Migranten,<br />
die sich im religiösen Fundamentalismus<br />
einmauern. Eine<br />
Utopie des Mittelmeers besteht<br />
aberdarin,dieDifferenzalsWert<br />
zuschätzen,vonihrzulernen.<br />
In all der Differenz gibt es<br />
dringende Fragen, die vonallen<br />
mediterranenNationengemeinsam<br />
gestelltwerden, insbesondere<br />
wasMigrationund die FörderungdesHandelszwischenEU<br />
undNicht-EU-Ländernbetrifft.<br />
Wahrist,dassesVersuchegab,<br />
dieLänderdesMittelmeersineinem<br />
losen Staatenbund zusammenzubinden.<br />
Ungeachtet der<br />
politischenDifferenzensollenin<br />
der „Mittelmeerunion“gemeinsameProblemeangegangenwerden.<br />
Diese Idee vonder „Mittelmeerunion“ist<br />
allerdings in ihremjetzigenZustandtatsächlich<br />
mehr eine Idee, mehr eine<br />
Wunschvorstellung als ein ausgearbeitetes<br />
Konzept, das so<br />
praktizierbarwäre.<br />
Ein weiteres Elementineiner<br />
UtopievomMittelmeerwäretatsächlich<br />
ein runder Tisch, an<br />
demIsrael,diePalästinenserund<br />
die arabischen Staaten sitzen<br />
und ihre gemeinsamen Probleme<br />
ernsthaft und konstruktiv<br />
diskutieren. Die Grundlage aber<br />
füreinesolcheUtopieistdasVertrauen<br />
–obzwischen Israel und<br />
den Palästinensern oder zwischen<br />
Türken und Griechen auf<br />
Zypern. In einem utopischen<br />
Mittelmeer würden sich diese<br />
Spannungen auflösen, auch<br />
wenn es alles andere als leicht<br />
fällt, bei diesem Gedanken optimistischzusein.<br />
Um die Utopie lebbar zu machen,<br />
gibt es noch eine Bedingung:denSchutzdermaritimen<br />
Umwelt.<br />
Wenn das Mittelmeer weiter<br />
als grenzenlose Lebensmittel-<br />
Ressource und gleichzeitig als<br />
riesengroße Müllhalde behandeltwird,gehtesverloren.Schon<br />
jetzterlebteseinenkatastrophalenWandel<br />
durch Überfischung,<br />
demEinleitenvonAbwasserund<br />
den riesigen Mengen an Plastik,<br />
andenendasMeerunddieTiere<br />
ersticken. Die Nahrungskette<br />
wurdeunterbrochenundwirsehen<br />
das Ergebnis in den kleinen<br />
Mengen Fisch, die das Mittelmeernurnochhergibt.Alsgrößtenteils<br />
geschlossener Raum ist<br />
dieses Meer vondem globalen<br />
Missbrauch der Meere am heftigsten<br />
betroffen. Will mandie<br />
UtopievomMittelmeererhalten,<br />
wirdmandieBedürfnissekünftiger<br />
Generationen achten und<br />
dem Meer und seinen EinwohnernZeitgebenmüssen,sichvon<br />
demSchadenzuerholen,denwir<br />
ihnenangetanhaben.<br />
Die Zukunft des Mittelmeers<br />
liegtalsoindenHändenderLeute,<br />
die an seinen Küsten und auf<br />
seinenInselnleben,aberauchin<br />
denHändenunseraller,diesich<br />
um die Zerstörung des Mittelmeers<br />
Sorgen machen. Und es<br />
gibtnureinenWeg,dieseZerstörung<br />
aufzuhalten: die verlorene<br />
Utopie des Mittelmeers wiederherzustellen.<br />
Das bedeutet, dem<br />
Mediterranenwiederseinenhistorischen<br />
Platz zurückzugeben,<br />
alsTreffpunktvonKulturenund<br />
Menschen, als Zentrum der GeschichtederMenschheit.<br />
AusdemEnglischenübersetzt<br />
vonDorisAkrap<br />
■ David Abulafia ist Professor für<br />
Geschichte in Cambridge, England.<br />
Sein aktuelles Buch bei S. Fischer:<br />
„Das Mittelmeer. Eine Biografie“<br />
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08SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE | wochenende@taz.de<br />
DIE REPORTAGE | taz<br />
dem Zweiten Weltkrieg an die Adresse<br />
derBundesrepublik).DieTürkeistrotzt<br />
vor –ökonomisch wohl fundiert –<br />
Selbstbewusstsein. Da wirdselbstdie<br />
Aufstandskultur,diederHaderumden<br />
Geziparkbegründete,gefeiert.Manzerbröselt<br />
politische Opposition, indem<br />
mansie integriert. Im 100. Jahr nach<br />
demErstenWeltkriegwirdEuropazueinemKontinent,dervergisst,sichseiner<br />
habsburgischen Wurzeln zu vergewissern.Habsburg,daswareineguteMonarchie,<br />
die Vielfaltaushalten konnte.<br />
DieEUkönntedieseTraditionbeerben<br />
–wenn sie denn wollte und vonKleinlichkeiten<br />
absähe. Wird am 25. Mai,<br />
abends bei Auszählung der Stimmen<br />
zurEU-Wahl,nochirgendjemandparat<br />
haben, dass Brüssel eine tolle HauptstadtvonEuropaist–undjederSkepti-<br />
zismus den Nationalisten in allen Ländern<br />
in die Hände spielt?“ Also sprach<br />
derExperteundverlässtdasDachwiederdurchdieschwereEisentürundhinterlässtuns<br />
ratlos aufdem Rasen mit<br />
Rilke.Wastunwirdennnun?ErstmaleinenSchluckPfannebeckerundeineZigarette,gefülltmit<br />
individuellgewähltemInhalt.Unddann:essen!Manmuss<br />
sich stärken. Doch kaum ans Essen gedacht,<br />
betrittder nächste Experte das<br />
Dach. Man kann auch hier eben nicht<br />
mal inRuhe nachdenken. Und also<br />
müssenwir,stattdieAnkunfteinesüppigenFestmahlszufeiern,das,aufgroßenSilberplattenserviert,unsereSinne<br />
betäubt, erstmal wieder zuhören. Dieses<br />
Mal dem Fachmann fürs Kulinarische,<br />
der zu wissen meint, waswir im<br />
nächsten Jahr zu essen haben werden:<br />
„WerhatnichtschonmalaufeineSpeisekartegeschautundhätteamliebsten<br />
den Kinderteller genommen. Fand es<br />
dann aber doch irgendwie unpassend.<br />
Damit ist es spätestens 2014 vorbei.<br />
SchonjetztmachensichKleingerichte<br />
indenRestaurantsbreit.Undesgibtda<br />
einen kleinen Unterschied zu den Vorspeisen<br />
oder kleinen Appetitmachern,<br />
die manals ‚Gruß ausder Küche‘ serviertbekommt.<br />
Die Teller sollen satt<br />
machen.MalnennenWirtees‚deutsche<br />
Tapas‘oder‚TirolerAntipasti‘odereinfach‚kleineSchweinereien‘.DerTrend<br />
istsofrisch,dassnochkeineeindeutige<br />
kulinarische Genrebezeichnung existiert.<br />
Tapas sind aber sicher die beste<br />
Entsprechung. Tapa meint Deckel und<br />
hatsich aufder Iberischen Halbinsel<br />
ausdemBrauchentwickelt,eineScheibe<br />
Brot aufdas Weinglas zu legen, um<br />
Fruchtfliegen abzuhalten, vor allem<br />
wenn im Glas süßer und duftender<br />
Sherryschwamm.Ursprünglichwares<br />
eineZwischenmahlzeitodereinkleiner<br />
Imbiss,dennaufderIberischenHalbinsel<br />
wirderstkurz vorMitternachtzu<br />
Abendgegessen,undbisdahinhatman<br />
viel Zeit, in den Bodegas den ein oder<br />
anderen Aperitif zu trinken. InzwischenhatsichausdenTapaseineganz<br />
eigeneArtdesEssensentwickelt.Kleine<br />
Fleischbällchen,frittierteSardinen,gebratenePaprika–dieMinigerichtesind<br />
salzigesNaschwerk.DieKöche,diesich<br />
vom spanischen Vorbild inspirieren<br />
lassen, wollen gern mehr von ihren<br />
Künsten zeigen, zu fairen Preisen.<br />
Großflächige Schnitzel oder breitaufgefächerteBratenverbindenohnehin<br />
RECHTEDieFranzösinMarineLePenundderNiederländerGeertWildersziehengemeinsamindenEU-Wahlkampf.<br />
ImHinterlandvonNizzaundindenDörfernamMarkermeerliegenihreHochburgen.Werwähltdiebeiden?<br />
DasblondierteEuropa<br />
AUS LA TRINITÉ UND VOLENDAM<br />
ANNIKA JOERES<br />
UND TOBIAS MÜLLER<br />
Kerim ist zwölf Jahre alt<br />
underwillgleicheinmal<br />
klarstellen, dass er ein<br />
„echter Franzose“ ist.<br />
„Wirklich.“ Kerimträgt goldene<br />
Turnschuhe,ermachtgeradeein<br />
Praktikum in einem SportgeschäftinLaTrinité,einemVorort<br />
vonNizza. Sein Großvater kam<br />
einmalausTunesienindieStadt<br />
amMittelmeer.<br />
Natürlich kennt Kerim den<br />
FrontNational(FN). „Jaklar,das<br />
sind doch die mitder blonden<br />
Frau.“ Er greift noch einmal in<br />
dieChips,essinddiemitKäsegeschmack,<br />
seine Lieblingssorte,<br />
und bald istseine Mittagspause<br />
umunddieTüteleer.<br />
In Frankreich istesmanchen<br />
wiederwichtig,als„echter“Franzose<br />
zu gelten. Denn die blonde<br />
FrauanderSpitzedesrechtsradikalenFront<br />
National, Marine Le<br />
Pen, ist ständig im Radio und<br />
Fernsehen zu hören und in den<br />
Zeitungen zu lesen. Das haben<br />
auch schon Kerims Klassenkameradenmitbekommen.ImEuropawahljahr<br />
2014 könnte es ihnenundanderennochwichtiger<br />
erscheinen,zu denwirklichechtenFranzosenzuzählen.<br />
Esdürftedannnochmehrvon<br />
MarineLePenzuhörensein.Sie<br />
beschwört den Unterschied zwischen<br />
denen, die schon seitGenerationen<br />
in Frankreich leben<br />
und daher zur„grande nation“<br />
gehören, und denjenigen, die<br />
„nurdesGeldeswegenkommen<br />
undunserLandschwächen.“<br />
SiestehtgutdaindenUmfragen,<br />
genauso wie der NiederländerGeertWildersmitseinerPartijvoor<br />
de Vrijheid. Die beiden<br />
haben im Herbstangekündigt,<br />
eine gemeinsame Fraktion im<br />
Europaparlament zugründen.<br />
Im Bündnis gäbe es mehr Geld<br />
für Mitarbeiter, Dolmetscher<br />
undPRundlängereRedezeiten.<br />
AuchBrüsselkönntedanndie<br />
neue Machtder Rechten zu spürenbekommen.DieMachtallder<br />
Abgeordneten,diedieEU-Gesetze<br />
prinzipiell ablehnen. Schon<br />
jetzt sind es mehr als hundert.<br />
GewinnenimMaiauchnochdie<br />
flämische Abspaltungspartei<br />
Vlaams Belang, die rechtspopulistischen<br />
Schwedendemokraten,<br />
die italienische LegaNord<br />
und die FPÖ in Österreich dazu,<br />
sitzt mitten im Parlament ein<br />
breiterAnti-Europa-Block.<br />
LePenundWilderswollendie<br />
Gesichter dieses Blockswerden.<br />
Im November haben sie sich bereitsinDenHaagfürdasAuftaktbildgetroffen.DieWählerfinden<br />
sie bisher an den Rändern der<br />
Städte.Immermehr.Ingesichtslosen<br />
Orten wie Kerims Viertel<br />
La Trinité. Oder im niederländischen<br />
Volendam, wo Henk<br />
und Ingrid wohnen könnten,<br />
das Musterpärchen, von dem<br />
Wilders in seinen Reden erzählt.<br />
In La Trinité ragen die Häuser<br />
hoch in den Himmel. KinderfahrräderhängenüberdieBalustraden<br />
der Balkons. Im Zentrum<br />
steht eine Shopping Mall mit<br />
1.100 Parkplätzen. Es sind zwar<br />
keinezehnKilometerbisanden<br />
StrandvonNizzamitseinerpalmengesäumtenPromenadeund<br />
den Jugendstilvillen dahinter.<br />
AberfürdieMenschenimVorort<br />
istdieDistanzgrößer.Siesindärmer<br />
und die Mieten hoch, wie<br />
überallanderCôted’Azur.Eine3-<br />
Zimmer-Wohnung wie vonKerim<br />
und seiner Familie kostet<br />
mindestens 900 Eurokalt. „Ist<br />
aber auch schön hier“,sagtKerim.<br />
Aufdem Pausenhof rufen<br />
ihm manche hinterher,ersolle<br />
nachHausegehen.„DassindIdioten“,<br />
sagter.„Ichbinhiergeboren.“SeinFreundMehdinickt.<br />
10.000Menschen,8,2Prozent<br />
Arbeitslosenquote, weniger als<br />
im französischen Durchschnitt.<br />
FüreineneueFrisurzahlenFrauenetwa35Euro,indenBäckereien<br />
liegen Weihnachtsmänner<br />
mitZuckerguss. La Trinité isteiner<br />
dieser durchschnittlichen<br />
Orte, in denen die Rechtsextremen<br />
nach neuesten Umfragen<br />
die Europawahlen im kommendenMaigewinnenkönnten.<br />
FrüherhatdasHinterlandder<br />
reichen Côte d’Azur links gewählt,<br />
oft die Kommunisten.<br />
Auch in Fréderique Duponts Familie<br />
wardas so.Sie ist43Jahre<br />
altund arbeitet in Nizza als Geburtshelferin.<br />
„Den Armen wird<br />
immer mehr gegeben, den Reichennichtsgenommen.Undich<br />
als einfache Angestellte, ich<br />
mussfüralleszahlen“, sagtsie.<br />
MarineLePenkommtvor<br />
allembeiFrauengutan<br />
Eigentlich kommt Dupont gut<br />
zurecht.DieFraumitdenkurzen<br />
Haarenunddemschnurgeraden<br />
Pony trägt neue Winterstiefel<br />
undeinenMantelmit70Prozent<br />
Kaschmir-Anteil.Aberdieteuren<br />
Weihnachtsgeschenke,ihrehohe<br />
Miete in La Trinité: Sie sitzt vor<br />
ihrem bis an den Rand mit<br />
Lebensmitteln und Weihnachtsschmuck<br />
gefüllten EinkaufswagenundredetüberGeldundwie<br />
teuerallesist.<br />
Und sie überlegt, den Front<br />
Nationalzuwählen.„LePenwird<br />
sichumunsArbeiterkümmern“,<br />
sagtsie.<br />
MarineLePennutztdiediffusenAbstiegsängstegezielt.Inihrem<br />
Online-Werbespot sind palmengesäumtekorsischeStrände<br />
zu sehen, Sonnenblumenfelder<br />
in der Provence. „Frankreich ist<br />
schön. Lasst esuns schützen“,<br />
heißtesamEndedesClips.<br />
Marine Le Penkommtvor allembeiFrauenan.Besseralsihr<br />
Vater,Parteigründer Jean-Marie<br />
LePen,derKriegsveteran,dessen<br />
Stimme häufig vor Wut bebte.<br />
„Diebringtmalwas Neues“,sagt<br />
Dupont.<br />
BeiderEuropawahlenhofftLe<br />
Penaufalle,dieschoneinmalgegen<br />
Europa gestimmthaben. 55<br />
Prozentwarenes,die2005beim<br />
Referendum Nein zureuropäischen<br />
Verfassung sagten. Es war<br />
eineFrage,dieFrankreichmonatelang<br />
beschäftigte. Die Franzosen<br />
diskutierten in Hörsälen, in<br />
Talkshows, inder Metro –so<br />
ernsthaft, wie sie es vielleicht<br />
sonstnur bei ethischen Fragen<br />
wiederkünstlichenBefruchtung<br />
tun. In Brüssel wurdenach dem<br />
„Nein“dieVerfassungaufEisgelegt.<br />
Franzosen waren noch nie so<br />
überzeugt von Europa wie die<br />
Deutschen.Beidenvergangenen<br />
Europawahlen gingen nur vier<br />
vonzehnFranzosenwählen.Und<br />
heute sehen sich vieleals Opfer<br />
der Eurokrise. Die Arbeitslosigkeit<br />
isthoch, und ein Werk nach<br />
dem nächsten schließt. Daran<br />
hatauchPräsidentFrançoisHollandenichtsändernkönnen.Der<br />
Sozialist spart, wie Brüssel es<br />
möchte,denkenviele–undumarmtAngela<br />
Merkel. Frankreich<br />
erscheintden Franzosen machtlos–eineperfekteStimmungfür<br />
denFrontNational.<br />
Le Penwill sich in Brüssel dafür<br />
einsetzen, die alte Währung,<br />
den Franc, wiedereinzuführen,<br />
sie will Nein sagen zu den „EU-<br />
Technokraten“undzur„ungezügelten<br />
Migration.“ Ein Minister<br />
fürdie„Landeshoheit“solldafür<br />
sorgen, dass Brüssel ZuständigkeitenwiederandasPariserParlamentzurückgibt,etwadieSubventionen<br />
für französische Bauern.ImGrundewillderFrontNational<br />
zurück in die Normalität<br />
der50erJahre.<br />
Hunderte Kilometer weiter<br />
nördlich setzt GeertWilders auf<br />
dieNormalitätvonHenkundIngrid.<br />
Deswegen mag ihn das<br />
StädtchenVolendam.<br />
Volendam liegt am Markermeer<br />
im Norden, 20.000 Menschen,frühermeistFischer,heuteHandwerker.Morgensschwirren<br />
ihre Kleinbusse zu Baustellenimganzen<br />
Land aus, abends<br />
verstopfen sie die Autobahn<br />
nördlich vonAmsterdam. Man<br />
rackertsich ab für Haus, Kinder<br />
undFamilie.Wo,wennnichthier,<br />
sollenHenkundIngridwohnen,<br />
das fiktive Musterpaar „hartarbeitenderNiederländer“,dieWilders’<br />
Partij voor de Vrijheid so<br />
gernadressiert?HenkundIngrid<br />
sind weiß, untere Mittelschicht<br />
und,sohatWildersdaseinstformuliert,<br />
„bekommen nichts geschenkt“.<br />
Theo Koning könnte Henk<br />
sein. Mitseinen beiden Hunden<br />
läuft er an einem eiskalten DezembervormittagamDeich<br />
entlang.Koningist57undFrührentner,und<br />
mehr Volendam passt<br />
nichtineineBiografie:AlsTeenager<br />
heuerte er aufeinem Boot<br />
an.Später,alsesmitderFischerei<br />
bergab ging, machte er sich als<br />
Gipser selbstständig. Bald beschäftigteervierHandwerkerkolonnen,<br />
die quer durch die Niederlande<br />
kreuzten, nach<br />
DeutschlandundBelgien,oftsiebenTagedieWoche.TheoKoning<br />
ist kräftig, hat volles dunkles<br />
Haar und ein kerniges Gesicht.<br />
Die Plackerei hatihn geschafft.<br />
„Allesverschlissen.“<br />
SeinSohn,derdenBetriebinzwischenführt,habejetztdieBilligkonkurrenzausdemOstenim<br />
Nacken.„ErgipsteinenQuadratmeterfür3,40Euro.EinPoleoder<br />
Rumänemachtdasfür2,25.Und<br />
diebezahlenkeineSteuern,während<br />
bei uns die Hälfte abgeht.“<br />
SoeinfachdieRechnung,soklar<br />
das Fazit: „Der Pole hatmehr.“<br />
Unterm Strich bleibt: eine StimmefürWilders.Derwarntschon<br />
lange, dass Niederländer ihre<br />
Jobs an Osteuropäer verlieren.<br />
Und die Regierung nichts dagegen<br />
tut. Bei den Europawahlen<br />
2009 erzielte die Partij voor de<br />
Vrijheid in Volendam das beste<br />
Ergebnis im ganzen Land: 49,9<br />
Prozent.<br />
AlldieEU-Gesetze,„was<br />
einBullshit“,sagteiner<br />
........................................................................................................................................................................................................<br />
........................................................................................................................................................................................................<br />
Die Wahl 2014<br />
■ Er:GeertWilders,50, istderVorsitzende<br />
der niederländischen<br />
Partij voor de Vrijheid, PVV. Sie<br />
entstand aus der Groep Wilders,<br />
seiner Einmannfraktion. Zuvor<br />
hatte er im Streit die liberale Partei<br />
VVD verlassen, die heute<br />
regiert. Er wurde zuminoffiziellen<br />
Nachfolger des ermordeten<br />
Rechtspopulisten Pim Fortuyn. Im<br />
AuslandvorallemalsIslamgegner<br />
wahrgenommen, hatte Wilders<br />
nie nur ein Thema.<br />
■ Sie: Marine Le Pen, 45,ist die<br />
Vorsitzende des französischen<br />
FrontNational, FN, und Mitglied<br />
des Europäischen Parlaments.Mit<br />
15 Jahren begleitete sie ihren Vater<br />
Jean-Marie Le Pen, den FN-<br />
Gründer,zum ersten Mal in einem<br />
Wahlkampf.2003machte der sie<br />
ohne Abstimmung zurVizevorsitzenden.2011beerbtesieihndann.<br />
Bei der Präsidentschaftswahl<br />
2012 stimmten 17,9 Prozentder<br />
Franzosenfür Marine Le Pen.<br />
■ Es: Am 25. Mai 2014 wirdein<br />
neues EU-Parlamentgewählt. Als<br />
Spitzenkandidat der europäischen<br />
Sozialdemokraten soll MartinSchulzantreten.FürdieKonservativen<br />
erwägt der ehemalige luxemburgische<br />
Premier Jean-<br />
Claude Juncker eine Kandidatur.<br />
Die Hürde zumEinzugliegt nur bei<br />
3Prozent,weshalb sich auch die<br />
Alternativefür Deutschland, AfD,<br />
Chancen ausrechnet.<br />
WildersundLePen,siegehenda<br />
hin, wo etwas im Umbruch ist,<br />
wo sie Unsicherheit wahrnehmen.Dahin,wo<br />
dieArbeiterparteieneinmalgroßwaren.Siebenennen<br />
Ursachen für die Unsicherheit:dieFremden,dieRegierungen,Europa.<br />
Dass die PVV den EU-Wahlkampf<br />
zum Anti-Europa-Wahlkampfmacht,<br />
gefälltTheo Koning.„DukannstdochnichteinfachdieGrenzenöffnen“,<br />
sagter,<br />
währendseinHundanderLeine<br />
zieht. „Und all diese europäischen<br />
Gesetze, wasfür ein Bullshit.“<br />
Natürlich wirderimMai<br />
wieder PVV wählen. 72 Prozent<br />
derPVV-Wählerfindenlauteiner<br />
Umfrageauch die Kooperation<br />
mitLePengut.Europazurückzudrängen<br />
sei wichtiger,als in jedemPunktübereinzustimmen.<br />
Wovonmanwenighörtindiesem<br />
Bullerbüder Selbstgenügsamkeit,istdieSachemitdemIslam.EsgibthierauchkaumMigranten.<br />
Im Ausland sieht man<br />
GeertWildersvorallemalsAntiislamisten.<br />
In den Niederlanden<br />
bestimmen andere Aspekte den<br />
rechtspopulistischenDiskurs.<br />
„Mehr Blauauf den Straßen“<br />
für die Sicherheit, „mehr Hände<br />
am Bett“ für den Pflegebereich,<br />
das fordertdie PVV schon seit<br />
2006, als sie erstmals zu den<br />
Wahlenantrat.Undalsesdarum<br />
ging, den EU-Vertrag abzulehnen,warWilderseinerderHauptagitatoren.<br />
Es sei nicht der Rassismus,<br />
sagtJanSnoek,dereineFischbude<br />
aufder Volendamer Uferpromenadebesitzt,essei„wegender<br />
Arbeit“. Die Entwicklungshilfe<br />
streichen und das Geld in die<br />
Pflege „unserer Alten“stecken,<br />
solche Ideen findet der Fischhändler<br />
gut. Wilders zu wählen,<br />
darüberdenkternach.<br />
„Die wollen es doch nichtanders“,sagtSnoek<br />
und zuckt mit<br />
denSchultern.DasistdieEssenz<br />
des niederländischen Rechtspopulismus.<br />
Ein anklagender Zeigefinger,der<br />
aufalleweist, die<br />
sich vermeintlich entfernt ha-<br />
ben vomVolk. Vondenen, die<br />
GeertWilders später Henk und<br />
Ingridtaufte.DaspolitischeEstablishment.DiekulturelleElite.<br />
Die Bühnen, die Wilders und<br />
LePeninzwischenbetreten,werdenimmergrößer.Auchmedial.<br />
An einem MontagimDezember<br />
istdie erst23Jahre alte Cousine<br />
von Marine, die Abgeordnete<br />
Marion Maréchal Le Pen, im<br />
Frühstücksfernsehen zu Gast,<br />
amselbenAbendwirdMarineLe<br />
Penineiner populären Radiosendung<br />
interviewt, und um 22<br />
UhrtrittihrVizeineinerPolitiksendungauf.Neuerdingsmeldet<br />
sichallepaarTageeinProminenter<br />
zu Wort,der den FN unterstützt,<br />
zuletzt der Schauspieler<br />
AlainDelon.<br />
„Der FrontNationalist heute<br />
doch ganz normal“, sagt Yves in<br />
seinem Garten, 35 Kilometer<br />
nördlich vonNizza. Er wirdihn<br />
imMaiwählen,möchteaberseinen<br />
Nachnamen nicht sagen.<br />
„Muss ja nichtjeder wissen.“ 51<br />
istder Mann mitdem Lederhut,<br />
in Duranus isteraufgewachsen.<br />
Er liebt sein Dorf und seinen<br />
1.000 Quadratmeter großen<br />
Garten, in dem er stundenlang<br />
die Beete hackt, dicke Bohnen<br />
aussätund den Kompostmit einerdickenHeugabelumgräbt.<br />
Die Rechtsextremen haben<br />
inzwischen auch zufriedenen<br />
Menschen wie Yves einreden<br />
können, es ginge ihnen bald<br />
schlechter.IndenhübschenDörfern<br />
der Côte d’Azur haben sich<br />
bei den Präsidentschaftswahlen<br />
40 Prozentfür den FrontNationalentschieden.<br />
Auch in Duranus.<br />
Die Fassaden sind gepflegt,<br />
am schwarzen Brett im Rathaus<br />
wirbteineFraunamens„Iris“für<br />
ihren Yogakurs, eine Familie<br />
möchte ihren „neuwertigen“<br />
Wohnwagen verkaufen, eine andereihrenSitzrasenmäher.<br />
Jetzt im Dezember ernten die<br />
EinwohnerihreOliven.Siespannen<br />
große Netze unter die BäumeundschlagenmitStöckenauf<br />
dieÄste,wiemanesschonim17.<br />
Jahrhunderttat.InvielenGärten<br />
stehennochPorreeundKohl,das<br />
kleine Rathausist mitsilbernen<br />
Girlanden geschmückt. Wären<br />
nichtdiemodernenAutos,könnteDuranusnochinden60erJahren<br />
stecken. „Wir wollen, dass es<br />
sobleibt,wieesist“,sagtYves.WovorerAngsthat?„Irgendwann<br />
bestimmen die in Brüssel, dass<br />
ichmeineOlivennichtmehrerntendarf“,sagter.<br />
Marine Le Pens Wahlprogrammkennternicht,esinteressiertihn<br />
auch nicht. Er istein<br />
Wähler,wiesieimmerwiederin<br />
Umfragen auftauchen, die „einemGefühlnach“rechtsextrem<br />
wählen. GeertWilders kennter<br />
zwar auch nicht, aber er sagt:<br />
„WennLePenmitdemHolländer<br />
zusammenarbeitet, haben wir<br />
am Ende wieder eine Brüsseler<br />
Partei.DasistdochUnsinn.“Der<br />
FrontNationalsolle sich um die<br />
französischenDörferkümmern,<br />
nichtumdie niederländischen.<br />
Den Haag, 13. November 2013: Marine Le Pen und Geert Wilders verkünden ihr Bündnis Foto: dpa<br />
„Ich bin nichtrechtsextrem. Ich<br />
magmeinLand“, behaupteter.<br />
Marine Le Penaber istrechtsextrem,auchwennsieihreWorte<br />
strategischer wähltals ihr Vater.BetendeMuslimebezeichnete<br />
sie malals „Gruppe, die wie<br />
KarnickelaufdemBodenhockt“,<br />
die Einwanderung ausfremden<br />
Ländernmöchtesieganzverbieten,<br />
und immer wieder spricht<br />
sie sich für die Todesstrafe aus.<br />
UndsielässtihrenVatermachen,<br />
der bei einer Wahlkampfveranstaltungkürzlichsagte,dieRoma<br />
seien„einstinkendesProblem“.<br />
AndereFN-Mitgliedersindoffen<br />
rassistisch. Zwei wurden in<br />
den vergangenen Wochen von<br />
der Partei ausgeschlossen, weil<br />
siedieschwarzeJustizministerin<br />
ChristianeTaubiramiteinemAffen<br />
verglichen hatten. Der Spitzenkandidatfür<br />
die Kommunalwahlen<br />
in Straßburg schlug vor,<br />
Kampfhunde aufKriminellezu<br />
jagen und Familien ausSozialwohnungenzuwerfen,wennein<br />
MitgliedStraftatenverübe.<br />
Die „blonde Frau“LePen und<br />
ihreAnhängermachennichtnur<br />
Kerimund Mehdi aufdem Pausenhof<br />
Stress. Sie könnten auch<br />
inEuropafürgroßesUnbehagen<br />
sorgen.<br />
AufdemMarktvonVolendam<br />
kommtdann auch eine Ingrid<br />
vorbei. „Ich heiße wirklich so“,<br />
sagt die blonde Frau. Ein vorweihnachtlicherSamstagmittag,<br />
Senioren unterhalten sich zwischen<br />
Waffelbude und Obststand,<br />
die Jungen ziehtesrüber<br />
zur Shopping Mall, Fischbrötchen<br />
und Energydrink in der<br />
Hand. Ingrid Tolist beladen mit<br />
Einkaufstüten.Sieist40,arbeitet<br />
ineinemSchuhgeschäft,trägteinen<br />
eleganten schwarzen Ledermantel<br />
und große Ohrringe.<br />
AuchsiehatPVVgewählt.<br />
IhrmachtvorallemdieKriminalität<br />
Sorge. Die Diebstähle,<br />
„man kann kein Fahrrad mehr<br />
draußen stehen lassen“, und<br />
dannerstdieEinbrüche.Neulich,<br />
sagt sie, ging ihr Mann abends<br />
zumRauchen vordie Tür. „Und<br />
standeinem,nunja,osteuropäischen<br />
Mann gegenüber,der einen<br />
Bus des Nachbarn fotografierte.“SieriefendiePolizei.<br />
„Es gehtmir nichtumDiskriminierung.<br />
AlleMenschen sind<br />
dochgleich!“,sagtsiezwarsofort.<br />
Aberdoch:DassozialeProfilder<br />
Parteisprichtsiean.UnddieAblehnung<br />
offener Grenzen. Die<br />
verursachten doch nur Elend:<br />
„Polnische Handwerker, brauchen<br />
wir das wirklich, wenn Volendamer<br />
dadurch ihre Arbeit<br />
verlieren?“ Ingrid Tol gibt zu,<br />
sich über „negativeSeiten“der<br />
PVVnochnichtinformiertzuhaben.<br />
Auch das Wahlprogramm<br />
kenntsiekaum.<br />
DasverbindetsiemitdemRübenzüchterausSüdfrankreich.<br />
■ Annika Joeres, 35, ist freie Journalistin<br />
in Südfrankreich<br />
■ Tobias Müller, 38, ist taz-Korrespondent<br />
inden Niederlanden
10 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AM ARGUMENTE | taz<br />
nurnoch wenige mit kultivierterKüche.AlsohermitdenKindertellern.“<br />
Also sprach der Experte<br />
fürs Kulinarische und verschwindet<br />
wieder durch die Eisentür<br />
und lässtuns ratlos auf<br />
dem Rasen mitRilke. Zu essen<br />
haben wir immer noch nichts.<br />
AberwerdenktschonansEssen,<br />
wenn es ums Denken geht. Und<br />
dadenkenmitspielenzutunhat,<br />
denken wir jetzt: Ein Spiel! Wir<br />
legendenRilkebeiseite,dennder<br />
Mann fürs Spielerische betritt<br />
den Rasen. Und wirft uns einen<br />
Ball zu. Natürlich wollen alle<br />
spielen, wenn ihnen ein Ball zugeworfen<br />
wird. Die meisten<br />
MännerinderRedaktiondaunten<br />
versuchen dann, einen Fuß<br />
an den Ball zu bekommen, auch<br />
wenn sie vielleichtgar nichtso<br />
gut Fußball spielen können.<br />
Dass das winzige Rasengeviert<br />
aufder Dachterrasse eigentlich<br />
zu klein für ein gepflegtes Spiel<br />
aufzweiToreist–egal.Undwenn<br />
derBallüberdenZaungehtund<br />
ganz unten dann die Windschutzscheibe<br />
eines vorbeifahrendenAutosdurchschlägt,wird<br />
schon keiner einen taz-Redakteurbeschuldigen,sonderneher<br />
mitdem Finger aufdie billigen<br />
Wohnungen gegenüber zeigen,<br />
wo genügend Migrantenbengel<br />
wohnen, denen manjafür gewöhnlich<br />
alles Ungute zutraut.<br />
Währenduntenvon irgendwem<br />
irgendwerbeschuldigt wird, redet<br />
oben die verspielte MännerrundeüberunserenTürkenund<br />
fragtsich, ob der Özil bei den<br />
Engländern endlich so viel gelernt<br />
hat, dass er der Weltmeisterschaft<br />
seinen Stempel<br />
aufdrücken kann. Auch Frauen<br />
des Hauses reden jetzt mit: „Ich<br />
interessiere mich ja eigentlich<br />
nicht für Fußball, aber wenn<br />
GEHT’S NOCH?<br />
2014: Es wirdschlomm<br />
IM NÄCHSTEN JAHR WIRD ALLES SCHLECHTER –<br />
SO VIEL WENIGSTENS IST SICHER<br />
Sagen wir es besser gleich: Das Jahrwirdrichtig,richtigschlimm.Und<br />
Jahr 2014 wird superscheiße. zwar aufallen Ebenen. Es wirddas<br />
Sämtliche Wetterphänomene schlimmste Jahr überhaupt.<br />
erreichenaufdersteilenTreppe „Schlimm“ reicht daals Ausdruck<br />
abwärtsdienächsteStufe:Wasvoriges längstnichtmehr,deshalbmuss eigens<br />
das Attribut „schlomm“erfun-<br />
JahrnochüberdenPhilippinentobte,<br />
verheertnun Thüringen, während in den werden, was–wenwundert’s? –<br />
Ostasien ein Weltraumsturm sein üblesWerk<br />
versieht. „Pech“nennen das 2014wird.<br />
zugleich Wort und Unwort des Jahres<br />
die Klimaskeptiker,von der US-Umweltbehörde<br />
bis Harald Martenstein. sowieso schon krank sind. Schweine-<br />
Allewerden krank, soweit sie nicht<br />
Und eigentlich haben sie damitjagar grippe, Vogelgrippe, Katzengrippe,<br />
nichtmalsounrecht. Menschengrippe –eine Seuche nach<br />
Spätestens im März 2014 läuft das deranderengreiftmitlangengrünen<br />
Internetüberundistnichtmehrzugebrauchen.<br />
Dafür arbeitet jeder Zweite und fleucht. Auch der Osterhase wird<br />
Armen nach allem, was dakreucht<br />
nunals analoger Spitzel bei NSAoder krank und der Weihnachtsmann. Beidewerden2014nichtzuunskommen,<br />
BND. Jeder erste wiederum wirdarbeitslos.<br />
Machtaber nichts, denn mit ganz schlomm. By the Wayist 2014<br />
dem Eurokann mansich 2014 allenfalls<br />
noch den Arsch abwischen. Von IndianerauchdasJahrdesWeltunter-<br />
nach einer Weissagung der KarokeederneuenRegierungwerdenwir201gangs.<br />
Und deren Prophezeiungen<br />
nichtmehrregiert,sondernbloßnoch sind bislang noch immer korrekt eingetroffen<br />
(Christi Geburt, Mondlan-<br />
negiert.Negiert,haha.Stattregiert,hahaha.<br />
Auch der Humor wird 2014 dungsowiezahlreicheErgebniswetten<br />
schlechter denn je. Til Schweiger und derdrittenfinnischenLigamitexakter<br />
Matthias Schweighöfer heißen die Tordifferenz).<br />
Stars, über die manauch im neuen Am Ende werden wir allesterben.<br />
Jahrvergeblichversuchtzulachen. Klingtschlomm,istesabernicht,denn<br />
Doch 2014 wirdohnehin viel mehr irgendwannwäredasehpassiert.<br />
geweintals gelacht. Denn das neue<br />
ULI HANNEMANN<br />
.................................................................................................................................<br />
.....................................................................................................................................................................................................<br />
Ja, wir mussten zahlen<br />
EUROKRISEWaresrichtig,dieirischenBankenaufKostendereuropäischen<br />
Steuerzahlerzuretten?Moralischgesehennicht–politischleiderschon<br />
LIEBESERKLÄRUNG<br />
2014: So schlimm wirdesnicht<br />
DASNÄCHSTE JAHR SOLLTEN WIR NICHT EINFACHABSCHREIBEN:<br />
DENN ES GIBTJADIE HÖHLENWASSERASSEL<br />
Natürlich, einerseits: 2014 wird<br />
wieüblichTod,ElendundVerwüstung<br />
bringen –sowill es<br />
die Naturdes Menschen. Und<br />
ausdemselben Grund ebenso sicher<br />
wird2014 Freude, Liebe und Bezauberndes<br />
für uns bereithalten. Für die<br />
meistenjedenfalls.<br />
Aberwäremannichteinübellauniger,<br />
misanthropischer Ork, würde<br />
man nicht Ersteres wider besseren<br />
Wissens beiseiteschieben und Letzterem<br />
mit hoffnungsvoller Vorfreude<br />
entgegenblicken? Oft istja–die zwei<br />
SeitenderMedaille,Yin/Yangundder<br />
ganze spirituelleQuark, Sie kennen<br />
das –beides in einem Themavereint!<br />
Vonder notwendigen Kritik an der<br />
VerelendungganzerLänderdurcheine<br />
enthemmte Wirtschaftspolitik ist es<br />
nureinwinzigerSchrittbiszumfauligen<br />
Eurokritikertum broderschen<br />
Ausmaßes. Also sollten wir uns trotz<br />
allemdarüberfreuen,dassam1.Januar<br />
Lettland der Eurozone beitrittund<br />
uns der Auflösung des ganzen völkischenundnationalenUnfugseinkleinesbisschennäherbringenwird.<br />
Denn die Prüfungen werden hart<br />
sein: 100. Jahrestagdes Beginns des<br />
ErstenWeltkriegs,Fußball-WM,25Jah-<br />
.................................................................................................................................<br />
apple Unser Papst<br />
wie er in Texten von Ulrike Herrmann und<br />
Ambros Waibel ins Gebetgenommen<br />
wurde, war heiß begehrt–auf taz.de<br />
www.taz.de/!129715<br />
re Mauerfall, die elfte Staffel von<br />
„DeutschlandsuchtdenSuperstar“,75.<br />
Jahrestag des Beginns des Zweiten<br />
Weltkriegs –das bedeutet unendlich<br />
vieleGelegenheiten,allemühsamantrainierten<br />
chauvinistischen HemmungenüberBordzuwerfenundsich<br />
im Morast ausschwarz-rot-goldener<br />
SelbstbesoffenheitundherbeihalluziniertemOpfergetuezusuhlen.<br />
DochselbstindergrößtenDunkelheitfindet<br />
sich Trost. Während aller<br />
drohenden Live-Schaltungen zu „Fanmeilen“,<br />
beiAuftrittenvonDieterBohlensamtMiezeKatz<br />
und Übertragungen<br />
bundespräsidialer BesinnungsredenkönnenwirunsdochanErfreulicheshalten.<br />
Wussten Sie, dass das Höhlentier<br />
desJahres2014dieHöhlenwasserassel<br />
ist?Dasbiszu8mmlangeTierchenist<br />
blindundunpigmentiert,lebtsofriedlich<br />
wie unauffällig im Grundwasser<br />
weit unter unseren Füßen glücklich<br />
und still vorsich hin und erteiltuns<br />
damiteine Lektion in Sachen Dezenz<br />
und gutes Benehmen. Wiekönnte ein<br />
Jahr, das der Höhlenwasserassel gewidmet<br />
ist, anders werden als ein<br />
trostreiches und hoffnungsfrohes?<br />
Also:Prosit2014!<br />
HEIKO WERNING<br />
VON ULRIKE HERRMANN<br />
Wohin sind die Rettungsgelder<br />
verschwunden?<br />
DiesesRätselderEurokrise<br />
istnoch immer nicht<br />
gelöst. Attac Österreich hatsich nun<br />
bemüht,zumindestfürIrlandnachzuzeichnen,<br />
wasaus den Hilfskrediten<br />
gewordenist.<br />
Feststeht: Der irische Staathat inzwischen<br />
89,5 Milliarden Euroaufgewandt,<br />
um seine Pleitebanken zu retten.Davonkamen67,5MilliardenEuro<br />
ausdem Ausland –vor allem vomInternationalen<br />
Währungsfonds (IWF)<br />
und aus den Rettungsschirmen der<br />
Eurostaaten. Den Resthaben die Iren<br />
selbstbeigesteuert, indem sie unter<br />
anderem ihre staatliche Pensionskasseplünderten.<br />
Aber werhat vondiesen Geldern<br />
profitiert?DieseFragekannauchAttac<br />
Österreich nichtwirklich klären, was<br />
nicht die Schuld der Aktivisten ist.<br />
DenndieeuropäischenRettungsaktionen<br />
sind von extremer Geheimhaltungumwoben.<br />
Dennoch istdas Attac-Papier interessant,<br />
weil es die zu Irland verfügbaren<br />
Erkenntnisse bündelt–und auch<br />
Fragen aufwirft, die nichtimmer ins<br />
gängige Freund-Feind-Schema passen.<br />
So wird indirekt deutlich: Ein<br />
Hauptprofiteur der Rettungskredite<br />
war ausgerechnet die Europäische<br />
Zentralbank (EZB), denn sie wardie<br />
größteGläubigerinderirischenPleitebanken,<br />
als das Hilfspaket Ende 2010<br />
beschlossen wurde. Dies zeigt eine<br />
Studie des Dubliner Ökonomen Karl<br />
Whelan,dieAttaczitiert.<br />
Die irische Krise lässtsich in drei<br />
Kapiteln erzählen. Die erste Phase<br />
währte von1996 bis 2007.Indieser<br />
Zeit nahmen die irischen Banken<br />
hemmungslosKrediteimAuslandauf<br />
und entfachten einen Bauboom, der<br />
sogardieImmobilienblaseindenUSA<br />
weitübertraf:ProKopfbautendieIren<br />
viermalsovieleHäuserwiedieAmeri-<br />
kaner–unddieImmobilienpreisever-<br />
Zypern führtvor,<br />
wie extrem riskant<br />
es ist, die Gläubiger<br />
vonPleitebanken<br />
heranzuziehen<br />
vierfachten sich in nureinem Jahrzehnt.<br />
Die zweite Phase begann Mitte<br />
2008: Die Finanzkrise in den USA<br />
führte zu einer weltweiten Wirtschaftskrise,<br />
die auch Irland erfasste.<br />
DieHauspreisesanken,dieBauindustriebrachzusammen,unddieZahlder<br />
Arbeitslosenstieg.DieLagewarsodesolat,<br />
dass die ausländischen Banken<br />
nichtmehrbereitwaren,denirischen<br />
Instituten weiter Geld zu leihen. AuslaufendeKreditewurdennichtverlängert,<br />
sondern die ausländischen BankenverlangtendieSummenzurück.<br />
Das nötige Geld liehen sich die irischen<br />
Banken zuerstbei der Europäischen<br />
Zentralbank und später bei der<br />
irischenNotenbank,dieebenfallszum<br />
EZB-System gehört. Um es kurz machen:VonMitte2008bisOktober2010<br />
borgtensichdieirischenPleitebanken<br />
insgesamt109MilliardenEurobeider<br />
EZB und der irischen Notenbank –<br />
währendausländischeGläubigeretwa<br />
50MilliardenEuroausIrlandabzogen.<br />
Die dritte Phase setzte im November<br />
2010 ein, als das europäische Rettungspaket<br />
für Irland beschlossen<br />
wurde. Davon profitierte auch das<br />
EZB-System, das 16,9 Milliarden Euro<br />
erhielt. Trotzdem sind die Notenbankennoch<br />
immer die größten GläubigerinIrland–währendsichausländische<br />
Banken und Fonds inzwischen<br />
fastganzzurückziehenkonnten.<br />
DieRettungsgeschichteIrlandshinterlässteineFrage,diekontroversdiskutiertwird:<br />
Waresrichtig, die irischen<br />
Banken zu retten, indem die<br />
Steuerzahler und das EZB-System<br />
sämtliche Kosten übernahmen? Nur<br />
ein Beispiel: Man hätte die Besitzer<br />
vonungesichertenBankanleihenheranziehen<br />
können, was16Milliarden<br />
Eurogesparthätte.<br />
Attac positioniert sich kämpferisch:<br />
„Gut istlediglich die Lage der<br />
europäischen Finanzeliten. Gerettet<br />
wurdedasWho’sWhodesBankensystems,<br />
nichtdie Menschen in Irland.“<br />
Stimmt.AberMoralalleinreichtnicht.<br />
Dies zeigt Zypern. Dortwurde ausprobiert,<br />
wassich Attac offenbar als<br />
Idealfall vorstellt: In diesem März<br />
mussten alleBankkunden haften, die<br />
mehr als 100.000 Eurobesaßen. Das<br />
spartezwareinpaarMilliardenanRettungskosten,trotzdemistdasErgebnis<br />
unerfreulich. Zypern gehörtfaktisch<br />
nicht mehr zur Eurozone, sondern<br />
wird durch rigide Kapitalkontrollen<br />
abgeschottet,damitnichtdasgesamte<br />
Geld flieht. Ein Ende dieser ZwangsmaßnahmenistnichtinSicht.<br />
Zypern führtvor,wie extrem riskant<br />
es ist, die Gläubiger vonPleitebanken<br />
heranzuziehen. Daher sollte<br />
sich die Debatte verlagern: Wiekann<br />
verhindertwerden,dassBankenüberhaupt<br />
inKonkurs steuern? Es wäre<br />
schön, wenn Attac dazu Vorschläge<br />
präsentieren würde, die gut durchdachtsind.
taz |ARGUMENTE<br />
www.taz.de | TAZ.AMWOCHENENDEapple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 11<br />
WMist …“Schönwirddas,wenn<br />
derersteBallgespieltistinBrasilien.Endlichdürfenwirüberdie<br />
WM-Chancen des neuen belgischenWunderteamsreden,darüber,wievieledeutscheTrainer<br />
irgendwelcheNationalteamszur<br />
WM geführthaben,undunsfragen,warumUruguayschonwieder<br />
so weit kommt. In diesem<br />
Sommer müssen wir nicht jedemSatzübereinvonderFifaorganisiertes<br />
Event eine Portion<br />
MitgefühlfüralldieSklavenbeifügen,dieeinederartigeWMerst<br />
ermöglichen. Und wenn die<br />
deutschendieWMdochnichtgewinnen<br />
sollten, dann haben wir<br />
den Brasilianern wenigstens ein<br />
neues Urlaubsdomizil geschenkt.OderbehältderDFBdas<br />
speziell für ihn entwickelte<br />
Teamcamp und wirddortauch<br />
während der WM 2018 Quartier<br />
nehmen,umvondortauszuden<br />
Spielen in Russland zu fliegen?<br />
DortistdasBöseweiterhinsoböse,dasssichjederRegent,undsei<br />
erselbsteinmieserTyp,einpaar<br />
Moralpunkte holenkann, wenn<br />
er mitdem Finger aufRussland<br />
zeigt. Der kalte Sportkrieg tobt<br />
auch nach den Spielen vonSotschi<br />
weiter. Hauptsache, die<br />
Sportler halten die Klappe. Sie<br />
sollen die Letzten sein, die glaubensollen,dassSportnichtsmit<br />
Politikzutunhat.Freuenwiruns<br />
also aufeine Medaille vonClaudiaPechsteinundaufihregroße<br />
Lebensbeichte am Ende des JahresbeiBeckmann:„Wasichalles<br />
genommen habe.“ Oder doch<br />
eher:„Warumichsotollbinund<br />
warum es mich nichtwundert,<br />
dassmichkeinermag.“DasProblem<br />
kenntauch der FC Bayern,<br />
derdieSpielergehälterweiterhin<br />
so gestalten will, dass sich ein<br />
französischerWeltfußballermit<br />
Die Rehabilitation vonAssad<br />
„Stabilität“istdasZauberwort.SofortistdemWestenderMassenmordinSyriensogutwieegal<br />
Das syrische Regime wirdwieder<br />
salonfähig. Schon in den<br />
vergangenen Wochen streckten<br />
europäische Botschaften<br />
ihreFühlerinRichtungDamaskusaus.<br />
Nunbekundeteauchderhochrangige<br />
US-Diplomat Ryan Crocker,ehemals<br />
BotschafterinSyrien,manmüssemit<br />
demsyrischenPräsidentenBascharal-<br />
Assad ins Gespräch kommen. Wieder<br />
einmalzeigtsich:Eslohntsichfürdas<br />
syrische Regime, einfach abzuwarten<br />
und gleichzeitig unbeirrt exzessive<br />
Gewalteinzusetzen.Nachzweieinhalb<br />
Jahren,indenendieinternationaleGemeinschaft<br />
dem immer hemmungsloserenTötenwortgewaltig,dochweitgehend<br />
tatenlos zugesehen hat, lenkt<br />
sienunlieberein.Niemandredetnoch<br />
davon, den Druck aufAssad zu erhöhen.<br />
Vorwenigen Monaten sah das für<br />
eine kurze Zeitanders aus. Im August<br />
2013gerietendieUSAunterDruck,militärischeingreifenzu<br />
müssen.Ermutigt<br />
dadurch, dass die internationale<br />
Gemeinschaft nach mehreren vorherigen<br />
Einsätzen von Chemiewaffen<br />
stetsabwiegelte,daslassesichjanicht<br />
beweisen, schien das Regime mitseinem<br />
GiftgasbombardementimUmland<br />
vonDamaskus den Bogen überspanntzuhaben:<br />
Der Todvon über<br />
1.000 Zivilisten durch Sarin führte zu<br />
internationalem Unmut. Übrigens<br />
selbstunter den Verbündeten Assads.<br />
AusIran,dasdemRegimesonstunbeirrtdenRückenstärkt,twittertePräsidentHassan<br />
Rohani verschnupft, der<br />
Einsatz vonChemiewaffen sei unbedingt<br />
zu verhindern. Auch wenn es<br />
vielleichtnur darum ging, die Nuklearverandlungen<br />
nichtzugefährden,<br />
waren das ungewohnte Töne ausTeheran.<br />
DochallerscharfenVerurteilungen<br />
ausdemWestenzumTrotz–Assadließ<br />
es gemächlich angehen. Zunächsttat<br />
die syrische Regierung, als sei überhauptnichtspassiert.ErstalsMoskau<br />
über seine Kanäle eilige Schuldzuweisungen<br />
an die Rebellen verbreiten<br />
ließ, griff Assads Medienteam<br />
das Thema auf. Nach weiteren<br />
vier Tagen fortgesetzten konventionellen<br />
Bombardements der<br />
vomGasgetroffenenVororte<br />
erklärte die Regierung sich<br />
bereit, den ohnehin in Damaskus<br />
befindlichen UN-Inspektoren<br />
Zugang zu gewähren.<br />
Als dann tatsächlich eine<br />
internationale Intervention<br />
drohte, lenkte Assad schließlich<br />
einundsichertezu,dieChemiewaffen<br />
abzugeben. Statt das Regime aufgrund<br />
seiner unwägbaren Aktionen<br />
mit Massenvernichtungswaffen zur<br />
Rechenschaft zu ziehen, scheute sich<br />
die internationale Gemeinschaft, die<br />
Urheber des Angriffs auch nurzube-<br />
Foto: Heinrich-Böll-Stiftung<br />
nennen geschweige<br />
denn, die Drohung<br />
einer Intervention<br />
wahrzumachen.<br />
Die Übereinkunft<br />
über die<br />
Chemiewaffen,<br />
verhandelt zwischen<br />
Russland<br />
unddenUSA,ohne<br />
SyrerinnenundSyrer<br />
zu Rate zu zie-<br />
BENTE SCHELLER<br />
hen, wurde welt-<br />
weitalsErfolgverkauft,auchwenndie<br />
UmsetzungindenSternensteht.<br />
Zu erwartende Verluste und das<br />
AusbleibenüberzeugenderErfolgebei<br />
denInterventionenimIrakundinAfghanistan<br />
haben eine allgemeine<br />
Aversion gegen militärisches EngagementinKonfliktenin<br />
der Region verursacht.<br />
Auch die Katerstimmung<br />
über die arabischen Revolutionen<br />
trägtzu dermassivenAbwehrhaltung<br />
bei. Die syrische Opposition verfügt<br />
aufgrund der jahrzehntelangen UnterdrückungundVerfolgungüberkeine<br />
Integrationsfigur.Und sie hates<br />
während des nunfastdrei Jahre andauernden<br />
Aufstands nichtgeschafft,<br />
sich auch nurinprinzipiellen Fragen<br />
über die künftige Staatsform zu einigen.<br />
Für diejenigen, die im Lande unter<br />
immer schwierigeren Bedingungen<br />
arbeiten, hatdie Gründung der Koalition<br />
keine spürbare Verbesserung gebracht:<br />
Die Hoffnung, dass ihre internationaleAnerkennung<br />
als „legitime<br />
Vertretung“ des syrischen Volkes verstärkte<br />
politische und humanitäre<br />
Unterstützung in befreiten Gebieten<br />
ermöglichen würde, wurde enttäuscht.<br />
Bis heute kooperiertdie UN allein<br />
mitder syrischen Regierung –auch<br />
wenn dies bedeutet,dassHilfsgüter<br />
weiteTeileder Bevölkerungnichterreichen.<br />
Selbst bei<br />
einem für die gesamte<br />
Region bedrohlichen<br />
Phänomen,<br />
der Ausbreitung<br />
von Polio,<br />
machte mankeine<br />
Ausnahme. Impfstoff<br />
liefert die<br />
WHO nuranDamaskus und erreicht<br />
also gerade diejenigen nicht, die sowohl<br />
besonders gefährdet sind als<br />
auchindieNachbarstaatenodernach<br />
Europadrängen.<br />
Die Unsicherheitdarüber,obdie<br />
dem Westen genehmen Akteure stark<br />
genugseinwerden,anAssadsStellezu<br />
treten, führtvielfach zu einer stark<br />
vereinfachten Darstellung –ebenjener,diedasRegimevonAnfanganheraufbeschworen<br />
hat: Ohne Assad, so<br />
die Lesart, verfälltdas Land ins Chaos<br />
und wirdzueiner Brutstätte für Salafisten.<br />
Wasdabei ignoriertwird, ist, dass<br />
diesnichttrotz,sonderngeradewegen<br />
Assads Vorgehen in den vergangenen<br />
Jahrengeschieht;nichttrotzinternationalerBemühungen,sondernweilder<br />
WestendieBrutalitätinderAuseinandersetzunginSyrienlangenichtinihrerTragweitewahrnehmenwollteund<br />
versäumthat,zivileAkteure rechtzeitigzuunterstützen.<br />
Assad selbsthat in keinem Punkt<br />
Zugeständnisse gemacht. Ob Streuoder<br />
Brandbomben aufWohnviertel<br />
oder das systematische Aushungern<br />
ganzer Landstriche, in alldem fährt<br />
das Regime auch in Vorbereitung auf<br />
GenfIIfort.<br />
Das machtesetwas schwierig, den<br />
Diktatorsovollständig zu rehabilitieren,wievieleesgerntäten.Wennman<br />
ihn auch nurein bisschen besser aussehen<br />
lassen möchte, istesnötig, die<br />
VerbrechenderIslamisten–vorallem<br />
dienochzuerwartenden–umsograuenhaftererscheinenzulassen.Dochin<br />
denJahrzehntenihrerExistenzhatal-<br />
Qaida eine nichtannähernd so hohe<br />
Zahl vonOpfern zu verantworten<br />
wie Baschar al-Assad in<br />
knapp drei Jahren. Er lässt<br />
eben„nur“im„eigenen“Land<br />
morden. Assad hatdie Furcht<br />
vor Islamisten international<br />
und zu Hause weidlich genutzt.<br />
Schon früh berichteten die Local<br />
CoordinationCommittees –die in<br />
denOrten,ausdenendasRegimesich<br />
zurückgezogenhatte,dieStadtverwaltung<br />
übernommen haben –, dass insbesondere<br />
die radikalsten Islamisten<br />
keine Angriffe des Regimes zu fürchtenhaben.DasRegimeließsiegewähreninderHoffnung,dasssiedieBevöl-<br />
Foto: Andrew Kelly/reuters<br />
kerung wieder in die Arme des Regimestreiben.<br />
Dieses Kalkül istbislang nichtaufgegangen.<br />
Das syrische Regime verdankte<br />
einen Großteil seiner Akzeptanz<br />
stets dem Umstand, dass es als<br />
GarantfürStabilitätundSicherheitgesehenwurdeunddassdiebreiteMasse<br />
nichtgut lebte, aber doch immerhin<br />
über die Runden kam. All dies hates<br />
mitseinem brutalen Vorgehen gegen<br />
die Revolution zunichtegemacht. Fast<br />
die Hälfte aller Syrerinnen und Syrer<br />
sindheuteimLandoderaußerhalbauf<br />
derFlucht.Zweifelsohnehabeninden<br />
vergangenen Monaten vieleden Norden<br />
des Landes ausAngstvor Salafisten<br />
verlassen. Doch deren Zahl ist<br />
klein im Vergleich zu all denjenigen,<br />
dieausDaraa,Homs,denVorortenvon<br />
Damaskus oder den nördlichen Provinzen<br />
wegen der permanenten und<br />
flächendeckendenLuftangriffedesRegimesgeflohensind.<br />
Doch wasversprichtsich die internationaleGemeinschaft<br />
davon, Assad<br />
wieder salonfähig zu machen. StabilitätinderRegion?AnallenGrenzenhat<br />
es Zwischenfälle gegeben –bis hin<br />
zum Abschuss eines türkischen<br />
Kampfjets über dem Mittelmeer<br />
durch das syrische Regime. Während<br />
die Armee verbissen versucht, jede<br />
Provinzhauptstadtzuhalten, hatsie<br />
schon früh die nördliche Grenze aufgegeben<br />
und so das Torfür ausländischeKämpfergeöffnet.<br />
Trotz massiver Unterstützung<br />
durch seine Verbündeten istesAssad<br />
nichtgelungen, sich gegen eine weitgehendaufsichselbstgestellteOpposition<br />
durchzusetzen. Wiealso soll er<br />
wieder zumGaranten regionaler Stabilitätwerden?Undwashättemandavon?KaumeinHerrscherhatsichunempfindlicher<br />
gegenüber externem<br />
Druck, aber auch gegenüber Angeboten<br />
gezeigt. Kein anderes Land hat<br />
nach dem Krieg 2003 so vieleDschihadisten<br />
zumKampf gegen die internationalen<br />
Truppen in den Irak geschicktwieSyrien.Nunsindesausge-<br />
rechnet „Terrorismusbekämpfung<br />
und andere gemeinsame Interessen“,<br />
über die US-Diplomat Ryan Crocker<br />
mitdersyrischenFührungredenwill.<br />
Selbst wenn es Assad mithilfe seiner<br />
Alliierten und der Willfährigkeit<br />
westlicherStaatengelingensollte,sich<br />
durchzusetzen –worüber würde er<br />
herrschen?SchonfrühhatdasRegime<br />
begonnen,dieeigeneInfrastrukturin<br />
Schuttund Asche zu legen. Ob Krankenhäuser<br />
–von denen über 50 Prozentalszerstörtgelten–,Schulen,Gerichte<br />
oder Verwaltung, nichts blieb<br />
verschont.DasWütenderSicherheitskräfteundderSchabiha-Schergenhat<br />
tiefe Gräben in die syrische Gesellschaftgerissen.DasisteinhoherPreis<br />
füreinenSieg,derkeinerist.<br />
DER LOBBYIST DER WOCHE<br />
Der Chefder<br />
Schlapphüte<br />
FrageLichtins Dunkel bringt. Nach<br />
.........................................................................................................................................................................<br />
vielen Telefonaten waren wir aber erfolgreich,<br />
den Beitrag von Raphael<br />
...................................................................................................................................................<br />
Bente Scheller<br />
■ übernahm 2012 das Büroder Heinrich-Böll-StiftunginBeirut.Soebenissen–undkommentieren.Undjenseits<br />
Thelen können Sie auftaz.de nachle-<br />
ihr Buch „The Wisdom of Syria’sWaiting<br />
Game“ erschienen. Sie arbeitete macheresimmernochalsPrivileg,bei<br />
der Mühen verstehen wir Meinungs-<br />
von2002bis 2004 an der Deutschen anstehenden Fragen einfach mal<br />
BotschaftinDamaskus und promovierte<br />
an der Freien Universität Berlin dürfen, aufder Suche nach der Annä-<br />
durch die halbeWelttelefonieren zu<br />
übersyrischeAußenpolitik.Von2008 herungandiegutgeschriebeneWahr-<br />
heit. Wirfreuen uns, wenn Sie uns<br />
bis 2012 leitetesie das Büroder Heinrich-Böll-Stiftung<br />
in Afghanistan. auch im nächsten Jahr bei diesem<br />
Abenteuerbegleiten.Danke–undgutenRutsch!<br />
Foto: dpa<br />
Der Mann ist wie<br />
geschaffenfürden<br />
Job. Wenn Klaus-<br />
DieterFritsche(Foto)<br />
seinen Posten<br />
als Staatssekretär<br />
antritt, dann erfülltsich<br />
aufwundersame<br />
Weise eine<br />
Weisung der Bundeskanzlerin.<br />
KnappzweiWochenistesher,dassAngela<br />
Merkel ankündigte, sie wolledie<br />
GeheimdiensteandieLeinelegenund<br />
habe dazueigens einen neuen Staatssekretär<br />
ins Bundeskanzleramtberufen.<br />
Ausdrücklich wies sie daraufhin:<br />
„DasisteineKonsequenzausderNSA-<br />
Angelegenheit“, und, kurzes Zögern:<br />
„oder-Affäre“.<br />
Affäre hin, Angelegenheither: Mit<br />
ihrerPersonalentscheidungdemonstriertdie<br />
Kanzlerin Entschlossenheit.<br />
Denn der sechzigjährige Fritsche<br />
kenntdenApparat,erkommtausdem<br />
ApparatunderdientdemApparat.<br />
Seine politische Karriere startete<br />
der Jurist ausBamberg, als er vorvielenJahrenvomVerwaltungsgerichtin<br />
Ansbach zur CSU-Landesgruppe des<br />
Bundestages wechselte, deren Referenterwurde.<br />
Innere Sicherheit kennt Fritsche<br />
ausdemEffeff.Von1993bis1996war<br />
er Büroleiter des bayerischen InnenministersGüntherBeckstein.VonOktober<br />
1996 bis November 2005 stand<br />
er als Vizepräsidentander Spitze des<br />
KölnerBundesamtesfürVerfassungsschutz.<br />
Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst<br />
und Militärischer<br />
Abschirmdienstsindihmbestensvertraut.<br />
Schließlich warervom Dezember<br />
2005 bis zumDezember 2009 als<br />
Geheimdienstkoordinator für die<br />
Schlapphüte zuständig. Seitdem ist<br />
Fritsche beamteter Staatsekretär im<br />
InnenministeriuminBerlin.<br />
DerVatervonvierKindergiltalspenibel<br />
und als gewiefter Stratege, der<br />
mitseinenÜberzeugungennichthinter<br />
dem Berg hält.Sobezeichnete er<br />
vorsechs Wochen aufder HerbsttagungdesBKAinWiesbadendieInternetwährungBitcoinunddasTor-Netzwerk<br />
als „Unterschlupffür Kriminelle“.<br />
DerMannverstehtauchVorratsdatenspeicherung:<br />
Um der Kriminalität<br />
im Internet Herr zu werden, brauche<br />
es „nichtnur Verkehrsdaten, sondern<br />
auchInhaltevonE-Mails“.<br />
DiePersonaliehatwas:EinGeheimdienstler<br />
soll die Geheimdienste kontrollieren.Geschickt.<br />
WOLFGANG GAST<br />
MEINUNGSMACHE<br />
Fastebensomühsamwiezuverstehen,<br />
werimLibanon gerade wenwarum<br />
umbringt,gestaltetsichzwischenden<br />
Jahren die Suche nach einem Kommentatorvor<br />
Ort, der eben bei dieser
12 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE | fortschritt@taz.de FORTSCHRITT | taz<br />
einem ukrainischen DurchschnittsoligarchenaufAugenhöheunterhalten<br />
kann. Besser als die Bayern geht es<br />
nicht,stelltmanunisonoaufderDachterrassefestundöffnetsicheinBieraus<br />
Flensburg. Langweilig. Obwohl alle<br />
Welt behauptet, dass sie sich nichtfür<br />
denzweifachenQuintuple-Siegerinteressiert,<br />
schautdoch keiner weg, wenn<br />
der FC Bayern spielt. Wiegut,dass sich<br />
derGuardiola-SeppaufderSuchenach<br />
einer neuen Herausforderung für eine<br />
bemannte Marsmission gemeldet hat.<br />
250TagedauertdieeinfacheFahrtdorthin.<br />
Zeit genug für Borussia Dortmund,<br />
wieder malMeister zu werden.<br />
Friedrich Küppersbusch schautbeim<br />
GedankendarangenHimmel–versonnen.<br />
Und wir anderen auch – versonnen.EswirdwiederZeit,überErnsteszu<br />
nachzudenken.Darüberetwa,wielange<br />
die Finanzmärkte den ganzen Kram<br />
nochaushalten.Aberda,wo mandann<br />
dochmalExpertenbräuchte,fehlensie.<br />
DerzuständigenExpertinisteszukalt<br />
aufdemDach,undalsolesenwirweiter<br />
Marx, Paschukanis und Wallerstein.<br />
Und also müssen wir dann auch schon<br />
zumnächstenGroßthemahüpfen,das<br />
ja dann wohl die NSA wäre. Da aber<br />
müssesichderzuständigeExperteauch<br />
ersteinarbeiten und könne keine klaren<br />
Auskünfte über Ausbauoder Abschaffung<br />
dieser Behörde geben und<br />
will daher also auch nichtzuuns aufs<br />
Dach.Wasbleibt?WirlesenweiterFoucaultundOrwell,undwennunsdaszu<br />
langweiligwird,betrachtenwirdieKamera,<br />
die aufunserem Dach befestigt<br />
wurde,undbildenunsein,dassunsere<br />
WasSie<br />
2014<br />
vermissen<br />
werdenund<br />
wasSie2014<br />
erwartendürfen<br />
Foto: Jörg Lantelme; Montage: Daniela Leupelt
taz |FORTSCHRITT<br />
fortschritt@taz.de | TAZ.AMWOCHENENDEappleSONNABEND/SONNTAG,28./.29.DEZEMBER2013 13<br />
hierentstehenden,schwersubversiven<br />
Gedanken überwachtwerden. All die<br />
schlauenBabos,diedauntendieseZeitung<br />
machen, sind also gerade schwer<br />
beschäftigt, während wir hier oben<br />
langsaminApathieverfallen.Dochwie<br />
es sich für ein ordentliches Drama gehört,<br />
trittimvorletzten Akt, bevorwir<br />
verglühen, ein weiterer Experte durch<br />
die schwere Eisentür.Und siehe da, es<br />
istsogareinrichtigerExperte.Einer,der<br />
die deutsche Sprache beherrscht. Und<br />
er sprichtfloskel- und akzentfrei: „Na<br />
schau maleiner an, hier oben stecken<br />
die Redakteure. Wasdenn, gibt’sgleich<br />
Herzrasen, wenn der Korrektor auftaucht?Rechtso.Obwirwiederwasgefunden<br />
haben? Ja, was dachtet ihr<br />
denn?DasseinTextmalsodurchgeht?<br />
Dakenntihrunsaberschlecht,wirfinden<br />
immer was, dafür werden wir<br />
schließlich bezahlt. Ein bisschen achtsamer<br />
aber solltet ihr schon sein, was<br />
ihr da so schreibt. Wolltihr denn 2014<br />
wirklich so weitermachen wie letztes<br />
Jahr?Woisteigentlichunsertürkischer<br />
Freund? Erstbrüllterdaauf so einer<br />
Veranstaltungrum–ichsagejetztnicht,<br />
wasergesagt hat–,und dann gibt’seinen<br />
Riesenaufriss. Ja,dakonnten wir<br />
auch nichts machen, ging nichtüber<br />
unsern Tisch, da hätte schon jemand<br />
anders aufpassen müssen, wir können<br />
schließlich nichtüberall sein. Es muss<br />
sowieso viel mehr aufgepasst werden,<br />
aber zumGlück haben ja letztens welche<br />
aufgepasst, ging schon wieder um<br />
die …nee,sageichjetztnicht,jedenfalls<br />
konnte da noch das Schlimmste verhindertwerden.SowieletztenSommer<br />
VON FLORIAN ZIMMER-AMRHEIN<br />
AufdenerstenBlickistin<br />
Lassan rein gar nichts<br />
los.KommtmanzudieserJahreszeitindiekleineStadtimnordöstlichenMecklenburg-Vorpommern,<br />
ist man<br />
zuweilen der einzige Touristim<br />
Ort.<br />
Lassan liegt am Ufer des Peenestroms,<br />
direkt gegenüber der<br />
InselUsedom.Vondenknappeine<br />
Million Ostseeurlaubern, die<br />
jährlich nach Usedom pilgern,<br />
verirren sich aber nur wenige<br />
nach Lassan. Die Gemeinde umfasstnebenderbald740Jahrealten<br />
Kleinstadtdie umliegenden<br />
Dörfer Pulow,Papendorf, Klein<br />
JasedowundWaschow.<br />
EndloseÄckerundkleineSeen<br />
prägen die Landschaft. Nach der<br />
Wende herrschten hier zwischenzeitlich<br />
rund 70 Prozent<br />
Arbeitslosigkeit.DiejungenLeute<br />
zogen scharenweise fort,die<br />
Bevölkerung dezimierte sich innerhalb<br />
weniger Jahre um die<br />
Hälfte.DieGegendwarlangeals<br />
„letztes Loch vorder Hölle“ verschrien.<br />
Seit der Jahrtausendwende<br />
zeichnetsichjedocheinebemerkenswerteErfolgsgeschichte<br />
im<br />
Lassaner Winkel ab. Nachhaltig<br />
wirtschaftende Unternehmen<br />
siedeln sich an und schaffen Arbeitsplätze.EinTourismus-Netzwerk<br />
istentstanden. Vielerorts<br />
wirdgebautundrenoviert.<br />
Diese Erfolgsgeschichte wäre<br />
wohlnichtohneMatthiasAndiel<br />
möglich gewesen. Andiel kam<br />
bereits 1982 als junger Mann in<br />
den Lassaner Winkel und gründeteimhalbverfallenenPulower<br />
Gutshof die erste alternative<br />
Wohngemeinschaft des Ortes.<br />
Andielträgtseinelangengrauen<br />
Haare in einem dicken Pferdeschwanz<br />
gebunden. Er istzweifellos<br />
jemand, der in der mecklenburgischenProvinzschonimmer<br />
aufgefallen ist. Ein unangepasster<br />
Künstlertyp, der obendrein<br />
einen breiten vogtländischenDialektspricht.<br />
Von1989bis2004warAndiel<br />
Bürgermeister von Pulow und<br />
brachteindieserZeitvieleStrukturprojekte<br />
auf den Weg. Er<br />
brachtePulow undLassanindie<br />
staatlichenProgrammezurDorferneuerung<br />
und Städtebauförderung.<br />
Zusammen mit engagierten<br />
MitbürgerInnen wurde<br />
ein Kultur- und Naturschutzverein<br />
gegründet und eine Textilwerkstatt<br />
aufgebaut. Auch die<br />
Touristenattraktion „Duft- und<br />
Tastgarten“ inPapendorf entstand<br />
in dieser Zeit. Andiel<br />
schaffte es zudem, überregionaleMedienwiedenSpiegelaufdie<br />
MissständevorOrtaufmerksam<br />
zu machen. So erfuhr auch Johannes<br />
Heimrathvom Lassaner<br />
Winkel.<br />
Johannes Heimrath, Jahrgang<br />
1953,stehtnochjetztimDezem-<br />
Die Pommerländer Kräuterfrauen Fotos: Human Touch Medien<br />
Die Lebensgemeinschaft, links Johannes Heimrath<br />
AUFSCHWUNGEineRegioninVorpommernentwickeltsichzueinemErfolgsmodellfürregionale<br />
WertschöpfungundNetzwerkbildung.Dabeigaltsielangeals„letztesLochvorderHölle“<br />
RaumfürEinsteiger<br />
ber barfuß auf der Straße in<br />
KleinJasedowundwinkt.GenausowieAndielträgterseineHaare<br />
ineinemlangenPferdeschwanz.<br />
Heimrathlebt seit1997inKlein<br />
Jasedow–gemeinsammitseiner<br />
„LebensgemeinschaftKleinJasedow“,einemVerbundvon16Musikern<br />
und Kreativen, die unter<br />
einem Dach leben und wirtschaften.ObwohldieGruppeoffen<br />
istfür Esoterisch-Spirituelles,<br />
istsie alles andere als eine<br />
Sekte,für diemancheEinheimischesieanfangshielten.Siewollenniemanden<br />
bekehren, sind<br />
abermitdemVorsatznachKlein<br />
Jasedow gezogen, ein besseres<br />
Leben für sich und die gesamte<br />
Region aufzubauen. „Wir sind<br />
keine Aussteiger,wir steigen in<br />
etwas ein“, macht Heimrath<br />
deutlich:„Wirwollendieheutige<br />
Gesellschaftverstehenundaktiv<br />
mitgestalten.“<br />
Dieses Vorhaben setzen<br />
Heimrathund Co.mit erstaunlicher<br />
Effizienz und unternehmerischer<br />
Spitzfindigkeitum. Die<br />
GruppehatinKleinJasedowein<br />
Unternehmensnetzwerk praktisch<br />
ausdem Boden gestampft.<br />
Dazu gehört eine Medienproduktionsfirma,<br />
ein Verlag, eine<br />
Bildungs- und Kulturakademie<br />
(www.eaha.org) und eine Instrumentenwerkstatt.<br />
„Wir haben<br />
über 40 neue Arbeitsplätze geschaffen“,<br />
sagt Heimrath und<br />
weisteinschränkenddaraufhin:<br />
„Die Gehälter hier in der Region<br />
sind nach wie vorHungerlöhne.<br />
Wirschaffenesimmerhin,überall<br />
die Mindestlöhne zu bezahlen.“<br />
KleinJasedow,EndederNeunziger<br />
ein Dorfvor dem Aus, ist<br />
heute nicht mehr wiederzuerkennen.<br />
Die Bevölkerung hat<br />
sichdurchdieNeuankömmlinge<br />
mehr als verdoppelt. Neue Gebäudesindentstanden,alteBautenwurdensaniertundumfunktioniert.<br />
Am Eingang des Dorfes<br />
Blick auf Lassan, den Peenestrom und Teile der Insel Usedom Foto: vario images<br />
ANZEIGE<br />
wurdeein„Begegnungshaus“gebaut,indemjungeundalteMenschengemeinschaftlichwohnen<br />
können–inbehindertengerechten<br />
Erdgeschosswohnungen die<br />
Alten, im Stock darüber die Jungen.DergrößteStolzderKleinJasedowerist<br />
ein sich energetisch<br />
selbsterhaltendesTagungs-und<br />
Konzerthaus. Hier werden Konzerte,<br />
Workshops und Fortbildungen<br />
abgehalten, die Menschen<br />
ausder ganzen Bundesrepublik<br />
anlocken. Und auch der<br />
„Holunderblütenmarkt“imJuni,<br />
den die Klein Jasedowerins Lebengerufenhaben,hatsichzueinem<br />
echten Publikumsmagnetenentwickelt.<br />
Trotz allem bleibt man in<br />
Klein Jasedowbescheiden. „Wir<br />
selberhabenunserLebensoeingerichtet,<br />
dass wir nur wenig<br />
Geld benötigen. Wir ernähren<br />
uns zu großen Teilen vonunserem<br />
eigenen Garten und unseren<br />
eigenen Tieren“, sagt Heimrath.<br />
Die gegründeten Firmen,<br />
Genossenschaften und Vereine<br />
sollen vornehmlich dem Gemeinwohl<br />
dienen. Der erwirtschafteteProfitfließtzumGroßteil<br />
in gemeinnützige Projekte.<br />
ImGrundegehtesinKleinJasedow,<br />
wennmanHeimrathsoreden<br />
hört, um eine anthroposophische<br />
Vision: weg von einer<br />
globalen kapitalistischen Geldwirtschaft<br />
hin zu einer regional<br />
organisierten Tausch- und<br />
Schenkökonomie.<br />
Die stillgelegte Schweinemastanlage<br />
in Pulow istnoch so<br />
ein Ort, der sukszessivneu erschlossen<br />
wird. Seit 2004 haben<br />
sichgleichdreiUnternehmenerfolgreichaufdemaltenGewerbehof<br />
angesiedelt, darunter die<br />
Teemanufaktur „Kräutergarten<br />
Pommerland“ –ein genossenschaftlich<br />
organisierter Biobetrieb,<br />
der unmittelbar ausden<br />
Initiativenvon Matthias Andiel<br />
hervorgegangenist.Wasalskleine<br />
ABM-Maßnahme seinen Anfang<br />
nahm, hatsich zu einem<br />
aufstrebenden Unternehmen<br />
mitbreiter Produktpalette entwickelt.<br />
Rund 20 Teesorten werden<br />
hier vorOrt getrocknet, gemischtund<br />
abgepackt. Im Verbund<br />
miteiner Lassaner Mosterei<br />
werden Kräutersirups hergestelltund<br />
vertrieben. Die Belegschaftbestehtfastausschließlich<br />
ausFrauen ausPulow und den<br />
umliegendenDörfern.<br />
Dieses Jahr hat der Betrieb<br />
rund 190.000 Packungen Tee<br />
verkauft. „Unsere Produkte sind<br />
mittlerweileauch in jedem gut<br />
sortierten Bioladen in Berlin erhältlich“,<br />
sagt Geschäftsführerin<br />
ChristianeWilkening.DasUnternehmenhataufSolarstromumgestellt,sollweiterwachsenund<br />
suchtnundringendneueGenossenschaftsmitglieder.<br />
ZumMitmachen wollen auch<br />
die Organisatoren des Tourismus-Netzwerkes„Kräuter,Kunst<br />
undHimmelsaugen“animieren.<br />
DasNetzwerkisteineKooperation<br />
zahlreicher Kulturvereine,<br />
Handwerksbetriebe, Bauernhöfe,<br />
Gaststätten, Kunstgalerien,<br />
therapeutischerPraxen,Kirchen<br />
undMuseen.Dasgemeinsamerarbeitete<br />
VeranstaltungsprogrammsolldenLassanerWinkel<br />
über das ganze Jahr hinwegals<br />
Urlaubsziel attraktivmachen –<br />
besonders für Familien. Eine geführte<br />
Wildkräuterwanderung,<br />
musikalische und kunsthandwerklicheWorkshopsoderPonyreitengehörenzumAngebot.<br />
Langfristig soll der Lassaner<br />
Winkel ein Paradies für Radfahrer<br />
und Landurlauber werden.<br />
Im kommenden Jahr soll dann<br />
auch endlich eine Fähre Lassan<br />
anlaufenundTouristenvonUsedom<br />
herüberbringen. Bis dahin<br />
willmanbereitseinunddenBesuchern<br />
eine echte Alternative<br />
zum Usedomer Massentourismusbieten.<br />
Websites: www.lassan.eu<br />
www.campingplatz-lassan.de<br />
www.paradiesgarten-lassaner-winkel.de,<br />
mirabelleev.de<br />
zukunftswerk-kleinjasedow.de<br />
kraeutergarten-pommerland.de<br />
www.ackerbuergerei.de<br />
Im Aufbau: lassaner-winkel.de<br />
apple Was macht<br />
die Bewegung?<br />
30C3: Diskutieren, hacken und die Rakete<br />
starten lassen<br />
30C3 –der 30.Chaos Communication<br />
Congressvom CCC, dem Chaos Computer<br />
Club,startetwieder zumJahresende<br />
in Hamburg. Das alljährliche Treffender<br />
Hacker und Diginerds findetpassender<br />
WeiseimCCH statt. Der CCC–umbei<br />
den 3Cszubleiben –ist die größte europäische<br />
Hackervereinigung. Der Verein<br />
setzt sich grenzüberschreitend fürInformationsfreiheit<br />
und Datenschutz ein<br />
und wirdvon vielen als „die Kompetenz“<br />
in der digitalen Sphäreangesehen.<br />
Nach den Enthüllungen zu Prism, Temporaund<br />
Co könnte es dieses Jahr spannend<br />
werden: Gibtesein „Weiter so“ in<br />
der digitalen Kommunikation oder muss<br />
das Netz von„scratch“ neu aufgebaut<br />
werden? Neben Vorträgen, Workshops<br />
und Hacker-Contestwirdauch der Spaß<br />
nichtzukurz kommen: Sonntagnacht<br />
startetdie FnordNewsShow. Im Format<br />
einer lockeren Abendshowpräsentieren<br />
Fefe und Frank einen „schonungslosen<br />
Realitätsabgleich mit Birzarrometer-Rekalibrierung“.Das<br />
alljährliche Highlight<br />
auf dem C3 istPopcorn-tauglich und<br />
nichtnur fürNerds geeignet.<br />
■ 30C3, vom 27. bis 30. Dezember im<br />
Congress Center Hamburg, alle weiteren<br />
Infos: events.ccc.de/congress/<br />
2013
14 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE LEIBESÜBUNGEN | taz<br />
bei diesem Pädozeugs, da waren wir<br />
schonaufdemWegzumChef,aberzum<br />
Glück waren voruns schon andere da,<br />
damussmanauchmaleinLobaussprechen,<br />
aber das wäre beinahe schiefgegangen,<br />
das warknapp. Und wenn ihr<br />
euch jetzt wieder irgendwelche schönen<br />
Sachen ausdenkt für die Zukunft,<br />
dann haben wir gar nichts dagegen,<br />
aber dann solltet ihr auch maldaran<br />
denken, wasdaalles passieren kann.<br />
Was, wenn maleiner nicht aufpasst?“<br />
Also sprach der Sprachexperte und<br />
lässtunsratlosaufdemRasenmitRilke.<br />
Nichtmal verraten, wasdas Wort oder<br />
das Unwort des kommenden Jahres<br />
werdenwürde,willer.DieserRilkewird<br />
uns suspekt, und wir werfen ihn über<br />
den Zaun. Wirdenken über Standards,<br />
Formateund Redaktionssysteme nach<br />
undwiediewohlimnächstenJahraussehen<br />
werden.<br />
10<br />
Dabei nicken wir ein.<br />
Und als wir wieder aufwachen, kommt<br />
dieZentralevorbeiundverkündet,dass<br />
ab jetzt alles, aber auch wirklich alles<br />
überihrenSchreibtischzulaufenhabe.<br />
DasfindenwireineprimaIdeeundwollenuns<br />
schon aufmachen, das hohe<br />
RossderDachterrassezuverlassen,um<br />
über den Schreibtisch der Zentralezu<br />
laufen.DochdakommtnocheinExperte<br />
aufs Dach gerannt, der Experte für<br />
Aufregung. Ohne Luft zu holen, sprudeltesaus<br />
ihm heraus: „Empörteuch!<br />
Sängerin Miley Cyrus kommtmit einemschwarzenMannaneinerHundeleineaufdieBühneundhältihreArschbackenanThiloSarrazinsGesicht.Aufschrei!Boykott!Skandal!AliceSchwarzerfordertdieradikaleAbschaffungder<br />
Der Hundling<br />
VON ANDREAS RÜTTENAUER<br />
Was das wieder kos-<br />
tet“,sagtderMüller-<br />
Albert zu seiner<br />
Frau und drehtsich<br />
einmal vordem Spiegel. „Aber<br />
sie schaut doch gut aus“, sagt<br />
Gudrun, seineFrau. „Außerdem<br />
brauchstdueine.“JedesJahrzwischendenJahrengehensiezum<br />
Hirmer in die Innenstadt und<br />
kaufen ein Sakkound eine Hose<br />
fürdasneueJahr.„Diesollenruhig<br />
sehen, dass dir waswertist,<br />
wasduanhast.Daszahltsicham<br />
Ende schon aus.“ Auch wenn er<br />
sich durchaus vorstellen kann,<br />
dass seine Frau recht haben<br />
könnte,gernegehternichtindas<br />
Modehaus. „Schau,der Hoeneß<br />
machtdasauchnichtanders“,hat<br />
seine Frau vorein paar Wochen<br />
gesagt, als sie in der Abendzeitung<br />
über die Wiedereröffnung<br />
vomHirmer in der Kaufingerstraße<br />
gelesen hat. „Schau, da<br />
steht’s“,hat sie zu ihrem Mann<br />
gesagtundihmdasBildgezeigt,<br />
unter dem stand, dass sich der<br />
Hoeneß seine Hosen schon immer<br />
vonseiner Frau beim Hirmer<br />
hat aussuchen lassen.<br />
Glücklich hatHoeneß aufdem<br />
Foto ausgesehen. „Wäre ja noch<br />
schöner“,hat sich der Müller-Albert<br />
seinerzeit gedacht, „wenn<br />
die ihn wegen der paar Steuermillionenfertigmachenwürden,<br />
denHoeneß,denHundling.“<br />
*<br />
„In den Iden des März“,sagtder<br />
Meier-Wolfgang,„dawirdsichalles<br />
entscheiden.“ Er hat schon<br />
immer gerne den Lateiner herausgekehrt.<br />
Der Giesinger Bub<br />
hat esnicht leicht gehabt auf<br />
dem humanistischen Gymnasium<br />
damals nach dem Krieg. Wo<br />
ergewohnthat,habendieKinder<br />
nach der Schuleauf der Straße<br />
gespielt.WoseineMitschülergewohnthaben,<br />
sind nachmittags<br />
die Privatlehrer gekommen.<br />
Heute wohnt der Meier-Wolfgang<br />
selbstinBogenhausen, als<br />
angesehener Notar –nichtweit<br />
entferntvon dem Prominentenanwalt,mitdemersichsogerne<br />
über RichardWagner unterhält.<br />
ErgiltalseingefleischterWagnerianer,der<br />
jedes Jahr nach Bayreuthfährt.Undauchwenneres<br />
zu einem beachtlichen Wohlstandgebrachthat,weißer,dass<br />
er für die wahren Herren Münchens<br />
immer ein Parvenübleibenwird.„Erwieder“,sagtderTabak-Heinz,<br />
dessen Familie sich<br />
mitdemVertriebedlerRaucherwaren<br />
schon vorgut 150 Jahren<br />
in den Patrizierstand hochgehandelt<br />
hatte, „der Lateiner.“<br />
Zwischen den Jahren waresimmer<br />
besonders lustig an ihrem<br />
Stammtisch. Der Tabak-Heinz<br />
hatte gefragt, wann eigentlich<br />
der Prozess gegen den Hoeneß<br />
imnächstenJahrsteigt.„Undwas<br />
willstdudamitsagen? Dass sie<br />
ihnerdolchenwollen?“DerMeier-Wolfgangschautganzernstin<br />
die Runde: „Zuzutrauen wäre es<br />
ihnen,sowiesieihnbisjetztbehandelthaben.“<br />
„Auf den Uli!“,<br />
sagt der Kapuzen-Anderl, der<br />
ehemalige Mönch, der jetzt als<br />
Unternehmensberater so sehr<br />
gefragtist,dass er schon nicht<br />
mehrwegzudenkenistausihrer<br />
MORALImMärz<br />
musssichUli<br />
HoeneßvorGericht<br />
verantworten.<br />
Nichtnurder<br />
PräsidentdesFC<br />
Bayernsiehtindem<br />
Steuerprozesseine<br />
Riesensauerei.Eine<br />
Neujahrsgeschichte<br />
ausderMünchener<br />
Innenstadt<br />
Herrenrunde. „Der Hoeneß, der<br />
Hundling!“,denktsichderTabak-<br />
Heinz, während er sich sein hellesLieblingsbier<br />
in den Magen<br />
laufenlässt.<br />
*<br />
„WobleibteigentlichderUliheute?“,fragtderneueWirtdieNeubichler-Marianne.„Weißtesdoch<br />
sowieso“, sagtdie.„Derwarnicht<br />
mehrsooftda,seitdieSacheaufgekommenist.“Nichteinmalzu<br />
dem schönsten Termin der<br />
Stammtischsaison isteralso gekommen.<br />
Die Neubichler-Marianne,dieschonindemHausbedienthat,alsderVorgängervom<br />
neuen Wirt sich in die Pleite gezockthat,weilersportwagenmäßig<br />
unbedingt mit seinen<br />
Stammgästen mithalten wollte,<br />
vermisstden Uli schon ein bisschen.<br />
Keiner gibt so viel Trinkgeld<br />
wie der Bayern-Präsident.<br />
Außerdem warernichtganz so<br />
fies wie die anderen. Wenn das<br />
Bier und die edlen Obstler vom<br />
BodenseeihreWirkunggetanhaben,dannlandetnichtseltendie<br />
HandeinesderfeinenHerrenan<br />
ihrerBrust.UndweilderRausch<br />
eines Patriziers auch nichtanders<br />
daherkommtals der eines<br />
Plebejers, weiß die Neubichler-<br />
Marianne so manches, wassie<br />
liebernichtwissenmöchte.Dass<br />
der nobleHerr Notar sich auch<br />
schon selbstangezeigt hatzum<br />
Beispiel, um wenigstens einen<br />
TeildesGeldes,dasereinstnach<br />
Luxemburg gebrachthat,zuret-<br />
In den Iden des März wird über ihn entschieden: Uli Hoeneß ist schon gespannt Foto: dpa<br />
ten, würde sicher andere Menschen<br />
mehr interessieren als sie<br />
selbst.ImmerhingibtderMeier-<br />
Wolfgang fast so viel Trinkgeld<br />
wie der Uli, seit eranjenem<br />
Abend seine Hand unter das<br />
Dirndl seiner Lieblingsbedienung<br />
geschoben hat. Dem Uli<br />
wäresoetwasnierausgerutscht,<br />
da istsie sicher.Esmusste zwar<br />
jeder immer wissen, wem er<br />
wann welche Summe gespendet<br />
hat. Und wenn er sich mitdem<br />
Ministerpräsidenten oder der<br />
Kanzlerin getroffen hat, dann<br />
wussten das auch immer alle.<br />
AberüberGeldhaterniegesprochen.<br />
Und dass er an der Börse<br />
spekulierthat,hat auch keiner<br />
mitbekommen.DieNeubichler-<br />
MariannehatschonRespektvor<br />
ihm.„DerUli,derHundling!“<br />
*<br />
„Und,kommtnochwer?“,willder<br />
Geschäftsführer des Gourmettempels<br />
hinter der FußgängerzonevonseinemChefwissen.<br />
Der Hoeneß-Uli sitzt alleine in<br />
seinem Lieblingsseparee. Das<br />
warschon öfter so,seitbekannt<br />
geworden ist, dass er in der<br />
SchweizeinKontohatte,dasihm<br />
der frühere Adidas-Boss aufgefüllthatte,<br />
damiterGeld zum<br />
Spekulierenhat.Schonklar,dass<br />
einer wie der Ministerpräsident<br />
essichindiesenTagennichtleisten<br />
kann, miteinem gesehen zu<br />
werden, der vonden Medien als<br />
Steuersündervorgeführtworden<br />
ist. Er hatden Hoeneß und den<br />
Parteichef oft bedientinjenen<br />
Tagen, als die beiden noch so etwaswieeinGespannwaren.Nach<br />
dem Triple des FC Bayern München<br />
hatder Ministerpräsident<br />
die kickenden Helden empfangen,<br />
sich selbstein Bayern-LeibchenübergestreiftunddenHoeneß-Uli<br />
endlich einmal wieder<br />
herzendürfen.AberzumZwiegesprächimSepareewarerniewiedermitdemUliverabredet.Sein<br />
Chef, der einmal beinahe alles,<br />
wasersicherarbeitethatte,verlorenhätte,nurweiletwasmitseinen<br />
Steuererklärungen nichtin<br />
Ordnungwar,isteinmahnendes<br />
Beispiel. Auch der ausFunk und<br />
Fernsehen bekannte Sternekoch<br />
hatte wichtige Freunde, die er in<br />
seinen Häusern gern, und ohne<br />
etwasdafürzu verlangen,bewirtenhatlassen.Unddochhatman<br />
ihn wegen Steuerhinterziehung<br />
zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.<br />
„Da fragst du dich schon,<br />
warumdudichfürsoSachenwie<br />
das Bundeskanzlerfestaufarbeitest,<br />
denen das beste Essen servierst,<br />
wenn dir in der Notdann<br />
dochkeinerhelfenwill“, hatsein<br />
Chef gesagt, als klar war, dass es<br />
einenProzessgegendenHoeneß<br />
gebenwird.ErhatauseigenerErfahrung<br />
gesprochen. Aus der<br />
weiß er auch, dass es am Ende<br />
scheißegal ist, ob du Geld an der<br />
Steuervorbeimanövrierthast.So<br />
viel Fernsehpräsenz wie in den<br />
Tagen vor dem Jahreswechsel<br />
hatteseinCheflangenichtmehr.<br />
Er verkauft sich gutals bayerischer<br />
Schlawiner,und niemand<br />
hatihnjeaufseineSündenangesprochen.<br />
„Der Uli trifft sich mit<br />
seinem neuen Anwalt“, sagt der<br />
Chef.Dashatteergelesen.Dieser<br />
Mann hatnoch jeden Promi vor<br />
demKnastgerettet,sogardiesen<br />
früheren Postchef. „Der Uli<br />
schafftdasschon“, denktsichder<br />
Geschäftsführer. „Der Uli, der<br />
Hundling!“<br />
*<br />
Die neue Hose wardann doch<br />
nichtsoteuer,wie er befürchtet<br />
hatte. Zwischen den Jahren gibt<br />
esauchineinemTraditionshaus<br />
wiedemHirmerRabatt.Jetztwill<br />
er noch ein Helles in der neuen<br />
Bar des Modehauses trinken.<br />
3,10Eurokostet ein kleines Glas<br />
im edlen Ambiente. So wirdes<br />
wahrscheinlich bald in dem<br />
TeamquartierdesDFBausschauen,<br />
dass die Hirmers gerade in<br />
Brasilienbauenlassen.Waswohl<br />
der Hoeneß hier essen würde,<br />
fragtsich der Müller-Albert. Das<br />
wäredemdochvielzu vornehm<br />
hier,ist er sich sicher.„Lass uns<br />
doch noch ein Packerl Würschtl<br />
beimAldikaufen“, schlägterseiner<br />
Gudrun vor. 2,19Eurokostet<br />
einePackung.„Dasistderwahre<br />
Uli“, denktsichderMüller-Albert<br />
und erinnertsich daran, wie er<br />
aufder Mitgliederversammlung<br />
des FC Bayern mitseinem Präsidenten<br />
zusammen geweinthat:<br />
„Einfach einer von uns, der<br />
Hundling.“
taz |LEIBESÜBUNGEN<br />
SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE 15<br />
Katzenapartheid. Irgendwer fordert<br />
denBoykottisraelischerProdukte,Tierschützer<br />
stürmen den Catwalk, und<br />
Brad Pitt lässtsich vorsorglich einen<br />
Hoden entfernen, weil er ein privilegierterMannist.Birkelweigertsich,einen<br />
Werbefilm mit einem schwulen<br />
Paarzudrehen,AlexanderDobrindträkelt<br />
sich in Unterwäsche auf einem<br />
BMW, der Schlagzeuger der Goldenen<br />
ZitronenziehtwährendeinesKonzerts<br />
seinT-Shirtaus.VorSotschiküssensich<br />
heterosexuelleFrauen aus Protest und<br />
sagenspäterinInterviews,wieseltsam<br />
derKuss war. EineHausfrau veröffentlichteinenRomanmitPeitschen,venezianischen<br />
Masken und gutgebauten<br />
Männern. Lars vonTriers Film „Nymphomanic“lösteineDebatteaus:WobeginntKunstund<br />
wasdarfsie, und wo<br />
hörtPornografieaufundwasistdaran<br />
Kunst? Die große Koalition verbringt<br />
das ganze Jahr aufder neuen AchterbahnWingCoasterimHeide-Park.Lobbyisten,<br />
die im Koalitionsvertrag zu<br />
kurzgekommensind,werfenderRegierung<br />
deswegen Verschwendung der<br />
Steuergelder vor.“Also sprach der Experte<br />
für Aufregung und lässtuns nun<br />
ganzallein.AberbevorsichderHimmel<br />
ganz verdunkelt, trittnoch Christian<br />
Specht aufs Dach. Wieerdahochgekommenist,weißkeiner.Ersagtnichts.<br />
GibtnurseineZeichnungenab.Aufdenen<br />
teilteruns seine Visionen für das<br />
nächste Jahr mit. Die können Sie hier<br />
exklusiv bestaunen. Und wir staunen,<br />
dass wir es gemeinsam bis hierher geschaffthaben,undwünscheneinschönesundaufregendes2014!Cincin!<br />
„Natürlich ist die Talentsuche einer unserer Schwerpunkte“: Kickende Kinder in einem Fußballprojekt in Rio de Janeiro Foto: Anita Back/laif<br />
SOZIALARBEITImVorfeldderMänner-WMinBrasilienbekommtimGastgeberlandauchder<br />
FrauenfußballeinenSchub–vorallemalsAufhängerfürSozialprojekteindenArmenvierteln<br />
Wundergibtesimmerwieder<br />
AUS RIO DE JANEIRO<br />
ANDREAS BEHN<br />
Wunder sind im Fußball<br />
keine Seltenheit.Zumeistfinden<br />
sieaufdenSpielfeld<br />
statt,manchenSpielernwirddas<br />
Wundersame als Wesensmerkmalzugeschrieben.WeitverbreitetistauchderGlaube,dassFußball<br />
in anderen Bereichen Berge<br />
versetztenkann,zumBeispielim<br />
Sozialen, dort, wo die Gesellschaft<br />
nichtsofunktioniert, wie<br />
siesicherträumtwird.Esentstehen<br />
Fußballprojekte, die insbesondere<br />
Kindern und Jugendlichen<br />
helfen soll, einen rechtschaffenen<br />
Weg einzuschlagen.<br />
Und wie oft im Fußball werden<br />
solcheIdeenerstimmaskulinen<br />
Bereich erprobt und erreichen<br />
erstspäterMädchenundFrauen.<br />
„Wir wollen den Kindern in<br />
der Favela zeigen, dass es im Lebenmehrgibt,alssichdemVerbrechenanzuschließen“,<br />
sagtRoxanne<br />
Hehakaija. Die 29-jährige<br />
Holländerin wareinstProfifußballerin,<br />
jetzt hatsie ihr Faible<br />
für Streetfootball entdeckt. Brasilienhatsieschonimmerfasziniert.<br />
Die Fußball-WeltmeisterschaftimkommendenJahrsieht<br />
Hehakaija als große Chance.<br />
„FußballkanndenMädchenhelfen,gemeinsameineSacheanzupacken,besseruntereinanderzu<br />
kommunizierenundVerantwor-<br />
tungsgefühl zu entwickeln“, sagt<br />
Hehakaija. Dazubrauche es nur<br />
ein wenig Geld und die richtige<br />
Struktur.<br />
FavelaStreetGirlsheißteines<br />
der zahlreichen Projekte, die<br />
Mädchen in den Armenvierteln<br />
vonRiodeJaneiromitFußballbegeisterung<br />
vonder Straßen locken<br />
soll. Die Projektleiterin aus<br />
Hollandhofft,schonin2014mit<br />
rund hundertMädchen zusammenzuarbeiten.Vondenälteren<br />
solleneinigegleichzuBeginnzu<br />
Tutorinnen ausgebildet werden.<br />
„Wer über 16 Jahre altist,kann<br />
selbstdie anderen in ihrer Gemeinde<br />
anleiten. Jede Gruppe<br />
wirddannaus20bis25Mädchen<br />
bestehen“, plantHehakaija.<br />
In drei Favelas der zweitgrößten<br />
StadtBrasiliens soll das Projekt<br />
stattfinden, vorerst. Bangu,<br />
VilaCruzeiroundFaveladoLixão<br />
heißendieStadtviertel.Esistdie<br />
Peripherie der Touristenmetropole.RiesigeAnsiedlungenärmlicher<br />
Behausungen, kaum<br />
Transportmittel und Freizeitangebote.<br />
Oft dominiertder DrogenhandeldasöffentlicheLeben,<br />
für vieleKids eine erste, mitunter<br />
tödlich endende Beschäftigungsmöglichkeit.<br />
Favela Street Girls orientiert<br />
sich an einem männlichen Vorbild.FavelaStreet,2010ebenfalls<br />
voneinemHolländergegründet,<br />
istinderselbenGegendtätig.750<br />
Jugendlichen bietet der Fußball<br />
seitdem eine Alternative zum<br />
Drogengeschäft. Für die Jugendlichen<br />
eine willkommene Abwechselung.<br />
Doch das in Brasilien<br />
beliebteste Wunder,nämlich<br />
wie Pelé oder Neymar mitgeschicktenFüßenzuWeltruhmzu<br />
gelangen,istselten.<br />
Aber das Versprechen des sozialen<br />
Aufstiegs darfinkeinem<br />
Fußballsozialprojekt fehlen.<br />
„NatürlichistdieTalentsucheeiner<br />
unserer Schwerpunkte“, sagt<br />
Exprofi Hehakaija. Werbeim Kicken<br />
aufder Straße oder holprigen<br />
Erdplätzen auffällt, wirdgefördertundwomöglichanlokale<br />
Vereinevermittelt.„DasSchönste<br />
wäre, eine neue Marta zu entdecken.SiewarfürmicheingroßesVorbild“,<br />
sagtHehakaija.<br />
DieStürmerinMartaVieirada<br />
Silva die bekannteste FußballerinderWelt.ZueinemWeltmeistertitel<br />
oder Olympiasieg hates<br />
zwar nicht gereicht, aber fünf<br />
Mal wurdedie Brasilianerin zur<br />
weltbestenSpieleringewählt,zuletzt2011.InzwischenspieltMarta<br />
in Schweden, wo sie 2012 mit<br />
demStockholmerTyresöFF den<br />
Meistertitelgewann.<br />
BeiFavelaStreetGirlsgehtder<br />
Traumvom großen Aufstieg direkt<br />
in Richtung Ajax Amsterdam.<br />
Der Traditionsklub sponsertdasProjekt,gemeinsammit<br />
Sportunternehmen wie Adidas.<br />
KeingroßerPlayerderkommerziellen<br />
Kickerweltkommtheute<br />
darumherum,sichmitsozialem<br />
Engagement, gerade auch in der<br />
Wachstumsbranche Frauenfußball,<br />
zu schmücken. Doch Hehakaijaistrealistisch:„Zwarstehen<br />
wir im Kontakt mitder Frauenmannschaft<br />
vonAjax. Doch das<br />
istZukunftsmusik.“ Das Projekt<br />
seinochweitdavonentfernt,Talente<br />
für den internationalen<br />
Transfermarktzusichten.<br />
Kickende Frauen gibt es noch<br />
nichtlangeinBrasilien.Während<br />
in England der Frauenfußball<br />
sich bereits im Ersten Weltkrieg<br />
großerBeliebtheiterfreute,dauerte<br />
es in Südamerikas größter<br />
Fußballnationbis ins Jahr 1958,<br />
dass zumersten Mal überhaupt<br />
zwei Frauen-Teams offiziell gegeneinander<br />
antraten. Damals<br />
plagten Geldprobleme die Schule<br />
in Araguari, einem kleinen<br />
Städtchen tief im Innern des<br />
Bundesstaates Minas Gerais. In<br />
derNotentstanddieIdee,mitErlösen<br />
auseinem Frauen-Match<br />
das kommende Schuljahr zu finanzieren.<br />
Heimlich wurden 22<br />
Jugendliche zwischen 12 und 18<br />
JahrenausgesuchtundvomFußballverein<br />
Araguaritrainiert. Da<br />
der lokale Rivale Fluminense<br />
nichtmitmachte,lostendieMädchenuntereinanderaus,weram<br />
großenTagfürAraguariundwer<br />
fürFluminenseauflief.<br />
Das Spektakel warein voller<br />
Erfolg. Der Medienrummel<br />
reichtebisinandereBundesstaa-<br />
Weil er „mit der<br />
Natur vonFrauen<br />
unvereinbar“ sei,<br />
war der Frauenfußball<br />
auch in<br />
Brasilien bis in die<br />
Siebzigerjahre<br />
hinein verboten<br />
ten, die Mädchen ausAraguari<br />
wurden zu Gastspielen eingeladen.„ÜberallwurdenwirumAutogramme<br />
gebeten“, erinnert<br />
sichDarcideDeusLeandro,heute<br />
70 Jahre alt. „Das ganze Spiel<br />
über schickten uns die Männer<br />
Handküsse, wir wurden umjubeltund<br />
umgarnt. Aber immer<br />
sehrrespektvoll.“<br />
Doch bald wurdedie katholische<br />
Kirche aufdie Frauen im<br />
Fußballdressaufmerksam.EsgelangdenMoralhütern,dieSpiele<br />
verbieten zu lassen. Als 1959 die<br />
erste Einladung zu einem AuslandsspielinMexikokam,schritt<br />
auchderdamalsmächtigeNationaleSportrat<br />
(CND)ein.MitVerweis<br />
auf ein altes Dekret, das<br />
„Sportarten, die mitder Natur<br />
vonFrauenunvereinbar“waren,<br />
untersagte, wurde FrauenfußballinBrasilienverboten–bisin<br />
dieSiebzigerjahrehinein.<br />
Bis heute istdie Geschichte<br />
des brasilianischen Frauenfußballs<br />
nichtannähernd so glorreichwiedieKarrierevonMarta<br />
Vieira, die als 14-Jährige vonZuhausefliehenmusste,umfernab<br />
derFamilieinRiodeJaneiroihre<br />
Karriere aufzubauen. Vorallem<br />
mangeltesanAusbildungundfinanzieller<br />
Unterstützung, erst<br />
seitdenNeunzigerjahrenistder<br />
Frauenfußballeinigermaßenanerkannt.DerWissenschaftlerOsmar<br />
Moreira deSouza Júnior<br />
kommtinseiner kürzlich veröffentlichten<br />
Doktorarbeit zum<br />
dem Schluss, dass kein einziger<br />
VereinimfünftgrößtenLandder<br />
Welt die gesetzlichen VorschriftendesProfifußballsimFrauenbereich<br />
umsetzt. „Die Athletinnen<br />
werden zwar den im sogenannten<br />
Pelé-Gesetz vorgesehenen<br />
arbeitsrechtlichen Pflichten<br />
unterworfen.DochdieimnationalenFußballrechtfestgeschriebenen<br />
Gegenleistungen wie vertragsmäßige<br />
Bezahlung und angemessene<br />
Arbeitsbedingungen<br />
werdenverweigert“,schreibtMoreiradeSouza.<br />
So kommen wundersame<br />
Frauenfußballgeschichtenheute<br />
meistausdeninzwischenunzähligen<br />
Sport-Sozialprojekten.<br />
ZumBeispiel Beatriz. Sie lebt in<br />
Maranhão, Brasiliens ärmsten<br />
BundesstaatimNordosten. Gewalt,Drogen<br />
und Perspektivlosigkeit<br />
prägten ihre Kindheit.<br />
DreiJahreistesjetzther,dassdas<br />
britische Kinderhilfswerk Plan<br />
Internationalinder ländlichen<br />
Gemeinde São José de Ribamar<br />
seineArbeitaufnahm.<br />
Zu Anfang wollte Beatriz nur<br />
eines: Fußball spielen. Aber die<br />
damals 14-Jährige fand durch<br />
den Fußball auch zu sich selbst.<br />
Mitdem Sportlernte sie neue<br />
Freundekennenundwurdesich<br />
ihrerRechtebewusst.Siebegann<br />
Gender-Workshopszuorganisieren<br />
und vertrat ihre Schule,<br />
wenn in der Region über die<br />
RechtevonKindernundJugendlichen<br />
diskutiert wurde. Sie<br />
nahm an einer Nationalen Konferenz<br />
zum Kinderrechtsstatut<br />
in der HauptstadtBrasília teil,<br />
wurdezur Aktivistin in Sachen<br />
Frauenfußball.HeuteistBildung<br />
Beatriz’ Lieblingsthema, und<br />
auchvieleJungenhabenvonihr<br />
gelernt,dassesimFußballnicht<br />
nurumTore gehen muss. Die<br />
Scouts waren vordrei Jahren in<br />
MaranhãoaufderSuchenacheinemFußballtalent,gefundenhaben<br />
sie ein engagiertes Mitglied<br />
derGesellschaft.
16 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE LESERINNENZENTRUM | taz<br />
Endlich mal jemand, der gegen dieses scheinheilige<br />
Weihnachtsgetue Akzente setzt. Friede, Freude, Eierkuchen<br />
und ansonsten weiterhin Volksverarschung im Namen des<br />
Herrn. Unerträglich istdas. Josephines Protestdagegen<br />
ein Lichtblitz in der Finsternis.<br />
RAINER B. ZU „DIE AUF DEN ALTAR SPRANG“, TAZ.DE VOM 26. 12. 13<br />
dietageszeitung|Rudi-Dutschke-Straße23|10969Berlin| briefe@taz.de|www.taz.de/Zeitung<br />
DieRedaktionbehältsichAbdruckundKürzenvonLeserInnenbriefenvor.<br />
DieveröffentlichtenBriefegebennichtunbedingtdieMeinungdertazwieder.<br />
LESERINNENBRIEFE<br />
Der Papstist kein Marxist<br />
WEIHNACHTSKASINO –„DerPapstsagt,unsereWirtschafttötet,undübtdochkeine<br />
Systemkritik“,schreibtUlrikeHerrmannineinemDebattenbeitrag.Dazugabesinder<br />
online-tazzahlreicheKommentareundeinenLeserbriefandietaz<br />
Noch viel Kraft<br />
■ betr.: „Der Papst und das Kapital“,<br />
taz.de vom 25. 12. 13<br />
AusufernderMaterialismusunddie<br />
BergpredigtvonJesusChristus,das<br />
möchtePapstFranziskusgegenüberstellen.DerPapsterhöhtmitseiner<br />
BotschaftdieArmenundbeschämt<br />
dieskrupellosenKapitalisten,Kommunisten,Diktatoren,Politikerund<br />
auchNormalbürger,dienurimeigenenEgoismusihrLebenverbringen.<br />
MitseinereingeleitetenReforminder<br />
katholischenKirchehatPapstFranziskusbegonnen,dassdasWortJesuin<br />
deneigenenReihenmehrGewichterhältundauchmehreigenesHandeln<br />
erfordert!NochvielKraft,daswünscheichPapstFranziskus!<br />
WALTERGLEICHMANN,taz.de<br />
Wohlstand<br />
■ betr.: „Der Papst und das Kapital“,<br />
taz.de vom 25. 12. 13<br />
EslebenvieleMenschenimWohlstand,aberebenaufdemRückender<br />
Armen.EsgabniemehrarmeMenschenalsheute,niehateineClique<br />
denPlanetenmehrausgebeutetfür<br />
denWohlstandvonWenigen.Veränderungensindnichtzwingendnegativ,<br />
aberVeränderungenführtenbislang<br />
immerdazu,dieTaschenWenigerimmerweiterzufüllenundHohnaufdie<br />
Menschenauszuschütten,dieperGeburtebenfallseinAnrechtaufResourcenundGlückhaben.<br />
RICHTIGBISSIG,taz.de<br />
Deutscher Blick<br />
■ betr.: „Der Papst und das Kapital“,<br />
taz vom 20. 12. 13<br />
.................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................<br />
Esisteinsehreuro-undspezifisch<br />
deutscherBlick,mitdemUlrikeHerrmannversucht,das,wassiegelesen<br />
hateinzu-norden.Hättesiedochmal<br />
etwasgenauergelesen.Dannwäreihr<br />
aufgefallen,dassderFranziskusgenau<br />
ihreKritikpunktegenannthat,darauf<br />
hingewiesenhat,dassernichtdergroßeSoziologe,Ökonom,Analysierer<br />
sei.DielokalenGemeindenundKirchenhateraufgerufen,nun„Fleisch<br />
beideFische“zutun.Hiermalnachzufragen,washabtihrausdiesemPapier<br />
gemacht.Wiekonkretisiertihresfür<br />
eureKirche–daswäreundistnötig.<br />
Ich,einevangelischerPfarrerimRuhestand,hoffejedenfalls,dassdieses<br />
PapierauchinderevangelischenKirche,auchhierinBerlinwahrgenommenwirdundmansichdieAnfragen<br />
gefallenlässt,dieFranziskusdastellt–<br />
nichtnurimBlickaufdieWirtschaft.<br />
VonderAnalysezumHandelnzu<br />
kommen,dasistdieAufgabe.Gemeindenzuhaben,dieaufpassen,dassder<br />
Mindestlohnwirklichumgesetztwird<br />
undnichtfürdieArmendieAusnahmeklauselngelten(zumBeispielfür<br />
dierumänischenundbulgarischen<br />
undvielleichtauchbaldukrainischen<br />
Saisonarbeiter).IstesnichteinevangelischerSkandal,dassGottesdiensträumeundGemeindehäuser,diein<br />
guterLageliegen,fürhorrendePreise<br />
anInvestorenverscherbeltwerden,<br />
Nicht Marx, sondern Papst Franziskus in<br />
Brasilien Foto: Luca Zennaro/dpa<br />
umdieKircheamAlexerstrahlenzu<br />
lassen,umeinvonobenimplantiertes<br />
LehrhausamPetri-Platzzuerrichten?<br />
EsgibtnichtnurdieTebartzevonLimburg,sondernauchdieevangelischen<br />
TebartzevonBerlin-Mitte.FrauHerrmannsWunschzettelnacheinemvermutlicheher„altenMarx“hatsichin<br />
Franziskusnichterfüllt.AbermanchmalistvielleichtauchderWunschzettelfalschoderandenfalschenWeihnachtsmanngerichtet.CHRISTIAN<br />
MÜLLER,Berlin<br />
Nächstenliebe<br />
■ betr.: „Der Papst und das Kapital“,<br />
taz.de vom 25. 12. 13<br />
ImZentrumdeschristlichenDenkens<br />
stehtdereinzelneMenschinseiner<br />
Verantwortung.DasshierdasGebot<br />
derNächstenliebeunddieEinforderungdessenKonsequenzenauchaus<br />
Romwiederklarzuhörensind,gehört<br />
zudenerfreulichenEntwicklungen<br />
desJahres2013.DarauseinKonzept<br />
fürdieGesellschaftzuformulieren,ist<br />
einepolitischeAufgabe,dersichein<br />
BischofvonAmtswegennichtstellen<br />
kann.DenninderUmsetzungderGeboteimpolitischenAlltagnimmtdie<br />
KlarheitdieserGebotezwangsläufig<br />
Schaden.HieristdieVerantwortung<br />
desEinzelnenwichtigeralsdieVorgabevonRezepten.<br />
Klarist,dassvonJedemgefordertwird<br />
dasSeinezueinergerechtenGesellschaftbeizutragen.DieWahlderWaffen–Marx,Eucken,wasauchimmer–<br />
istseineVerantwortung.<br />
DELPHINAJORNS,taz.de<br />
Wirkungslos<br />
■ betr.: „Der Papst und das Kapital“,<br />
taz.de vom 25. 12. 13<br />
................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................<br />
EssindnichtdieSystemeansich<br />
schlecht,sonderndieProblemeliegen<br />
indenMenschen,diedieSystemeausgestalten.GierundRücksichtslosigkeitistkeinProblemdesGeldesoder<br />
Kapitalsansich,diessindAusprägun-<br />
genmenschlichenVerhaltens.Inso-<br />
fernwirddasAbschaffendesKapita-<br />
lismusnichtsbewirken,wieauchdie<br />
ÜberwindungdesFeudalismusnichts<br />
bewirkthatbezogenaufdieAusbeutungdesMenschendurchMenschen.<br />
BERNDSCHUMANN,taz.de<br />
Eine Chance<br />
■ betr.: „Der Papst und das Kapital“,<br />
taz.de vom 25. 12. 13<br />
Seit an Seit<br />
■ betr.: „Der Papst und das Kapital“,<br />
taz.de vom 25. 12. 13<br />
Es wirdgeschmollt<br />
■ betr.: „Der Papst und das Kapital“,<br />
taz.de vom 25. 12. 13<br />
RadikaleVeränderungenmüssen<br />
nichtunbedingtzueinerVerbesserungführen.AuchwennmancheMarxistendaHeilsversprechengeben.LeiderwurdeundwirdauchimNamen<br />
vonMarxgemordet,eingesperrt,ausgenutztusw.InEuropaglaubenimmerwenigerMenschenanHeilsversprechenjeglicherArt<br />
…vielleichtist<br />
dassogareineChanceausaltenIdeologien,Feindschaftenusw.herauszufinden?DieErfahrungenderBefreiungstheologiesindfürmichmanchmalinteressanteralsvonsomanchemAntikapitalistenoderMarxisten.GAST,taz.de<br />
AusnahmslosallechristlichenKirchenundReligionenstehenideologischundpolitischanderSeiteder<br />
herrschendenReichen.Konkret,an<br />
derSeitederherrschendenFinanzundMonopolbourgeoisienin<br />
DeutschlandundderenEuropäischen<br />
Union,derenspätbürgerlichenund<br />
postfaschistischenAdministrationen:<br />
denhistorischenundstaatsmonopolitischenGewalt-,Staatsschutz-,Überwachungs-undBeamtenapparat,alle<br />
spätbürgerlichenundmodifiziertkapital-faschistischenParteien,Wissenschaften,RegierungenundParlamente.WOLFGANG,taz.de<br />
„EswarnichtdieKirche,dievieleMenschenausderArmutherausgeführt<br />
hat–sonderndieIndustrialisierung,<br />
dieab1760inEnglandeinsetzte.Der<br />
WohlstandistalsogenaujenemKapitalismuszuverdanken,dernunvon<br />
Franziskusangeprangertwird.“Die<br />
Kirchewar’ssichernicht,aber„derKapitalismus“auchnicht.EswarenInnovationen,diedasLebenangenehmer<br />
machten,undzwarlangenurfürdie<br />
besitzendeKlasse.DassdasProfitstrebenderKapitalistendieseInnovationenhervorgebrachthätte,istdiezentraleApologetikdesKapitalismus,<br />
undesistbedauerlich,dassdieseauch<br />
indertazverbreitetwird.GroßeinfrastrukturelleVerbesserungendesLebensstandardswieWassernetzewaren<br />
ohnehinstaatlicheProjekte,keineprivaten.Aberichverstehe,dassgeschmolltwird,wennjetztdiekatholischeKirchedenKapitalismusangeht,<br />
währenddaslinkeEstablishmentvollkommensystemkonformist.<br />
JENGRE,taz.de<br />
LESERINNENBRIEFE<br />
Weinen oder sich empören?<br />
■ betr.: „Hilfsbusiness inPalästina“, Beilage 3. Welt Saar, taz vom 20. 12. 13<br />
Ichweißnicht,obichüberdiesePolitikdertaznunweinenodermichempören<br />
soll.DieseFlugschriftkommtaufdererstenSeitesoscheinheiligregierungskritischmitdemFotovonKanzlerinMerkeldaher,wiesieKinderninAfrikadas<br />
Schreibenbeibringt,undsiehinterfragtscheinbarsopolitischkorrektundfortschrittlichZieleundMethodenvonEntwicklungshilfe,wasjaabsolutberechtigt<br />
ist.AberderganzeAufwanddientausschließlichdemZiel,umaufdenfolgendendreiSeitenzueinemRundumschlaggegenalleNGOsundInitiativenauszuholen,diesichinIsrael/PalästinazusammenmitderisraelischenundpalästinensischenZivilgesellschaft,nichtmitHamasoderderpalästinensischenAutonomiebehörde,fürdieMenschenvorOrtundfüreinEndederisraelischenBesatzungundeinengerechtenFriedenfürbeideSeitenengagieren.Einesolche<br />
FlugschriftalsBeilagezuJungleWorld:geschenkt!Aberdassdietazeinerderart<br />
polemischenVerunglimpfungvonAmnestyInternational,IPPNW,PaxChristi<br />
undanderenNGOseinForumbietet,istbodenlos.<br />
INGRIDRUMPF,Pfullingen<br />
.................................................................................................................................<br />
Hessenist ein gutes Modell<br />
■ betr.: „Farbenspiel mit Schwarz“, taz vom 21. 12. 13<br />
GründedasAuslieferungsabkommen<br />
imFallSnowdenauszusetzen.Und<br />
auchsonst:DasTodestrafenlandUSA<br />
kannRusslandlängstnichtmehrdas<br />
WasserderMenschenrechtereichen.<br />
DrohnenmordwirdinderZivilisation<br />
derUSAvomPräsidentenhöchstpersönlichbefohlen.WieimKriegsfall<br />
ohneKriegserklärung,werdendieBetroffenenmitFrauenundKindernauf<br />
ausländischenBodenexekutiert.<br />
OhneGerichtsverfahren,quasialsKillerdienstleistungfüreigeneSpitzelin<br />
derRegion.Wahrlich,FrauGaushat<br />
Recht!Menschenrechtesindunteilbar.Auchwenndie,diesieammeisten<br />
brechen,geradeamlautestenschreien.BERNDGOLDAMMER,taz.de<br />
EinigeKommentareaufderLeserbriefseiteerweckendenEindruck,<br />
Schwarz-GrünwäredieWunschkonstellationgewesen.<br />
Aberistesnichtso,dassSPDundLinke<br />
zumwiederholtenMaleaufgrundunerklärlicherBefindlichkeitenundpolitischemFundamentalismusesnicht<br />
geschaffthaben,auseinerrechnerischenlinkenMehrheitineineKoalitiondersozialenGerechtigkeitzubilden?HabennichtbeideParteienauf<br />
Bundesebeneerneutgezeigt,dasssie<br />
vorderVerantwortungversagen?<br />
DieStärkederCDUistgespeistvorallemdurchdieSchwächederjenigen,<br />
diesieregierenlassen,weilsiesich<br />
nichteinigenkönnen.DasssichGrüne<br />
ausdieserErfahrungherausnunneue<br />
WegeundPartnersuchen,istdabei<br />
Miefdeutscher Juristenlogik<br />
■ betr.: „Menschenrechte sind nicht teilbar“, taz.de vom 22. 12. 13<br />
............................................................................................ ............................................................................<br />
BevormanhierdenMiefdeutscherJuristenlogikaufbläst,stelleichfolgende<br />
Frage:WiesounterhältDeutschland<br />
BeziehungenzueinemStaat,derdie<br />
Menschenrechtenichtbeachtetund<br />
großflächiggegendiedeutschenGesetzeverstößt?Dasistbewiesen!<br />
SnowdenistderAufklärer,derdieVölkerderWeltinformierthat.TäterwarenundsindRegierungsbeamteder<br />
USA,dieganzbewusstauchgegenGesetzeihreseigenenLandesverstoßen<br />
haben.Daswurdekürzlichsogarin<br />
denUSAgerichtlichfestgestellt.InsoferngreifenalldieblödsinnigenFloskelnnicht.ImGegenteil,siestellen<br />
dendeutschenRechtsstaatinFrage.<br />
Deutschlandhättenochvieleandere<br />
nurlogisch.Unddassmanmit11Prozentkeine100ProzentgrünePolitik<br />
bekommt,auch.<br />
HessenisteingutesModell,anhand<br />
dessenmanlernenkann,obdiese<br />
neueOptionträgt.SPDundLinke<br />
müssensichendlichbewegen.Sonst<br />
stehensieüberkurzoderlangeinem<br />
schwarz-grünenBlockgegenüber–<br />
derzwarlangsamervorangeht,alses<br />
Rot-Rot-Grünkönnte–aberimmerhin<br />
vorankommt.<br />
GelingtHessen,wirdSchwarz-Grün<br />
imBundmöglich.UndalsBaden-<br />
Württembergerkannichsagen:die<br />
SPDistkaumwenigerkonservativals<br />
esdieCDUist.ObamEndedas<br />
SchreckgespenstjetztSarrazinoder<br />
Steinbachheißt–austauschbarundirrelevant.JÖRGRUPP,Malsch<br />
.................................................................................................................................<br />
.................................................................................................................................<br />
Pressehysterie<br />
■ betr.: „Menschenrechte sind nicht<br />
teilbar“, taz.de vom 22. 12. 13<br />
........................................................................................................<br />
DerVergleichzwischenChodorkowski<br />
undSnowdenisteineBeleidigungfür<br />
Snowden.Snowdenhatsichnicht<br />
selbstbereichert.ErhatkeineRegierungengeschmiert.Unbestrittenist,<br />
dassdieVerurteilungChodorkowskis<br />
selektiveJustizwar,abermachtihn<br />
daszumVorkämpferfürFreiheitund<br />
Menschenrechte?Fällteseigentlichirgendjemandemauf,dassinderPressehysteriediejenigenvölliguntergehen,dieuntererheblichempersönlichemRisikoderÖlindustriedieStirn<br />
gebotenhaben,dieArctic30?<br />
JOHANNESROHR,taz.de<br />
Verschiedene Fälle<br />
■ betr.: „Menschenrechte sind nicht<br />
teilbar“, taz.de vom 22. 12. 13<br />
Auchwennichgrundsätzlichdafür<br />
binSnowdenAsylanzubieten:DieAutorinhathierdeneklatantenUnterschiedzwischenbeidenFällennicht<br />
erkannt(oder,wahrscheinlicher,bewusstignoriert):SnowdenwirdineinemanderenLand,mitdemeinAuslieferungsabkommengeschlossen<br />
wurde,strafrechtlichverfolgt.Dasist<br />
beiChodorkowskinichtderFall.Auch<br />
wennichtrotzdemdenkemanmüsste<br />
MittelundWegefinden,Snowdenein<br />
BleiberechtinDeutschlandzuverschaffen:BeideFälleliegengrundsätzlichverschieden.HALLO,taz.de
www.taz.de | sonntaz@taz.de apple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 17<br />
applediesonntaz<br />
http://kbhpodhnfxl3clb4.onion/<br />
Hier finden Sie IhrePrivatsphärewieder |Seite 20,21, 22<br />
Inhalte Kultur „Das merkwürdige Kätzchen“: Ein Film von Studenten ist der Geheimtipp des<br />
neuen Jahres |Seite 23 Alltag Im Hotel der Zukunftschlafen Reisende,Künstler und Asylsuchende<br />
|Seite 31 Konsum Drink 2014: Nach Hugo und Moscow Mule kommt der Manhattan |Seite 30<br />
Medien Öffentlich-rechtliches Youtube? Wie ARD und ZDF um die Jugend kämpfen |Seite 39
18 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple www.taz.de | sonntaz@taz.de WÜNSCHE | sonntaz<br />
Weniger Müll kaufen! Kleidung wertschätzen!<br />
Energiewende vorantreiben!<br />
EsisteinParadox.DennistMode<br />
nichtdierasendeLustnachdem<br />
immer Neuen? Obwohlfastjedem<br />
im Augenblick bei dem<br />
Tempoder sich allesechs WochenmitNeuemfüllendenRegaleschwindeligwird.<br />
Überdruss macht sich breit.<br />
Wegwerfmode. Einwegmode. T-<br />
Shirts für 1,99 und im Salefür<br />
59Cents. Sachen, die im Moment,<br />
in dem man sie kauft,<br />
schonMüllsind.WonurderKick<br />
AufEchtheit beim Sexsetzen!<br />
SchimpfenSiemichspießigund<br />
blöde, aber ich finde das Konsumverhalten<br />
der Leute in SexundBeziehungsdingensehrverstörend.<br />
Kürzlich hatmir ein BekanntereineAppgezeigt,aufderman<br />
sich Fotosvon Frauen ansehen<br />
konnte. Gefiel ihm eine, konnte<br />
er sie speichern, gefiel ihm das<br />
Bildnicht,wischteereszurSeite,<br />
undschonkamdieNächste.Am<br />
EndedesAbendshatteer16mögliche<br />
Dates aufdem Bildschirm,<br />
chattetewieeinIrrerundwarfür<br />
uns nichtmehr ansprechbar.Er<br />
benahmsichwieimOnlineshoppingwahn.<br />
Ich kenne Leute, die<br />
funktionieren nur noch über<br />
elektronischen Verkehr.Ich plädiere<br />
für sexuelle Nachhaltigkeit.Lieber<br />
Nähe zulassen üben<br />
als den Umgang mitDildos, das<br />
Ich mussmich ändern!<br />
2014solltesichmalwiedermehr<br />
ändern, als sich ändern wird.<br />
Mein Hund muss sich nichtändern,<br />
der istganz okay. Das gilt<br />
auchfürmeineübrigenBekannten,<br />
die sind ebenfalls in Ordnung.<br />
Die Bundesregierung wird<br />
sich vor2017 nichtändern. Das<br />
istzwarnichtschön, aber so ist<br />
das.Ichselbermüsstemichdringend<br />
ändern, sagen mein Hund,<br />
meine Bekannten und mein<br />
Steuerberater.<br />
DasLandmüsstesichändern,<br />
sage ich. Der Hund meint, das<br />
Land müsse sich nichtändern.<br />
Mein Steuerberater sieht das<br />
ähnlich, weil er daran, wie das<br />
Landist,nichtschlechtverdient.<br />
DasLandändertsichauchso,sagen<br />
meine übrigen Bekannten.<br />
Vielleichtsollteich mich doch<br />
selberändern,denkeich.<br />
Dass es zu wenige Schafe in<br />
Deutschland gäbe, behauptet<br />
desKaufenszähltunddasdunkle<br />
Objekt der Begierde zumStatthalter<br />
für ein leerlaufendes Begehren<br />
wird, das immer rasender<br />
alles zunichte macht. Dessous<br />
zumVernaschen sind zum<br />
Fressensüß.Mitverschiedenem<br />
Geschmack:Erdbeere,Zitrone.<br />
AberdieseKleiderhier,dieim<br />
Preis oft weit unter dem eines<br />
Macarons liegen, sind nichteinmalzum<br />
Vernaschen. Sondern<br />
einfach zum Wegwerfen. 2014<br />
wäreeinAnfang.IchschätzeIntimität<br />
als Erfahrungshorizont,<br />
habe aber das Gefühl, dass sich<br />
viele von Intimität einschüchtern<br />
lassen. Dieses Übermaß an<br />
Oberflächlichkeiten, in denen<br />
wirunsbewegen,kannnichtgesundsein.<br />
Wenn Menschen glücklich<br />
sind,treffensiebessereEntscheidungen.<br />
Darum hoffe ich, dass<br />
dieLeuteindiesemJahrweniger<br />
aufShowsetzen, und mehr auf<br />
Echtheit. Beim Sexdamitanzufangen,<br />
halteich für eine gute<br />
Idee.<br />
■ Paula Lambert,<br />
39, ist Autorin<br />
und Sexcoach.<br />
Ihr Buch „Der<br />
Männerreport“<br />
erscheint imMärz<br />
nurmeinHund.Dasseszu viele<br />
gibt, behaupte ich. Mein Steuerberater<br />
sieht das auch so, hat<br />
aber nichts dagegen. Ich sei zu<br />
kritisch, behaupten meine Bekannten,dasmüssesichändern.<br />
Mein Hund teilt diese Auffassung.<br />
Eigentlich will ich mich nicht<br />
wirklich ändern. Eigentlich will<br />
ichmichdochändern.Eigentlich<br />
müssteichmichändern.Abereigentlich<br />
will ich nicht. Sie habe<br />
2013jedenTagfürmichgebetet,<br />
sagt eine Bekannte. Das muss<br />
sich nichtändern. Aber,insgesamt:2014solltesichmalwieder<br />
mehr ändern, als sich ändern<br />
wird.DerHundsiehtdasauchso.<br />
■ Sebastian Edathy,<br />
44, ist MdB<br />
für die SPD und<br />
leitete den Untersuchungsausschuss<br />
zum NSU<br />
wirdsich dieser rasende Kreislauf,<br />
befeuert von Gewinngier<br />
und Profitmaximierung, hoffentlichverlangsamen.<br />
Ausgetragen wirderauf den<br />
LeibernundKnochenderTextilarbeiter.Dielebenjetztweitweg,<br />
in Pakistan und Bangladesch.<br />
Der feine Staub setzt sich in der<br />
Lungefest.<br />
FürdieTextilarbeitervonheuteistdasimschlimmstenFallein<br />
Todesurteil;injedemFallgehtes<br />
Fotos: Lise Gagne/Getty Images (groß); Kurt Rade, Hans Buttermilch, dpa, Stefan Klüter, reuters, privat<br />
Redaktion der Gastbeiträge: S. Bednarczyk, C. Fleige, S. Kempkens, F. Seyboldt<br />
aufdie Knochen. Slow Fashion<br />
wird kommen. Das Lieblingsstück.DasSicheinwohneninein<br />
Kleid, das Verschleißen aufdem<br />
Körper.DasWertschätzenkunstvollerKunstfertigkeit.<br />
■ BarbaraVinken,<br />
istProfessorin für<br />
Literaturwissenschaft.<br />
2013 erschien<br />
„Das Geheimnis<br />
der Mode“<br />
BESSERGuteVorsätzesindso1994.<br />
SechsForderungen,wasim<br />
nächstenJahranderslaufenmuss<br />
Wasmusssich<br />
2014ändern?<br />
NachdemdieUniongrüneTexte<br />
vorzugsweise nach dem Wort<br />
„müssen“durchsucht,umanihrer<br />
Legende der grünen Bevormundungspartei<br />
weiterzustricken,<br />
beantworte ich die Frage<br />
bayerisch:Esmussgarnix.<br />
Sinnvoll wäre aber schon ein<br />
vernünftigerer Umgang mitunseren<br />
natürlichen Lebensgrundlagen.DaserfordertmutigespolitischesHandeln,wovongerade<br />
wenig zu sehen ist. Eine Große<br />
Koalition, die nicht die CO 2 -<br />
Emissionen,dafüraberdenAusbauerneuerbarer<br />
Energien gesetzlichdeckelt,mussmanschon<br />
kleingeistig nennen. Ändern<br />
sollte sich auch die Diskussion<br />
über die Energiewende. Statt sie<br />
Investoren aufhalten!<br />
Ich habe während der Schulzeit<br />
vielgedrehtundhattekaumZeit,<br />
Berlin so richtig zu entdecken.<br />
Jetzt hole ich das nach. Dabei<br />
muss ich erkennen, dass viele<br />
der Orte, die die Stadtsobesonders<br />
und anziehend machen,<br />
permanentinGefahrsind.<br />
Oft frageich mich dann, ob<br />
Berlin auch in Zukunft lebenswertseinwird.Ichwünschemir,<br />
dasssichetwasbewegtinBerlin.<br />
Wiekann es sein, dass Teileder<br />
Verantwortung übernehmen!<br />
Ich wünsche mir,dass der Sport<br />
sichwiederaufseineStärkenbesinnt.<br />
Sporthat die Kraft, durch<br />
einfriedlichesMiteinanderMenschen<br />
aus unterschiedlichsten<br />
Kulturen und Nationen zu verbinden.Sportsollverbindenund<br />
nichttrennen.<br />
Das vonPierre de Coubertin<br />
vorgeschlagene Motto „Schneller,<br />
höher,stärker“ istvon „Größer,teurer,spektakulärer“abgelöstworden.Dertraurigevorläufige<br />
Höhepunkt dieser Entwicklung<br />
wirdinSotschi oder durch<br />
das Verhalten der FifaimHinblickaufdieunmenschlichenArbeitsbedingungen<br />
der WM-BaustelleninKatarsichtbar.<br />
Ich träume voneiner Sportwelt,<br />
die Leistungssport integriertund<br />
Menschenrechte fördert.<br />
Eswäreschade,wennderSpitzensportall<br />
die positivenMöglichkeiten,<br />
die Idealeund Werte<br />
zugunsten von Gewinnmaximierung<br />
aufgeben würde. Der<br />
organisierteSportmusssichder<br />
alsvielleichtletzteverbleibende<br />
ChancefürdenKlimaschutzvoranzutreiben,wirdsieseitJahren<br />
alsStrompreistreiberdiffamiert.<br />
Die Große Koalition droht die<br />
Pausentaste der Wende zu drücken.<br />
Und für mich? Es hatsich in<br />
diesem Jahr so viel geändert,<br />
dass das nächste Jahr ruhig veränderungsfreibleibendarf.Und<br />
weil die Fragesobeliebt ist: Die<br />
HaareundderBartbleibendran.<br />
■ Anton Hofreiter,<br />
43, geboren<br />
inMünchen,<br />
ist Fraktionschef<br />
der Grünen<br />
im Bundestag<br />
Mauer abgerissen werden, um<br />
Platz zu machen für Luxuswohnungen?<br />
Der kurzsichtige AusverkaufanInvestoren<br />
muss ein<br />
Endehaben,damitBerlinseinen<br />
Charmebehält.<br />
■ Emilia Schüle,<br />
21, ist Schauspielerin.<br />
Bekannt<br />
wurde sie als<br />
Wegwerfmädchen<br />
im „Tatort“<br />
Verantwortung stellen, die seine<br />
Autonomie mit sich bringt. Er<br />
muss glaubhaft die Menschen<br />
und Institutionen unterstützen,<br />
die sich für Transparenz, gegen<br />
Korruption, gegen Doping und<br />
Wettbetrugaussprechen.<br />
Ich möchte auch in Zukunft<br />
Teil dieser Bewegung sein und<br />
dazubeitragen, dass SportMenschenundKulturenverbindet.<br />
In der Olympischen Charta<br />
heißtes: „Jede Form vonDiskriminierungeinesLandesodereiner<br />
Person aufgrund vonRasse,<br />
Religion,Politik,Geschlechtoder<br />
aussonstigen Gründen istmit<br />
der Zugehörigkeit zur olympischen<br />
Bewegung unvereinbar.“<br />
EsistanderZeit,dieolympische<br />
BewegunganihreeigenenWerte<br />
zuerinnern.<br />
■ Imke Duplitzer,<br />
38, ist Degenfechterin<br />
und<br />
trat fünfmal bei<br />
Olympischen<br />
Spielen an
sonntaz |FUSSBALL<br />
www.taz.de | sonntaz@taz.de apple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 19<br />
SchönspielerwareinSchimpfwort<br />
VON PETER UNFRIED<br />
Essei ja schönund gut, was<br />
Joachim Löw soalles erreichthabe,<br />
so lautet die<br />
konventionelleDenkschule.Aber<br />
ihm fehlehaltein Titel.<br />
DermüssenunbeiderWM2014<br />
in Brasilien her.Sonstsei alles<br />
letztlichnichtswert.<br />
Löw, 53, istmittlerweilesiebeneinhalb<br />
Jahre Trainer der<br />
deutschen Fußballnationalmannschaft.LängeralsJuppDerwall<br />
(78–84), Franz Beckenbauer<br />
(84–90), Erich Ribbeck (98–<br />
2000) Rudi Völler (2000–04)<br />
und Jürgen Klinsmann (2004–<br />
06),dessenAssistenterzweiJahre<br />
war. Im Frühsommer2012 erreichte<br />
Löw den Gipfel seines<br />
RuhmsundwarwenigeTagedaraufbeieinemTeilderÖffentlichkeit<br />
abgestürzt –nach der Niederlage<br />
gegen Italien im EM-<br />
Halbfinale. Ein kleiner Teil versuchteeineinteressanteFachdiskussion:<br />
Inwiefern sich Löw<br />
schlichtvercoachthatte oder an<br />
seinen Grenzen angelangt war.<br />
Die Mehrheitsgleichung war<br />
schlicht: Kein Titel, kein Erfolg.<br />
DochfehltLöwwirklicheinTitel<br />
–oder istseine historische Leistung<br />
nichtlängstgrößer als der<br />
vonvielen Unwägbarkeiten abhängendeTurniersieg?Ichargumentiere<br />
für Zweiteres. Der<br />
Grund:LöwhatdiesesLandvom<br />
Wankdorf-Fluchbefreit.<br />
Wille,KampfundRegen<br />
DerWankdorf-Fluchistdieignorierte<br />
Kehrseite des Wankdorf-<br />
Mythos.Jenerbestehtdarin,dass<br />
Deutschland neun Jahre nach<br />
dem verloren Angriffs- und Vernichtungskrieg<br />
gegen die Welt<br />
durch den WM-Sieg 1954 im BewusstseinderDeutschenwieder<br />
zu existieren begann. Als etwas<br />
Positives. Gewonnen wurdedie<br />
WM gegen einen als übermächtig<br />
empfundenen Gegner. Die<br />
Ungarn hatten tatsächlich die<br />
besseren Spieler,ein eingespieltes(Profi-)Team,undsiespielten<br />
denschönerenundmoderneren<br />
Fußball (mit einer falschen<br />
Neun). Aber am Ende gewannen<br />
die Deutschen. Laut Mythos<br />
durchWillen,KampfundRegenwetter.Faktisch<br />
auch, weil Fußball<br />
halt Fußball ist. So waspassiert.<br />
DieFolge:DassinguläreEreigniswurdealsRollenmodellmissverstanden,derFaktorZufallgenauso<br />
extrahiertwie der Faktor,<br />
dassauchSeppHerbergersTeam<br />
an diesem Tag eine moderne<br />
Spielstrategiehatte.Über50Jahre<br />
sperrten sich die Deutschen<br />
danachselbsteinindasGefängnis<br />
der sogenannten deutschen<br />
Tugenden. Tenor: Mögen die anderen<br />
den schöneren Fußball<br />
spielen, am Ende gewinnen wir<br />
mitunseren gnadenlosen Grätschen.<br />
Auch wenn die Helmut-<br />
Schön-Jahre unvergessene Klassiker<br />
enthielten: Nureinmal –<br />
undmehroderwenigerzufällig–<br />
wurde ein Titel ästhetisch gewonnen.<br />
Das war der EM-Sieg<br />
1972mitGünterNetzer.Bisheute<br />
der wichtigste Mythos der progressiven<br />
Fußballanhänger. Allerdingsfalschverstanden:Nicht<br />
der Flugball vonNetzer wardas<br />
moderne Moment, sondern der<br />
ÜberzahlspielerBeckenbauer.JedenfallsgaltderschöneEM-Titel<br />
im Grunde als undeutsch.<br />
„Schönspieler“ warinDeutschland<br />
ein Schimpfwort. Ästhetik<br />
wurdezumTrostpreisfürnotorische<br />
Loser wie die Niederlande<br />
undFrankreichabgewertet.<br />
WaskümmerteunsdiefachlicheEntwicklung?WirhattenTugendenundzudemirgendwieja<br />
|<br />
DIE THESE<br />
JoachimLöwhatdendeutschen<br />
Fußballmodernisiert.Den<br />
.<br />
WM-Titel2014brauchternicht<br />
auch Weltklassespieler. Man<br />
dachtetatsächlich,derErfolgliegeimdeutschenBlutbegründet.<br />
EslagaberamModernitätsschub<br />
Bundesligagründungunddaran,<br />
dass die Strukturen im Westen<br />
undimOstenbisMitteder90er<br />
genügend exzellente Fußballer<br />
mit deutschem Stammbaum<br />
hervorbrachten. Doch ab 1998<br />
warman chancenlos gegen Länder,indenen<br />
modern geschult<br />
und gespieltwurde; gegen Länder,die<br />
Einwanderer ins System<br />
integrierten. Da half die knorrigste<br />
Grätschverteidigung<br />
nichtsmehr,imGegenteil.<br />
Die Veränderung möglich gemachthaben<br />
Erich Ribbeck und<br />
Lothar Matthäus. Der Teamchef<br />
und sein tief hintendrin stehender<br />
Liberowaren dem Weltfußball<br />
derart hilflos ausgeliefert,<br />
dass die Rückständigkeit nicht<br />
mehrzuübersehenwar.AusSorge<br />
um den deutschen Fußball<br />
wurden im Jahr 2000 die verpflichtenden<br />
Nachwuchsleistungszentren<br />
eingeführt. Aber<br />
selbstdabrauchte es noch vier<br />
JahreWeiter-so-Gemurksedurch<br />
RudiVöller,umplötzlichdenHomo<br />
novusKlinsmann als Teamchef<br />
und dazuden ausdrücklich<br />
vonihm gewünschten Assistenten<br />
Löwzubekommen. „Klinsmann<br />
war der Change Agent,<br />
Löwist der Verstetiger“,sagtder<br />
Wirtschaftswissenschaftler SaschaSchmidt,<br />
der an der EBS-<br />
Universität sozioökonomische<br />
Auswirkungen des Sports erforscht.<br />
Im Auftrag vonSportdirektor<br />
OliverBierhoff haterdie<br />
Nationalmannschaft nach Kriterien<br />
erfolgreicher Unternehmensentwicklunguntersucht.<br />
VöllersBankrotterklärungbei<br />
der EM 2004 konnte Klinsmann<br />
angesichts der Heim-WM2006<br />
als Legitimationnehmen für einen<br />
ungewöhnlich großen und<br />
schnellen Veränderungsprozess.<br />
DerkalifornischeGastnahmden<br />
Laden in kürzester Zeit gegen<br />
heftige Widerstände auseinander,setzte<br />
ihn neu zusammen,<br />
überwanddieKriseundetabliertedenDFBwiederaufhöchstem<br />
Niveau.Ein Change Agent, sagt<br />
Schmidt,müsseunpopuläreund<br />
harte Entscheidungen treffen<br />
und sei daher am besten eine<br />
temporäreFigur.Klinsmannwar<br />
ideal dafür.Löw hätte das nicht<br />
gekonnt. Die Rolledes Verstetigers<br />
dagegen liegt ihm. Zudem<br />
harmonierte er vonAnfang an<br />
mitdemFußball,derindenneuen<br />
Nachwuchsleistungszentren<br />
gelehrtwird.<br />
Seit Sommer 2006 haterdas<br />
Team,wasdieErgebnisseangeht,<br />
aufhöchstemNiveaustabilisiert<br />
(EM-Vize2008,WM-Dritter2010,<br />
EM-Halbfinale2012). Kader und<br />
Stil hatLöw in seiner Zeitdeutlich<br />
weiterentwickelt: Noch nie<br />
inderGeschichtediesesFußballverbandshatdieNationalmannschaft<br />
über Jahre hinweg eine<br />
derartige Kombinationvon Erfolg,<br />
Ästhetik und Fußballmodernehinbekommen.<br />
EpochaloderUnfall<br />
Früher wurschtelte man sich<br />
durch Qualifikationen und Turniere.<br />
Heute freutman sich auf<br />
jedesLänderspiel.Undhäufigzu<br />
Recht. Löw hat in den letzten<br />
zweieinhalbJahren reihenweise<br />
große Fußballunterhaltung geliefert.<br />
6:2gegen Österreich, 3:2<br />
gegen Brasilien. 3:0gegen Niederlande.<br />
4:2 gegen Griechenland<br />
und 2:1gegen Niederlande<br />
bei der letzten EM. 6:1inIrland<br />
undzuletztein5:3gegenSchweden.6:1inIrland.Warumgiltdas<br />
3:4 gegen Italien von 1970 als<br />
epochal,das4:4gegenSchweden<br />
vomvergangenen Oktober aber<br />
als größter anzunehmender<br />
Fußballunfall? Hier wie dort<br />
wurdefehlerhaft verteidigt. Das<br />
einewareinWM-Halbfinale,das<br />
andere nur WM-Qualifikation:<br />
Aber beide Spiele haben eine<br />
SpurhinterlasseninderkollektivenErinnerung.Wegenihresau-<br />
ßergewöhnlichen Unterhaltungswertsund<br />
des Bruchs mit<br />
dem Normalen. Welchen Wert<br />
hätte–angesichts vonneunSiegen<br />
in zehn Qualifikationsspielen–ein<br />
dahergestolpertes 1:0<br />
gehabt?SicherbleibenTitelinErinnerung,<br />
aber erstdie ästheti-<br />
scheBegründungimSinneCésar<br />
Luis Menottis machtFußball zu<br />
unvergesslichen Erlebnissen einesMomentsundinderkollektivenErinnerung.<br />
Sonsthat man<br />
zwar gewonnen, aber wozu,wodurchundwofür?<br />
Das alles heißt nicht, dass<br />
Deutschland nicht Weltmeister<br />
werden soll. Falls maneswird,<br />
umso besser.Falls nicht, liegt es<br />
jedenfallsnichtanfehlendenTugenden,<br />
Eiern oder Führungsspielern.<br />
Die entscheidende Fragelautet:<br />
IstLöwsTeam nach Jahren<br />
der behutsamen WeiterentwicklungnochanderSpitzederFußballmoderne?Eswarungewöhnlich<br />
und solitär,dass die Nationalmannschaft<br />
jahrelang Frontrunner<br />
und Lokomotive der<br />
deutschen Fußballmodernisierung<br />
war. WasLöw machte, war<br />
State of the Art. Die Bundesliga<br />
sollte gefälligsthinterher kommen.DochamEndediesesJahres<br />
siehtesaus,alsseiLöwüberholt<br />
worden.<br />
Sichtbar wurdees, als er im<br />
November beim Testspiel in Italien<br />
seinen rechten Verteidiger<br />
PhilippLahminsMittelfeldbeorderte<br />
–wie es zuvorJosep GuardiolabeidenBayerngetanhatte.<br />
LöwwarimmereinAnhängerjenesFußballs,mitdemGuardiola<br />
den FC Barcelonazum Nonplusultragemachthatte.<br />
Doch nun<br />
hatGuardioladen Barça-Stil bei<br />
den Bayern –angesichts der zunehmenden<br />
Modernisierung<br />
derKonkurrenz–deutlicherweitert.<br />
Es gibt neben den klassi-<br />
schenBallstafettenauchFlugbäl-<br />
le(etwaumDortmundsPressing<br />
zuentgehen).Esgibtdiegute,alteFlanke,diederKopfballspezialist<br />
Mandzukic reinwuchtet. Es<br />
gibtvieleVariantenundinvielen<br />
Spielen eine mehrfache Veränderung<br />
der Strategie. Im Momentsiehtesaus,alshabeGuardiolaaufalleseinetaktischeAntwort.<br />
Das kann manvon Löwnicht<br />
sagen.SeinTeamhateinenwunderbarenStil,abereskannnicht<br />
so variieren wie die Bayern, um<br />
unterschiedlicheSpielphasenzu<br />
meisternoderherzustellen.Und<br />
auch wenn die Aufregung überhitzt<br />
ist: Mit einer Defensivarbeit,<br />
wie sie Löws Team liefert,<br />
kann man nicht Weltmeister<br />
werden. Das istkein Vorurteil,<br />
sondernwirddurchZahlenmaterial<br />
belegt. Die Gegentorquote<br />
der Turniersieger seit der WM<br />
2006: Italien 0,8, Spanien 0,5,<br />
Spanien 0,3, Spanien 0,2 Gegentore<br />
proSpiel. Zwar schießtder<br />
DFB so vieleTore wie sonstkein<br />
Topteam, bekommt aber im<br />
SchnittdeutlichmehralseinGegentorproSpiel.Damithatman<br />
bei einem engen Turnier keine<br />
Chance.<br />
Hier sind wir an einem heiklenPunkt:<br />
Das Solitäre an Barça<br />
und der Grund für die Überlegenheitwar<br />
das Spiel gegen den<br />
Ball.DerGrundfürdenChampions-League-SiegderBayern?Das<br />
radikal verbesserte Spiel gegen<br />
denBall.DerGrundfürdenAufstieg<br />
von Borussia Dortmund?<br />
DasSpielgegendenBall.<br />
Dieses Spiel gegen den Ball<br />
muss ein Trainer so überzeugend<br />
und identitär vermitteln<br />
können, dass die Spieler es als<br />
mindestens gleichberechtigten<br />
Grund verstehen und erleben,<br />
warum sie Fußball spielen wollen.<br />
Das Spiel gegen den Ball ist<br />
heute Teil des Spektakels. „Gegenpressing<br />
istder beste Spielmacher“,wie<br />
Jürgen Klopp sagt.<br />
Trainer wie er oder Christian<br />
StreichstrahlendieseszeitgemäßeVerständnisvonÄsthetikaus.<br />
Manchmal machtesden Eindruck,<br />
der ehemalige KreativfußballerLöwseiindieserBeziehungeherTraditionalist.Dasändertnichts<br />
an seiner herausragenden<br />
Stellung, was die Entwicklung<br />
des deutschen Verbandsfußballs<br />
angeht. Da steht<br />
er gleichberechtigt neben Sepp<br />
Herberger–ganzoben.<br />
■ Peter Unfried, 50, begann seine<br />
taz-Karriere inder Sportredaktion.<br />
Heute ist er Chefreporter
20 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple www.taz.de | sonntaz@taz.de NETZ | sonntaz<br />
117.367<br />
Seiten<br />
registriert die Suchmaschine<br />
Torch. Experten halten die genaue<br />
Größe des Darknets fürkaum schätzbar<br />
Quelle: Torch<br />
Nutzer hatten im Augustden<br />
Tor-Browserinstalliert. Seit Februar<br />
hatte sich die Zahl mehr als verdoppelt<br />
1,2Millionen<br />
Quelle: Tor-Netzwerk<br />
UTOPIEEinjungerMannhateineIdee.ErgehtdamitaneinenderdunkelstenOrtedesInternetsundwirddort<br />
fastzumsechsfachenMörder.KannausgerechnetdieserMannunsdenGlaubenaneinfreiesNetzzurückgeben?<br />
DieParallelgesellschaft<br />
AUS DEM DARKNET JOHANNES<br />
GERNERT (TEXT) UND SOPHIA<br />
MARTINECK (ILLUSTRATION)<br />
Am27. Januar 2011 beginntder<br />
Grausame PiratRoberts,<br />
sein Reich<br />
zu errichten. Er wirbt<br />
dafür in mehreren Onlineforen,<br />
auchineinemfürhalluzinogene<br />
Pilze. Als „anonymes Amazon“<br />
beschreibterdieSeiteSilkRoad,<br />
die er gerade geschaffen hat.<br />
Mankönnedortverschiedenstes<br />
„Zeug“kaufen,auchDrogen.Der<br />
Grausame Pirat beschreibt den<br />
WegzuderneuenSeidenstraße.<br />
InseinemReichzählenweder<br />
dieNamen,dieinPässenstehen,<br />
nochdieWährungen,mitdenen<br />
Banken handeln. Es gibt eine eigene<br />
Währung und eigene Namen.<br />
Im Buchklub diskutiert<br />
manlibertäreTheorienundliest<br />
gemeinsam Werkeüber den autoritären<br />
Staateines George W.<br />
Bush, der zumautoritären Staat<br />
eines Barack Obamageworden<br />
ist.EsistderStaat,denderGrausame<br />
Pirat Roberts herausfordernwill.Waswäre,fragtersich,<br />
wennesgelänge,eineSphärezu<br />
schaffen, die frei vonGewaltist,<br />
vorallemvonstaatlicherGewalt?<br />
Das Vertrauen auf der Silk<br />
Road entstehtallein durch den<br />
Handel. Durch prompte Lieferung.UnddurchdieQualitätdes<br />
gelieferten Kokains, des Marihuanas<br />
oderAmphetamins, der<br />
TablettenoderdesHeroins.Etwa<br />
150.000 Akteure treffen sich<br />
zwischenzeitlich auf diesem<br />
Marktplatz.<br />
Der Grausame Pirat nennt<br />
sich auch Captain. Und: Administrator.Ertauchtauf<br />
der Silk<br />
Road als die Silhouette eines<br />
maskierten, schwarzen Mannes<br />
auf, mitgestrecktem Degen. 65<br />
Pixel breit, 42 Pixel hoch. Die Figur<br />
des Piraten hatersich aus<br />
demMärchen„DieBrautprinzessin“entliehen.<br />
Der Pirat meldet sich häufig<br />
zu Wort.Auch als im November<br />
2012 nach einem ZusammenbruchderSeitedasGerüchtkursiert,<br />
er habe sich mitall dem<br />
Geldabgesetzt:„Miristvölligbewusst,<br />
dass dieser ganze Markt<br />
aufdem Vertrauen basiert, das<br />
ihrinmichsetzt.Ichnehmedas<br />
sehr ernst. Es istmir eine Ehre,<br />
euch zu dienen, und obwohlihr<br />
nichtwisst, werich bin, und obwohl<br />
ihr keine Entschädigungsansprüche<br />
habt, wenn ich euch<br />
verraten sollte, hoffe ich trotzdem,<br />
dass ich im Laufe der Zeit<br />
noch häufiger Gelegenheit haben<br />
werde, euch zu beweisen,<br />
dassmeineAbsichtenaufrichtig<br />
sindundkeinGeldderWeltmich<br />
bestechenkann.“<br />
Ein Mitbewohner in der Dreier-WG<br />
des Grausamen Piraten<br />
RobertsinSanFrancisco,derihn<br />
nurals„Josh“kennt,wirdspäter<br />
erzählen, Josh habe immer zu<br />
HauseamComputergesessen.<br />
1,2 Milliarden Dollar Umsatz<br />
hatdie Plattform Silk Road in<br />
knapp zweieinhalb Jahren erwirtschaftet.<br />
Fast 80 Millionen<br />
DollargingenalsKommissionan<br />
denGrausamenPiratenRoberts,<br />
ihren Betreiber.Bezahltwurde<br />
nichtinDollar,sondern in der<br />
rein elektronischen Währung<br />
derBitcoins.<br />
Die Silk Road ist einer der<br />
größten Drogenumschlagplätze<br />
in den Tiefen des Netzes. Im<br />
Darknet, jenem Teil des Internets,<br />
den die Suchmaschine<br />
Googlenichtanzeigt, wo nicht<br />
nurDrogen gehandeltwerden,<br />
sondernauchWaffen.<br />
Ja,schön, können Sie jetzt sagen.Wasesnichtallesgibt.Aber<br />
washatdieserkomischeGrausamePiratbittemitmirzutun?<br />
Der junge Mann, den das FBI<br />
für diesen Grausamen Piraten<br />
hält,heißtRossUlbricht.Erist29<br />
Jahre alt, hat inAustin, Texas,<br />
Physik studiertund danach die<br />
Firma Good Wagon Books gegründet,<br />
die gebrauchte Bücher<br />
sammelteundwiederverkaufte.<br />
Ulbrichthat ein freundliches<br />
Gesicht, in das eine dunkelblonde<br />
Haartolle hineinhängt, ein<br />
bisschenwiebeiElvis.Erscheint<br />
dieseTolleauchindenverschiedenenGefängnissenbehaltenzu<br />
haben, in denen er seitseiner<br />
Festnahme am 1. Oktober 2013<br />
saß.DaszeigteineGerichtszeichnung.<br />
Zurzeitsitzt er im Brooklyn<br />
Detention Center in New<br />
York.<br />
Wochenlang war auf der<br />
HomepagederSilkRoadnureine<br />
Nachrichtzulesen: „Diese verborgeneSeiteistkonfisziertworden.“DarüberLogosdesFBIund<br />
desJustizministeriums.<br />
DieFreilassungRossUlbrichts<br />
gegen eine Million Dollar KautionhateinRichterabgelehnt.<br />
Die Staatsanwaltschaft wirft<br />
ihm vor, sechsMorde in Auftrag<br />
gegebenzuhaben.<br />
DasInternethatinderjüngsten<br />
Zeiteinige Ikonen geschaffen.<br />
Da istder egomane AufklärerJulianAssange,einLuthermit<br />
weißemHaar.BradleyManning,<br />
der kleine US-Soldat, der nicht<br />
mehr schweigen wollte. Edward<br />
Snowden,derSpionmitdemJungengesicht,<br />
der den größten GeheimdienstenderWeltdenKrieg<br />
erklärthat.<br />
Und Ross Ulbricht, der<br />
Schwerkriminelle? Auch so ein<br />
Mann, der jung wirkt, aber doch<br />
schon ein Pate der Halbweltist,<br />
des digitalen Graubereichs. Es<br />
sprichtviel dafür,dass auch er<br />
indieAnnalendesInterneteingeht,<br />
als Grausamer Pirat.Als<br />
KämpferfüreinedigitaleWelt,<br />
indieÜberwachernurschwer<br />
eindringenkönnen.<br />
Im Sommer 2013, als Edward<br />
Snowden die Welt mit<br />
seinen NSA-Erkenntnissen<br />
aufgeschreckt hatte, meinten<br />
66 Prozent der deutschen<br />
Internetnutzer,ihre<br />
Daten seien nicht sicher.<br />
Im November waren es<br />
laut dem Branchenverband<br />
Bitkom schon 80<br />
Prozent. Sie fühlen sich<br />
der Umfragezufolge bedroht–vomStaatmittlerweilenoch<br />
mehr als<br />
vonCyberkriminellen.<br />
Das Darknet<br />
Es leuchtetamEnde<br />
dieses Jahres fast<br />
wie die Milchstraße.<br />
Wie der letzte<br />
verbliebene Schutzraum,<br />
in dem<br />
Anonymität noch<br />
etwas zählt<br />
Wennmanentsetztist,wiedie<br />
562 Schriftsteller, die sich vor<br />
Weihnachten weltweit mit einem<br />
Aufruf gegen die Überwachung<br />
zu Wort gemeldet haben.<br />
Wenn man auf einen anderen<br />
Aufruf stößt, den achtder wichtigsten<br />
Internetkonzerne der<br />
Welt gestartet haben. Und wenn<br />
mandann darüber nachdenkt,<br />
dassdasexaktdieselbenKonzerne<br />
sind, die so viel wie möglich<br />
von ihren Nutzerinnen wissen<br />
wollen, ohne ihnen zu verraten,<br />
wassie schon alles über sie wissen:<br />
Dann scheint esplötzlich<br />
keine völlig absurde Idee mehr,<br />
sich einen ganz anderen Ortzu<br />
suchen.Einen,andemwederdie<br />
Konzerne noch der Staat jede<br />
Spur registrieren können, die<br />
manhinterlässt. Jede Nachricht,<br />
diemanschreibt.JedesBuch,das<br />
mankauft.<br />
Wenn in einer überwachten<br />
Online-Welt jeder ohnehin als<br />
potenzieller Verbrecher gilt,<br />
muss mansich dann vielleicht<br />
einfach verhalten, als wäre man<br />
einDrogenbaron?<br />
Das Darknet, es leuchtet am<br />
Ende dieses Jahres fast wie die<br />
Milchstraße. Wieder letzte verbliebene<br />
Schutzraum, in dem<br />
Anonymitätnochetwaszählt.<br />
Ross Ulbrichts Familie betreibt<br />
eine Webseite für ihn, die<br />
freeross.orgheißtundaufderer<br />
wie ein politischer Gefangener<br />
präsentiertwird. Mitvielen Bildern,<br />
die ihn beim Klettern zeigen,beimRudern,mitFreunden.<br />
Er lächeltmeist. Seine Freunde,<br />
seine Verwandten beschreiben<br />
ihn aufdieser Seiteund in Gerichtsaktenalsfreundlich,gütig,<br />
wohltätig. „Er istein loyalerund<br />
liebevollerFreund,schonseitunserer<br />
Kindheit. Die Geschichte<br />
ergibt für uns einfach keinen<br />
Sinn“, schreibt eine Freundin<br />
überFacebook.<br />
Je länger man den Fall des<br />
Grausamen Piraten Roberts rekonstruiert,jelängermanalldie<br />
Darknet-Seiten sichtet, desto<br />
mehr scheintdarin eine Chance<br />
auf:Dass2014zumJahrderdigitalen<br />
Mündigkeitwerden kann,<br />
desdigitalenUngehorsams.Man<br />
muss sich dafür aufdie Instrumentekonzentrieren,diederPiratgenutzthat.DasTor-Netz,die<br />
Bitcoins.<br />
Tor? Bitcoins? Das kommtIhnen<br />
hier langsam vor, als wären<br />
SieindieInformatik-AGgeraten,<br />
in die sie doch in der Schule<br />
schon nichtwollten? Nie davon<br />
geträumt,ein Pirat zu sein, eine<br />
Piratin?WieJohnnyDepp?<br />
Am Anfang der Geschichte<br />
vom Grausamen Piraten steht<br />
eine seltsame Onlineadresse:<br />
tydgccykixpbu6uz.onion. Die<br />
erste Anschrift der Silk Road.<br />
Darknet-Seiten wie diese lassen<br />
sich nur mit einem speziellen<br />
Browser öffnen, dem Tor-Browser.Torstehtfür:TheOnionRouter.DasProjektsorgtdafür,dass<br />
man imInternet surfen kann,<br />
ohne die eigene Identitätpreiszugeben.<br />
Man muss nurdie Tor-<br />
Software herunterladen. Der<br />
RestläuftwiemitanderenBrowsern,meistnuretwaslangsamer.<br />
Viagra,iPhone–odereine<br />
WalterPPKfür600Euro<br />
Normalerweise wirdeine Seite<br />
wiegoogle.dedirektaufgerufen,<br />
die Anfragevom eigenen Computer<br />
–zeig mir google.de –landet<br />
aufdem Google-Server und<br />
die Webseite mit ihrem Suchschlitz<br />
erscheintauf dem Bildschirm<br />
des Rechners. Ruft man<br />
google.de über den Tor-Browser<br />
auf,werdendieDatenübermehrereRechnerumgeleitet.Google<br />
kannjetztnichtmehrfeststellen,<br />
von welchem Computer die<br />
Suchanfragestammt.<br />
Weil mehrere Schichten von<br />
VerschlüsselungenumdieDaten<br />
gelegt werden, haben die Entwickler<br />
den Namen Onion-Router<br />
gewählt. Onion wie Zwiebel.<br />
So hilft Torauch Menschen in<br />
Chinaoder dem Iran, das Internetunzensiertzunutzen.<br />
DerEingangzurOnline-Parallelweltdes<br />
Darknet istfür viele<br />
das „Hidden Wiki“. Weil Google<br />
das Darknet nichtzeigt, werden<br />
seine Seiten über Adressverzeichnisse<br />
wie dieses weiterempfohlen.<br />
Über das „Hidden<br />
Wiki“kannmananUS-Pässefür<br />
10.000Dollargenausogelangen<br />
wie an Auftragsmörder.Und nie<br />
weiß man genau, was einem<br />
Angsteinjagen muss, wasSpaß<br />
ist oder der Versuch, Möchtegernkriminelle<br />
abzuzocken. Es<br />
gibtGraslädenundElektroläden.<br />
Man kann Viagra kaufen, das<br />
iPhone 5S,Twitter-Follower, die<br />
Dienste vonHackern oder eine<br />
WalterPPKfür600Euro.<br />
Die Seiten wirken oft wie aus<br />
denUrzeitendesInternets.Wenige<br />
Bilder,viel Schrift, die Waren<br />
häufig schummrig selbst fotografiert.Danebenkannmansich<br />
durch Foren klicken, in denen<br />
übers Hacking diskutiert wird,<br />
über ökonomische Theorien<br />
oderdieFrage,obFernsehenverdummt.<br />
EsgibtSeitenwieCode:Green,<br />
einForumfürHacker-Aktivisten,<br />
wo amTagnachderkroatischen<br />
Abstimmung gegen die Homo-<br />
Ehe ein gewisser Vukovinski<br />
sagt, er sei vonder Lesben- und<br />
Schwulenbewegung Kroatiens,<br />
ersuchejemanden,derdieSeite<br />
der Homo-Ehen-Gegner hackt.<br />
Auch in den Foren der Silk Road<br />
wird diskutiert. Neuester Beitrag:„LasstRossUlbrichtfrei,ihr<br />
Nazischweine,euerDrogenkrieg<br />
tötetMenschen.“<br />
Das Reich, das der Grausame<br />
PiratRobertsmitseinerSilkRoad<br />
schafft, ist ein Gegenentwurf<br />
zu den Imperien von<br />
Amazon oder Facebook.<br />
Auf Facebook soll jeder<br />
Mensch ein<br />
Gesichthaben.<br />
Man siehtdas<br />
eigene unter
sonntaz |NETZ<br />
www.taz.de | sonntaz@taz.de apple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 21<br />
fürverschreibungspflichtige<br />
Medikamente und Drogen gab es auf<br />
der Silk Road am 13. September 2013<br />
13.000Angebote<br />
Quelle: Olivia Bolles Criminal Complaint<br />
Nutzer hatte der Darknet-<br />
Schwarzmarkt Silk Road, bevordas<br />
FBI ihn im Oktober schloss<br />
0,9Millionen<br />
Quelle: Reuters<br />
.......................................................................<br />
.....................................................<br />
Drei Schritte ins Darknet<br />
Laden Sie sich am besten den<br />
1Tor-Browserherunter und installieren<br />
ihn: www.torproject.org.<br />
Sie finden auf der Seite<br />
einige Erläuterungen, wie man<br />
surft,ohne Spuren zu hinterlassen.<br />
Natürlich funktioniertder Tor-<br />
Browserauch fürs „Clearnet“,das<br />
sichtbareInternet.<br />
2<br />
Suchen Sie über den Tor-Browserdas<br />
„Hidden Wiki“,eine<br />
Überblicksseite,die viele Darknet-<br />
Websites auflistet. Achten Sie darauf,dassdie<br />
Seite aus wirren<br />
Buchstabenzahlenkombinationen<br />
bestehtund auf .onion endet<br />
und nichtauf .com, .orgoder .de.<br />
Etwa: kpvz7ki2v5agwt35.onion.to/wiki/<br />
3<br />
Wählen Sie Ihreerste Seite an,<br />
vielleichtnichtgerade einen<br />
Waffenladen. Achten Sie darauf,<br />
nichts herunterzuladen und auf IhrerFestplatte<br />
zu speichern und<br />
bleiben Sie auch sonstmisstrauisch.<br />
Bitcoins können Sie über Seiten<br />
wie bitcoin.de oder localbitcoins.com<br />
kaufen. Haben Sie die<br />
erworbenen Münzenineiner digitalen<br />
Geldbörse, einem Wallet,<br />
abgelegt,kann das Geld per Klick<br />
sekundenschnell überwiesen werden.<br />
Bezahlt man etwas, wirdder<br />
Betrag so lange auf einem Konto<br />
des Online-Shops zwischengelagert,<br />
bis die Ware geliefert ist.<br />
Dann gibtder Käufer das Geld für<br />
den Händler frei. Fragen zu Bitcoins:<br />
bitcoin.org<br />
denKommentarenvonanderen,<br />
maninteragiert, produziertDaten,<br />
macht sein Surfverhalten<br />
nachvollziehbar. Verwertbar.<br />
Auch Googlewill jedem Nutzer<br />
überdasNetzwerkGoogle+möglichst<br />
ein Gesicht verleihen.<br />
Amazon zeichnet mitseinen Algorithmen<br />
manchmal noch klarereNutzerbilder.<br />
AufderSilkRoadgibteskeine<br />
Gesichter,sondernBildervonPiraten,vonClownsoderBobMarley.<br />
EsistderVersuch,Vertrauen<br />
andersaufzubauenalsüberPorträtfotosund<br />
Vor- und Nachnamen.<br />
DasDarknetlässtsichnichtin<br />
Schwarz und Weiß zeichnen, es<br />
istgrau,unbestimmt.Esistnicht<br />
dieschwarzeHölle,diesichvom<br />
weißen Rest des Internets abgrenzen<br />
lässt, den Googledominiert.EsbirgteineUnsicherheit,<br />
dieunsvoranbringenkann,weil<br />
sie weniger trügerisch istals die<br />
Google-Idylle,diesohellscheint.<br />
Am23.März2013wendetsich<br />
RossUlbrichtan„redandwhite“–<br />
so nennen sich Mitglieder des<br />
Rockerclubs Hell’sAngels –und<br />
bittet ihn, den Silk-Road-Nutzer<br />
„FriendlyChemist“ umzubringen,<br />
der ihn erpresse. Er schickt<br />
eine kanadische Anschrift.<br />
„Friendly Chemist“ drohe, die<br />
Identität von Tausenden Silk-<br />
Road-Kunden preiszugeben.<br />
„Dieses Verhalten istunverzeihlich.<br />
Vorallem hier,auf der Silk<br />
Road, ist Anonymität sakrosankt.“<br />
„redandwhite“<br />
macht Ulbricht<br />
aufeinenweiterenHändler<br />
aufmerksam, „tony76“, der<br />
auch hinter der Erpressung stecke.DervermeintlicheHell’sAngel<br />
teiltUlbrichtnun mit, dass<br />
„tony76“ mit drei anderen zusammenlebe.<br />
Wenn sie nurihn<br />
töteten, könnten sie weder Geld<br />
noch Drogen sichern. Ulbricht<br />
zahltdaraufhin 500.000 Dollar<br />
für „alle vier“. Am15. April<br />
schreibt „redandwhite“: „Das<br />
Problemisterledigt.“<br />
EsistnichtdasersteMal,dass<br />
der Grausame Pirat Roberts jemandenbeauftragthat,zutöten.<br />
Schon im Januar 2013 wendet<br />
er sich an einen anderen Nutzer<br />
der Silk Road. Ein Angestellter<br />
habe 350.000 Dollar gestohlen.<br />
Erbittet,ihnzusammenzuschlagen<br />
und das Geld zurückzuholen.AlsUlbrichterfährt,derAngestellteseifestgenommenworden,<br />
und fürchtet, er verpfeife<br />
ihn, wandelterden Auftrag um:<br />
„lieberExekutionstattFolter“.Er<br />
zahlt80.000Dollar–underhält<br />
FotosvomErmordeten.<br />
„Eskotztmichan,dassichihn<br />
umbringenmusste“, schreibtUlbrichtimprivaten<br />
Chat.„Aber<br />
wasseinmuss,musssein.“<br />
AlsFBI-AgentenRossUlbricht<br />
am 1. Oktober 2013 festnehmen,<br />
sitzteramLaptopineineröffent-<br />
lichenBibliothekinSanFrancis-<br />
co.Ein blasser Typ in Jeans und<br />
T-Shirt. Bevor die FBI-Männer<br />
ihn ans Fenster pressen und<br />
dann mitnehmen, verwaltet er<br />
die Silk-Road-Seite, verfolgt<br />
Geldströme und chattet. Das allesergibtsichausGerichtsakten<br />
undZeugenaussagen.<br />
AmEndestelltsichheraus:Es<br />
istniemandgetötetworden.Der<br />
vermeintliche Auftragsmörder<br />
war ein Undercover-Agent, die<br />
Fotossindgestellt.AuchinKanada,<br />
stelltdas FBI fest, wurde<br />
keineLeichegefunden.<br />
Wasdie Ermittler jedoch auf<br />
Ulbrichts Laptop finden, istein<br />
Tagebuch.Alseinesderwichtigsten<br />
Ereignisse des Jahres 2010<br />
hältUlbrichtdarinfest:„Ichfing<br />
an,aneinemProjektzuarbeiten,<br />
dasichmehralseinJahrlangim<br />
Kopfgehabthatte.Ichnanntees<br />
zuerst Underground Brokers,<br />
später Silk Road. Ich wollte eine<br />
Webseite schaffen, aufder Menschen<br />
anonym einkaufen können,<br />
ohne eine einzige Spur zu<br />
hinterlassen, die zu ihnen zurückführenkönnte.“<br />
UmdieUntergrund-Plattform<br />
zumLaufenzu kriegen,bieteter<br />
etwas an, das man woanders<br />
nicht bekommt. Er züchtet in<br />
einer Hütte Magic Mushrooms,<br />
halluzinogenePilze.<br />
RossUlbrichtwilleineOnline-<br />
Weltschaffen,diefreiistvonGewalt,und<br />
übersiehtdabei offenbar<br />
lange, dass der Handel mit<br />
Drogen Menschen anzieht, derenGeschäftdieGewaltist.<br />
Es muss ihm irgendwann<br />
schwerfallen, von seinem WG-<br />
ZimmerausdenBezugzurRealitätdadraußen<br />
zu bewahren. Er<br />
kenneselbstseineengstenBerater<br />
nichtpersönlich, schreibt er<br />
einem Journalisten. Ob seine<br />
Freundinwisse,dasserderGrausame<br />
Pirat Roberts sei, fragtihn<br />
jemand im Chat.Sie werdedas<br />
unter garkeinen Umständen erfahren,antwortetUlbricht.„Vielleichtnie.“Eristgutdaringeworden,<br />
Dinge zu verbergen. Und<br />
scheintvergessenzuhaben,dass<br />
erkeinComputerspielspielt.<br />
Fortsetzung auf Seite 22
22 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple www.taz.de | sonntaz@taz.de NETZ | sonntaz<br />
haben die Nutzer der<br />
neuen Silk Road seit Oktober im<br />
Forum ungefähr geschrieben<br />
164.000Einträge<br />
Quelle: Silk Road Forum<br />
1Bitcoin warimJuni 78,95 Euro wert,<br />
der Kurs stieg bis November auf 731 Euro<br />
und istzuletzt wieder stark gefallen<br />
Quelle: Bitcoin.de<br />
Recherche: Sebastian Kempkens<br />
Fortsetzung von Seite 21<br />
In einem anderen Tagebucheintrag<br />
vom28. März 2013 steht<br />
eineArtTo-do-Liste:„BeidenAngels<br />
die Ermordung des ErpressersinAuftraggegeben“.Undwenige<br />
Tage später: Erpresser exekutiert.<br />
730.000 Dollar habe Ulbricht<br />
ausgegeben,umsechsMenschen<br />
umbringen zu lassen, stelltein<br />
RichterineinemSchreibenvom<br />
20.Novemberfest.ErkönnedeshalbnichtaufKautionfreikommen.<br />
Allescheinen überlebt zu haben.<br />
Der Verdacht liegt nahe,<br />
dass Ulbrichtmehrfach genarrt<br />
worden ist. Voneinem Undercover-Ermittler–undvon„redandwhite“,dermitdenHell’sAngels<br />
vielleichtgarnichtszutunhatte.<br />
Aber Ulbrichtwolltedie Morde.AusGier?AusParanoia?<br />
ErgehtdenWegeinesGesetzlosen.<br />
Und als er begreift, dass<br />
auf manchen Schwarzmärkten<br />
nichtnur die Firmen liquidiert<br />
werden, sondern auch Menschen,<br />
geht erweiter. Er<br />
machtmit.<br />
Dass das FBI zwei Jahre<br />
brauchte, um Ulbricht zu<br />
finden, liegt auch an der<br />
Währung, die den anonymen<br />
Handel erst ermöglicht.<br />
Jetzt also die letzte Informatiklektion:<br />
Bitcoins<br />
sind im Jahr 2009 entstanden.<br />
Ausgedachthat<br />
sie sich ein Japaner namens<br />
Satoshi Nakamoto,vondemwederklar<br />
ist, ob er Japaner ist,<br />
noch ob er Satoshi<br />
Nakamotoheißt.<br />
Im Gegensatz<br />
zu klassischen<br />
Währungen<br />
wie Euro oder Dollar, die von<br />
Banken herausgegeben werden,<br />
entstehen Bitcoins, indem extrem<br />
leistungsfähige Computer<br />
Rechenprobleme lösen –mit ei-<br />
nemProgrammnamensBitcoin-<br />
Miner. AmEnde der gelösten<br />
Rechnung stehen neue digitale<br />
Münzen.Siewerdenmitkomplizierten<br />
Verschlüsselungen also<br />
gewissermaßendigitalgedruckt.<br />
Die Bitcoins wiederum kann<br />
dann jeder für Eurooder Dollar<br />
kaufen.Manmusssichdafürnur<br />
eine Online-Geldbörse anlegen,<br />
ein Wallet. Mitdieser Geldbörse<br />
kannmanShoppengehen.Alles<br />
völlig ohne Banken –und ohne<br />
AngabeseinesechtenNamens.<br />
Bitcoins sind vorallem eine<br />
politischeIdee:EsgehtohneBanken,ohneStaat.<br />
Die einzige zentrale Instanz<br />
der Bitcoin-Währung istein Verzeichnis,<br />
in dem jede Transaktion<br />
festgehalten wird. Es heißt<br />
Blockchain. Über dieses Verzeichnis<br />
konnten die Ermittler<br />
nachweisen, dass ein „redandwhite“<br />
die Summe überwiesen<br />
bekam, die er mitRoss Ulbricht<br />
vereinbarthatte.<br />
Zentralbanker und<br />
Unternehmenschefs<br />
haben Bitcoins lange<br />
ignoriert. In jüngster Zeitallerdings<br />
sprechen sich einige von<br />
ihnen für die Währung aus. Zuletzt<br />
etwader Chef des Bezahl-<br />
Dienstleisters Paypal. Bitcoins<br />
funktionieren ohne aufwendige<br />
Überweisungen. Der Kurs<br />
schwankt allerdings stark. Im<br />
Frühjahrlagernochumdie100<br />
Dollar, imHerbst erreichte er<br />
1.000 Dollar –umdann wieder<br />
zufallen.<br />
Das Darknet, das Tor-Netzwerk,<br />
die Bitcoins scheinen wie<br />
dieBestandteileeinerUtopie,die<br />
trotz aller NSA-Aktivitätweiterbesteht:<br />
Dass es immer noch<br />
möglich ist, sich unerkanntim<br />
Netz zu bewegen,<br />
sich<br />
Ich habe nichts zu verbergen!<br />
Sind Sie da völlig sicher?<br />
Sollen wir mal die Liste aller<br />
Webseiten veröffentlichen,<br />
die Sie 2013 besucht haben?<br />
auszutauschen,<br />
zu handeln.<br />
Natürlich<br />
interessiert<br />
sich auch die<br />
NSA für das<br />
Tor-Netz.<br />
Auch ihr<br />
istesschongelungen,Spionage-<br />
Software durch Sicherheitslücken<br />
hindurch aufRechner zu<br />
schleusen,dieTornutzen.Trotzdem<br />
schließen die Spione in einem<br />
vonEdwardSnowden geleaktenBericht:„Wirwerdenniemals<br />
alleTor-Nutzer identifizierenkönnen.“<br />
Im Sommer dann fielen Teile<br />
des Darknets aus, weil einer der<br />
größten Server-Betreiber, der<br />
Kinderpornoringegeförderthatte,inIrlandfestgenommenwurde.EsisteinwesentlicherTeildes<br />
Darknets. Der Teil, der einen an<br />
allemzweifelnlässt.<br />
„Kriminelle“,sagtder US-AutorDan<br />
Suarez, der als einer der<br />
IT-kundigsten Schriftsteller gilt,<br />
seien die „early Adopter“ des<br />
Darknets.Siekönntennichtüber<br />
dieMainstream-Kanälekommunizieren.<br />
Genauso wie Dissidenten.Grundsätzlichaberseiensolche<br />
Netzwerkewie Feuer: „Man<br />
kannsiefürguteoderböseZweckeverwenden.“<br />
Je autoritärereinStaatwerde,<br />
sagt Suarez, desto froher könntendieMenschensein,übersolche<br />
Kanäle zu verfügen. Die<br />
meisten seien ja glücklicherweisekeineKriminellen.<br />
Das Tor-Netzwerk wächst,<br />
es wirdstabiler,schneller.<br />
Gerade hat es250.000<br />
Dollar vonder niederländischen<br />
Organisation<br />
Digital DefendersPartnershiperhalten,mitdemes<br />
seine Server weiterausbaut.<br />
Jetzt können<br />
Sie natürlich<br />
immer noch sagen:<br />
Wieso soll<br />
ich mich zwischen<br />
all diesen<br />
irren Typen verstecken?<br />
Ich habe<br />
dochnichtszuverbergen!<br />
Sind Sie da völlig<br />
sicher?Sollenwirmal<br />
die Liste aller Webseiten<br />
veröffentlichen,<br />
die Sie 2013 besuchthaben?<br />
Vielleichtwissen Sie nur<br />
nochnicht,wasIhneneinmal<br />
vorgeworfen werden könnte. Es<br />
kanndurchaussein,dassSiemit<br />
jemandenzutunhatten,fürden<br />
sich irgendwann die Geheimdiensteinteressieren.Unddamit<br />
dannwomöglichauchfürSie.<br />
Gesetze können sich ändern.<br />
DassiehtmanambestenanFacebook.<br />
Plötzlich gelten<br />
neue Regeln, und die Fotos,<br />
die Nachrichten, die<br />
Witze, die manunter ganz<br />
anderen Voraussetzungen<br />
hinterlassen hat, werden neu<br />
bewertet,neugenutzt.<br />
Man machtsoviel im Netz<br />
und vergisstsovieles so schnell<br />
wieder.<br />
RossUlbrichthatsichvermutlich<br />
irgendwann auch nicht<br />
mehr daran erinnert, wie er als<br />
„altoid“indem Forum mitden<br />
halluzinogenen Pilzen auf die<br />
Silk Road aufmerksam machte.<br />
Wieerdasselbe in diesem anderen<br />
Forum tat. Und wie er dort<br />
danneinmalProgrammiererfür<br />
sein „Start-up“ anwerben wollte.<br />
E-Mails bitte an: rossulbricht@gmail.com.<br />
So kamdas FBI an seinen Namen.AlserdannimDarknetgefälschte<br />
Pässe bestellte, standen<br />
sie bei ihm vorder Tür. Sie gingen<br />
wieder,sie mussten ihn auf<br />
frischerTatertappen.Undwenig<br />
späternahmensieihninderBibliothekinSanFranciscofest.Er<br />
soll in der Science-Fiction-Ecke<br />
gesessenhaben.<br />
Der Grausame Pirat Roberts.<br />
Im Englischen klingt der Name<br />
etwas eingängiger: Dread Pirate<br />
Roberts. DPR. Er istnichtimmer<br />
einunddieselbePerson.<br />
In dem Märchen „Die Brautprinzessin“können<br />
verschiedene<br />
Kapitäne diese Rolleannehmen.Wenneinervonihnensich<br />
zurRuhesetzt,fährteinanderer<br />
mitneuer Crewund altem Namenweiter.<br />
Glaubensiealleandie<br />
UtopiedesPiraten?<br />
AnfangNovember,RossUlbricht<br />
sitzt da schon im Gefängnis,<br />
tauchtein neuer Grausamer PiratRobertsauf.Undmitihmdie<br />
SilkRoad2.0.<br />
Zunächsteinmalistdanureine<br />
graueSeite. Man muss den<br />
Nutzernamen eingeben, ein<br />
Passwort, dann öffnet sich die<br />
neueSilkRoad.<br />
„Mitgroßer Freude kündige<br />
icheinneuesKapitelaufunserer<br />
Reise an. Silk Road istaus der<br />
Asche auferstanden, und erwartet<br />
euch nun alle wieder“,<br />
schreibt der Grausame Pirat Roberts.<br />
„Willkommen zurück in<br />
derFreiheit.“<br />
DieSeitesiehtauswiederkleinehässlicheBrudervoneBay.Ein<br />
grünes Kamel ziert die linke<br />
Ecke. Drogen sind in Listen sortiert.<br />
Stimulierend, psychedelisch,<br />
verschreibungspflichtig,<br />
andere. Heroin, Ecstasy,Cannabis.<br />
Da sind dann die Blüten abgebildet:<br />
3,5 Gramm Stinky Bud.<br />
Oder ein Gramm Dutch Super<br />
Lemon Haze. 0,03222 Bitcoins.<br />
Etwa20Euro.<br />
Wersind die Menschen, die<br />
sich hinter Namen wie AliceIn-<br />
Wonderland, WalterWhite oder<br />
AmericaOnDrugs verbergen?<br />
Glauben sie an die Utopie des<br />
Ross Ulbricht? An eine Utopie,<br />
die unsere gemeinsame werden<br />
könnte?<br />
Es istnichteinfach, sich mit<br />
ihnenzuunterhalten.„HörenSie<br />
bitte auf, Geschichten über das<br />
Darknet in den Medien zu verbreiten“,<br />
schreibt etwa Albanski88.„Danke“.<br />
Spätestens der Fall Ross Ulbrichthatallenklargemacht,wie<br />
sehr sie unter Beobachtung stehen.<br />
Ulbricht wird von einem<br />
Anwaltverteidigt,dermutmaßlicheAl-Qaida-TerroristenundTalibanverteidigthat.Staatsfeinde.<br />
EskönnteeinInteressegeben,<br />
auch Ross Ulbricht wie einen<br />
darzustellen, mutmaßen mancheindenForen.<br />
JeklarerderStaatdasDarknet<br />
diskreditiert, desto eher zögern<br />
seine Bürger womöglich, es sich<br />
anzusehen. Die letzten Freiräume<br />
des Internets blieben so unbewohnt.<br />
DerneueDreadPirateRoberts<br />
antwortet, er habe unglücklicherweise<br />
keine Zeitfür Interviews.DieSeitewirdangegriffen,<br />
fälltaus.ErmussdieCommunity<br />
beiLaunehalten.<br />
Ross UlbrichtmachtimGefängnisYoga,bestreitetalles,fordert<br />
28Millionen Dollar beschlagnahmte<br />
Bitcoins zurück<br />
und lässtseinen Anwalt mitder<br />
Staatsanwaltschaftverhandeln.<br />
Ein europäischer Studentist<br />
bereitzureden.Erschreibt,ersei<br />
zwischen20und25,denNutzernamen<br />
solleman bitte nichterwähnen.<br />
Eristmalhäufiger,malweniger<br />
häufig im Silk-Road-Forum<br />
unterwegs.Eskannvorkommen,<br />
dass er achtStunden am Stück<br />
hier verbringt. Zurzeitkaufe er<br />
vorallem Speed. „Das Darknet<br />
machtdie Welt aufjeden Fall sicherer“,findet<br />
er,„es reduziert<br />
die Kriminalitätauf der Straße,<br />
und es ermöglicht den Menschen,<br />
Geheimnisse zu verbreiten,<br />
die die Welt kennen sollte,<br />
bevordie Verbreitung im Keim<br />
ersticktwird.“Außerdemgehees<br />
den Silk-Road-Betreibern darum,<br />
sicherere Drogen anbieten.<br />
Es gibt dortÄrzte, die online beraten.<br />
Werschlechten Stoff verkauft,wirddiskreditiert.<br />
AlskurzvorWeihnachtendrei<br />
Silk-Road-Mitarbeiter in den<br />
USA, in Australien und Irland<br />
festgenommenwerdenundsich<br />
der Grausame Pirat kurz darauf<br />
nichtmehr im Forum zu Wort<br />
meldet, vermutet sein Stellvertreter,erseiin„schwererGefahr“.<br />
EinNachfolgerdesPiratenseiallerdings<br />
benannt. Allediskutieren,<br />
wemman jetzt noch trauen<br />
kannundobdieSilkRoad2.0das<br />
überlebt.<br />
Man wird unsicherer, wenn<br />
man das Online-Gegenüber<br />
nichtalsPorträtfotosiehtwieauf<br />
Facebook. Vielleichtist das besserso.VielleichtisteseineUnsicherheit,<br />
die maninZeiten der<br />
NSA-Erkenntnisse gut gebrauchenkann.<br />
Man fühltsich während solcherLektionenimOnline-UntergrundmanchmalwieimMaschinenraum<br />
des Netzes. Kaum<br />
Licht, es riecht, es wummert,<br />
aberjelängermanhinsieht,destomehrbegreiftman.<br />
„Was das Vertrauen in Silk<br />
Road 2.0 angeht, möchten wir<br />
natürlich für niemanden die<br />
HandinsFeuerlegen“,stellt„Germanshop“nüchternfest,dermit<br />
einer Gruppe vonDealern Amphetaminvertreibt.AufeineranderenPlattformhabensiegerade<br />
„einiges an Geld verloren“, weil<br />
sie dem Administrator „leider<br />
vertrauthaben“.<br />
Manchmal klingt er wie der<br />
CEO eines Start-ups: „Zum wirtschaftlichen<br />
Aspekt vonUntergrundMärktenkannmansagen,<br />
dass manjenach Angebot und<br />
QualitätdurchausMillionärwerdenkann.<br />
Betrachtet er die Silk Road<br />
nichtnur als Alternativezuden<br />
Kartellkriegen,sondernauchals<br />
FrontimKampf um die Freiheit<br />
desInternets?WieRossUlbricht?<br />
IhrZielseiklar:Gewinne.<br />
Aberdasmussjanichtfüralle<br />
SurferimDarknetgelten.<br />
Vielleichtsehen Sie sich die<br />
Sacheeinmalan?<br />
■ Johannes Gernert, 33, ist sonntaz-Redakteur.<br />
Wie er auf der Silk<br />
Road einkaufte, lesen Sie unter:<br />
taz.de/untergrundgras<br />
■ Sophia Martineck, 32, ist freie<br />
Illustratorin in Berlin. Sie hat weder<br />
Facebook- noch Google-Account
sonntaz |KULTUR<br />
www.taz.de | kultur@taz.de apple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 23<br />
KOMÖDIEErstaunlich,wiederFilmstudentRamonZürchermiteinerSeminararbeitdieKinoweltbegeistert<br />
EinspielendesKätzchenmachtKarriere<br />
VON EKKEHARD KNÖRER<br />
Plötzlich sprachen alle<br />
vomKätzchen. Es warim<br />
Forum der Berlinaleaufgetaucht,<br />
den Namen des<br />
Regisseurs kannte kaum einer,<br />
aberüberNachtwarRamonZürchers<br />
kleiner Film „Das merkwürdigeKätzchen“dergroßeGeheimtipp<br />
des Festivals. Und<br />
nichtnur bei den deutschen Besuchern,Kritikerausderganzen<br />
Welt waren erstauf Twitter und<br />
dann in ihren Festivalberichten<br />
begeistert. Eine erstaunliche Sache,dennZürcherstudiertnoch,<br />
ein Schweizer an der Berliner<br />
FilmhochschuleDFFB.<br />
Meistens erlebt manihn gemeinsam<br />
mitseinem Zwillingsbruder<br />
Silvan, der auch an der<br />
DFFBstudiert,allerdingsProduktion.<br />
Sie arbeiten stets zusammen,<br />
Schweizer Zwillinge, die<br />
miteinem Studentenfilm reüssieren,<br />
erst inBerlin, dann in<br />
CannesundimRestderWelt.Inzwischen<br />
sind sie fast ein Jahr<br />
langvoneinemFestivalzumanderenunterwegsundräumeneinen<br />
Preis nach dem anderen ab.<br />
Kätzchenkommtrum,Kätzchen<br />
machtKarriere, als „The Strange<br />
LittleCat“, „L’étrange petitchat“<br />
undsoweiter.<br />
Es ist nicht einmal der Abschlussfilm,sondernProdukteines<br />
Seminars, das der ungarische<br />
Regisseur Béla Tarr an der<br />
DFFBgab.Tarr,eineigensinniger<br />
Mensch und faszinierender Regisseur<br />
(„Sátántángo“, „Das Turiner<br />
Pferd“), hatte sich vor ein<br />
paar Jahren sogar als Direktor<br />
der Berliner Hochschulebeworben;<br />
das wurdeaber nichts, der<br />
Senat hat lieber den ziemlich<br />
langweiligenFilmförderkünstler<br />
Jan Schütte installiert. Tarr<br />
machtinzwischen sein eigenes<br />
Ding, seine eigene Hochschule,<br />
die film.factory in Sarajewo. Das<br />
istdann aber doch eine andere,<br />
wenngleicheinefürdiedeutsche<br />
Filmkultur sehr typische Geschichte.InTarrsSeminarander<br />
DFFB jedenfalls ging es um die<br />
Inspiration durch Kafka-Erzählungen.Mindestenseinweiterer<br />
sehr schöner Film istdabei entstanden,<br />
der mittellange „Hochzeitsvorbereitungen<br />
auf dem<br />
Lande“vonYoudidKahveci.<br />
SpielaufengemRaum<br />
Ramon Zürchers „Kätzchen“beziehtsich<br />
aufKafkas „Verwandlung“.NungibtesbeiKafkakein<br />
KätzchenundbeiZürcherkeinen<br />
ineinenKäferverwandeltenGregor<br />
Samsa. Es handeltsich auch<br />
nichtimErnstumeine VerfilmungderErzählung.Eherwaren<br />
es die Raumentwürfe der Geschichte,fürdiesichZürcherinteressierte.<br />
„Das merkwürdige<br />
Kätzchen“spieltwie die Kafka-<br />
ErzählungaufsehrengemRaum.<br />
Eine Berliner Altbauwohnung;<br />
zentraler Schauplatz istdie Küche,<br />
aber das Badezimmer,ein<br />
kleines Schlafzimmer und beim<br />
Abendessen das Wohnzimmer<br />
spielen ebenfalls mit. Ein Kammerspiel,auchwenneseinpaar<br />
Mal nach draußen geht, auch<br />
wenn einmal ein Ball durchs<br />
FensterindieWohnungfliegt.<br />
IndieserWohnung:eineFamilie,<br />
Vater, Mutter, drei Kinder.<br />
Aber auch die Großmutter,ein<br />
Schwager,eine Tanteund deren<br />
Tochter,einHund–unddasKätzchen.<br />
Man kriegt die Beteiligten<br />
nichtsoeinfach sortiert, es passiertzwischenihnenauchwenig<br />
Spektakuläres.ImWesentlichen:<br />
Abendessenvorbereitungen in<br />
der Stadt. Ein Falter flatterther-<br />
Ein Experimentalfilm, der als Spielfilm funktioniert. Die Spannung, die es gibt, und der Humor, der nicht fehlt, ergeben sich aus der eigenwilligen Form.<br />
Und er ist noch nicht einmal die Abschlussarbeit von Ramon Zürcher! Stills aus „Das merkwürdige Kätzchen“ Fotos: Peripher Film<br />
Ramon Zürcher Foto: Yann Houlberg<br />
um, die jüngere Tochter schreit<br />
undschneidetsichindenFinger,<br />
eine Waschmaschine wirdrepariert,<br />
der Hund beobachtet das<br />
schlafendeKätzchen,einKorken<br />
fliegt aus einer Flasche und<br />
machtdieBirneinderLampekaputt,dieMutter(JenniferSchily)<br />
stehtherumundmachthinund<br />
wieder ziemlich giftige Bemerkungen,erzähltaberauchvoneinem<br />
Kinobesuch, die größere<br />
Tochter schälteine Orange und<br />
erzähltdabei,wiesieeinmaleine<br />
Orangegeschälthatunddassdabei<br />
die Stückeder Schaleimmer<br />
aufdieAußenseitegefallensind.<br />
Für die Kino- und die Orangenerzählung<br />
verlässtder Film<br />
dieGegenwartunddieWohnung<br />
alsSchauplatz.Erblendetzurück,<br />
gehtmit der Erinnerung der Figuren<br />
nach draußen, ins Kino,<br />
ins Freie. Nötig wäre das ausinhaltlichenGründennicht,esgibt<br />
dabei nichts Besonderes zu sehen.<br />
Wichtig daran istvielmehr<br />
die Entscheidung selbst, der<br />
Sprung, der gezielte Ausbruch<br />
ausdemeinenineinenanderen<br />
filmischenRaum.<br />
Überhaupt muss man jetzt<br />
malmit der Wahrheitherausrücken:FürInhaltistenundFreunde<br />
simpler Spannungsbögen<br />
oder schlichten Humors istdieser<br />
Film eher nichts. Die Spannung,dieesgibt,undderHumor,<br />
dernichtfehlt,ergebensichviel<br />
eher ausder höchsteigenwilligen<br />
Form, die Zürcher für seine<br />
Erzählunggewählthat.Wernicht<br />
aufFormachtenwill,siehtindiesemFilmvermutlichnichtmehr<br />
als ein verschrobenes Familienbeziehungsgefüge<br />
mitsehr geschriebenen<br />
Dialogen und mitunter<br />
etwas rätselhaft agierendenCharakteren.<br />
AuseinerGrundentscheidung<br />
ergibt sich hier vieles: Ramon<br />
Zürcher und sein Kameramann<br />
Alexander Haßkerl bewegen die<br />
Kameranicht.Jedederdurchaus<br />
zahlreichen Einstellungen ist<br />
starr, wenngleich selten sehr<br />
lang.ManhatimmerwiederBilder,dieandieder„BerlinerSchule“<br />
erinnern: Figur im Gegenlicht,<br />
gemäldehaft schön. Aber<br />
diese Bilder stehen nichtlang.<br />
Undetwasbringtspätestensmit<br />
dem nächsten Schnitt schnell<br />
Unruhe rein, der Tonaus dem<br />
Off, ein Geräusch, eine das Bild<br />
kreuzende andere Figur,etwas,<br />
dasmannurhalbhörtoderhalb<br />
sieht. Ständig tutsich was, und<br />
sehroftistdas,wassichtut,nicht<br />
oder nicht ganz im Bild. Was<br />
fehlt, istÜberblick. Es istnicht<br />
nurso, dass mannichts als Ausschnitte<br />
sieht(das istimKino<br />
schließlich nie anders), sondern<br />
diese Ausschnitte machen ohne<br />
Unterlass darauf aufmerksam,<br />
dasssieAusschnittesind.Sielassen<br />
den Betrachter spüren, dass<br />
gleich nebenan, im Raum, den<br />
mannichtsieht, etwas passiert,<br />
undseiesnur,dassClaraschreit.<br />
OftgehtdasnächsteBilddann<br />
dahin,woetwaspassiert.DieKamera,sostarrsieauchist,zwingt<br />
einennichtindieUnwissenheit.<br />
Die Bewegung der Montage holt<br />
die Information aus dem Off<br />
meistein.Esergibtsichdadurch<br />
aber ein sehr eigener,verzögerter,synkopierter<br />
Rhythmus. Ein<br />
Bild setzt sich zusammen, ohne<br />
dass sich die einzelnen Teile<br />
puzzlegleich fügen. Stattdessen:<br />
Überlappungen, Auslassungen,<br />
Dopplungen, so etwas wie eine<br />
kubistische Raumimpression.<br />
Dazwischen,alsAtempausenmit<br />
Musik, Rekapitulationen, in denen<br />
die Kamera inschneller<br />
Montage die Objekte, die eine<br />
Rollegespielthaben, noch einmaljedes<br />
für sich ins Bild rückt<br />
und so das Ganze wie in einer<br />
Wiederholungsübung memoriert:Hund,Katze,Falter.<br />
FamiliemitPointen<br />
Es ist, als hätte Zürcher die<br />
Grundelemente des Films –die<br />
Einstellung,dieBewegungderFiguren<br />
darin, den Rahmen, den<br />
die Kamerasetzt, die Montage,<br />
denSound–nocheinmalgrundsätzlich<br />
durchdachtund anders<br />
zusammengesetzt, als es die<br />
Filmsprache fast immer tut. Eigentlich<br />
ein typischer Experimentalfilm-Move.WobeiRamon<br />
Zürcher das spielerisch tut, wie<br />
eineKatze,die–wenngleichsehr<br />
systematisch –ein Wollknäuel<br />
Komödie der Form<br />
Ramon Zürcher<br />
durchdenkt<br />
die Filmsprache<br />
so spielerisch<br />
noch einmal neu<br />
wie eine Katze,<br />
die –wenngleich<br />
sehr systematisch –<br />
ein Wollknäuel<br />
erstabrollt<br />
und dann auf<br />
merkwürdige Weise<br />
wieder aufrollt<br />
erstabrollt und dann aufmerkwürdige<br />
Weise wieder aufrollt.<br />
Wasdabei herauskommt, isterstaunlich:einExperimentalfilm,<br />
deralsSpielfilmfunktioniert.<br />
EsergibtsicheinFamilienporträt<br />
mitPointen. Komischen Effekt<br />
machtder Widerstand des<br />
Objekts: die spritzende Wurst,<br />
die im Wasserbad kreisende Flasche,derindieLampespringende<br />
Korken. Aber Widerstand des<br />
Objekts istauch der Grundzug<br />
der Form: Das Geschehen entziehtsichstörrischdemKamerablick.<br />
Weil „Das merkwürdige<br />
Kätzchen“ aber eine Komödie<br />
undkeineTragödiederFormist,<br />
kriegen sie sich dann doch:<br />
Handlung und Bild, Inhaltund<br />
Form.<br />
Wieschön, dass auch die Rezeption<br />
da nunmitmacht. Nach<br />
denausgedehntenFestivalreisen<br />
undungezähltenFestivalpreisen<br />
kehrtdas Kätzchen wieder nach<br />
Deutschlandzurück.EinStudentenfilm<br />
kommt ins Kino und<br />
zeigt dem oft so starren und<br />
dummen Fördersystem, wie<br />
manesauchmachenkann.Zwei<br />
Zürchers und ein merkwürdige<br />
Kätzchen haben wir nun. Wir<br />
brauchenmehrdavon.
24 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple www.taz.de | kultur@taz.de KULTUR | sonntaz<br />
DAS KOMMT<br />
■ 18. 1., Schauspielhaus Hamburg<br />
Neueröffnung Schauspielhaus<br />
Karin Beier,neue Intendantin am Hamburger Schauspielhaus,hat sich für<br />
die Wiedereröffnung der großen Bühne einen Antikenzyklus vorgenommen,<br />
mit Texten vonEuripides,Aischylos und Sartre. Dabei liegt ihr Augenmerk<br />
auf dem Verhältnis vonReligion und Politik und der Instrumentalisierung<br />
des Glaubens.Nehmen die Götter ihr das übel? Jedenfalls musstedie<br />
Eröffnung wegen schwerwiegender technischer Pannen in den Januar verschoben<br />
werden.<br />
■ 24. 1.bis 2. 2. in Berlin<br />
Club Transmediale<br />
Das CTM-Festival istinzwischen eines der bestkuratiertenElektronikfestivals<br />
weltweit. Und 2014 macht<br />
es unterdem Motto„Dis Continuity“die Fluchtlinien<br />
zwischen Talentenund Veteranen sichtbar.Mit<br />
dabei sind unteranderem die Hamburger DJ Helena<br />
Hauff (Foto), Cyclobe aus London, Veronica Vasicka<br />
aus NewYork und der libanesische Künstler Rabih<br />
Beaini.<br />
Keine Angst vor den Großen, lässig und mit einer gesunden Portion Selbstironie: Die Heiterkeit Foto: Alina Simmelbauer<br />
POPImFebruarerscheint„Monterey“,dastolleneueAlbumvonDie<br />
Heiterkeit.IhrSoundhatsichentwickelt,inklusiveNo-Nonsense-Attitüde<br />
■ 6. 2. bis 16. 2.2014 inBerlin<br />
Berlinale<br />
Zum64. Mal finden die Internationalen Filmfestspiele<br />
vonBerlin statt. AufzweiDinge kann man sich schon jetzt<br />
freuen: Den Eröffnungsabend bestreitet WesAndersons<br />
neue Tragikomödie „The Grand BudapestHotel“,und<br />
der französische AltmeisterAlain Resnais istmit „Aimer,<br />
boireetchanter“ vertreten.<br />
Fotos (v. o. n. u.): Hammerl; Europeana Collections; Berlinale<br />
FastschonKalifornien<br />
VON CARLA BAUM<br />
Das heiß erwartete zweite<br />
AlbumvonTalenten,das<br />
beweisenvieleBeispiele,<br />
gehtleichtdaneben.Mal<br />
wirdversucht,exaktdenerprobten<br />
Sound des Debütsbeizubehalten.Dannistesschlichtlangweilig.OdereswerdenkrudeExperimente<br />
gewagt, die nurnach<br />
erzwungenermusikalischerEntwicklung<br />
klingen. Dann kann es<br />
richtig böse werden. Es erleichtert,dassDieHeiterkeitesbesser<br />
wissen, und zugleich verwundertesauchkeinbisschen.<br />
ZurErinnerung: Im Sommer<br />
2012 hatten die drei Musikerinnen<br />
Die Heiterkeitihr Debütalbum„Herz<br />
ausGold“ veröffentlichtund<br />
es durch wohlplatziertesSchweigengeschafft,dassihre<br />
Musik allseits hibbelig erwartetwurde.<br />
Ganz schön mutig für eine<br />
junge Band, die biertrinkend in<br />
Hamburger Kneipen Freundschaften<br />
zu anderen Musikern<br />
knüpfte.AberdieStrategiefunktionierte.<br />
„Herz ausGold“ und<br />
Die Heiterkeitwurden zu Kritikerlieblingen.<br />
Unter den HörerInnen<br />
dagegen fielen die Reaktionen<br />
polarisierter aus. „Die<br />
kann ja garnichtsingen“, „Das<br />
Schlagzeug istnichtzum Streicheln<br />
da“, solche Sätze mussten<br />
sich die drei Hamburgerinnen<br />
zunächstgefallenlassen.<br />
Wirklich gejuckt hatdas die<br />
Band nicht. Bereits die ersten<br />
Liveauftrittefandeninwichtigen<br />
Clubs statt. Aufder Bühne sah<br />
mandrei durchauszugewandte,<br />
aberunaufgeregtejungeFrauen,<br />
die aussahen, als wäre das alles<br />
einpieceofcake.Vergeblichhätte<br />
manauf überschwänglichen<br />
DankoderhastiggesäuselteAufforderungen,<br />
doch bitte das Albumzukaufen,gewartet.<br />
Nunsind sie zurück in veränderterBesetzung:StellaSommer<br />
undRabeaErradi,Gesang,Gitarre<br />
und Bass, sind geblieben.<br />
Schlagzeugerin Stefanie Hochmuth<br />
verließ Die Heiterkeitim<br />
Mai, kurz vorder Aufnahme des<br />
neuenAlbums.AnihreStelleist<br />
Anna-LeenaLutz, eine Freundin<br />
Erradis und Sommers und vor-<br />
Die Heiterkeit<br />
über Liebe<br />
„Du liebst mich<br />
immer noch /<br />
Wie am ersten Tag/<br />
Und wenn ich will /<br />
Lässt es niemals<br />
nach“<br />
■ ab Ende Januar im Netz<br />
Europeana Collections 1914–1918<br />
Zehn Nationalbibliotheken etwa aus Frankreich, Österreich,<br />
Italien oder Belgien sowie weiterePartner aus acht<br />
Ländern verknüpfen rund 425.000 Dokumente mit Bezug<br />
zumErstenWeltkrieg zu einer substanziell digitalen Datensammlung.<br />
Dazugehören Kriegstagebücher,Fotos,<br />
Filme,Flugblätter,Schützengrabenzeitungen und Ratgeber<br />
fürden Alltag: pro.europeana.eu/web/europeanacollections-1914-1918<br />
herSchlagzeugerinbeiderBerlinerIndie-PopBandHalfGirl,getreten.<br />
Eine Lokalband wollten<br />
DieHeiterkeitniesein.Undnun<br />
sind sie auch endgültig keine<br />
HamburgerBandmehr:Diedrei<br />
lebenmittlerweileaufHamburg,<br />
Berlin und Leipzig verteiltund<br />
treffen sich zumProben in der<br />
Hauptstadt.<br />
Bewusstübertreiben<br />
Den Hamburger-Schule-Sound<br />
wirdmandennochweiterassoziieren,wennimFebruardasneue<br />
Album „Monterey“ erscheint.<br />
DieHeiterkeithabensichfürdie<br />
Produktion Moses Schneider ins<br />
Bootgeholt,dervorallemfürseine<br />
Zusammenarbeit mit Tocotronicbekanntist.Mitihnenwerden<br />
Die Heiterkeitauch oft verglichen.<br />
„Monterey“ bewahrt<br />
sichdieseNähe,bewegtsichaber<br />
auch davonweg. Schneider sei<br />
mitdem dezidierten Anspruch<br />
indiefünftägigeAufnahmephasegegangen,„essoundmäßigso<br />
richtigzuübertreiben“, wieSommersagt.<br />
Sogeselltsichauf„Monterey“<br />
einvomTouchherschneidender<br />
NewWavezum vomDebüt her<br />
bekanntenSignatursoundvonE-<br />
Gitarre, Schlagzeug und Bass. Es<br />
klingt konzeptueller als bei<br />
„Herz ausGold“.Die zehn Songs<br />
halten mitOverdubs, Hall und<br />
melodischen Basslines weitaus<br />
mehr musikalische Brüche bereit.TrotzdemwurdeaufSubtilität<br />
geachtet, sodass die neuen<br />
Stückenichtoverthe topklingen.ImmernochistdaSommers<br />
unkonventioneller Gesang, einenTicktieferalseigentlichnötig.<br />
Immer noch sind da ihre<br />
schwergreifbaren Texte, denen<br />
inhaltlichzufolgenProblemebereitet.<br />
DurchdasAlbumziehtsicheineÄsthetikdesUngefähren,musikalisch<br />
wie textlich.Mal klingt<br />
ein Lied fast melancholisch, fast<br />
kitschig, dann schlägt es plötzlich<br />
um in Frohsinn. „Pauken<br />
und Trompeten“könnte fast als<br />
Liebeslied durchgehen. „Du<br />
liebstmichimmernoch/Wieam<br />
ersten Tag/Und wenn ich will /<br />
Lässt esniemals nach.“ Aber<br />
nein, so rechtglücklich magdas<br />
dann doch nichtrüberkommen.<br />
VonFern fühltman sich im Refrain<br />
von„Wässere mich“gar an<br />
einen Schlager erinnert: „Du<br />
siehst vertrocknet aus /Und<br />
kommst, weil ich dich brauch /<br />
Kommwässeremich/Mit einer<br />
Tränevondir.“Wäredanichtdas<br />
hinterlistigeWörtchen„vertrocknet“undvorallemSommersunaufgeregteStimme,diesobetont<br />
unbeteiligtsingt.<br />
„Ichfindeesinteressant,Dinge<br />
ausihrem Kontext zu reißen<br />
undsieneuzukombinieren“, erklärtdie<br />
Sängerin und Gitarristin.DahinterstecktaucheineAbsage<br />
an Authentizitätund den<br />
Gedanken, dass Texte im stillen<br />
KämmerleinalsAusgeburteneines<br />
vermeintlich geniehaften<br />
Geistes entstehen. „Monterey“<br />
verschleiertseineZitathaftigkeit<br />
nicht, beziehtseine Originalität<br />
aus der Neuzusammensetzung<br />
vonInspirationsquellen.<br />
Der Song „Die ganzen müden<br />
Pferde“etwaist eine Hommage<br />
an Bob Dylans „All the tired<br />
horses“,aber nichtimehrfürchtig-bewunderndenSinn:„Ichfinde<br />
Dylans Song überraschend<br />
schwach“, sagt Sommer, „und<br />
dachte, das kann ich besser machen.“<br />
Keine Angstvor den Großen,<br />
LässigkeitundeinegesundePortion<br />
Selbstironie –diese KombinationhatsichfürDieHeiterkeit<br />
schonbeiihremDebüt bewährt.<br />
Da streuten sie ebenso konsequentwienebenbeidiekalifornischeBandPavementalsEinflussgrößeein,biswirklichjedervon<br />
Sommeralsweiblicheunddeutsche<br />
Version vonStephen Malkmusschrieb.<br />
Doch große Würfemuss man<br />
sichleistenkönnen,sonstwirdes<br />
schnell lächerlich. Ihr Album<br />
„Monterey“, benannt nach der<br />
StadtinKalifornien,diesichDie<br />
Heiterkeit von der Landkarte<br />
pickten,kannessichleisten.2014<br />
jedenfalls würde ein gutes Jahr<br />
werden,wennallessoist,wieauf<br />
„Monterey“: Das Gute bewahrend,dasNeueundErweiternde<br />
umarmend.<br />
■ Die Heiterkeit: „Monterey“<br />
(Staatsakt/Rough Trade)
sonntaz |KULTUR<br />
www.taz.de | kultur@taz.de apple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 25<br />
KULTURPOLITIKFaiblefürpreußischeMalerinnen–dieneueKulturstaatsministerinMonikaGrütters<br />
BetonungderGegensätze<br />
VON KATRIN BETTINA MÜLLER<br />
Esbrauchtschon eine besondereLiebezurKunstgeschichte<br />
im Allgemeinen<br />
und zu marginalisierten<br />
Künstlerinnen im Besondern,<br />
um die Malerin AnnaDorothea<br />
Therbusch (1721–1782) zu kennen.SiewareinefeinfühligePorträtistin,<br />
malteimAuftrag von<br />
Friedrich dem Großen und KatharinaII.,<br />
wurdeals erste Ausländerin<br />
Mitglied in der Akademie<br />
der Künste in Parisund war<br />
inPreußendieersteFrau,dieAnerkennungalsKünstlerinerlangte.<br />
Nichtzuletzt warTherbusch<br />
erfolgreich im Aushandeln der<br />
PreisefürihreBilder.<br />
MonikaGrütters suchte sich<br />
diese malende Preußin aus, als<br />
sieAnfangdesJahresvonderFAZ<br />
eingeladen war, einen „alten<br />
Meister“ ausder zweiten Reihe<br />
derBerlinerGemäldegalerievorzustellen.Daskennzeichnetganz<br />
gut den bildungsbürgerlichen<br />
Impetus der Frau,die im neuen<br />
Kabinett vonAngela Merkel die<br />
Staatsministerin für Kultur ist.<br />
Und auch ihr stetes Augenmerk<br />
für die Wahrnehmung beziehungsweise<br />
Zurücksetzung von<br />
Frauen.„Manchmalreichtesfür<br />
eine Frau also nicht, nursogut<br />
seinzuwollenwieeinMann.Eine<br />
gehörige Portion zusätzlicher<br />
Grütterstratbislang<br />
dafürein,dieKultur<br />
ausdemFreihandelsabkommenmitden<br />
USAherauszunehmen<br />
EhrgeizhatAnnaDorotheaTherbusch<br />
so weit gebracht, dass sie<br />
unvergesslich wurde“, schrieb<br />
GrütterszuderMalerin.<br />
Weil solcheine PortionEhrgeizabernichtjederFrauzurVerfügung<br />
steht, gehört Monika<br />
Grütters in der CDU zu denen,<br />
dieeineFrauenquotevon30Prozentfür<br />
das Gremium der Aufsichtsrätefordern,wenigstensab<br />
2020. Denn sie glaubt nichtdaran,<br />
dass in den Führungsetagen<br />
der Wirtschaft der Frauenanteil<br />
sonstfreiwilligerhöhtwird.Und<br />
das beruhtauch aufihren eigenen<br />
Erfahrungen als Politikerin<br />
inderCDU.<br />
KunstundBanken<br />
Sie selbstbrauchte für den AnfangihrerKarriereindenneunziger<br />
Jahren in Berlin einen Förderer,den<br />
damaligen CDU-Fraktionsvorsitzenden<br />
Klaus Landowsky.Dessen<br />
Verwicklung in<br />
den Immobilienskandal der<br />
Bankgesellschaft Berlin, bei der<br />
Grütters auch selbstals Kulturmanagerinarbeiteteundfürdie<br />
sie aufregende, zeitgenössische<br />
Kunsterwarb, überstand sie unbeschadet.Daslagschondamals<br />
daran, dass sie sich als wissenschaftliche<br />
und kulturpolitische<br />
SprecherinderCDUdurchKompetenz<br />
und Sachlichkeit Ansehenverschaffthatte.<br />
GemessenanderKunstszene,<br />
durchdiesiesichsosouveränbewegt,<br />
ist das Erscheinungsbild<br />
vonMonikaGrütters –oft mit<br />
Perlenkette, fast immer im Rock<br />
–beinaheauffallendkonservativ,<br />
so dass maneinen Momentdarüber<br />
stutzt. Es hatetwas vonBetonung<br />
der Gegensätze –das<br />
konservative Element demonstriertseine<br />
Aufgeschlossenheit.<br />
Doch wo andere CDU-PolitikerinnenauchmitPrivatlebenund<br />
Familie am Bild ihres Wertekos-<br />
Wilhelmine Enke, Geliebte von Friedrich Wilhelm II. –Ölgemälde von Anna Dorothea Therbusch (1721–1782), Schloss Sanssouci, Potsdam Foto: Bridgemanart<br />
mos arbeiten, findet man bei<br />
Grütters stets nur die Leidenschaft<br />
für den Gegenstand Kultur.<br />
DasspieltsichereineRollebei<br />
derZustimmung,dieihreErnennungzurKulturstaatsministerin<br />
im Kanzleramterfahren hat. Es<br />
sind nichtnur Institutionen mit<br />
Sitz in Berlin wie die Akademie<br />
der Künste oder die Stiftung<br />
Preußischer Kulturbesitz, die<br />
sich erfreutzeigen, weil sie wissen,wieoftsichGrüttersfürKultur<br />
inder Hauptstadt bisher<br />
schon in unterschiedlichsten<br />
Funktionenstarkgemachthat.Es<br />
istauch der Deutsche Bühnenverein,<br />
der von ihr und dem<br />
BundUnterstützungbeimErhalt<br />
der vielen Theater in den deutschen<br />
Städten erhofft, die von<br />
Ländern und Kommunen in ihrerFinanzierungoftimmerweiter<br />
eingeengt werden. Oder der<br />
Börsenverein des Deutschen<br />
Monika Grütters Foto: Amélie Losier<br />
Buchhandels,demesumdenErhaltderBuchpreisbindunggeht.<br />
Die könnte zumBeispiel Gegenstand<br />
des Freihandelsabkommen<br />
von Europa mit den<br />
USAsein.Grüttersgehörtzuden<br />
Kulturpolitikern, die bisher dafür<br />
eintraten,die Kultur ausdiesem<br />
Abkommen herauszunehmen,<br />
weil nursoder Schutzder<br />
Vielfalt der kulturellen Landschaftzugewährleistenist.Wenn<br />
Grütters leicht enthusiastisch<br />
über die Theaterdichte Deutschlandsredet,diehöchstederWelt,<br />
oder die Museen, die „zehnmal<br />
mehr Besucher als alleBundesligaspiele“<br />
anziehen, dann<br />
kommtsie vondortauch ganz<br />
schnellzurdeutschenGeschichte.DiehatdieseVielfaltnichtnur<br />
hervorgebracht,sondernderGesellschaft<br />
in ihren Augen eben<br />
auch eine besondere Verpflichtung<br />
zumErhaltauferlegt: „Unsere<br />
Kulturförderung hat auch<br />
mit unserer bitteren jüngeren<br />
Geschichtezu tun.Sieziehteine<br />
Lehre auszweiDiktaturen, die<br />
lautet: Kritik und MeinungsfreiheitsindkonstitutivfüreineDemokratie.“<br />
AberesgibtaucheineKehrseite<br />
dieser engen Verbindung von<br />
Geschichtsbewusstsein und<br />
SchutzderKultur.Diezeigtsich,<br />
wennausBewahrenundGedenkenrepräsentative<br />
Gesten werden,<br />
die Deutungshoheit über<br />
die Geschichtsschreibung beanspruchen.<br />
Eine solche Geste ist<br />
zumBeispieldasStadtschlossin<br />
Berlins Mitte, das nach einem<br />
Entwurfdes Architekten Franco<br />
StellaandieStelledesinderDDR<br />
abgerissenen barocken Schlosses<br />
errichtet werden soll. Grütters<br />
gehörtzuden langjährigen<br />
Befürwortern des Projekts und<br />
hat das „Humboldtforum“, das<br />
dieRäumebespielenundinhaltlich<br />
füllen soll, unter die dringlichsten<br />
Aufgaben für ihr neues<br />
Amtgesetzt. SeitfastzweiJahrzehnten<br />
istdas Schloss eine ideologisch<br />
umkämpfte Baustelle,<br />
vieleSchlossgegner sahen geradeimOffenhaltendiesesPlatzes<br />
eine Chance, die Brüche der Geschichte<br />
auszuhalten, statt sie<br />
symbolischzubesetzen.<br />
DieListedersechsdringlichstenAufgaben,dieinGrütterserster<br />
Pressemitteilung als BeauftragtefürKulturundMedienstehen,lehntsichengandieVereinbarungen<br />
im Koalitionsvertrag<br />
an. Dazugehörtdie dauerhafte<br />
Stabilisierung der Künstlersozialkasse,<br />
einer Kranken- und<br />
RentenversicherungfürKünstler<br />
und Publizisten. Deren Einnahmenkranktenbisherauchdaran,<br />
dass es keine Kontrolledarüber<br />
gab, wie viel die Verwerter der<br />
künstlerischen und publizistischenProdukteeinzuzahlenhatten.<br />
Der Gesetzgeber müsste die<br />
Versicherer verpflichten, diese<br />
Kontrolledurchzuführen.<br />
Sich für solche Veränderungeneinzusetzen,hatzweifelsohne<br />
nichtden gleichen Charme<br />
wieeineAusstellungderFotografin<br />
BarbaraKlemm zu eröffnen.<br />
AberGrüttershatebennichtnur<br />
aufbeiden Bühnen langjährige<br />
Erfahrung und Kontakte, sondernsiehtauchdeninhaltlichen<br />
und strukturellen Zusammenhang.<br />
Im Ausschuss für Kultur<br />
und Medien im Bundestag, dem<br />
sieinderletztenLegislaturperiode<br />
vorsaß, erreichte sie mitUnterstützungderSPD,dassdieFotokunstauch<br />
für das Finanzamt<br />
alsKunstgiltundihrUmsatzdeshalbnichtmit19,sondern7Prozentbesteuertwird.Auchdasgehörtzuden<br />
besonderen Instrumentenderdeutschen<br />
Künstlerförderung.<br />
Aufdem Arbeitsplan der Kulturstaatsministerin<br />
stehen auch<br />
die Reform des Urheberrechts<br />
und die Digitalisierung des kulturellen<br />
Erbes, beides arbeitsintensive<br />
und nichtzuletzt juristischkniffligeVorhaben,dieunter<br />
Grütters’ Vorgänger Bernd<br />
Neumann eine offene Baustelle<br />
blieben.DassseineBilanzamEnde<br />
positivaussah, auch dank einer<br />
kontinuierlichen Erhöhung<br />
des Bundesetats für Kultur,war<br />
anderen Schwerpunkten zu verdanken.DassGrüttersaufdiesen<br />
Gebieten neue Stärken entwickelnkann,istdieHoffnungvielerInstitutionen.<br />
Es wirdnicht<br />
zuletzt davonabhängen, welche<br />
Bündnisseihrgelingen.<br />
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Homophobie<br />
der Politik<br />
oder Politik<br />
der Homophobie<br />
Boris Dittrich und<br />
GulyaSultanova im<br />
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26 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple www.taz.de | literatur@taz.de LITERATUR | sonntaz<br />
HalbTaubehalbPfau<br />
VON MAREN KAMES<br />
Dassestaut,dassesrauscht<br />
Ichhöre<br />
daskleineGeräusch<br />
das deine Zunge beim Aufwachen in der Mundhöhlemacht<br />
deine Hand wie sie sich neben mir aufdem Kopfkissenbewegt<br />
ich höre die Straße unter uns lauter werden ich höre den<br />
FlusslaufvordemHausunsererEltern<br />
DenFlusslauf vordemHaus unsererEltern andem wir standen<br />
sechsundachtzig und einhundertzwölf Zentimeter groß<br />
an dem ich uns stehen sehe wie du in die Hocke gehst und<br />
KieselmiteinemStöckchenzusammenschiebstundmitbeiden<br />
Händen ins Wasser greifst und murmelst und ich<br />
in Richtung des Wassers sehe wie es über die Steine geht<br />
undnachderBiegunginsTalhinunter<br />
Ich höre Tau von den Simsen in unserem Rücken<br />
tropfenwiesichderNebelsammeltineinemTalweithinteruns<br />
ichhöreRaben<br />
Ich höre den Richtungswechsel der Züge bei den Bahntrassen<br />
im Talkessel höredich weinen dubistvier undballstdie Hände<br />
in den Hosentaschen ich höre die Kälte inden Wänden<br />
herumgehen in einem Haus am Hang irgendwo weit<br />
vordemunserGroßvateraufeinerBanksitztundmitdemStock<br />
Linien in die Erde kratzt wie er spricht zum Tal hin<br />
oder in den Nebel über dem Hang an dem unser Vater steht<br />
und Bäume fällt den Nachhall der Schläge überm Tal<br />
den Stock unseres Großvaters im Takt auf die Erde tippen<br />
wie er den Kopf schräg legt wie er nickt zum Tal hin<br />
oderindenNebelhinein<br />
Ich höre Steine übers Wasser flippen an einem Stausee im Tal<br />
an dem wir stehen und lachen und ich suche flache weiche<br />
Steine und unser Vater flippt Steine und du flippst Steine<br />
undsiekommennichtweit<br />
Ich höre die Hände unseres Vaters im Gesichtunserer Mutter<br />
wie sie nickt und sich abwendet gegen die Fenster<br />
vor denen der Tau vom Sims tropft unter dem ich sitze<br />
unter dem unser Großvater auf der Bank sitzt<br />
und den Kopf hebt zu den Krähen und den Kopf schräg legt<br />
und zum Fluss sieht andem du hockst an dem du dich<br />
vornüber beugst und er sagt Obacht zum Tal hin<br />
wodieSchnellzügewechseln<br />
Ich höre unseren Vater die Treppe herunter kommen<br />
durch den Flur über die Straße zum Fluss und<br />
nach der Biegung ins Tal hinunter ich höre<br />
unsere Mutter über die Dielen laufen im Stockwerk über uns<br />
das Gebiss unseres Großvaters malmen vonweither ich höre<br />
kleineSteineindeinenTaschenknirschendubistvierundjetzt<br />
richtest du deinen Oberkörper neben mir auf<br />
und siehst aus dem Fenster über uns und siehst<br />
aufdas Hausdach gegenüber aufdem du zwei Krähen siehst<br />
die auf den Antennen sitzen und die Köpfe schräg legen<br />
und mit den Köpfen nicken und picken in die Erde vor<br />
einem Haus am Hang vor dem unsere Mutter<br />
Holzspäne zusammenkehrt und die Vögel aufscheucht<br />
und die Vögel über den Hang fliegen an dem unser Großvater<br />
steht auf seinen Stock gestützt und er sagt Obacht ins Tal<br />
in dem unser Vater bei den Bahntrassen steht und<br />
mitdenSchaffnernsprichtundlacht<br />
Ich höre Wasser ins Tal gehen unter der Schnellstraße<br />
hindurch schießen deine Hände durchs Wasser fahren<br />
am Flusslauf vor dem Haus unseren Vater das Tal hinauf<br />
lachen höre eine Perlenkette reißen die Perlen<br />
über die Dielen prasseln durch das Haus über die Straße<br />
biszudenBahntrassenunten<br />
Ich höre unsere Mutter unseren Großvater füttern<br />
er ist vier und ballt die Hände in den Hosentaschen<br />
ich höre unseren Vater das Haus verlassen<br />
dieStraßedieStadt<br />
Ich höre einen Wasserfall an einem Ort vor langer Zeit<br />
wie er ins Tal stürzt in den Schlaf stürzt in meinen Rücken<br />
in meinem Rücken die Simse von denen es tropft im Takt<br />
in dem der Stock meines Großvaters auf die Erde tippt<br />
vor einem Haus am Hang vor dem mein Großvater sitzt<br />
und mitdem Stock Linien in die Erde ziehtund leise spricht<br />
zum Tal hin oder in den Nebel über dem Hang ich höre<br />
unsereMutterdieBahntrassenentlanglaufen<br />
Perlensuchen<br />
Ich habe gehörtKrähen picken PerlenKrähenschnippen Späne<br />
flippen Steine weg von den Simsen in unserem Rücken<br />
ineinemTalweithinteruns<br />
Ich habe gehört esrauscht auf der Straße unter uns<br />
aneinemFlusslaufirgendwoweit<br />
Ichhabegehörtestaut<br />
Nimm meinen Schädel in die Hand je eine Schläfe &justier meinen Schlaf Richtung Süden wo die Pole<br />
längst schmelzen an den Kappen schon Schollen und das Land längs meiner weißen Angst heißt<br />
Antarktika(heiß wa?) und du hängstmir unter der Kopfhautzuden Sohlen raus bis zu den Antipoden<br />
wo zu meinen Füßen liegt mein Schädel und sonntsich in seiner geographischen Breite90°0‘0‘‘S.Steck<br />
mir ein Senklot südlich ins Hirn nimm den Klotz in die Hand wie ein bauchiges Glas schwenk auslass<br />
tropfen schenk reines Eis nach den Schmelz bringenwir schon ins Lot noch mitder Rotation der Achsen.<br />
Kalthier?Lassschlafen.<br />
ImSiel<br />
Findestdich Sonntagmorgen um achtbei den Haubentauchern an den Gestaden stierstindie Schlieren<br />
säufstdie Aussichtbis blindlings stehstknietief im Siel rings schluckst Wasser vomRand ab haustschlaff<br />
aufdiePlankenliegstausdawiePfandgut–gestrandetaufdeinerhalbtaubenHaut<br />
gelandetimhalbgarenLichthier<br />
genadeltgerendertdirty<br />
verplempertimTauund<br />
halbTaubehalbPfau<br />
haltdasmalausso<br />
ste(h)ts<br />
(Luftbild) Am Horizont platzen die Abschiedssalven fallen hinten überm Tag zusammen<br />
und ein aufgeregter Schwarm Vögel zieht blauschattig durch einen violetten Streifen Himmel undwir<br />
lächeln fürs Mannschaftsbild und heben die Gläser zumGruß in die Höhe und werfen unsere Arme<br />
in großen Bögen zumAhoi durch die Luft und die Brause schäumt in den Gläsern hinten am Himmel<br />
brautsich die Vogelmeute zusammen und wieder auseinander und der Funkmann ruft Der Präsident<br />
lässt melden: Achtet die Details des Krieges auch nachdem er längst versiegt ist; es handelt sich<br />
um kniffliges Spezialwissen die Zukunft des Landes betreffend und der Käptn ruft Achso! AlleMann rauf<br />
alleMann in die Höhe zurHälfte nach rechts oder linkswärts so wenig wie möglich zurück wir müssen<br />
die Besatzung zusammenhalten es handeltsich immerhin um Pioniere denen künftig immense Manöver<br />
was sag ich massive Attacken bevor stehn und soeben eine Parade Vögel um die Köpfe saust<br />
hierimlilafarbenenSiel<br />
scheintallesvertaut<br />
bisderHimmelaufgrautundwirsehen:<br />
DieTruppehatsichzerstreut<br />
offenbarsindinderZwischenzeitallenachHausegegangen<br />
siehabendieLuftschlangenmitgenommen<br />
undjeglichenBefehlvondenSimsenundBalkonenentferntes<br />
liegennurnoch<br />
GlasstieleamSiel<br />
undvereinzelt<br />
zerplatztePatronen<br />
ShutterIsland<br />
Zigmal schwitzt du bis sich nichts<br />
bewegt.Undx-maldrückstdudichdu<br />
duckst dich rückwärts wegvon dem<br />
waszähltvon dem wasgeht4/4 über<br />
den Zenit und zigmal wippst du.<br />
Zigmal flippstduSteine übern See<br />
der wettert. Schippst Schrot in<br />
Schaufeln übern First bis‘ flattert<br />
bis nix mehr stehtund alles zittert.<br />
Und du grinst bis Halleluja.<br />
Stellstsperrangel alleFenster denn<br />
zigmal stinkts dir weil du nix putzt<br />
guckstdublindlingsstehndieSpiegel.<br />
Und du kotzt x-mal im Trapez.<br />
Kappst Strippen über Land kippst<br />
Brücken. Klappstdich rittlings zum<br />
Quadratbis‘knittert.Passtdichzittrig<br />
ins<br />
Format<br />
kickstStart klickstja<br />
undsagmal<br />
spinnstdu?<br />
WirhabeneinerrassistischenBürgerbewegungaufdenFalklandinselndasHandwerkgelegt.<br />
Dannwolltenwirunsküssen,abereineSchafherdekamdazwischen.<br />
AchtunganBahnsteig3 geratendieGleiseinBewegung<br />
an den Überlandleitungen wirddie Zukunft ausgerufen<br />
siemeldetsichauchdaraufhinnicht.<br />
das überleiten würde zu etwas Freundlicherem<br />
alsdemödenKommenundGehenderEilmeldungen<br />
dieverkehrteLagebetreffend.<br />
DieVermisstenmeldungenhäufensich<br />
indenBahnhofsvorhallenentlangderKüstenstechen<br />
die Suchtrupps in See inden Küchen des Landes<br />
riechen die Köche den Teer der klebt in den Töpfen<br />
der schwelt und verdirbt und die Schuppen der<br />
FischediezappelnamHerddenn<br />
auchdaistkeinLandinSicht
sonntaz |LITERATUR<br />
www.taz.de | literatur@taz.de apple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 27<br />
AndemBergkammdahintenistdasLandzusammengenäht,hierwirdesreißen.<br />
THEREISABURNINGBALLOFFIREINOUTERSPACE(*kidsandexplosions)<br />
HELLO?!<br />
()Finde mich, aufder Oberfläche des Planeten liegen; die Knie angewinkeltund der Wind fährtmir<br />
unterdenRücken,indenMundundzwischendieBeineundderWindsagtmir,womeinKörperaufhört<br />
und die Luft anfängt, die ganze Luft und unter mir das submarine Schimmern, der Himmel ist<br />
eine relativweitläufige Angelegenheit, er muss hier gleich in der Nähe sein, aber eine Verbindung<br />
kommtmomentannichtzustande.IchbineinSystemausRohren,vielleicht,dieaneinanderbeginnen<br />
undineinanderenden,durchdiederWindgeht,sonstnichts.<br />
IchsetzmicheinfachindieseTonnehier,haltemeinoffenesGesichtgegendenHimmel<br />
undtrinkediesenRegen.<br />
Und eigentlich sitzen wir doch nur auf den Stufen 24/7 und schauen uns an was vorbei kommt<br />
und ab und zu stellen wir uns vorwie jemand gehtweil einer gehen muss und ab und zu reißen wir<br />
unsdieHaareausundestutnichtwehundnichtstutwehundabundzuträumenwirvondenrichtigen<br />
GesichternunddanngehenwirindieDisko,kommtihrmit.<br />
HaltehierReden<br />
-<br />
Unddetonierst.<br />
DudetonierstzueinerPräposition<br />
fürundwidernichts<br />
undwiedernichtsimHaus<br />
außerChips.<br />
vomGrasüberdenDingen<br />
überdieZärtlichkeitindirunddasTier<br />
denräudigenZustandund<br />
dashieristRegen<br />
dasdieLähmung<br />
unddasderRegen<br />
undwoderSchirmderHerrdieWege<br />
dassallesklebt<br />
währendderRegeninBewegung<br />
überdemGrasüberdenDingen<br />
beidenTraufenwodieRehe<br />
(jajadieRehe)und<br />
duweißtnichtwohinrasen<br />
duerrätstnichtwohinatmen<br />
unddieDingekleben<br />
unddieRedeklebtandenDingen<br />
undratemalrichtig<br />
Marenistmehr<br />
einFragewort<br />
esgehtinSchleifen<br />
esgehtnicht<br />
esbricht<br />
ab<br />
hierwoandershin.<br />
LYRIKMarenKames<br />
überzeugtedie<br />
taz-Publikumsjury<br />
beimOpenMike2013<br />
Schwitzt,<br />
kippst, kickst<br />
EsistlängstTradition.Beim<br />
Open Mike–dem Vorlesewettbewerb<br />
für den<br />
deutschsprachigen literarischen<br />
Nachwuchs in Berlin –<br />
betreutdie taz eine Publikumsjury:<br />
fünf im Idealfall interessierte,<br />
mitdem Literaturbetrieb<br />
jetzt nichtgroßverbandelte LeserinnenundLeser,diesichzwei<br />
Tage lang alle teilnehmenden<br />
Autorinnen und Autoren anhören<br />
und sich dann daraufeinigen,welcherTextihnenambesten<br />
gefallen hat. Dem geben sie<br />
denPublikumspreis.Eristdamit<br />
verbunden,dassdietazdenText<br />
abdruckt. Voilà. Aufdiesen SeitenkönnenSiesichaufabenteuerliche<br />
Lesereise durch den Publikumspreistext2013begeben.<br />
Es ist indiesem Jahr dabei<br />
gleichdoppeltetwasBesonderes<br />
geschehen. Erstens hatdie diesjährige<br />
Publikumsjury zumersten<br />
Mal überhaupt einen lyrischenTextausgezeichnet.Texte,<br />
die gerade Prosapfade vermeiden,warendurchausdabei–der<br />
Vortragspieltbeim Open Mike<br />
selbstverständlichinsUrteilhinein;<br />
wasTexte, die vomPerformativenleben,<br />
etwas begünstigen<br />
mag. Aber tatsächlich Lyrik<br />
war beim Publikumspreis bislang<br />
noch nichtdarunter.ZweitenshatMarenKamesnichtnur<br />
den Publikumspreis, sondern<br />
aucheinenderdreiHauptpreise<br />
des Open Mikebekommen. PublikumsjuryundHauptjury–sie<br />
warmit den SchriftstellerInnen<br />
JennyErpenbeck, Ulrich Peltzer<br />
und Raphael Urweider besetzt –<br />
warensichüberdieQualitätdieses<br />
Textes also einig. Wieheißt<br />
das immer: VonMaren Kames<br />
wirdmannocheinigeshören.<br />
Die Autorin wurde 1984 in<br />
Überlingen am Bodensee geboren,<br />
studierte Kulturwissenschaften,<br />
Philosophie und Theaterwissenschaft<br />
in Leipzig und<br />
Tübingen, Kreatives Schreiben<br />
und Kulturjournalismus in Hildesheim.<br />
2011/2012 warsie Mitherausgeberin<br />
der Literaturzeitschrift<br />
Bella triste. Seit 2013 lebt<br />
siealsfreieAutorininLeipzig.<br />
Kindheitserinnerungen, darin<br />
eingeschlossen eine Trennung<br />
(„ich höre unseren Vater<br />
das Haus verlassen“); überraschende<br />
Lautverknüpfungen<br />
(„schwitzt“, „kippst“, „kickst“ in<br />
„ShutterIsland“); Miniaturen, in<br />
denen sich „nichts“ auf„Chips“<br />
reimt; sowie dramatische Momente(„Ichsetzmicheinfachin<br />
diese Tonne hier, halte mein<br />
offenes Gesichtgegen den Himmel/undtrinkediesenRegen“).<br />
Breitorchestriert, dabei stets offen<br />
und nachvollziehbar sind<br />
diese Texte. Wirhaben sie auf<br />
dieser Doppelseite getreulich<br />
nach dem Manuskriptabgebildet.<br />
Einzüge, Leerstellen, Abstände,<br />
das alles ist von der<br />
Autorinsovorgesehen. DRK<br />
Maren Kames Foto: gezett.de
28 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple www.taz.de | sonntaz@taz.de GELD | sonntaz<br />
WÄHRUNGDerEuroistumstritten.WiedieAlternativenaussehenkönnten,zeigteinSchweizerDesignbüro<br />
NeueScheinebrauchtdasLand<br />
VON HEINRICH DUBEL<br />
Ein jeder kratzt und scharrt<br />
und sammelt, und unsre<br />
Kassen bleiben leer.“ Goethekanntesichaus.Neben<br />
demSchreiben,seinennaturwissenschaftlichenArbeitenundetlichen<br />
anderen Tätigkeiten war<br />
erimLaufeseinerKarriereauch<br />
Finanzminister im damaligen<br />
Weimarer Pleitestaat, dem er eine<br />
strikte Sparpolitik verordnete.DabeiwarGoethe,geborenin<br />
der späteren Bankenmetropole<br />
und europäischen Geldhauptstadt<br />
Frankfurt amMain, ein<br />
schwerreicher Mann. Sein Vermögen<br />
lagbei umgerechnet siebenbis17MillionenEuro,wiedie<br />
Literaturwissenschaftlerin SigridLöfflerineinemVortragüber<br />
„Goethe und das Geld“spekulierte.<br />
Das warkein Papiergeld, sondernechtesBares,140.000Taler,<br />
Gold-undSilbermünzen,kistenweise.<br />
Geld warfür Goethe göttlich<br />
und teuflisch zugleich. Das<br />
zeigt sich auch in seinem wohl<br />
bekanntesten Werk. Im „Faust“<br />
erfindet Mephisto das Papiergeld.<br />
Als Vorbild diente Goethe<br />
der schottische Bankier und Finanzjongleur<br />
John Law, der 1720<br />
den französischen Staatmit ungedecktemPapiergeldineineFinanzkrise<br />
stürzte. Trotz der<br />
schlechten Erfahrungen versuchtemanesinFrankreichweiter<br />
mit bedruckten Scheinen<br />
stattgoldenenMünzen:DieAssignaten,dasPapiergeld,daswährendderFranzösischenRevolution<br />
benutzt wurde, waren letztlichkaumetwaswert.Obwohlsie<br />
eigentlich durch den Grundbesitz<br />
des entmachteten Adels gedeckt<br />
sein sollten. Das führte zu<br />
neuen Problemen. Am Ende des<br />
18. Jahrhunderts warFrankreich<br />
insolvent.<br />
EinereligiöseDimension<br />
Wer Geld herstellen kann,<br />
braucht nicht zukratzen, zu<br />
scharren und zu sammeln. Der<br />
moderne Alchimistmachtnicht<br />
mehr Blei zu Gold, sondern Papier<br />
zu Geld. Und mitdiesem<br />
Geldmachen kann man auch<br />
nochGeldverdienen.DasistMagie.<br />
Zumindestaber sei PapiergeldeineIllusion,diemagisches<br />
Denken voraussetze, sagt Sigrid<br />
Löffler.Eine Banknote sei letztlich<br />
eine Creatioexnihilo, eine<br />
Schöpfung ausnichts, weil das<br />
Papiergeld seinen Wert auseinem<br />
offenen Zahlungsversprechen<br />
beziehe. Während Goldmünzen<br />
dem Materialwert entsprachen,<br />
istein Geldschein im<br />
Zweifel nichtmal mehr das Papierwert,aufdasergedrucktist.<br />
Dakommtzweifelloseinereligiöse<br />
Dimension zumVorschein:<br />
Wenn wir nichtdaran glauben,<br />
dass unser Geld einen Wert darstellt,<br />
dann haben wir ein Problem.<br />
An Geld muss manglauben,<br />
wie mananGott glauben muss,<br />
damiterexistentist.Esgibtjene<br />
PolitikerundWirtschaftswissenschaftler,<br />
die auf die Stabilität<br />
desEurounddenalternativlosen<br />
Fortbestand der Eurozone setzen.<br />
Deren Reden gleichen Beschwörungen.<br />
Für ein Ende der<br />
Währungsunion werden –wie<br />
bei einer Naturkatastrophe –<br />
„verheerende Folgen“vorhergesagt,<br />
neben den erwartbaren<br />
auch noch zahlreiche nichtzu<br />
kalkulierende. „Das Risikoeines<br />
solchen Experiments ist gar<br />
nicht abzuschätzen“, sagt etwa<br />
Jens Boysen-HogrefevomKieler<br />
Institutfür Weltwirtschaft. Auf<br />
Nach dem Euro-<br />
Albtraum besinnt<br />
sich Griechenland<br />
auf eine<br />
seiner Stärken:<br />
die Schifffahrt<br />
In Belgien wird<br />
es kulinarisch.<br />
Besonders gut:<br />
Miesmuscheln<br />
(10) mit Pommes<br />
frites (20)<br />
Frankreich steht<br />
für Stil, auch<br />
beim Geld: Models<br />
mit großen<br />
Schritten und<br />
kleinem Appetit<br />
Deutschland,<br />
deine Hunde –<br />
melancholische<br />
Köter in Herrchens<br />
Portemonnaie<br />
Die Fantasiewährung<br />
der Italiener<br />
huldigt den großen<br />
Designern:<br />
Sottsass, Colombo,<br />
Castiglioni<br />
derGegenseitestehendieSkeptiker,diedenGlaubenandasGute<br />
im Euroverloren haben, die aus<br />
dem Währungsverbund raus<br />
und die „gute alte D-Mark“ wiederhaben<br />
wollen. Und sie werdenimmermehr.<br />
In diesemGlaubensstreitverwischendiepolitischenFronten.<br />
BefürworterundGegnerdesEuros,<br />
der Eurozone und der Währungsunionfindensichinsämtlichen<br />
Lagern von rechts bis<br />
links. Man magsich das Chaos,<br />
das entstehen wird, wenn die<br />
Währungsunion aufgelöstwird,<br />
garnichtvorstellen. Kann so etwasüberhauptklappen?Esistja<br />
nichtso,alswollemaneinenverhedderten<br />
Fadenknäuel entwirren,sonderneher,alswolleman,<br />
nachdem manein Glas Tinte in<br />
einen Eimer mitWasser gekippt<br />
hat,diebeidenFlüssigkeitenwiedertrennen.Wosollmandabloß<br />
anfangen?<br />
In dem Augenblick, da verkündetwird,manwolledenEuro<br />
abschaffen, verliert dieser augenblicklichanWert.Wastrittan<br />
seine Stelle? Neue Gelder müssten<br />
direkt verfügbar sein. Das<br />
heißtauch,dassneueGeldnoten<br />
bereits entworfen und produziertwordenseinmüssen,bevor<br />
überhaupt die Abschaffung der<br />
gemeinsamen Währung kommuniziertwird.<br />
SchweizerGeldistKunst<br />
Ein Vorschlag, wie die neuen<br />
Scheine aussehen könnten,<br />
kommt aus der Schweiz. Aus<br />
eben jenem Land, das schon immer<br />
ein besonderes Verhältnis<br />
zumeigenen Geld wie zu dem<br />
anderer Länder hatte. Schweizer<br />
Banknoten –zumindestdie der<br />
aktuellenSerie–gehenalsKunstwerkedurch.<br />
Nichtverwunderlichalso,dassnuneinSchweizer<br />
Designbüroein „Lösungsmodell<br />
für den Ernstfall“der AbschaffungdesEurosvorgelegthat.Die<br />
AgenturWeicher Umbruch hat<br />
dasBuch„NeuesGeld“herausgebracht,<br />
das die neuen Währungender(fiktivehemaligen)17Euroländer<br />
als heraustrennbare<br />
Banknoten enthält: die Neue<br />
Maltesische Liraebenso wie die<br />
Neue Griechische Drachme, der<br />
NeueFranzösischeundderNeue<br />
BelgischeFranc.Einebensocharmantes<br />
wie ironisches Buch.<br />
Aber vielleicht hätten die<br />
Schweizernochwartensollen.<br />
Denn die Europäische Währungsunion<br />
wächst immer<br />
weiter.Am1.Januar 2014 wird<br />
Lettland(nachBelgien,Deutschland,<br />
Estland, Finnland, Frankreich,<br />
Griechenland, Irland,<br />
Italien, Luxemburg, Malta, den<br />
Niederlanden,Österreich,Portugal,<br />
der Slowakei, Slowenien,<br />
SpanienundZypern)als18.Land<br />
der Eurozone beitreten. Weitere<br />
drei Länder, die nicht der<br />
EuropäischenUnionangehören,<br />
sind mit eigenen Euromünzen<br />
und -banknoten der Eurozone<br />
assoziiert: Monaco,San Marino,<br />
der Vatikanstaat. Dazu kommt<br />
Andorra,das–obwohleszurEurozonegehörtundderEurooffi-<br />
zielles Zahlungsmittel ist–kein<br />
eigenes Geld ausgibt. In Kosovo<br />
und Montenegro ist der Euro<br />
zwar nicht die offizielle Währung,<br />
de factowirderaber als<br />
Hauptzahlungsmittelgenutzt.<br />
Waffeln,Fritten,Schoko<br />
TrotzbreitaufgestellterEurogegnerschaft<br />
schreitet das Projekt<br />
einer gemeinsamen Währungszonealsoweitervoran.DerGlaube<br />
an den Nutzen einer solchen<br />
gemeinsamenWährungiststark.<br />
Und–abgesehenvomsogenanntenwirtschaftlichenNutzen–ist<br />
das gemeinsame europäische<br />
Geld nurein weiterer Ausdruck<br />
derVereinheitlichung,derinanderen<br />
Bereichen längst vollzogenist:ÜberallinEuropafahren<br />
die Menschen dieselben Autos,<br />
tragen dieselben Klamotten, die<br />
ihnen von derselben Werbung<br />
angepriesen werden. Sie benutzen<br />
dieselben Telefone, um sich<br />
dieselben Kurznachrichten zu<br />
schicken, trinken dabei denselben<br />
Latte Macchiato,essen dieselben<br />
Fastfoodmenüs. Warum<br />
sollen sie dafür nichtmit demselbenGeldbezahlen?<br />
Das Buch „Neues Geld“versuchtsich<br />
an einer Antwort: Nationale<br />
Identitäten sind spannend,mituntersogarlustig.Zentral<br />
istdie Identitätsfrage: Wer<br />
sind wir? Wersind die anderen?<br />
WasbetrachtenItaliener,Spanier<br />
oder Slowaken als identitätsstiftend?DieSchweizerDesignerhaben<br />
diese Fragen stellvertretend<br />
zu beantworten versucht. Herausgekommen<br />
istein Spiel mit<br />
Klischees.Das„NeueGeld“zeigt<br />
Eigenheiten, Traditionen und<br />
Wahrzeichen der einzelnen Länder.Nichtallesistganzernstgemeint.<br />
Aufden belgischen Geldscheinen<br />
sind Waffeln, Fritten<br />
und Schokolade abgebildet. Die<br />
Neue D-Mark zeigt Kühlergrills<br />
deutscher Autobauer. Auf den<br />
Rückseiten der Neuen Deutschen<br />
Mark sind die in Deutschland<br />
beliebtesten Hunderassen<br />
zusehen.<br />
Das Design zeigt die jeweiligen<br />
Nationalfarben. Das Layout,<br />
obwohlnach Land verschieden,<br />
istsoangelegt,dassderEindruck<br />
einer europäischen Restzusammengehörigkeit<br />
erweckt wird.<br />
Versammeltsindkluge,teilweise<br />
aber auch ironische Texte zu<br />
dem, wasGeld (uns) bedeutet.<br />
BesondersschönsinddieErinnerungen<br />
der einzigen Autorinim<br />
Buch: Sie schreibt über ihre<br />
Sammlung ausländischen Geldes,diesiealsKindangelegthatteundwiesiealsTeenagerdiegeheimnisvollen<br />
Scheine und<br />
Münzen umtauschte, um „ZigarettenoderDrogen“zukaufen.<br />
DasBuch„NeuesGeld“istübrigenseinesolideKapitalanlage.<br />
Es kostet nur37Euro. Der Wert<br />
der enthaltenen Geldscheine<br />
entsprichtdagegen–Standheute–20.145Euro.<br />
■ Markus Läubli und Andrea<br />
Münch, „Neues Geld –die<br />
Währungen nach dem Euro“,<br />
Weicher Umbruch, 37 Euro<br />
Wenn wir nichtdaran<br />
glauben, dass unser Geld<br />
einen Wert hat, dann<br />
haben wir ein Problem
sonntaz |MUSIK<br />
www.taz.de | sonntaz@taz.de apple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 29<br />
KARRIERESharaWordenkönntenächstesJahralsSängeringroßrauskommen–vorausgesetzt,Eigensinnisterlaubt<br />
Poesie,diekippt<br />
VON WALTRAUD SCHWAB (TEXT)<br />
UND MIGUEL LOPES (FOTO)<br />
Wichtigsein?Unwich-<br />
tigsein?Dassindso<br />
Fragen, die Shara<br />
Worden auffreundlicheWeiseverneint.Wassollsie<br />
darauf auch antworten? Wenn<br />
sie ihre Zukunft vorausgesagt<br />
haben will, geht sie zu einer<br />
Wahrsagerinundredetnichtmit<br />
Journalisten.SharaWorden,Sängerin,<br />
Musikerin, Komponistin,<br />
Enkelin eines Wanderpredigers,<br />
TochtereinesAkkordeonspielers<br />
und Evangelisten, die das Wort<br />
„Wort“ in ihrem Namen hat, findet,<br />
dass die Zukunft in der Gegenwart<br />
gestaltet werden muss.<br />
Damithatsiegenugzutun.Denn<br />
dieGegenwartistroh.<br />
„There’sarat in my kitchen<br />
andhe’seatingmycheese“, singt<br />
Worden, sie singt es aufeine so<br />
zarte Weise, dass das Problem<br />
nochlösbarscheint.Nurdassdie<br />
RatteeinErist,passtnicht.„There<br />
is asnake in the cellar and he’s<br />
drinking my wine“–auch das<br />
geht, denn es istunwahrscheinlich.<br />
Wer hat schon mal eine<br />
Schlange Wein trinken sehen?<br />
Obwohl, auch diese Schlange ist<br />
männlich.„There’samothinmy<br />
closett and he is eating my clothes“,ja,<br />
Motten sind schlimm,<br />
aber kein Weltuntergang. Nur<br />
maskulin sind sie eigentlich<br />
nicht. Und dass im Dach ein Vogelist,derihrdasLiedstiehlt,das<br />
istPoesie –eine die kippt. Denn<br />
ab der nächsten Zeileist nichts<br />
mehr wie vorher: Da nämlich<br />
steht ein Mann vor ihrer Tür.<br />
„There is aman at the door and<br />
his motive is wrong.“ Es istder<br />
Gerichtsvollzieher, der ihr das<br />
Haus wegnehmen will, wie es in<br />
derHypothekenkriseindenUSA<br />
tausendfachpassierte.DassBanker,Rechtsanwälte,PolitikerDiebe<br />
seien, sagt sie nicht, aber sie<br />
packtsiealleineineAufzählung.<br />
Auch die anderen Lieder auf<br />
ihrer letzten CD „All Things Will<br />
Unwind“ sind von ungeheurer<br />
PoesieundeinemradikalenBlick<br />
aufdieGesellschaft.Gleichzeitig<br />
werden sie von musikalischen<br />
Kompositionen gehalten und<br />
aufgefangen, in denen ein<br />
Streichquartett miteiner Rockband<br />
verschmilzt, problemlos.<br />
Kammerpop mache sie –ein<br />
schönes Wort. Aber in ihrem<br />
nächstenAlbum,dasimMaiherauskommen<br />
wird, müsste es<br />
wohl Blasmusikpop heißen.<br />
Denn sie experimentiertweiter<br />
mitalljenenmusikalischenAusdrucksformen,<br />
die den einfachen<br />
Leuten auf den Leib geschneidertsind.<br />
Wasbei ihren<br />
Experimenten herauskommt,<br />
heißtnichtAvantgarde, sondern<br />
„Avantpop“.<br />
„An manchen Tagen<br />
fühlt du dich wie ein<br />
Hase, an anderen<br />
wie ein Tiger, an<br />
wieder anderen wie<br />
eine Schildkröte.<br />
Und dann gibt es<br />
Tage,andenen<br />
fühlstdugar nichts,<br />
wärstaber gerne<br />
ein Einhorn“<br />
SHARA WORDEN<br />
derwiederumversichertsiedem<br />
Kind,dass sie ihm,selbsttot, als<br />
MohnblumeoderalsRegennoch<br />
sagen wird, dass es okay ist, so<br />
wieesist.<br />
Nichts,wassiesingt,istbanal.<br />
Es wird von einem musikalischen<br />
Gerüstgehalten, das mal<br />
poppig, mal rockig, mal sanft,<br />
malhartwirkt.IhrGesangistdas<br />
EchoihrerTexte.IhreTexteaber<br />
sind Poesie, da passtes, dass sie<br />
aufEnglisch„lyrics“heißen.<br />
Anfang Dezember warsie in<br />
Berlin,saßaufeinemgeschwungenen<br />
alten Sofainder Lounge<br />
des Hotels Michelberger, das<br />
sehr „in“ist bei Berlintouristen,<br />
weilesdasImprovisierte,dasZusammengeschusterte,<br />
Vintage<br />
und Paletten-Chic gemischtmit<br />
Berlinsehnsucht, aufdie Spitze<br />
treibt. Selbst die alten aufeinandergestapelten<br />
Koffer in der Rezeption<br />
sind nurInszenierung,<br />
die aber doch aufdie schlimme<br />
deutscheGeschichteverweist.<br />
Auf dem Sofa die zierliche<br />
Frau mitschwarzen Haaren, die<br />
obenzusammengesteckt,hinten<br />
aber lang gelassen sind, es sieht<br />
aus, als hätte sie ein Krone aus<br />
HaarimHaar.UmdenHalsträgt<br />
sie eine Kette mitsilbernem Vogel.<br />
Es soll eine Taube sein, aber<br />
für sie sei es ein Phönix. Sie<br />
brauchtdenPhönix,weilsiesich<br />
gerade neu erfindet, nach der<br />
Trennung von ihrem Mann.<br />
„Wenn du traurigbist, kannstdu<br />
Traurigkeit auch besser zum<br />
Ausdruckbringen“, sagtsie.<br />
AufihrerblauenStrumpfhose<br />
wiederumrennteineHerdeEinhörnerüberdieBeine.„AnmanchenTagenfühlstdudichwieein<br />
Hase, an anderen wie ein Tiger,<br />
an wieder anderen wie eine<br />
Schildkröte.UnddanngibtesTage,andenenfühlstdugarnichts,<br />
wärstaber gerne ein Einhorn.“<br />
Shara Worden hat indianische<br />
Vorfahren. Und deutsche. Und<br />
irische.Wennsieessagt,klingtes<br />
echter:„AbitofIrish,abitofGermanandCherokeefrombothsides.“DannzeigtsieihreNase,die<br />
indianisch sei. Und dass sie, obwohl<br />
bald vierzig, kein graues<br />
Haarhabe.DieHaarevonCherokeeswürdennichtgrau.<br />
Worden komponiert, sie entwickeltSingopern,<br />
arbeitet mit<br />
vielenMusikernzusammen,den<br />
BlindBoysofAlabama,demRapperVinniePaz,mitdemKomponisten<br />
David Lang, anderen, sie<br />
schreibt Lieder und Texte, sie<br />
singt Kurt-Weill-Songs und<br />
Opernrollen. Das, sagt sie, gereiche<br />
Künstlerinnen –aus der<br />
Sicht,derer,dieKunstbeurteilen<br />
–zumNachteil,wennsievielseitigsind.Umgekehrtwerdesiefür<br />
Künstlerkollegen interessant,<br />
weil sie ein Jokersei, weil sie jedes<br />
Projekt, bei dem sie mitmacht,<br />
ins emotional Extreme<br />
führenkannaufeineganzeigene<br />
Art. Sie will bei allem zumKern<br />
kommen.<br />
Wind<br />
Auch mit der experimentellen<br />
Musikperformancekünstlerin<br />
Laurie Anderson hatShara Wordenzusammengearbeitet,sowie<br />
mit Meredith Monk, einer Extremvokalistin,<br />
Komponistin,<br />
Choreographin–beidesindeine<br />
GenerationälteralsWorden.MeredithMonkerklärteeinmal,was<br />
esbedeute,inallemnachderEssenz<br />
zu suchen. Sie nahm eine<br />
Tasse in die Hand, zeigte darauf<br />
und sagte, es gehe „umdie Tassenheitder<br />
Tasse“. Das will Worden<br />
auch: das Wesen vonjedem<br />
Ding erkunden mitMusik. Aber<br />
andersalsMonk,diekeineWorte,<br />
nurnoch Laute, verwendet, um<br />
die allem innewohnende Kraft<br />
zu besingen, will SharaWorden<br />
nichtauf Sprache verzichten. „I<br />
am not prepared to let goof<br />
words“,sagtsie.<br />
NachBerlinistsiegekommen,<br />
weil sie bei einer Veranstaltung<br />
mitmachte, die radiale Vokalnachtheißt–dortteilte<br />
sie ihre<br />
Liedermitanderen.Inschwarzen<br />
Schnürstiefeln, enger Hose,<br />
schwarz-weißem Jackett stürmt<br />
sieaufdieBühne,ihrGangnach<br />
vornegebeugt,siegreiftnachder<br />
E-Gitarre,stimmtsieein,beginnt<br />
zu singen. Wieschweretwas ist,<br />
das am Ende leichtwirken wird,<br />
weiß nursie. Statt Streichquartett<br />
hatsie nuneinen Chor und<br />
einen Drummer, der sie hält,<br />
aberesbräuchtesieniemandzu<br />
halten, ihre operngeschulte<br />
Stimmewürdenochheiseralleinetragen–einwenigistsieauch<br />
Predigerin wie ihr Großvater.<br />
Oder Hohepriesterin – „My<br />
brightestDiamond“eben.SolautetihrKünstlername.ImFebruar<br />
wirdsie schon wieder in Berlin<br />
sein bei einem Projekt in der<br />
Volksbühne. Im Mai beim SchumannfestinDüsseldorf.<br />
Aber,unddasisteinernstgemeinter<br />
Einwand, wie kann etwasimmer<br />
noch intensivsein,<br />
wenn man esständig wiederholt?Nein,<br />
sie wiederhole nicht,<br />
antwortetsie.Dannversuchtsie,<br />
esananderenzuerklären,anJamesBrownoderMichelJackson.<br />
Wenn diese Konzerte gegeben<br />
haben,dannmagdasamAnfang<br />
Showgewesen sein, bis zu dem<br />
Moment, wo es aussich heraus<br />
zuetwaseigenem,nurimAugenblick<br />
Existierenden wurde, also<br />
Wirklichkeit. „In artthe blood is<br />
real“, zitiert sie die Künstlerin<br />
MarinaAbramovic. In der Kunst<br />
istBlutecht.<br />
VordreiJahrenistWordenvon<br />
NewYork nach Detroitgezogen.<br />
IneineBauernkommune.Detroit,<br />
ehemals Automobilstadt, in<br />
derkeineAutosmehrproduziert<br />
werden, isteine Blaupause für<br />
Kapitalismus, der am Ende ist.<br />
Wenn Worden von Detroit erzählt,<br />
sprichtsie über Armut.Es<br />
sei unglaublich, wie arm vorallem<br />
die schwarze Bevölkerung<br />
sei.Jeder,derdortlebt,bauesein<br />
Gemüse an –als suchten die<br />
MenschennichtnurnachessbarenWurzeln,sondernauchnach<br />
denWurzelnderZivilisation.<br />
UndSturm<br />
New York sei perfekt und die<br />
Kunstszene dortsehr produktiv,<br />
abersiewollteKontaktzuechten<br />
Menschen –„real people“. Sie<br />
brauche deren Einfachheit, deren<br />
unverstellten Blick aufdie<br />
Wirklichkeit. Deshalb Detroit,<br />
auchweilsieihremdreiJahrealten<br />
Sohn Zugang zurSchönheit<br />
und Unbeschwertheitder Natur<br />
gebenwollte,sowiesieselbstihn<br />
früherhatte,alssieaufderFarm<br />
ihres Großvaters aufwuchs. Es<br />
gibt Filme aufYouTube, aufdenen<br />
Gärten in Detroit gezeigt<br />
werden, die auf Industriebrachen<br />
neu entstehen. Eine ihrer<br />
FreundinnensammeltRosenauf<br />
verlassenen Grundstücken und<br />
pflanzt sie in ihren Garten, der<br />
nuneinRosenfriedhofist.<br />
AmTag,andemSharaWorden<br />
im Hotel in Berlin aufdem Sofa<br />
sitzt und erzählt, wirdauf den<br />
Sturm Xavergewartet. Die Stadt<br />
hält den Atem an, um das Haus<br />
pfeiftderWind.<br />
Regen<br />
Ihr seien diese Zuschreibungen<br />
egal. Sie will nicht mit Musik<br />
schockieren, wohl aber aufwecken.<br />
In einem ihrer schönsten<br />
Liebeslieder fordertsie, dass die<br />
Fluchtwege versperrt werden,<br />
damitsienichtvorderLiebewegrennen<br />
kann. Eins ihrer schönstensozialkritischenLiederspielt<br />
mit den drei Wörtern „hoch“,<br />
„tief“und „dazwischen“, „high,<br />
low,middle“–esgehtdarum,wie<br />
Menschen sich nach der Decke<br />
strecken,umeinAuskommenzu<br />
haben. „Be low, but not too<br />
low“singtsieamEndedesLiedes<br />
unddasheißtsehrviel:Seinicht<br />
anmaßend, sei bescheiden, aber<br />
lass dich nichtzertreten vondenen,<br />
die über dir stehen. In einem<br />
ihrer schönsten Wiegenlie-<br />
Ein wenig ist Shara Worden auch Predigerin wie ihr Großvater. Oder Hohepriesterin –„My brightest Diamond“ eben. So lautet ihr Künstlername
30 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple www.taz.de | sonntaz@taz.de KONSUM | sonntaz<br />
TROCKENDasIn-Getränk2014?MixologeHelmutAdamschwörtaufAltbewährtes–undempfiehltdenManhattan<br />
„SchnellbetrunkenmachenistnichtdasZiel“<br />
INTERVIEW JÖRN KABISCH<br />
sonntaz: Herr Adam, das Casino,woJames<br />
Bond sich seinen<br />
Dry Martini servieren ließ, ist<br />
den Spielhallen gewichen, in<br />
Hotelbars gibt es Automaten-<br />
Kaffee. Doch der Cocktail ist<br />
nichtmituntergegangen.<br />
Helmut Adam: Ganz im Gegenteil,<br />
zwar istauch der Cocktail<br />
kein Luxusprodukt mehr, aber<br />
der Qualitättut die Demokratisierung<br />
gut. Man kann BargängernichtmehranAlterundAussehen<br />
erkennen. Das angestammte<br />
Publikum der Erfolgreichen<br />
um die 40, 50 gibt es<br />
zwarnoch.Aberichtreffeander<br />
Bar auch Leute um die zwanzig<br />
mit einigem Wissen und Geschmack.<br />
Was hat sich verändert? Was<br />
warder Cocktail vorzehn Jahren?<br />
Ein weitgehend unverstandenes<br />
Getränk. Das warerlange. Das<br />
lässtsicheigentlichbiszurProhibition<br />
in den USAinden 20er<br />
Jahren zurückverfolgen. Davor<br />
hatte die Bar ihre Blütezeit, Bartenderwareinsehrangesehener<br />
Beruf, es gabrichtige Stars, die<br />
sogar um die Welt tourten –mit<br />
ShakernundToolsausSilber.Mit<br />
demAlkoholverbotistdannaber<br />
sehrvielWissenindieIllegalität<br />
gezwungenworden,auchWissen<br />
über die Destillation verschwand.<br />
Davon hat man sich<br />
lange nicht erholt. Der zweite<br />
Weltkrieg wardann ein weiterer<br />
NackenschlagfürdieBars,dadie<br />
Handelsroutennichtmehroffen<br />
waren und mitihnen wichtige<br />
Produkte über Nacht wegbrachen.<br />
EineKulturrevolution?<br />
Es brauchte Jahrzehnte, um das<br />
Know-howwieder auszugraben.<br />
Eigentlich sind wir immer noch<br />
dabei. Heute muss mansagen:<br />
Früher wurde jahrzehntelang<br />
mehrgepanscht.<br />
Washat dieRenaissanceausgelöst?<br />
Mitte der Neunziger gabesein<br />
paar Entrepreneurs, die wieder<br />
diealtenBarbücheraufschlugen.<br />
Die sagten: Wirgehen jetzt wiederzurückzudenKlassikern.Mit<br />
den Originalrezepten. Das war<br />
der Neuanfang. Und dann kam<br />
dasInternet.Damitkonntensich<br />
dieBarsrundumGlobusaustauschen:<br />
Bücher,Rezepturen. DarausisteineCommunityentstanden,<br />
ein neues Selbstbewusstsein.<br />
Das dazuführte, dass auch<br />
die Produzenten einen neuen<br />
Weg einschlugen, ihre Herstellung<br />
hinterfragten und historische<br />
Rezepte entdeckten. Es ist<br />
ein Prozess, der über Jahre dau-<br />
ert. Bedenkt man, dass eine Spirituose<br />
auch noch einige Zeitlagern<br />
muss, um Aromazuentwickeln,<br />
wie zum Beispiel Rye<br />
Whisky,beginntdieinteressante<br />
Zeitgeradeerst.<br />
All das hatwieder seinen AusgangspunktindenUSA.<br />
Die USAwaren immer die Treiber<br />
der Kultur des gemischten<br />
Kaltgetränks,damalsundheute.<br />
Wohin geht die Entwicklung?<br />
NachdemHugo2012,demMoscowMule2013:Was<br />
wirdder<br />
DrinkdeskommendenJahres?<br />
Es sprichtviel für den Manhattan.<br />
AuchsoeinKlassiker?<br />
Ja,ein Shortdrink ausRye Whisky,rotem<br />
Wermut und ein paar<br />
SpritzernBitter.<br />
Klingt nach einer sehr trockenenSache.<br />
Aber ich glaube, das Publikum<br />
istbereitdafür.Der Manhattan<br />
vereintaußerdemeinigeTrends<br />
der letzten Zeit. Fangen wir mit<br />
demWhiskyan?<br />
Gerne.<br />
Welchen Whisky man verwendet,<br />
das warbis voreinigen Jahren<br />
auch bei Bartendern noch<br />
garkein Thema. Heute wirddas<br />
viel diskutiert, ob Bourbon, ob<br />
Ryeund welche Sorten. Und der<br />
OriginalManhattanwirdmitmit<br />
Ryegemacht …<br />
…alsoRoggen-Whisky.<br />
Hauptsächlich. Bourbon besteht<br />
zu mindestens 51 Prozent aus<br />
Mais, und bei Ryeist es Roggen.<br />
Der Whisky muss noch ein paar<br />
Jahre im Fass liegen, bis er<br />
schmeckt, sechs oder vier, je<br />
nachdem,wenmanfragt.Inzwischen<br />
sind die Kapazitäten wieder<br />
da. Es gibt da unglaublich<br />
spannendeSorten,vorallemvon<br />
kleinerenundmittelgroßenDestillerien.<br />
Da beobachten wir geradeeinestarkeEntwicklung.<br />
Waskommtinden Manhattan<br />
dannnoch?<br />
Wermut.Undderistnochstärker<br />
im Kommen. Absolut: Das wird<br />
das Next Big Thing. Wirhatten<br />
Anfang der Nullerjahre ersteinen<br />
Wodka-Trend, dann kam<br />
Gin, dann hatte Tequila ein kleines<br />
Hoch, und nunkommtWermut.<br />
Es gibt da unzählige junge<br />
Start-ups, die Wermut machen,<br />
ausItalien, ausÖsterreich, aus<br />
Deutschland, ausGroßbritannien,USA,Australien.<br />
Ich kenne Wermut eigentlich<br />
nur aus der Martini-Flasche.<br />
Oder zum Kochen, als Noilly<br />
Prat.ErwarlangeausderMode.<br />
Es gablange nurdiese großen<br />
Marken,unddiehabendieKategorie<br />
auch nie weiterentwickelt,<br />
ganz nach dem Motto: Never<br />
change awinning team. Voral-<br />
lemhabensiezumTeildenAlko-<br />
holgehaltgedrückt,weilallesun-<br />
ter 15 VolumenprozentAlkohol<br />
nicht unter die Spirituosengesetzgebung<br />
fällt, sondern als<br />
weinhaltiges Getränk gilt–mit<br />
einer anderen Steuerklasse. Die<br />
FolgewareineVerwässerungdes<br />
Profils. Denn Alkohol istein Geschmacksträger.Jetzt<br />
sehen wir<br />
den Gegentrend. Es werden wieder<br />
klassische Wermuts hergestelltmit<br />
mehr Alkohol,oft im<br />
Fassgereift–undwasdieZusammensetzung<br />
anbelangt, auch<br />
sehrexperimentierfreudig.<br />
Wermut ist ein mit Kräutern<br />
und Gewürzen aromatisierter<br />
Süßwein.<br />
Grundlage istbitteres Wermutkraut.<br />
Aber es gibt die unterschiedlichsten<br />
Versionen, sogar<br />
Wermuts,dieeinfastweihnachtliches<br />
Aromahaben. ZumBeispieldervonSacred,dasisteine<br />
Mikrodestillerie in Norden von<br />
London.<br />
DiedritteZutatisteinBitter.<br />
Auch ein Trend, der Mitte der<br />
Nullerjahre angefangen hat. Damals<br />
hatten die Bars nurAngostura<br />
im Regal und heute haben<br />
sie eine Batterie von kleinen<br />
Fläschchenstehen.<br />
Also drei Entwicklungen, die<br />
jetzt gemeinsam zu einem Höhepunktkommen.<br />
Genau:AlledreiZutatensindeigentlich<br />
aufdem Wegnach vorne.<br />
Und warum soll das Publikum<br />
dafürzuhabensein?<br />
Ein klassisches gemischtes<br />
Kaltgetränk aus Whisky, Wermut<br />
und Bitter: der Manhattan<br />
Foto: Ocean/Corbis<br />
Weil es sich auch für die alten<br />
Klassiker interessiert. Wenn wir<br />
einJahrzehntzurücksehen,dann<br />
standendamalsMaiTaisundPina<br />
Coladas aufden Tresen, alles<br />
große Gläser. Typisch deutsch<br />
eben, großes Schnitzel, großes<br />
Bier und eben auch ein großer<br />
Cocktail.Daswarallesvolumengetrieben.<br />
Und das hatsich verändertwie<br />
die ganze Kulinarik.<br />
Berlin istdas beste Beispiel für<br />
unheimliche Dynamik, auch in<br />
der Bar.Die Leute akzeptieren<br />
kleine Gläser.Weil sie verstanden<br />
haben, sie bieten mehr Geschmack.MankanndieseKlassikeraußerdem<br />
sehr variabel mixen,<br />
eine persönliche Note geben,jenachdem,wasfüreinProduktmanverwendet.Dasmacht<br />
dieDrinksfürdieBartender<br />
attraktiv.<br />
Was muss man denn verstanden<br />
haben, um Cocktails<br />
trinkenzukönnen?<br />
DassmanbeieinemCocktaildie<br />
Basiszutat schmecken sollte. Sie<br />
sollte ein bestimmendes Merkmalbleiben.<br />
Wenn Du nurAlkoholalsStärkeschmeckst<br />
oderirgendeinAroma,dasnichtdieBasis<br />
bildet, dann ist der Drink<br />
falsch komponiert. Süß-fruchtig<br />
und stark, wie es in den Neunzigern<br />
lange Mode war: das istim<br />
Grunde eine Perversion des<br />
Cocktails. Eigentlich nur eine<br />
Methode, sich miteiner Kombination<br />
ausAlkohol und Zucker<br />
schnell betrunken zu machen.<br />
Das istnichtdas Ziel des Cocktails.DasZielistGenuss.<br />
EskommtalsovielaufdenBartender<br />
an. Könnte mansagen,<br />
er ist Koch und Kellner zugleich?<br />
Aufjeden Fall gehtesauch um<br />
das Persönliche. Die Bar istein<br />
sozialer Ort. Für den Bartender<br />
istdie Kommunikationdas eigentliche<br />
Element, das Pflichtprogramm.<br />
Er muss ein guter<br />
GastgeberseinundjedenAbend<br />
eine Bühne bieten, aufder die<br />
Gästeperformen,aufdersiefrei<br />
sein sollen, frei vomAlltag. Der<br />
CocktailistdieKür, dasinspirierendeGetränk.<br />
Washat Sie hinter die Bar getrieben?<br />
DaswareigentlichZufall.Ichwar<br />
Quereinsteiger,wievieleindem<br />
Beruf. Die Bar erschien mir<br />
schnell als der kreativste Ortin<br />
der Gastronomie. Ich habe als<br />
Kellner begonnen, VIPs bedient,<br />
imSmokingundauchinweißen<br />
Handschuhen im österreichischen<br />
Bundeskanzleramt serviert.<br />
Aber die Bar warfür mich<br />
der Ort, der am kreativsten aussah.<br />
Es sind nichtnur die vielen<br />
Flaschen,ausdenenmanSachen<br />
kreierenkann.HinterderBarzu<br />
stehen,dasverschafftSouveränität,<br />
weil man imFokus steht.<br />
Gleichzeitig kann mansich hinter<br />
dem Tresen auch malsagen:<br />
Wenn du magst, dann hast du<br />
deineRuhe.<br />
Wie lernt man denn Cocktail<br />
trinken?<br />
Indem mansich voneinem guten<br />
Barmann einführen lässt,<br />
ersteinmal in einfache Sachen.<br />
Naja, washeißteinfach? Einfach<br />
istgutbeiCocktails.<br />
AlsozumBeispielSours?<br />
Das warmein erster Lieblings-<br />
Cocktail: Whisky Sour,ganz genauBourbonSour.Dakannstdu<br />
gut spielen. Mit einem Schuss<br />
Grapefruit-Saft,frischemEiweiß<br />
odervielleichteinpaarSpritzern<br />
Bitter.ImGrundeistderSourdie<br />
Basis für 60 Prozentaller Cocktails,<br />
wenn nichtmehr,denn es<br />
istdie KombinationSweet und<br />
Sour,auf der mangemeinsam<br />
mitdemAlkoholeinAromahaus<br />
aufbaut.<br />
Unddann?<br />
Dann tastet mansich eben weiter.ImVerlauf<br />
meiner TrinkerkarrierehabeicheineSpirituose<br />
nach der anderen entdeckt. IrgendwannwaresGin.Wennman<br />
vom Sour kommt, dann fängt<br />
manmit Cocktails an wie Gin<br />
Fizz oder Gin Collins und geht<br />
dann zurnächsten Stufe über,<br />
zumBeispieleinPeguClubCocktail.<br />
Das istein Shortdrink auf<br />
Gin-Basis mitBitter.Und dann<br />
entdeckst du die nächste Stufe,<br />
und landestbei Drinks, die BartenderalsKönigsklasseansehen.<br />
SoetwaswieSazeracoderOldFashioned.<br />
WarumKönigsklasse?<br />
Es sind ganz alte und einfache<br />
Drinks.Undsieentsprechender<br />
Ur-Definition des Cocktails.<br />
Denn er warursprünglich nur<br />
ein Segmentder Mischgetränke,<br />
istdann aber Überbegriff für allesgeworden.Ursprünglichhandelte<br />
es sich um die Spirituose,<br />
Wasser,Zucker und Bitter.Das<br />
wardieersteniedergeschriebene<br />
DefinitiondesCocktails.<br />
.....................................................................................<br />
...............................................................<br />
Helmut Adam<br />
■ 40,arbeitete<br />
zehn Jahreals<br />
Bartenderund<br />
Barmanager<br />
inCocktailbars<br />
in Wien, London,<br />
Zürich und<br />
Berlin. Seit<br />
Foto: privat<br />
2002 isterHerausgeber von Mixology,<br />
einem Magazin fürBarkultur.<br />
Den Shaker hat er immer noch im<br />
Einsatz, allerdings nur im privaten<br />
Rahmen.<br />
PRODUKTTESTDieParrotAR.Drone2.0machtFliegenverführerischeinfach<br />
ZurSonne,zur Freiheit?<br />
runter. Sie bewegt sich viel<br />
schnittiger als in der Wohnung,<br />
vielleichtein wenig unstet, als<br />
hätte sie ein gewisses Eigenleben.Ichfangean,siezumögen.<br />
Nachtsträumeichmanchmal<br />
davon,dassichfliegenkann.Ein<br />
Schweben in angenehm flottem<br />
Tempo, aufrecht stehend und<br />
maximalaufderHöhevonÜberlandleitungen.FliegenimTraum<br />
klappt nur, wenn mir niemand<br />
zusieht, es ist schön und so<br />
selbstverständlich wie Radfahren.<br />
Die AR.Drone zu steuern hat<br />
etwasBerauschendes.Wasistdas<br />
für ein Gefühl? Macht, Leichtigkeit,Höhenrausch?InKopfhöhe,<br />
EinSpielzeugaus„Kriegge-<br />
gen den Terror“, diese<br />
Drohne. Oder ein Objekt<br />
auseinemRomanvonWilliam<br />
Gibson. Der schrieb früher<br />
Science-Fiction und machtjetzt<br />
Gegenwartsliteratur, weil die<br />
technische Entwicklung seine<br />
Zukunftsfantasieneingeholthat.<br />
Brummeldibrumm, flappritsch,<br />
krawach! Warder Riss im<br />
Vorhang schon da, bevor die<br />
Drohne damitkollidiertund abgestürzt<br />
ist? Meine Wohnung ist<br />
eindeutig zu klein, und mein<br />
Smartphone, mit dem ich die<br />
Drohne steuern soll, zu alt. Das<br />
Videobild des Flugobjekts wird<br />
aufdem Handybildschirm nur<br />
ruckelig dargestellt, und ständig<br />
stehtetwas im Weg. Ein Glück,<br />
dass sich die Rotoren vonselbst<br />
abschalten, sobald sie auf ein<br />
Hindernis stoßen, und dass das<br />
Ding stabil konstruiertist.Aber<br />
Spaßkommtsonichtauf.<br />
Neuer Versuch. Strahlende<br />
SonneundnurleichterWindauf<br />
der taz-Terrasse im fünften<br />
Stock.PerfektfüreinenTestflug.<br />
Flugs istdie Innenhüllemit den<br />
Rotorschützern gegen die Hülle<br />
für Außenflüge ausgetauscht,<br />
einKollegeleihtmirseinSmartphone,<br />
die entsprechenden EinstellungeninderAppangewählt<br />
und der grüne Button zumStarten<br />
gedrückt. Vor, zurück, hoch,<br />
in Überkopfhöhe,<br />
deutlich<br />
über Gebäudehöhe<br />
–von<br />
derTerrasseblicktmanüberdie<br />
Häuser. Windig da oben, und<br />
schon schwebt die Drohne über<br />
derStraße.<br />
Scheiße,Ikarus,scheiße!Hektisches<br />
Rumgefummel an der<br />
Steuerung. Die Batterie istauch<br />
bald leer. Drohnenabsturz aus<br />
Dachhöhe aufdie Rudi-Dutschke-Straße?Dannbesserlangsam<br />
runter.Nichtauf die Fahrbahn,<br />
bloß nicht auf die Fahrbahn!<br />
Kontakt miteinem Rückspiegel,<br />
BruchlandungnurhalbamGeh-<br />
steig,<br />
und ich atemlosdieTreppenrunter.<br />
Unten warten Polizisten. Sie<br />
lassen sich beim Warten nur<br />
ungern stören. Ein Auto abzuschleppenisteineernsthafteAngelegenheit,<br />
und ein Kerl, der<br />
was von einer abgestürzten<br />
Drohne erzählt, hatoffenbar einen<br />
Vogel. Oder eben keinen<br />
mehr.Gesehenhabensienichts.<br />
Ichauchnicht.DasletzteBildam<br />
Handybildschirm stehtauf dem<br />
Foto:<br />
Fred Kopf, eine<br />
Simon Gehsteigkante<br />
und zwischen<br />
zwei Reifen im<br />
Vordergrund freier<br />
Blick aufeine giftgrüne<br />
LitfaßsäuleinderFerne.<br />
Der CIA wurde auch schon<br />
maleine Drohne geklaut.Eine<br />
deutlich größere und teurere.<br />
DieistimIranabgestürzt.Dasist<br />
allerdings auch kein tröstlicher<br />
Gedanke,inkeinsterWeise.<br />
ANDREAS KIENER<br />
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DASEINIm<br />
Grandhotel<br />
Cosmopolis,<br />
mittenin<br />
Augsburg,leben<br />
seitEndeOktober<br />
2013Flüchtlinge,<br />
Künstlerund<br />
Hotelgäste<br />
zusammen.<br />
DasProjektzeigt:<br />
Asylsuchende<br />
gehörendazu,<br />
wennman<br />
nurwill<br />
Zimmer im Grandhotel Cosmopolis in Augsburg Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa<br />
UrlaubimAsylbewerberheim<br />
AUS AUGSBURG LENA SCHNABL<br />
Die schlechte Nachricht<br />
kommt per E-Mail ins<br />
Grandhotel Cosmopolis.<br />
Der 60er-Jahre-Bau im<br />
AugsburgerDomviertel,dermal<br />
Altersheim war, istjetzt Kunstprojekt,<br />
Flüchtlingsheim und<br />
hippes Vintage-Designhotel mit<br />
bester Aussichtauf die Stadt. In<br />
der E-Mail schreibt die Flüchtlingsanwältin,<br />
dass eine tschetschenische<br />
Familie, die hier<br />
wohnt,abgeschobenwird.<br />
Wolfgang, StatusHaustechniker,<br />
hatkeine Zeit, sich mitder<br />
schlechten Nachrichtaufzuhalten,<br />
er muss erstmal Getränke<br />
holenimKeller.Erhat auch den<br />
ollen Plattenspieler für heute<br />
Abend fitgemacht. Gäste sollen<br />
wie jeden Mittwochabend ihre<br />
eigenenScheibenmitbringen.<br />
Jutta, Status Kommunikationsdesignerin<br />
mit Atelier im<br />
Haus, fällt auch erst einmal<br />
nichts ein. Sie stehthinter dem<br />
geschwungenen Tresen im Café<br />
undschenkteinemGastRotwein<br />
ein, der „einfach so reingestolpert“ist.SiehatauchdieSchilder<br />
entworfen, die über der Theke<br />
hängen: „Pay as much as you<br />
can“ –zahl so viel du kannst.<br />
„Hoffe,dieSchilderbringenwas.<br />
1Euro50für ’n Wein isteinfach<br />
zuwenig“,sagtsie.<br />
Das ehemalige Seniorenheim<br />
derDiakoniestandgutdreiJahre<br />
leer, Flüchtlingsunterkünfte<br />
aberwarenknappundAugsburgerKünstlerhatteneineIdee:EinenOrtschaffen,andemalleeine<br />
Heimat aufZeitfinden können.<br />
Hotelgäste, Kulturschaffende,<br />
Asylsuchende. „Es gehthier<br />
um Menschlichkeit. Darum, zu<br />
beweisen, dass ein anderer UmgangmitdemFlüchtlingenmöglich<br />
ist“,sagtein Mitbegründer<br />
des Projekts. „Integration!“,sagt<br />
einanderer.<br />
Ein Jahr Konzept erarbeiten,<br />
einJahrBaustelle.EndeJulidann<br />
die Genehmigung vom Ordnungsamt,<br />
drei Tage später der<br />
erste Bus mitFlüchtlingen, eine<br />
Woche später der erste Abschiebebescheid.<br />
Seit Oktober sind auch die<br />
zwölfGrandhotelzimmerinden<br />
oberen Stockwerken bezugsfertig.<br />
In den Dutzend Ateliers im<br />
Haus arbeiten die Künstler.Regelmäßig<br />
finden Veranstaltungenstatt,jedenMittwoch„Bring<br />
your ownvinyl“mit Wolfgang<br />
und Jutta. „Damit sich hier<br />
Flüchtlinge wohlfühlen, mussten<br />
wir es hinkriegen, dass auch<br />
Leute gerne kommen, die nicht<br />
dazuverpflichtetsind.“<br />
GleichgehtdieFeierlos.<br />
Hiersein<br />
WieinanderenHotellobbyshängen<br />
über der ThekeUhren aus<br />
verschiedenen Zeitzonen, unter<br />
ihnen die Namen der Orte: Statt<br />
Tokio steht hier jedoch Gaza,<br />
stattSydneyLampedusa.Nurdie<br />
Uhr, unter der „Manila“ steht,<br />
tickt. Die Zeiger vonLampedusa<br />
und Gaza stehen still, auffünf<br />
vorzwölf. Hier istdie Kunstimmer<br />
auch politisch. „Das istZufall“,<br />
sagt Wolfgang, grinst, „aber<br />
passtjaganzgut.“<br />
„Hi Andrea“, unterbrichtihn<br />
Jutta,„howareyou?“<br />
Andrea, Status spanischer<br />
Wirtschaftsflüchtling und Hostelgast.SiesuchtseitzweiMonaten<br />
in Deutschland die Arbeit,<br />
die es in Spanien nichtgibt. Sie<br />
istauchsoreingestolpertaufder<br />
Suche nach einer Unterkunft<br />
undgeblieben,hilftmitimHaus,<br />
putztdieKlos.DasCaféfülltsich,<br />
Leute setzten sich aufs goldene<br />
Sofa,überdemrotePagenuniformen<br />
hängen, auf FlohmarktstühleundaufgespendeteSchulbänke.<br />
Die Möbel sind ausdem<br />
Sozialkaufhaus, die Stimmung<br />
bewegtsichzwischenStudentenheimparty<br />
und Antifaabendessen.IkeaesqueDuzkultur.<br />
In seinem Zimmer im ersten<br />
Stock isstOliver, StatusFlüchtling<br />
ausMazedonien, mitseiner<br />
Frau und seinen zwei Töchtern<br />
zu Abend. Es läuft das Champions-League-Achtelfinale,<br />
MarseillegegenDortmund,dieStadt,<br />
in der sie vorsechs Monaten in<br />
Deutschland ankamen. In der<br />
Heimat hatte jemand Oliverzuerstbewusstlos<br />
und dann zum<br />
Invaliden geschlagen. „Mafia.“<br />
Mehr will er dazunichtsagen.<br />
KnappzweiJahreistdasher,seit<br />
AugustwohnensieimGrandhotel.<br />
Das Knie istkaputt, Krücken<br />
steheninderEcke.„Hieristesso<br />
schön.DieLeutesindsogutund<br />
ichkannhelfenimHaus.“<br />
ANZEIGE<br />
Er hatmitgemachtbei einer<br />
Performance im Theater Augsburg.VoneinemBauzaunumgeben<br />
aß er zusammen mitanderenFlüchtlingenunddenKünstlerninderPausederOper„Intoleranza“.<br />
VordemZaunakademische<br />
Theaterbesucher mitAperol<br />
Spritz. Die Oper haterauch<br />
gesehen, allerdings in zwei Anläufen.„IchhabeAngstgekriegt,<br />
zu viele Erinnerungen sind<br />
hochgekommen.“<br />
ImZimmerhängenBilder,die<br />
seine Frau zusammen mitden<br />
Künstlern gemalt hat: kräftige<br />
Farben,MariamitJesusimArm,<br />
„Mazedonien“ in kyrillischer<br />
Schrift. Dortmund gewinnt, die<br />
KindermüsseninsBett,schließlichistmorgenSchule.<br />
Gutsechzig Flüchtlinge wohnen<br />
im ersten bis dritten Stock;<br />
aufjederEtagearbeitenauchdie<br />
Künstler in ihren Werkstätten.<br />
DieGemeindezahltdieMietefür<br />
dieAsylsuchendenandieDiakonie<br />
und liefertihnen Essenspakete,<br />
aber oft kochen und essen<br />
sie auch mitden Künstlern und<br />
Künstlerinnen. Im vierten und<br />
fünftenStocksinddieHotelzimmer;<br />
im Erdgeschoss vier MehrbettzimmerunddieLobby.<br />
Als auch die Manila-Uhr dort<br />
fünf vor zwölf anzeigt, verabschiedensichdieGäste.Juttaund<br />
Wolfgang putzen die Kaffeemaschine.<br />
Diezweiarbeiten,ohnedafür<br />
Geldzubekommen.Wieallehier.<br />
„Wirmüssenaufpassen,dasssich<br />
dieFreiwilligennichtüberarbeiten“,<br />
sagteinInitiator.Vielesind<br />
täglich da. „Wir müssen vonder<br />
Ehrenamtlichkeitweg, wir können<br />
unser Leben sonst nicht<br />
mehr finanzieren.“ Die Realität.<br />
Dasistauch:Mietezahlen,Essen<br />
kaufen.<br />
Nächster Tag. Im Café läuft<br />
„Love meorleaveme“vonBillie<br />
Holiday. Sascha,Statusjugendliche<br />
Utopistin mit Russischkenntnissen,<br />
sitzt auf dem<br />
Schanktisch im Hinterzimmer,<br />
die Hände vordas Mädchengesichtgeschlagen.<br />
Sie hatgerade<br />
vonderAbschiebungderFamilie<br />
nächste Woche erfahren. Sie<br />
übersetzt für sie und ist ihre<br />
Freundingeworden.<br />
Die Familie unterliegt dem<br />
Dublin-II-Abkommen: Das Asylverfahren<br />
muss in dem Land<br />
stattfinden,indemsiedieEUbetreten<br />
haben. Bei den Tschetschenen<br />
istdas meistPolen. „Da<br />
kommen sie in Abschiebegefängnisse!<br />
Kein Zutrittvon außen,Stacheldraht,Wachen.Polen<br />
ist kein sicheres Drittland für<br />
die!“ Saschawirddiejenige sein,<br />
die der Familie die Nachricht<br />
überbringenmuss.<br />
Im Vorderzimmer checkt<br />
währenddessen Hotelgast Regina<br />
ein. Sie istevangelische PfarrerininNürnbergundmachteine<br />
Fortbildung in Augsburg. Sie<br />
hatimInternet vondem Hotel<br />
gelesen:BlicküberdenDom,stylih,vorallem:sozial.<br />
Die Zimmer sind eigenwillig<br />
gestaltet. „Leuchtturm“heißteinesimfünftenStock.EineLichtkünstlerinhatesentworfen.VerwaschenesBlaugrau,dieDeckenleuchte<br />
wirft Formen an die<br />
Wand. Der Notrufknopf neben<br />
dem Lichtschalter erinnert an<br />
dieAlten,diehierfrühergepflegt<br />
wurden und eine runde Lampe<br />
an ein Bullauge aufSee. Vonder<br />
DeckebaumelnKleiderbügel.Jedes<br />
Zimmer hat ein Waschbecken,KloundDuschegibtesauf<br />
demGang.<br />
AmAnfanggabeskeinefesten<br />
Preise für die Zimmer.„Zahl soviel<br />
du kannst“,hieß es wie bei<br />
den Getränken im Café. Mittlerweilemussten<br />
die VerantwortlicheneinenMindestpreiseinführen.<br />
40 Eurofür ein Einzelzimmer,16Eurofür<br />
ein Hostelbett.<br />
Esseider„minimaleRichtpreis“,<br />
damit das Projekt überhaupt<br />
funktionierenkönne.<br />
Während Regina eincheckt,<br />
skizziertAdiimCaféeinenFrauenkörper.<br />
Der Kopf zurückgeworfen,<br />
Brüste in den Himmel<br />
gereckt. Adi, Status Vorzeige-<br />
Flüchtling,sagt:„DaswäreinAfghanistan<br />
nichtmöglich.“ Es sei<br />
„Ich wünsche mir, dass<br />
irgendwann die ganze Welt<br />
so istwie das Grandhotel<br />
Cosmopolis“<br />
DER AFGHANISCHE KÜNSTLER ADI<br />
kompliziertmit Aktmodellen in<br />
einem muslimischen Land. Er<br />
hat mittlerweile eine Aufenthaltsgenehmigung<br />
für ein Jahr<br />
bekommen.„IchwillmaleineFamilie<br />
und dazubrauche ich Sicherheit.“ErziehtdieWörterwie<br />
weiches Karamell, das an den<br />
Zähnenhaftet.<br />
Dortsein<br />
Adikam als Flüchtling und ist<br />
nunKünstler,erhatteimletzten<br />
Jahr drei Ausstellungen in<br />
Deutschland. Seine Holzschnitzerei<br />
und die afghanische Kalligrafie<br />
kommen an. „Aber hier<br />
hatkeiner eine feste Rolle, wir<br />
sindalle:Menschen.IchkanngenausoToilettenputzen.“<br />
Adigestaltetderzeiteinesder<br />
Hostelzimmer.Statt Stockwerkbetten<br />
gibt es hier OrientteppichezumSchlafen.DieeineWand<br />
istrauundroh,darüberbefindet<br />
sich goldene Kalligrafie. „Ich<br />
wünsche mir“,sagter, „dass irgendwann<br />
die ganze Welt so ist<br />
wie das Grandhotel Cosmopolis.“<br />
Es istder Satz, den er allen<br />
Reporternsagt,diekommen,um<br />
etwas über diese gelebte Zukunftsfantasie<br />
in der bayerischenProvinzzuerfahren.<br />
DasInteresseistgroß,auchin<br />
anderen Städten gibt es Leerstand<br />
und Flüchtlinge, die eine<br />
Heimat aufZeitsuchen. In der<br />
LobbybringteineNachbarinmit<br />
grauerDauerwellegeradeLebkuchen<br />
vorbei, ein anderer Nachbar<br />
kommtmit Chips. Um Adi<br />
herum tollen die Kinder der<br />
Flüchtlinge, trommeln auf einem<br />
Schellenkranz, schalten die<br />
Stehlampe im Takt an und aus.<br />
„Und die Utopie funktioniert“,<br />
sagt eine Künstlerin. „Aber mit<br />
deranderenRealitätmüssenwir<br />
jetztauchfertigwerden.“<br />
Die tschetschenische Familie<br />
hatzusammen mitihrer Anwältin<br />
eine „freiwillige“ Rückreise<br />
durchgesetzt, ihre Abschiebung<br />
nach Polen wurde verhindert.<br />
WohindieReisegehensoll,istjedochungewiss.
32 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple www.taz.de | sonntaz@taz.de FERNSEHEN | sonntaz<br />
DREHFabianHinrichskommtauseinerFamilievollerPolizisten,<br />
wollteabernieeinersein.JetztwirderKommissarimFranken-<br />
„Tatort“.EinGesprächüberden„Hobbit“-Film,Eitelkeitund<br />
roteAmpelnnachtsumdrei<br />
„IchbrauchePartner,<br />
keineChefs“<br />
„Ich bin nicht Schauspieler geworden, um auf der Straße erkannt zu werden. George Clooney wird nirgends ein Bier trinken können. Das wäre nichts für mich.“ Fabian Hinrichs, fotografiert in Berlin-Kreuzberg
sonntaz |FERNSEHEN<br />
www.taz.de | sonntaz@taz.de apple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 33<br />
GESPRÄCH DOMINIK<br />
DRUTSCHMANN<br />
FOTO WOLFGANG BORRS<br />
Fabian Hinrichs mag nicht<br />
gerne fotografiert werden,<br />
abererlässtesübersichergehen.<br />
Es blitzt, die Leute<br />
drehen sich um. Ein Mädchen<br />
bleibt vor dem Café Goldberg in<br />
Berlin-Neukölln stehen:<br />
„Kommst du ins Fernsehen?“<br />
Hinrichs: „Manchmal.“ Mädchen:<br />
„Ich will auch ins Fernsehen.“<br />
Hinrichs: „Das würde ich<br />
mir noch mal überlegen.“ Am<br />
Vorabend lief der Polizeiruf<br />
„Wolfsland“ mit Hinrichs in der<br />
Rolle des Aussteigers. Die Kritiken<br />
waren durchwachsen. Hinrichsselbsthatihnnichtgesehen.<br />
FabianHinrichs:Wennmanam<br />
AbendvorherimFernsehenwar,<br />
dannguckendieLeuteimmerso<br />
komisch.<br />
sonntaz:Siehabennichtgerade<br />
einAllerweltsgesicht.<br />
Das sagen Sie, aber ich weiß<br />
nicht, ob der durchschnittliche<br />
ZDF-Zuschauer mich erkennen<br />
würde. Das Gesicht vielleicht,<br />
den Namen eher nicht. Ich habe<br />
malgehört, dass Thomas Gottschalk<br />
aufeinem Flughafen zur<br />
Toilettemusste,weilerDurchfall<br />
hatte. Das hatnatürlich Geräusche<br />
gemacht. Und irgendeiner<br />
hat durch die Tür gerufen:<br />
„Mensch Tommy, da hast du<br />
wohlwasFalschesgegessen.“Das<br />
stelleich mir furchtbar vor. In<br />
Deutschland sind die Gagen<br />
nicht sohoch, dass man sich<br />
komplett abschotten könnte.<br />
Durch abgeschiedene Anwesen<br />
mithohen Mauern. Jeder kennt<br />
einen, aber man kommt nicht<br />
weg. Das kann unangenehm<br />
werden.<br />
Würden Sie denn gerne hinter<br />
Mauernleben?<br />
Nein. Aber ich bin nichtSchauspieler<br />
geworden, um auf der<br />
Straße erkanntzuwerden. Jammere<br />
aber auch nicht, wenn es<br />
passiert. George Clooney wird<br />
nirgends ein Bier trinken können.Daswärenichtsfürmich.<br />
Sind Sie bewusst in eine Stadt<br />
wie Berlin gezogen, damitSie<br />
wenigerauffallen?<br />
Als ich nach Berlin kam, kannte<br />
mich ja kein Schwein. Ich war<br />
Schauspielstudentundhabedas<br />
Stück„PaulundPaula“mitLeanderHaußmannanderVolksbühnegemacht.Ichhabemirdamals<br />
nichtklar die Fragegestellt, was<br />
ich werden will. Vorder Schauspielerei<br />
habe ich Jura studiert,<br />
aber das hatmich irgendwann<br />
nicht mehr befriedigt. Schauspielerzuwerdenwarwohleher<br />
der Versuch der Vermeidung einer<br />
Berufswahl. Berufe an sich<br />
findeichabsurd.<br />
Warumdas?<br />
Es istjameistens Erwerbsarbeit<br />
oder Selbstverwirklichung. Wobei<br />
auch die penetrante Selbstverwirklichung<br />
eine Sklaverei<br />
ist. Als Drittes gibt es das große<br />
Glück, dass man seinen Beruf<br />
mit Leidenschaft ausübt, nicht<br />
nurausInteresse.<br />
Als Schauspieler müssen Sie<br />
sich nichtfestlegen. Letzte WochespieltenSieim„Polizeiruf“<br />
einen Tierschützer, nächstes<br />
Jahr werden Sie „Tatort“-Kommissar.<br />
Das stimmt. Ich habe eine einigermaßen<br />
große Freiheit erreicht.<br />
Doch jede Freiheithat eine<br />
Kehrseite: Wenn ich einen<br />
Film drehe, bin ich vielleicht<br />
sechsWochenunterwegs.IndieserZeitistmannahezuversklavt.<br />
ManlebtnurfürdenFilm.Auch<br />
das kann schön sein, aber nicht,<br />
wennmannachHausewill.Und<br />
ichwillmehrZeitmitderFamilie<br />
verbringen, nächstes Jahr werde<br />
ich Vater.Das Reisen erlebe ich<br />
mittlerweile als Schattenseite<br />
meines Berufs. Früher wardas<br />
anders. Heute genieße ich es,<br />
monatelang zu Hause zu sein,<br />
ohne zu arbeiten, höchstens ein<br />
wenigzustudierenvielleicht.<br />
Siestudieren?<br />
Bis vorKurzem habe ich Politik<br />
studiert,mussteaberabbrechen,<br />
weil das ein Präsenzstudium ist.<br />
Das ging einfach nicht mehr.<br />
Jetzt bin ich für Kulturwissenschaften<br />
mit Schwerpunkt Geschichte<br />
und Philosophie eingeschrieben.<br />
Der Kellner, runder Hut zu rundem<br />
Bauch, klimpert mit Tassen<br />
undTellern.Hinrichsstocktkurz,<br />
schautzuihmrüber.<br />
Der Kellner kammir gleich so<br />
grobvor.SindSieHutträger?<br />
Nein,ichtragenurMützen.<br />
IchfindeHutträgerkomisch.<br />
Warum?<br />
Wenn man nicht irgendeine<br />
Kopfverletzunghat,sindMützen<br />
und Hüte so ein Modeding, ein<br />
Accessoire. Hutträger haben<br />
heutzutagemeistens etwas Prätentiöses.<br />
Ich habmir auch mal<br />
einen gekauft, als ich ganz jung<br />
war.Denhabeichaberniegetragen.<br />
Einen Panamahutaus Mittelamerika–völligbescheuert.<br />
Der Hutträger kommt und<br />
räumt das alkoholfreie Bier ab.<br />
Hinrichs bestellt ein Wasser, das<br />
er etwa eineinhalb Stunden später<br />
bekommt. Er sei schüchtern,<br />
sagter.GegendieSchüchternheit<br />
redeteran.<br />
WissenSieschonetwasüberIhreFigurimneuenFranken-„Tatort“?<br />
Die wirdgerade entwickelt. Viel<br />
kann ich darüber nicht sagen.<br />
Das wäre zu früh. Ich wurde<br />
schon ein paarmal gefragt, ob<br />
Konrad Wagner –falls das wirklich<br />
der Rollenname sein wird–<br />
brutal oder lustig sein wird. Es<br />
gibt offenbar nurdiese beiden<br />
Seiten. Aber die Schauspielerei<br />
hatmeiner Ansichtnach nicht<br />
unbedingt etwas mitder Arbeit<br />
eines Kochs zu tun. Man kann<br />
nichteinfach ein paar Zutaten<br />
zusammenrührenwiebeieinem<br />
Rezept –und am Ende kommt<br />
ein Charakter raus. Davonhalte<br />
ichnichtviel.<br />
VieleZuschauerassoziierenSie<br />
mitderRolledesGisbertEngelhardt<br />
im München-„Tatort“<br />
„Der tiefe Schlaf“. Ein nervignerdigerCharakter,dernacheinerStundestirbt.ImAnschluss<br />
formiertesicheineArtdigitaler<br />
Widerstand bei Facebookund<br />
Twitter.Glauben Sie, dass IhnenderInternet-HypedieRolle<br />
im„Tatort“verschaffthat?<br />
Nein. Ich habe ja nunschon ein<br />
paar Filme gemacht. Ich freue<br />
michsehrdarüber,abermeinLebenwäreauchohneden„Tatort“<br />
weitergegangen.<br />
Haben Sie sich wenigstens gebauchpinseltgefühlt?<br />
Ichhabemichgefreut.Esgibtdie<br />
Möglichkeit, über eine längere<br />
ZeiteineRollezuentwickeln.Der<br />
„Tatort“ ist hier die einzige<br />
grundsätzlich anspruchsvolle<br />
Reihe, die ich kenne, in der das<br />
möglich ist. Natürlich istdie Erzählstruktur<br />
eher konservativ<br />
undnichtwieindenamerikanischen<br />
HBO-Serien avantgardistisch.<br />
Das wirdinDeutschland<br />
nochdauern.Wobeiichdasauch<br />
kaumnochhörenkann,dassdie<br />
amerikanischen Serien so toll<br />
seien. Wenn jedes dritte Wort<br />
„fuck“ ist, magdas in Detroitin<br />
Ordnung sein. In Wuppertal<br />
mussmansichwasandereseinfallen<br />
lassen, sonstwirkt es bemüht.Dastelltsich<br />
die Frage:<br />
Wasist die deutsche Identität?<br />
Oder die süddeutsche, die norddeutsche.<br />
Sie sind gebürtiger Hamburger<br />
und leben in Berlin. Jetzt werden<br />
Sie „Tatort“-Kommissar in<br />
Nürnberg.Lokalkoloritbringen<br />
Sienichtmit.<br />
Ausfamiliären Gründen kenne<br />
ichmichmitderPolizeiganzgut<br />
aus.Unddaistessowieinvielen<br />
Berufen:Wenneineinteressante<br />
Positionwinkt,wechseltmandie<br />
Stadt.Esistzwarnochnichtklar,<br />
wohermeinKommissarstammt,<br />
einen Franken werde ich aber<br />
nichtspielen. Für den Film wird<br />
es vonVorteil sein, denkeich.<br />
MankanndieEigenartenderRegion<br />
durch meine Fremdheit<br />
deutlicherzeigen.Frank-Markus<br />
Barwasser–meinKollegeim Ermittlerteam–istFrankeundder<br />
Kontrast wirdgrößer,wenn ich<br />
vonaußerhalbkomme.<br />
Sie kommen auseiner Polizisten-Dynastie:<br />
Großvater,Vater,<br />
Bruder –alles Polizisten. SprechenSieinderFamilieüberIhre<br />
Rolle?<br />
Ehrlichgesagtredeichmitihnen<br />
überhaupt nicht darüber. Vielleichtmacheichdasmal.Ichfinde<br />
es pikantund nichtunlustig,<br />
dass ich jetzt auch Polizistbin.<br />
Mittlerweilebin ich ja der Meinung,<br />
dass es die Polizei geben<br />
muss. Wenn meine Frau ermordet<br />
werden würde, würde ich<br />
auch wollen, dass der Täter gefasstwird.<br />
Mittlerweile?WiehabenSiedie<br />
Polizeifrühergesehen?<br />
Naja,esgabundgibtFragen,die<br />
ichmirgestellthabeunddieich<br />
mir stelle. Wasist der Staatund<br />
warum muss es ihn geben. Und<br />
wiedarfderSchutzeinesStaates<br />
aussehen. Ein Beispiel, das jeder<br />
kennt: Es gibt Menschen, die<br />
nachts um drei an einer roten<br />
Fußgängerampelstehenbleiben,<br />
obwohlkeinAuto weitundbreit<br />
zu sehen ist. Werdortstehtund<br />
aufGrün wartet, hatmeisteine<br />
komische Vorstellung vomStaat<br />
alsOrdnungsmacht.<br />
Sie wollten die Familientraditionalsonichtfortführen.<br />
Nein. Im richtigen Leben wollte<br />
ich nie Polizist werden. Umso<br />
mehrfreueichmichjetzt,esmachenzukönnen,ohneeswirklich<br />
machenzumüssen.<br />
GibtesRollen,dieSienichtspielenwürden?<br />
Darübermüssteichnachdenken.<br />
Ich habe kürzlich ein Interview<br />
mit einer Schauspielerin aus<br />
dem Film „Blauist eine warme<br />
Farbe“gelesen. Das warfurchtbar.Die<br />
vertritt eine Auffassung<br />
vomSchauspielberuf, die ich fatal<br />
finde. Ich will das Interview<br />
einscannen und ein paar befreundeten<br />
Schauspielern und<br />
Regisseurenschicken.<br />
WashatsieSchlimmesgesagt?<br />
EsgehtindemFilmanscheinend<br />
um ein lesbisches Paar.Und es<br />
gibt wohl eine zehnminütige<br />
Sexszene, in der die beiden Latexschamlippen<br />
über ihren echten<br />
hatten, damitdie dann da<br />
rumleckenkönnen.Dasfindeich<br />
schonsobizarr,dassichdasniemals<br />
machen würde. Der große<br />
PeterO’TooleistvoreinpaarWochen<br />
verstorben, „a decentman<br />
in adecentjob“. Ich kann mir<br />
nichtvorstellen,dassderjeanLatexschamlippenrumgeleckthat.<br />
Jedenfalls haben die zehn Tage<br />
an dieser zehnminütigen Sexszene<br />
gedreht. Der Regisseur<br />
kannnureinSchweinsein,auch<br />
wenn ich den garnichtkenne.<br />
Das istsomanipulativund bescheuert.<br />
Ich würde ihm sofort<br />
eine knallen. Wasglaubt der eigentlich,<br />
wer erist? Erist ein<br />
Filmregisseur.Mittlerweilegibt<br />
die Schauspielerin auch Interviews,indenensiesagt,wiepeinlichihrdasimNachhineinist.<br />
Dannhättesievielleichtvorher<br />
darübernachdenkensollen.<br />
Wenn sich Extrovertiertheitmit<br />
Dummheitpaart, entstehteine<br />
übleMischung.AberwennMenschen<br />
das gerne gucken und die<br />
Leute es gerne herstellen –meinetwegen.<br />
Nur besser ohne<br />
mich. Ich brauche immer Partner,keineChefs.<br />
WeristeinguterPartnerfürSie?<br />
AmTheaterbinichmitRenéPollesch<br />
sehr produktiv, der größte<br />
Theaterautor,denwirhaben.Als<br />
nächsteswollenwirdie„WestSide<br />
Story“ umschreiben. Grundsätzlich<br />
magich es nicht, wenn<br />
mireinriesenhaftesEgogegenübersteht,dasmirzubrüllt:„Mehr<br />
Schmerz!“ Das sollte ein Schauspielerselberwissen.Wenneseine<br />
gute Zusammenarbeit ist,<br />
dann gibt es keine Kämpfe. Ich<br />
habe dieses Gesicht, diese StimmeunddieseBewegung.Dageht<br />
dann noch plus/minus 20 Prozent.Mehrnicht.Beijedem.<br />
SindSieeitel?<br />
Das wirdüber Schauspieler und<br />
vonSchauspielerngernbehauptet,<br />
aber istmir zu allgemein. Es<br />
gibt wohl verschiedene Formen<br />
der Eitelkeit. Wasmein Äußeres<br />
betrifft, bin ich weniger eitel als<br />
früher.Wennichaberetwasmache,wasmirwirklichamHerzen<br />
liegt,treffenmichschlechteKritiken.Sogesehenbinicheitel.Ich<br />
müsstemalüberdenBegriff„Eitelkeit“<br />
nachdenken. Ich gehe ja<br />
in die Öffentlichkeit. Es gehtdabeiaberwohleherdarum,überhaupt<br />
jemanden zu erreichen.<br />
Und diesen Versuch würde ich<br />
mitdem Begriff „Eitelkeit“ belegen.<br />
ImTheaterspielenSieverstärkt<br />
Solostücke. Haben Sie dort<br />
mehr Kontrolle als beispielsweiseim„Tatort“?<br />
Das sind unterschiedliche Berufe.IndemTheater,wieichesbetreibe,<br />
wird keine kontingente<br />
Geschichte erzählt. Es gibt also<br />
keine Erzählung in Form eines<br />
konventionellen Drehbuchs wie<br />
beim Film. Im „Tatort“ zumBeispielmussderFallgelöstwerden,<br />
jedenSonntagabend.Unddasist<br />
aucheineGewissheitfürdenZuschauer,der<br />
vordem Fernseher<br />
sitzt.Egal,wieunsichermeineeigenen<br />
Verhältnisse sind, egal,<br />
wie es um meinen Arbeitsplatz<br />
steht, um meine Gesundheit,<br />
meineEhe–derFallwirdgelöst.<br />
Mittlerweilegibt es 21 „Tatort“-<br />
Teams. Die „Süddeutsche Zeitung“<br />
fragte vor einem Jahr:<br />
„Soll also die deutsche Gegenwarttagein,tagausdurchKommissareerzähltwerden,dieauf<br />
eine jeweils regionaleWasserleichestarren?“<br />
Natürlich: Gäbe es nichtsoviele<br />
KrimisimdeutschenFernsehen,<br />
danngäbeesauchnichtdieLust,<br />
diese Sendungen medial zu zerfleischen.VieleTatortesindtolle<br />
Filme, viele nicht. Redaktion,<br />
Drehbuch,RegieundSchauspiel<br />
sind sehr unterschiedlich. Und<br />
mit unserem Team und dem<br />
Sender bin ich sehr glücklich.Es<br />
gehtalsoeherdarum,obeinFilm<br />
innerhalbderGenregrenzengut<br />
oderschlechtist.Esistbillig,sich<br />
als Filmverständigen zu markieren,<br />
indem mansagt: Ich liebe<br />
FrancoisTruffaut,ichliebeJean-<br />
Aufdie Bühne<br />
„Schauspieler zu werden war<br />
der Versuch der Vermeidung<br />
einer Berufswahl. Berufe<br />
an sich finde ich absurd“<br />
LucGodard. Ich bedauere solche<br />
Leute.<br />
WelcheFilmemögenSie?<br />
Ich bewundere beispielsweise<br />
Ingmar Bergmann, ich kenne<br />
vieleseiner Filme, und dennoch<br />
ist„DieNackteKanone“einerder<br />
größtenFilme,dieichjemalsgesehen<br />
habe. Ich wargerade gestern<br />
im Kino,in„Hobbit2“. Das<br />
ist, etwas provokant formuliert,<br />
wagnerische Überwältigungskunst,alsomitdemganzdicken<br />
Pinselgezeichnet,Zwischentöne<br />
wirdman da vergeblich suchen.<br />
Der „Hobbit“ isteher wie Heavy<br />
Metal.UndichmagHeavyMetal.<br />
Hinrichs wird lauter, seine Wangen<br />
bekommen dieses Heidi-<br />
Alm-Rot,dasmanausdemFernsehen<br />
kennt. Die Leute an den<br />
Nachbartischenschauenkurzrüber.<br />
Ihm ist das unangenehm.<br />
FabianHinrichsflüstertjetzt.<br />
So etwas wie den „Hobbit“ kann<br />
in Deutschland keiner machen.<br />
Undnichtnur,weilwirnichtdas<br />
Gelddafürhabenundkeineninternationalen<br />
Markt für die<br />
meisten unserer Filme. Ich würde<br />
behaupten, dass hier keiner<br />
weiß, wie so etwas geht. Und es<br />
gibt Serien und Filme ausSkandinavien,<br />
mit denen sich die<br />
meisten heimischen Produktionen<br />
nicht messen können. Da<br />
kann mandann mitHölderlin<br />
kommen: „Handwerker siehst<br />
du,aber keine Menschen.“ Wir<br />
Deutsche machen tolle Waschmaschinen<br />
und Autos. Aber wir<br />
haben keine ausdifferenzierte<br />
Populärkunst. Das heißt nicht,<br />
dasshiernurIdiotenrumlaufen.<br />
Aber wenn manamSamstagabendFernsehenschaut,dannist<br />
daskrassundbeklemmend.Und<br />
dann kommt Barbara Schönebergerundsagt,siefindetVolksmusiksendungen<br />
voll okay,weil<br />
die Leute das sehen wollen. Das<br />
istzynisch.<br />
■ Dominik Drutschmann, 29, liebt<br />
den „Tatort“ nicht<br />
■ Wolfgang Borrs, 52, guckt den<br />
„Tatort“ immer<br />
........................................................................................................................................................................................................<br />
........................................................................................................................................................................................................<br />
Fabian Hinrichs<br />
■ Der Mensch: Fabian Hinrichs<br />
wurde 1974 in Hamburggeboren.<br />
In seiner Familie werden die Männer<br />
häufig Polizisten, er studierte<br />
zunächstJurainHamburgund<br />
wurde anschließend in Bochum an<br />
der Westfälischen Schauspielschule<br />
ausgebildet. Hinrichs wohntin<br />
Berlin.<br />
■ Der Schauspieler: Von2000 bis<br />
2005 gehörte Hinrichs zumEnsemble<br />
der Berliner Volksbühne<br />
und tritt seither an allen großen<br />
deutschen Bühnen auf.ImSpielfilm<br />
„Sophie Scholl –Die letzten<br />
Tage“ spielteer2005 den Hans<br />
Scholl. 2010 zeichnete ihn die Zeitschrift„Theater<br />
heute“ fürseine<br />
Rolle in René Polleschs Solostück<br />
„Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher<br />
Verblendungszusammenhang!“<br />
als „Schauspieler des<br />
Jahres“ aus.Seine Karrierebeim<br />
„Tatort“begann2012alsAssistent<br />
Gisbertdes Münchner Ermittlerteams,2014wirderselbstChef–<br />
beim Franken-„Tatort“.
Ausder taz<br />
34 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple www.taz.de | ausdertaz@taz.de UNSERE COMMUNITY | sonntaz<br />
Aus der taz<br />
DasMedienhausanderRudi-Dutschke-Straße:Analysen,<br />
Lob,Renovierungen–undeinBlickaufAusbildungslagen<br />
ONLINEDietazsuchtefüreinVolontariatimOnline-BereichBewerberInnen–<br />
undbekamsehr,sehrvielPostvonallerhöchstgeeignetenKandidatInnen<br />
MITARBEITER DER WOCHE: JOCHEN RONIG<br />
Der Graswurzelmeister der taz<br />
EineAusbildungfürdieZukunft<br />
Journalismus ist wie die Sichtung von Bewerbungen auch ein –Auswahlprozess Foto: Boris Geilert/Gaff<br />
VON FRAUKE BÖGER<br />
Die Zukunft des Journalismus<br />
soll ja in Gefahr sein, hörtman.<br />
DasscheintdieZukunftdesJournalismusabernichtzujucken.Jedenfallssinddadraußenhaufenweise<br />
junge Menschen, die sich<br />
nichts anderes wünschen, als<br />
denBerufdesJournalistenzuergreifen.<br />
Nichteinfach als Selbstbehauptung,<br />
sondern so richtig<br />
mitAusbildungundso.<br />
AufunsereAusschreibungfür<br />
einVolontariatmitSchwerpunkt<br />
Online haben sich gut150 Menschen<br />
beworben. Mindestens<br />
zweiDrittelvonihnenhättenwir<br />
sofortnehmenkönnen.Wasman<br />
mitMitte 20 schon alles hinter<br />
sich gebracht haben kann, ist<br />
durchaus beachtlich: Drei<br />
Fremdsprachensindmittlerweilenormal(undSpanischistkeine<br />
besondereSprachemehr),Studium<br />
istkeine Frage(die klassischen<br />
Laberfächer), gutorganisierte<br />
Auslandsaufenthalte auch<br />
nicht–und dann natürlich ein<br />
Praktikumnachdemnächsten.<br />
Vielleicht kratzt es die Zukunft<br />
auch nicht, dass niemand<br />
ERFRISCHTES TAZ CAFÉ<br />
Warme Küche<br />
Die KollegInnen des taz Cafés<br />
hatten ihre Feiertag-und-zwischen-den-Jahren-Ferien<br />
ja verdient–wer<br />
so gutserviertund<br />
kocht, soll auch tüchtig urlauben.<br />
Donnerstag ist der Laden<br />
wieder offen –dann öffnet der<br />
Gastrotempel im taz-Haus wieder.<br />
Die Pause war nötig, weil<br />
nachJahrendasstylisheRestaurantcaférenoviertwerdenmusste<br />
–als Akt der Erfrischung. Was<br />
mittags gekocht werden wird?<br />
Küchenchef Christoph überlegt<br />
noch:SollesFischgebenoderVegetarisches?<br />
Kuchen, Tapas und<br />
Keksegibt es aufjeden Fall. Und<br />
dieKollegInnen,dieausihrenFerienzurücksind!<br />
■ Endlich wieder speisen im taz-<br />
Haus? Hier die Karte fürden 2. und<br />
3. Januar: www.taz.de/tazcafe<br />
Neulich habe er den neuen Film<br />
der Coen-Brüder gesehen, „InsideLlewynDavis“.Ihmleuchten<br />
ein wenig die Augen, als er dies<br />
aufdemWeginstazCaféerwähnte:DieGeschichtederLiedermacherei<br />
im VillageNew Yorksvor<br />
der Entdeckung des Folks als<br />
marktgängig, hat<br />
ihm gefallen. Das<br />
musste bei diesem<br />
Film wohl auch so<br />
sein: Für Jochen Ronig<br />
istesauch eine<br />
Story der eigenen<br />
Generation beziehungsweise<br />
jener,<br />
die sich in dieser<br />
Kultur gern wiedererkennenwollten.<br />
Geboren 1957 in<br />
Duisburg, drei Geschwister,Gymnasium<br />
mit Lieblingsfach<br />
Mathe, Ausbildung<br />
im Kaufhaus,<br />
Bundeswehr, Fahnenflucht–und<br />
ab<br />
ins damals noch insulare und<br />
nichtvon Bundeswehrpflichten<br />
eingenommene Westberlin. Typisch<br />
für einen wie ihn, der von<br />
einer besseren Welt schon<br />
träumte, als er noch im Ruhrgebiet<br />
lebte und hoffte, dass der<br />
hippieske,derfriedlicheWegder<br />
Illustration: Christian Specht<br />
........................................................................................................................................................................................................<br />
weiß,wielangesichechterJournalismus<br />
nach klassischem Pa-<br />
einem sofortrausrutscht, wenn richtigeseinwürde.<br />
vertrauten,etwassteifenTon,der<br />
........................................................................................................................................................................................................<br />
Qualifiziertinder taz<br />
■ Nur in individuell geeigneten<br />
Ausnahmefällen bietetdie taz<br />
AusbildungsplätzeinLehrberufen<br />
wie fürVerlagskaufleute oder Mediengestalter<br />
an. Dassesklappen<br />
kann, davonkönnen in 35 Betriebsjahren<br />
eine Handvoll Mitarbeitende<br />
piermuster noch finanzieren<br />
lässt,weilsiesonstkeineIdeehat,<br />
wassie machen will? Könnte ja<br />
sein.InallenanderenBereichen,<br />
in denen Geisteswissenschaftler<br />
wirken könnten, siehtesjaauch<br />
nichtsosuper ausmit unbefris-<br />
mandas Wort Bewerbung auch<br />
nurdenkt.Dahatsichalsonichts<br />
geändertundwirdeswohlnie.<br />
Dass es sich um ein Online-<br />
Volontariathandelt,hattenallerdings<br />
die wenigsten so richtig<br />
aufdemSchirm.WaszweiGrün-<br />
Mitte der achtziger Jahre begannereinStudiumanderheutigen<br />
Universität der Künste,<br />
Fachbereich Gesellschafts- und<br />
Wirtschaftskommunikation.<br />
Wasauchimmererdortlernte–<br />
das Graswurzelige, das Lieder-<br />
berichten. tetenStellenundAltersvorsorge. de haben kann: Sie haben darüpiermuster<br />
■ Anders in der Redaktion. Gut 20 Denndasistihrbestimmtwichtig,<br />
ber nicht weiter nachgedacht,<br />
PraktikantInnenbevölkerntäglich<br />
dieser Zukunft. Sie machtes weil es für sie nicht überraber<br />
die verschiedenen Ressorts.Für ordentlich: kaum Brüche im Lebenslauf,<br />
schendist.Oderesistihnenegal,<br />
mindestens zwei Monate,denn<br />
geradeaus aufdas Vo-<br />
HauptsacheeineAusbildung.<br />
darunter lohnte sich der Aufwand lontariatzuundschondieFrage Die Entscheidung, werdenn<br />
fürdie Betreuung nicht. Werdabei aufdenLippen,obmandenndanachauchübernommenwird.<br />
nundas Volontariatbekommen<br />
das geforderte und förderliche<br />
soll,istunsjedenfallsnichtleicht<br />
Selbstbewusstsein mitbringt, Man würde dieser Zukunft gefallen. Und nunzusagen, um<br />
kann sich sehr schnell als Mitglied gerne sagen: Mach dich locker, all diese Menschen müsse man<br />
eines journalistischen Netzwerks fahrdochmalraus,verfahrdich sich aber keine Sorgen machen,<br />
fühlen. Entsprechend lang istdie und schau, wie du zurückkommst–wenn<br />
würdevermutlichEmpörungbei<br />
Liste der Bewerbungen.<br />
du dann noch eben diesen auslösen: Denn nur<br />
■ Darüber hinaus werden durch zurück willst. Aber das wäre weil jemand bisher alles so ge-<br />
die taz-Redaktion systematisch furchtbar altklug, und die jungen<br />
machthat,wieeseinBerufsbera-<br />
drei bis vier VolontärInnen ausgebildet,<br />
Leute würden es wohl nicht tervorschlagenwürde,heißtdas<br />
einige stammen aus den annehmen, sie sind viel zu entschieden.Oderzuunsicher?Das<br />
nochlangenicht,dasserodersie<br />
Journalistikfachbereichen der<br />
selbstbewusst wäre. Wie auch?<br />
Universitäten Leipzig und Dortmund.<br />
lässtsich nichtsorichtig rausle-<br />
Die Zukunft des Journalismus<br />
Anderebewerben sich aus senausdenhübschenLebensläu-<br />
solljainGefahrsein,hörtman.<br />
Journalistenschulen oder auch fen. Diese sehen übrigens noch<br />
über Ausschreibungen der taz immer sehr klassisch aus, auch ■ Frauke Böger, 31, leitet –mit Julia<br />
Panter Stiftung ins Haus. (abu) die Anschreiben haben diesen<br />
Niemann –taz.de<br />
macherische haterwahrscheinlich<br />
schon immer draufgehabt.<br />
Kommunikationauf die direkte<br />
Weise,ohnevielinstrumentelles<br />
Gewese, betreibt er seitJahren<br />
auch in der taz. Jochen Ronig ist<br />
in der Marketingabteilung für<br />
den wöchentlichen Newsletter<br />
der taz, der Le Monde<br />
diplomatique,<br />
für Briefaktionen<br />
und Briefe an die<br />
AbonnentInnen zuständig.<br />
Seine Spracheistdirekt,unverblümtund<br />
freundlich<br />
–KundInnen<br />
von Medien aus<br />
demtaz-Hausschätzen<br />
seine Rundbriefe.<br />
Immer in seinen<br />
Jahren seit der<br />
Fluchtvor den Feldjägern<br />
hat erin<br />
Kreuzberg gelebt –<br />
traditionell so eine<br />
Art Village Berlin.<br />
Mal in eheänlichen Verhältnissen,malinMini-WGs,malallein.<br />
Und vorwenigen Wochen hat<br />
Jochen Ronig mitdem Gitarre<br />
spielen angefangen. Er sagt:<br />
„Nach35JahrenPause.Alsersten<br />
Song habe ich mir ‚Buffalo<br />
Springfield‘ vonNeil Young vorgenommen.<br />
Klingt auch nach<br />
zwei Wochen Überei noch<br />
schräg.“ Als ob es aufPerfektion<br />
ankäme!<br />
JAF<br />
■ Fragen zu taz-MitarbeiterInnen<br />
der Woche? Mailen Sie uns:<br />
ausdertaz@taz.de<br />
Springer in Transformation<br />
DIGIZUKUNFTDenangeschlagenenRufzubessern,ist<br />
vielschwierigeralsjederKampfumMarktanteile<br />
NachdenInsolvenzenderFrankfurter<br />
Rundschau, der Financial<br />
Times Deutschland und der<br />
Nachrichtenagenturdapdvoreinem<br />
Jahr fuhr ein Schrecken<br />
durch die Zeitungsredaktionen.<br />
WardasnunderAnfangvomUntergangvonGewerbeundBeruf?<br />
Inzwischen weiß man, es waren<br />
Fälleverfehlter Unternehmensstrategien,<br />
bei denen nach langem<br />
Hinhalten die Reißleinen<br />
gezogen wurden. Der<br />
Satz vom Schuss,<br />
den man gehört<br />
habe, gehört<br />
aber seither<br />
zumVokabular<br />
der Veränderung<br />
in jedem<br />
Verlag, so viel<br />
Bewegung wie<br />
heutewarnie.<br />
Einen Verlag<br />
gibt es jedoch,<br />
der einem das<br />
Foto: Anja Weber<br />
telschonverlassenundsitztjetzt<br />
irgendwoamKu’damm.<br />
EinDezemberabendimDeutschen<br />
Architekturzentrum. Präsentiertwerden<br />
drei vorläufige<br />
GewinnereinesWettbewerbsfür<br />
einen Springer-Campus neben<br />
dem Axel-Springer Haus. Vorstandsvorsitzender<br />
Mathias<br />
Döpfner beschreibt seltsam<br />
nachdenklich, fast zurückhaltenddieIdeedesProjekts,Räume<br />
für die neuen digitalen<br />
Unternehmungen<br />
des Konzerns mit<br />
Beziehungen zur<br />
altenZentralezu<br />
schaffen.Diedigitale<br />
Zukunft<br />
istkeinesichere<br />
Bank. Ganz und<br />
garnichtzurückhaltend<br />
sind die<br />
Gefühl gibt, es<br />
hätte dieses Schusses nichtbedurft.<br />
Axel Springer istpermanentinBewegungundVorreiter<br />
der Transformation, weg von<br />
Print,hinzumDigitalen,wasangesichts<br />
der Auflagen-Fallhöhe<br />
der Kernmarke Bild nurzuverständlichist.ÜberBezahlmodelle<br />
im Internet redet mannicht<br />
lange,sondernprobiertsieinder<br />
Realität des Internets aus. Ein<br />
PrintpaketausregionalenTageszeitungen<br />
und sämtlichen Zeitschriften<br />
wirdgleich im Milliardenumfang<br />
geschnürtund zum<br />
Verkaufgestellt. Die traditionsreiche<br />
Berliner Morgenpost hat<br />
ihrenSitzimaltenZeitungsvier-<br />
vorgestellten<br />
Entwürfe. So<br />
wie einst der<br />
Bau des Springer-Hochhauses<br />
direkt an der<br />
Mauer senden sie vorallem ein<br />
Signal der Überlegenheit aus.<br />
Aberanwen?<br />
InkeinerOrganisation,keiner<br />
Partei, keiner Redaktion sitzen<br />
heutesovielealteAchtundsech-<br />
zigerzusammenwieinderAxel-<br />
Springer-Straße, beschäftigt mit<br />
demeinenProjekt,derTransformation<br />
des Images des Verlags.<br />
Das istein noch schwierigeres<br />
VorhabenalsdieDigitalisierung.<br />
DasAltewilleinfachnichtweg.<br />
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Geschäftsführer, liest gern auf<br />
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HermannvonPückler-Muskau:<br />
SemilassoinAfrika<br />
EineReisedurchNordafrikaimJahr1835.<br />
InAlgerienbeganndiemehrjährigeReise<br />
PücklersrundumdasMittelmeer.Durchseine<br />
HerkunftstandendemFürstenTürenoffen,die<br />
kaumeinandererReisenderungestraftdurchschreitenkonnte.Ebensofachkundigwiedie<br />
politischeSituationbereitetdergroße,ironische<br />
StilistdievieltausendjährigeBesiedlungsgeschichteNordafrikasfürunsauf.<br />
»Pücklervertrittwieneben<br />
ihmnurnochGoethedie<br />
kosmopolitischeTendenzdeutscherKulturundLiteratur.«<br />
(HeinzOhff,Pückler-Biograph)<br />
ISBN9783941924031,<br />
736Seiten,Leinenim<br />
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36 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple www.taz.de | reise@taz.de REISE | sonntaz<br />
SCHOLLE 2014 HatsichdasReisenüberholt?VisionenfürdenAusstiegausdemRattenrennenderVielfliegerei<br />
Endlichdaheim!<br />
VON CHRISTEL BURGHOFF<br />
UND EDITH KRESTA<br />
Die„BigVisioniers“treten<br />
in Aktion: Eine findige,<br />
erfolgsorientierte Szene<br />
vontouristischen Großveranstaltern<br />
will den Tourismusumgestalten<br />
–mit Unterstützung<br />
der Welttourismusorganisation<br />
(WTO) und unter<br />
recht verhaltenem Beifall der<br />
Kirchen und NGOs. Corporate<br />
Social Responsibility (CSR),<br />
Nachhaltigkeitund die RenaissancederNähesindihreLeitworte.<br />
Das globaleNetzwerk der Big<br />
Visioners,aufDeutschGroßvisionäre,<br />
hatkonkrete Vorstellungen<br />
für diesen Strukturwandel<br />
entwickelt: Zurück zur Scholle,<br />
backtotheroots,lautetdieParole<br />
der Unternehmen: „Scholle<br />
2014“.<br />
Undalswärendiegutenalten<br />
Sozialtugenden in die jungen<br />
Manager von heute gefahren,<br />
kümmernsiesichjetztum„wahreWerte“.Siewollennichtlänger<br />
Surrogate liefern, sondern Ursprünglichkeit,<br />
Authentizität,<br />
Nähe, Region, Land. Die I-Worte:<br />
Intimität, Introvertiertheit, IntensitätundInteraktionstattder<br />
E-Worte: Extroversionen, Extrem,EklektienundExotiken.<br />
Gründe gibt es viele: Die zunehmend<br />
unsichere Weltlage<br />
und der weltumspannende Terrorismushabendiewirtschaftliche<br />
Zuversicht der Unternehmen<br />
irritiert, ihre Geschäfte<br />
an fernen Gestaden gefährdet.DieunsicherenReisewege<br />
des Mittelalters grüßen<br />
die Reisezukunft.<br />
Die zunehmende<br />
Kritik<br />
an Umweltverschmutzung,<br />
unfairen Arbeitsbedingungen,anderZweckentfremdung<br />
fruchtbaren Landes<br />
für schickeClubs, des raren<br />
GutesWasserfürGolfplätze,<br />
die Zerstörung der Küsten,<br />
taten das Ihrige.<br />
UnddieKlimabilanz<br />
des Tourismus ist<br />
katastrophal.<br />
Werrund um<br />
die Welt<br />
fliegt für<br />
sein Vergnügen,<br />
verpulvert<br />
Ressourcen<br />
und hinterlässt<br />
Spuren,<br />
die durch<br />
nichts zu kompensie-<br />
rensind.AuchnichtvonAtmos-<br />
SiewollendasLand<br />
alsdenwahren<br />
Gefühlsraumerschließenundverkaufen<br />
fair. Nach Expertenmeinung<br />
trägt der weltweite Tourismus<br />
rundneunProzentzudenglobalen<br />
Emissionen bei. Ist esdas<br />
wert,dasReisenindieFerne?<br />
Das touristische Universum<br />
vongestern warein modernes<br />
Haus: gemütlich und bequem<br />
ausgestaltet, von der Kellerbar<br />
überdieSaunabiszurbegrünten<br />
undverglastenTerrasse.Aufden<br />
Frühstückstischen fehlte nirgends<br />
das Nutella-Döschen –ob<br />
in Surinam, am Nordkap oder<br />
aufTrinidad.KosmischeGemütlichkeit.<br />
Langweile. Überall dieselben<br />
Standards, dasselbe Lebensgefühl,<br />
derselbe Lebensstil.<br />
EinZustand,indemdieWeltund<br />
dieReiselustzunehmendvordie<br />
Hundegehen.<br />
DieErotiksowieso.DerTourismus<br />
betreibe Raubbau ander<br />
wichtigsten Ressource unseres<br />
Lebens,derErotik,sagtbeispielsweise<br />
der Kulturwissenschaftler<br />
Bruno August Krümpelmann.<br />
Organisierter Tourismus kanalisiere<br />
Verführungen und Normabweichungen,<br />
indem er Eigenbewegungverhindert.Ertilgedie<br />
freien Räume über die<br />
schnelle Anreise und<br />
Illustrationen: Christian Barthold<br />
die Besetzung<br />
des Urlaubsraumes mitorganisierten,<br />
verdichteten Aktivitäten.<br />
Die Traumreisen der VeranstalterseieneinvirtuellerErsatz<br />
für unsere konkreten Triebziele.<br />
Zeit ist Geld. Im organisierten<br />
Tourismus gehen so die freien<br />
Gestaltungsoptionen verloren.<br />
AbergenaudasliebtErosbesonders.<br />
Eros, das istfür Krümpelmann<br />
der Flow,die schöpferische<br />
Kraft, die Herausforderung,<br />
die Zeit<br />
braucht, um sich voll<br />
zu entfalten. Die<br />
Lust schlechthin.<br />
Diese suchendieUrlauber<br />
aber<br />
vergeblich.<br />
Verständlich,<br />
dass sie<br />
nur noch<br />
lustlos buchen.<br />
Das<br />
Umdenken<br />
der Manager<br />
trifft also aufdiese<br />
harteRealität.Aufdie<br />
Bedürfnisse der Touristen<br />
selbst. Dem wachsenden<br />
Bedürfnis nach<br />
mehrHeimeligkeit,nach<br />
Sinn, Ruhe, Entspannung,<br />
Entschleunigung,<br />
Familie, nach dem Ausstieg<br />
aus dem rasenden<br />
Stillstand. Die Antwort ist<br />
Landlust. Der Trend der<br />
Trendsetter. Jene<br />
sagenumwobenen<br />
Großstädter miteinem Hang zu<br />
einemnatürlichenundnachhaltigen<br />
Lebensstil –und dickem<br />
Portemonnaie. Diese Hoffnungsträger<br />
des grünen Konsums,diefastschonvergessenen<br />
Lohas (Lifestyle of Health and<br />
Sustainability),dieerlebnis-und<br />
welthungrigen Vielflieger,diese<br />
Protagonisten vonLifestyle,Gesundheit<br />
und Nachhaltigkeit,<br />
stehenlängstaufLandlust.<br />
MitVollgas in den Hobbykeller.GrassierendeNaturlust.Obst<br />
und KüchengerätezuStillleben.<br />
VerwunscheneWeiher zurDämmerstunde.<br />
Filigrane Gräser im<br />
Frostmäntelchen. Sternehäkeln<br />
zum Wohlfühlen. Stille. Alles<br />
ruht.Kräutersegen.LichtfürsLeben.<br />
Blumenparadies für Balkonien<br />
oder ich mache euch eine<br />
Kerze. Singen macht glücklich.<br />
Der Einödhof mitdrei GenerationenindergutenStubealsIdeal.<br />
DieMagiedesGartens.„Anlauen<br />
Abenden sollen in Tontöpfen<br />
Kerzen brennen, in den BaumkronenbunteLampionshängen.<br />
Ein Glas Rosensekt lässig in der<br />
Hand, sollten alle dem Zauber<br />
des Gartens erliegen. Buffets<br />
wollte ich erstellen, Sehnsüchte<br />
wecken, mitallen Sinnen sollte<br />
der Garten genossen und dabei<br />
der Alltag vergessen werden“,<br />
schreibt beispielsweise Marina<br />
UhlimLandlust-Magazin.Natur-<br />
liebe,modesteKleidung,<br />
Skepsis gegenüber falschem Luxus,<br />
postmaterielle Besinnlichkeit<br />
und die Liebe zum„Do it<br />
yourself“ –all das verspricht<br />
Notausgänge auseinem RattenrennenderVielfliegerei.<br />
Das schlichte Naturerlebnis<br />
warder Aufhänger des touristischen<br />
Leitbildes der Unterneh-<br />
ANZEIGE<br />
men: „Scholle 2014“. Wer aber<br />
glaubt, dass Wandern und Radfahren<br />
schon alles sind, der hat<br />
die Fantasie der Macher unterschätzt.<br />
Die Big Visioniers, die<br />
unterdemLabelderNachhaltigkeit<br />
agieren und Qualität und<br />
VerantwortungimneuenTourismuspropagieren,wetteifernmit<br />
weltweiten Thinktankszur Rettung<br />
des Globus. Sie wollen das<br />
Land als den wahren Gefühlsraum<br />
erschließen und verkaufen.<br />
Kein Krümel Scholle, der<br />
jetzt nichtumgedrehtwird, um<br />
ein findiges Angebot zu entwickeln,keinlandaffinesBedürfnis<br />
dertrendigenLohas,dasnichtals<br />
Konsumprodukt aufden Markt<br />
geworfen werden könnte.<br />
DievisionäreAngebotswelle<br />
derweltweitvernetztenTouristiker<br />
will dem Engagementfür<br />
Naturund Umwelt,<br />
regionalen Projekten, Burnout,<br />
Sinnsuche und Nähebedürfnissen<br />
gerechtwerden.<br />
Die Provinz soll sich zu neuen<br />
Gastlandschaften wandeln,<br />
die die touristischen<br />
Heimkehrer mit offenen Armen<br />
und vorallem mitganz<br />
neuen Versprechen empfängt.<br />
Man munkelt: Deutschlands<br />
größter Reiseveranstalter<br />
habesichgeradedieOptionfür<br />
die meisten der 2.000 herrschaftlichen<br />
Wohnsitze in<br />
Mecklenburggesichert.Erplane<br />
dortintime Kontakträume: vom<br />
Swinger-, Swing- bis Singclub.<br />
Manmunkeltauch,dassKoreain<br />
deutsche Klöster investiert, um<br />
Wellness und Sinnfindung zu<br />
professionalisieren. IndustriebrachenwerdenzuKräutergärten<br />
für Gottes Apothekeaus der Natur.<br />
Abgehängte Regionen von<br />
ChemnitzüberBochumbiszum<br />
SaarlandsollenzuWildbeobachtungsstätten<br />
in ZusammenarbeitmitdenNaturschutzverbändenwerden,einDritteldavonals<br />
Jagdrevier,umechtesTötenund<br />
Überleben in der Wildnis zu lernen.<br />
In abgehängten Landstrichen<br />
wie Mecklenburg oder<br />
BrandenburgblühendieIdeen.<br />
UndneueStandardssollengesetztwerden,auchfürSchweine.<br />
Beispielsweise in Brandenburg.<br />
DennaufderAgendadertouristischen<br />
Unternehmen: „Scholle<br />
2014“stehtjetztauchderSchutz<br />
unserer Mitwelt, das EngagementfürgesunderegionaleProdukte<br />
und selbstverständlich<br />
auch für das stressfreie Züchten<br />
und Schlachten vonSchweinen.<br />
Die ersten großen Schweinemaststättenmusstenschonnach<br />
Polenausweichen.<br />
Kuschelige Welt,die die lange<br />
vernachlässigten Bedürfnisse<br />
der modernen Menschen nach<br />
echterHeimaternstnimmt,aufgreift,umsetzt?DramadesEros?<br />
Die ganze Geschichte nur ein<br />
Fake?<br />
Wirwartenab.
sonntaz |REISE<br />
www.taz.de | reise@taz.de apple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 37<br />
GESCHICHTEDieErfindungderPauschalreisen,KraftdurchFreude,FDGB-Ferien,TUI–einkurzer<br />
Abrissdesorganisierten,modernenTourismusundseinerEntwicklunginDeutschland<br />
Tourismus–vomPrivilegzumLebensstil<br />
Währendder<br />
WeimarerRepublik<br />
stiegdieZahlvon<br />
Urlaubstagen<br />
auchbeiArbeitern<br />
aufachtbis<br />
zwölfTage<br />
lungzumerstenMaldiekulturelle<br />
Bedeutung der Freizeitinden<br />
Mittelpunkt. Am 8. 1. 1963 tritt<br />
ein einheitliches Urlaubsgesetz<br />
inDeutschlandinKraft.Allehatten<br />
erstmalig Anspruch aufbezahlten<br />
Urlaub. Die DemokratisierungdesReisensbegann.<br />
DDR: Hauptsächlich<br />
Betriebeundstaatliche<br />
Institutionen<br />
organisierten Reisen,<br />
nach Rügen,<br />
Usedom oder in<br />
den Thüringer<br />
Wald. Der größte<br />
Reiseveranstalter<br />
war<br />
der Feriendienstdes<br />
Freien Deutschen Gewerkschaftsbunds<br />
(FDGB) mit eigenen<br />
FDGB-Ferienheimen. ZweitgrößterAnbieterwarendiestaatlichen<br />
Campingplätze. Daneben<br />
gabesals Volkseigenen Betrieb<br />
(VEB)dasReisebüroderDDRund<br />
ab 1975 Jugendtourist, das Jugendreisebüroder<br />
Freien DeutschenJugend(FDJ).<br />
Massentourismus:1963stiegJosefNeckermanninsFlugreisegeschäftein.Erperfektioniertedie<br />
industriellen Methoden für den<br />
Reiseverkehr.Neckermann wurdezumSynonymfürMassentourismus.DerPreiswurdezumwe-<br />
sentlichen Marketinginstrument.MitderLiberalisierungdes<br />
Binnenmarktes in Europa verschärften<br />
sich für Reisebüros,<br />
Hotels und Fluggesellschaften<br />
die Wettbewerbsbedingungen.<br />
EsentstandenGroßkonzernewie<br />
TUI/HapagLloyd mitdem amerikanischen<br />
Reisekonzern Carlson<br />
und dem britischen Reiseund<br />
Finanzkonzern Thomas<br />
Cook.Wer jetzt reistund bucht,<br />
landet fast zwangsläufig irgendwo<br />
weltweit bei einem TUI-Produkt.<br />
ED<br />
...............................................................<br />
EDITH KRESTA<br />
AUFGESCHRECKTE<br />
COUCHPOTATOES<br />
EswarLiebe,<br />
Sexauch<br />
Die Pauschalreise: 1841 organisierte<br />
Thomas Cook –Tischler,<br />
Wanderprediger,Alkoholgegner<br />
–eine Bahnreise für 570<br />
Temperenzler von Leicester<br />
ins zehn Meilen entfernte<br />
Loughborough. Im Preis inbegriffen<br />
waren Musikkapelle, Tee<br />
und Schinkenbrote. Schon bald<br />
schickte der Tourismuspionier<br />
die ersten Pauschalreisenden<br />
vonLondon nach Paris, in die<br />
Schweiz und nach Italien. Diese<br />
neue Form des Reisens war<br />
dank organisierter Planung<br />
bequemer, dank Mengenrabatt<br />
billiger –und damitauch<br />
für das wachsende Bürgertum<br />
erschwinglich.AusdemReisenden,<br />
der einmal im Jahr individuell<br />
in die Sommerfrische<br />
fuhr,wurdederTourist.<br />
Zögerliche Demokratisierung:<br />
Bis weit ins 20.<br />
Jahrhundertblieb das Reisen<br />
ein Vergnügen für Angehörige<br />
der privilegierten<br />
Stände,desAdels,Besitzbürgertums<br />
und später Beamten.<br />
Für die Mehrzahl der<br />
Angestellten und fast alle<br />
Beamten war der Anspruch<br />
auf Jahresurlaub<br />
bis 1914 durchgesetzt.<br />
WährendderWeimarerRepublik<br />
stieg die durchschnittliche<br />
Zahl vonUrlaubstagen auch<br />
bei Arbeitern aufachtbis zwölf<br />
Tage;fastalleArbeiterhattenAnspruch<br />
aufbezahlten Jahresurlaub.<br />
Jedochbekamen meistnur<br />
ältereBetriebsangehörigesoviel<br />
Urlaub, dass sie tatsächlich eine<br />
längere Reise hätten antreten<br />
können.<br />
Kraft durch Freude: Die Nationalsozialisten<br />
verlängerten den<br />
UrlaubaufzweibisdreiWochen<br />
proJahr.Am14. November 1933<br />
genehmigte Hitler die Pläne für<br />
ein Freizeitwerk. Ein „nervenstarkes<br />
Volk“ und die „Veredelung<br />
des deutschen Menschen“<br />
wollte man erreichen, indem<br />
man der arbeitenden Bevölkerung<br />
eine bemessene, durchstrukturierte<br />
Freizeitanbot. Die<br />
Arbeitsleistung und Produktivitätsolltengesteigertwerden,die<br />
Volksgesundheitsolltesich verbessern.<br />
Nichtlasterhaftes, verweichlichendes<br />
„Vergnügen“,<br />
sonderngesunde„Freude“sollte<br />
demArbeiter„Kraft“geben.<br />
Bundesrepublik:1956stellteder<br />
MetallerOttoBrennerbeimKongress<br />
des Deutschen Gewerkschaftsbunds<br />
neben dem gesundheitlichenAspektderErho-<br />
SeitMonikaden Film „Paradies/Liebe“vonUlrichSteidl<br />
gesehen hat, glaubt sie gar<br />
nichtmehr an die Liebe an fernenStränden.Zweimalhatsiees<br />
versucht. In Ägypten. Enttäuschend.<br />
Der Film habe ihr den<br />
Restgegeben. „Völlig deprimierenddiesegegenseitigeAusbeutungundfalschenErwartungen<br />
zwischen älterer, alleinstehenderEuropäerinundknackigem,<br />
aber armem Einheimischen“,<br />
sagt sie. Sie habe wieder auf<br />
Hausmannskostumgestellt, gestehtsiebeimdrittenGinTonic<br />
undtristerJahresendstimmung.<br />
Markus sah gutaus. „Groß,<br />
breitschultrig, grüne Augen,<br />
dichtes, blond gelocktes Haar“,<br />
schwärmtsie.EinCharmeurund<br />
Abenteurer.Einer,dereigentlich<br />
alleinreist,denKilimandscharo<br />
besteigt,nichtsanbrennenlässt.<br />
InihrerPortugal-Radgruppewar<br />
er der Reiseleiter.Von allen Damengeliebtundbegehrt.<br />
SiekuscheltenbeiSonnenuntergang,<br />
warfen Steinchen ins<br />
Meer, tranken Rotwein beim<br />
Kerzenschein,wenndieanderen<br />
schliefen.DieZeitschienunendlich,<br />
der Himmel so blau, der<br />
Mann großzügig, einfühlsam,<br />
stark, klug. Unbeschwertheit,<br />
Romantik, Leidenschaft. Beim<br />
SexhabesieindenzweiWochen<br />
nachgeholt,wassiedenRestdes<br />
Jahres vernachlässigt habe,<br />
strahltMonika.<br />
Immerhin. Dass auch der<br />
braun gebrannte Traumprinz<br />
zumFrosch wurde, lagamRegen.EinBuchungsfehlersozusagen.MitfehlenderSonne–kein<br />
WunderMitteOktober–erlosch<br />
auch sein Glanz. „Als nichts<br />
mehr so klappte wie geplant,<br />
wurdeernervös“,seufztMonika.<br />
„Unfreundlich, unangenehm.“<br />
Undalssieauchnochvölligunschuldig<br />
die Schönheit eines<br />
portugiesischen Kellners lobte,<br />
andessenBarsiedenverregneten<br />
Nachmittag abgehangen<br />
hatten, zogersie ununterbrochenbeleidigtmitihrem„elGuapo“<br />
auf. Immer wieder.Bis sie<br />
genervt die Lust verlor aufihn,<br />
anihmundvorallemanseiner<br />
kleinlichenGekränktheit.<br />
Männer,besonders Platzhirsche,könnenKomplimenteoder<br />
Blickefür einen anderen nicht<br />
ab“, trösteich.UndLiebeaufReisenseisowiesoseltenzukunftsfähig.<br />
„Liebe zu Hause auch<br />
nicht“, seufzt Monika und bestelltdenviertenGinTonic.<br />
REISEN<br />
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schöne Buchten, Thermalquellen, antike Stätten.<br />
Familiär,erholsam www.linus-apart.de
38 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple www.taz.de | medien@taz.de TV-PROGRAMM | sonntaz<br />
TAGESTIPP<br />
SONNABEND:<br />
WIR ERINNERN AN DIE TOTEN DES JAHRES: „EIN FALL FÜR ZWEI“ (1981–2013), „HARBURGER ANZEIGEN<br />
UND NACHRICHTEN“ (1844–2013), „FORSTHAUS FALKENAU“ (1989–2013), DAPD (2010–2013) …<br />
Fotos: MDR; ZDF (rechts)<br />
Jaja, die Zeit. Mal rast sie,„schon wieder ein Jahr<br />
rum!“,malschleichtsie,„nochdreiTage!“.Bevor<br />
wir uns in jahresendzeitlicher Küchenphilosophie<br />
verlieren: Fernsehen gucken. Angenehm<br />
unsentimentaler Rückblick auf die 2013 Verschiedenen:<br />
Carmen-Maja Antoni (Foto) etwa.<br />
■ „Abschied istein leises Wort“, 20.15Uhr,MDR<br />
ARD<br />
8.00 Checker Can<br />
8.25 neuneinhalb<br />
8.35 Die Pfefferkörner<br />
9.05 Die Pfefferkörner<br />
9.35 Olympische Winterspiele Sotschi<br />
2014<br />
20.00 Tagesschau<br />
20.15 Klein gegen Groß –Das unglaubliche<br />
Duell<br />
23.15 Tagesthemen<br />
23.40 Iron Man. Comicverfilmung,<br />
USA 2008.Regie: Jon Favreau.<br />
Mit RobertDowneyjr.,Terrence<br />
Howard<br />
1.40 Killshot –GnadenloseJagd.<br />
Thriller,USA 2008.Regie: John<br />
Madden. Mit Diane Lane,Mickey<br />
Rourke<br />
3.10 Iron Man. Comicverfilmung,<br />
USA 2008.Regie: Jon Favreau.<br />
Mit RobertDowneyjr.<br />
ZDF<br />
8.10 1, 2oder 3<br />
8.35 Bibi Blocksberg<br />
9.25 Peter Pan–Neue Abenteuer<br />
9.50 Bibi und Tina<br />
10.40 Mako–Einfach Meerjungfrau<br />
11.30 Eine Familie namens Beethoven.<br />
Tierkomödie,USA 1993.<br />
Regie: RodDaniel<br />
12.50 König Drosselbart. Märchenfilm,CS/D1984.Regie:Miloslav<br />
Luther.Mit Adriana Tarábková,<br />
Lukás Vaculík<br />
14.25 Rosamunde Pilcher: Das Haus<br />
an der Küste<br />
16.05 Lafer!Lichter!Lecker!<br />
16.50 Downton Abbey<br />
19.00 heute<br />
19.25 Herzensbrecher –Vater vonvier<br />
Söhnen<br />
20.15 Der Kommissar und das Meer:<br />
Der böseMann. D2013<br />
21.45 Ein starkes Team: Geschlechterkrieg.<br />
D2009<br />
23.10 heute-journal<br />
23.25 Ronin. Actionthriller,USA/GB<br />
1998.Regie: John Frankenheimer.Mit<br />
RobertDeNiro, Jean<br />
Reno<br />
1.20 Der Fluch vonHellestad. Mysterythriller,S2004.<br />
Regie: Mikael<br />
Håfström. Mit RebeckaHemse,<br />
Jesper Salén<br />
2.55 Downton Abbey<br />
RTL<br />
13.20 Die ultimativeChartShow–50<br />
JahreKassette<br />
16.55 Kung Fu Panda 2–Doppelt Bärenstark<br />
18.45 RTL Aktuell<br />
19.05 Explosiv –Weekend<br />
20.15 Alle auf den Kleinen<br />
22.50 Willkommen bei Mario Barth<br />
23.50 Der große BöseMädchen –Promi-Check<br />
0.40 Alle auf den Kleinen<br />
3.00 Willkommen bei Mario Barth<br />
SAT.1<br />
12.00 Richter Alexander Hold<br />
14.00 Im Namen der Gerechtigkeit –<br />
Wir kämpfen fürSie!<br />
16.00 Anwälte im Einsatz<br />
17.00 Mein dunkles Geheimnis<br />
18.00 K11–KommissareimEinsatz<br />
19.55 SAT.1Nachrichten<br />
20.15 Wickie und die starken Männer.<br />
Abenteuerfilm, D2009.Regie:<br />
Michael Herbig. Mit Jonas Hämmerle,Waldemar<br />
Kobus<br />
22.00 Siegfried. Komödie,D2005.<br />
Regie: Sven Unterwaldt Jr.. Mit<br />
TomGerhardt,Dorkas Kiefer<br />
23.40 11/2 Ritter.Komödie,D2008.<br />
Regie: Til Schweiger.Mit Til<br />
Schweiger,Rick Kavanian<br />
1.55 Siegfried. Komödie,D2005.<br />
Regie: Sven Unterwaldt Jr.. Mit<br />
TomGerhardt,Dorkas Kiefer<br />
3.20 TwoFunny–Die Sketch Comedy<br />
3.40 TwoFunny–Die Sketch Comedy<br />
PRO7<br />
12.05 Family Guy<br />
12.30 Futurama<br />
13.00 Die Simpsons<br />
13.30 Malcolm mittendrin<br />
14.25 Scrubs –Die Anfänger<br />
15.20 Twoand aHalf Men<br />
16.10 The Big Bang Theory<br />
17.05 HowIMetYour Mother<br />
18.00 Newstime<br />
18.10 Die Simpsons<br />
19.05 Galileo<br />
20.15 Galileo Big Pictures –Die Bilder<br />
des Jahres 2013<br />
23.30 Shooter.Actionthriller,USA<br />
2007.Regie: Antoine Fuqua.<br />
Mit Mark Wahlberg, Kate Mara<br />
1.55 Haunted Hill –Die Rückkehr in<br />
das Haus des Schreckens.Horrorfilm,<br />
USA 2007.Regie: Victor<br />
Garcia. Mit Amanda Righetti,<br />
Cerina Vincent<br />
3.15 The Descent –Abgrund des<br />
Grauens.GB2005<br />
KI.KA<br />
7.45 Nouky&seine Freunde<br />
8.00 Elmo –das Musical<br />
8.25 Huhu Uhu –Abenteuer im<br />
Kreuzkrötenkraut<br />
8.40 Au Schwarte! –Die Abenteuer<br />
vonRingel, Entje und Hörnchen<br />
9.00 Tauch, Timmy, Tauch!<br />
9.20 Feuerwehrmann Sam<br />
9.45 ENE MENE BU –und dran bistdu<br />
9.55 Ich kenne ein Tier<br />
10.05 OLI's Wilde Welt<br />
10.20 TANZALARM!<br />
10.45 Tigerenten Club<br />
11.45 Schmecksplosion<br />
12.00 Pound Puppies –Der Pfotenclub<br />
12.20 Pat&Stan<br />
12.30 Marsupilami –ImDschungel ist<br />
waslos<br />
13.20 "Marvi Hämmer präsentiert<br />
NATIONAL GEOGRAPHIC<br />
WORLD"<br />
13.45 motzgurke.tv –Die Tigerenten-<br />
Reporter zeigen's euch!<br />
14.10 SchlossEinstein –Erfurt<br />
15.00 Yankee Irving –Kleiner Held<br />
ganzgroß!<br />
16.15 Garfield<br />
16.50 Der kleine Eisbär –NanouksRettung<br />
18.00 Shaun das Schaf<br />
18.15 Coco,der neugierige Affe<br />
18.40 Lauras Stern<br />
18.50 Unser Sandmännchen<br />
19.00 Das Dschungelbuch<br />
19.25 Checker Tobi<br />
19.50 logo! Die Welt und ich.<br />
20.00 Erde an Zukunft<br />
20.10 Durch die Wildnis –Das Abenteuer<br />
Deines Lebens<br />
ARTE<br />
8.05 GEOlino<br />
8.20 Wie die Erde rund wurde<br />
9.20 Prinzund Bottel<br />
9.45 360° –Geo Reportage<br />
10.30 Faszinierende Wildnis<br />
13.30 Frauen, die Geschichte machten<br />
(1/6)<br />
14.20 Frauen, die Geschichte machten<br />
(5/6)<br />
15.10 Die Welt des Christoph Kolumbus<br />
16.05 Den Heiligen Drei Königen auf<br />
der Spur<br />
17.00 X:enius<br />
17.35 RoyalDinner<br />
18.00 RoyalDinner<br />
18.30 Zu Tisch auf ...<br />
18.55 Mit offenen Karten<br />
19.15 ARTE Journal<br />
19.30 360° –Geo Reportage<br />
20.15 Werhat Angstvor dem Weißen<br />
Hai?<br />
21.45 Ball im Savoy<br />
0.45 Tracks<br />
1.40 Pink Floyd –Behind the Wall<br />
3SAT<br />
18.25 Olaf TV<br />
18.55 Sebastian Pufpaff: PufpaffsUrnengang<br />
19.25 Christoph Sieber: Alles istnie<br />
genug<br />
20.15 Urban Priol: Tilt! –Tschüssikowski<br />
2013<br />
21.45 Hader spielt Hader (1/2)<br />
22.55 Hader spielt Hader (2/2)<br />
0.15 Nuhr 2013 –Der Jahresrückblick<br />
1.15 LukasResetarits: Osterreich –<br />
ein Warietee<br />
BAYERN<br />
18.00 traumpfade<br />
18.45 Rundschau<br />
19.00 Bayern! (4/4)<br />
19.45 Alle Jahrewieder<br />
20.15 Donna Leon –Schöner Schein<br />
21.45 Rundschau-Magazin<br />
22.00 Donna Leon –Das Mädchen seiner<br />
Träume<br />
23.25 Kein Koks fürSherlock Holmes.<br />
Krimiparodie,GB1976.Regie:<br />
HerbertRoss. Mit Nicol Williamson,<br />
RobertDuvall<br />
1.15 Einmal eine Dame sein. Musikkomödie,USA<br />
1950.Regie: Roy<br />
Rowland. Mit Jane Powell, Ricardo<br />
Montalban<br />
SWR<br />
18.05 Alle Wetter 2013<br />
18.35 Hierzuland<br />
18.45 Viertel vorSieben<br />
19.15 Das Quiz mit Jens Hübschen<br />
19.45 SWR Landesschau aktuell<br />
20.00 Tagesschau<br />
20.15 Utta Danella –Das Familiengeheimnis<br />
(1/2)<br />
21.50 Utta Danella –Das Familiengeheimnis<br />
(2/2)<br />
23.20 Der kalte Himmel<br />
2.20 AufAchse<br />
HESSEN<br />
18.00 Entdeckungen in der Rhön<br />
19.30 hessenschau<br />
20.00 Tagesschau<br />
20.15 Liebe am Fjord–Zwei Sommer<br />
21.45 Tatort: Der Schrei. D2010<br />
23.15 Großstadtrevier: Motorrad-Gottesdienst.<br />
D2003<br />
0.05 Der Fahnder: Radio.D1994<br />
0.55 Graf Yoster gibtsich die Ehre:<br />
Vier Herren spielen Poker. D/F<br />
1974<br />
1.45 Polizeiruf 110: Das Ende einer<br />
Mondscheinfahrt. DDR 1972<br />
WDR<br />
18.20 hier und heute: Tanzen fürimmer<br />
18.50 Aktuelle Stunde<br />
19.30 Lokalzeit<br />
20.00 Tagesschau<br />
20.15 Tatort: Trautes Heim. D2013<br />
21.40 Jürgen Becker: Baustelle<br />
Deutschland<br />
22.40 Nuhr 2013 –Der Jahresrückblick<br />
23.40 Mitternachtsspitzen<br />
0.40 Cannonball! Actionfilm, USA/<br />
HK 1976.Regie: Paul Bartel. Mit<br />
David Carradine,Bill McKinney<br />
NDR<br />
18.00 Nordtour<br />
18.45 DAS!<br />
19.30 Ländermagazine<br />
20.00 Tagesschau<br />
20.15 Tatort: Borowski und der brennende<br />
Mann. D2013<br />
21.40 Tatort: Schichtwechsel. D2004<br />
23.10 Die Nordkommissare–Eine Tatort-Chronologie<br />
23.55 Stahlnetz: PSI. D2002<br />
1.25 NDR Comedy Contest<br />
RBB<br />
18.00 Weniger arbeiten –mehr leben<br />
18.32 Die rbb Reporter –Karpfen Blau<br />
19.00 Heimatjournal<br />
19.30 Abendschau<br />
20.00 Tagesschau<br />
20.15 Liebling Kreuzberg<br />
21.00 Liebling Kreuzberg<br />
21.45 rbb aktuell<br />
22.15 Micmacs –Uns gehörtParis! Komödie,F2009.Regie:<br />
Jean-PierreJeunet.<br />
Mit DanyBoon, AndréDussollier<br />
23.55 Ein perfekter Platz. Komödie,F<br />
2006.Regie: Danièle Thompson.<br />
Mit Cécile De France, Laura<br />
Morante<br />
MDR<br />
18.15 Unterwegs in Sachsen-Anhalt<br />
19.00 MDR Regional<br />
19.30 MDR aktuell<br />
19.50 Quickie<br />
20.15 Abschied istein leises Wort<br />
21.45 MDR aktuell<br />
22.00 Jan Smit –Ich bin da<br />
23.30 Der tote Taucher im Wald. Krimikomödie,D2000.Regie:<br />
Markus Rosenmüller.Mit Dieter<br />
Pfaff,Niki Finger<br />
1.05 Der Fluch der BetsyBell. Horrorthriller,GB/CDN/RUM/USA<br />
2005.Regie: CourtneySolomon.<br />
Mit Donald Sutherland,<br />
Sissy Spacek<br />
PHOENIX<br />
12.00 Marilyn Monroe<br />
12.30 Theophanu<br />
13.15 Kaiserin Adelheid<br />
14.00 Liebe im Mittelalter<br />
14.45 Katharina vonBora<br />
15.30 Die vergiftete Mätresse<br />
16.15 Die eiskalte Zarin<br />
17.00 Liebe an der Macht<br />
17.45 Liebe an der Macht<br />
18.30 Zwei Brüder –Eine Krone<br />
19.15 Geheimnisse des Dritten Reichs<br />
20.00 Tagesschau<br />
20.15 Mätressen–Die geheime<br />
Machtder Frauen<br />
21.00 Mätressen–Die geheime<br />
Machtder Frauen<br />
21.45 Mätressen–Die geheime<br />
Machtder Frauen<br />
22.30 Intim mit dem Feind<br />
23.15 Zwei Brüder –Eine Krone<br />
0.00 Liebe an der Macht<br />
0.45 Mätressen–Die geheime<br />
Machtder Frauen<br />
1.30 Mätressen–Die geheime<br />
Machtder Frauen<br />
3.00 ZDF-History<br />
........................................................................................................................................................................................................<br />
pflegerinSabrinaDobisch(wunderbarrehäugig:LaviniaWilson)<br />
ANNE HAEMING<br />
DER WOCHENENDKRIMI<br />
in ihrem eigenen TunverstolpertundallezuDarstellernihrer<br />
eigenen Seifenoper degradiert,<br />
istdiereineWonne.<br />
Schwarzer Ihr Tonfall istimmer liebevoll,immerfürsorglichundempathisch.<br />
„Ja, Herr Kellermann,<br />
Engel<br />
ichbingleichda!“,flötetsiedem<br />
Gleich vorweg: Das ist ein Pflegefall im Nebenzimmer zu.<br />
„Tatort“,beidemSievonAn-<br />
Und dreht den Schwarz-Weißfanganwissen,werderTäter<br />
Filmlauter,wodieLiebesogroß<br />
ist. Verzeihung: die Täterin.<br />
AberkeineSorge,dieKnaller,die<br />
in der Folge„Borowski und der<br />
Engel“stecken,machendiefehlende<br />
Spannung locker wieder<br />
wett. Denn wie sich die Altenundsoeinfachundsoeindeutig<br />
ist.UndderAlte?Derstirbtderweilnebenan.DerEngelruftordnungsgemäß<br />
den Notarzt, und<br />
alssiespäter,nachderSchicht,in<br />
hollywoodreifemKleidausdem Hölzern as usual: Sibel Kekilli als Kommissarin Sarah Brandt Foto: ARD<br />
Friseurladenstolziert,istsieeine<br />
andere.<br />
Wosiehinkommt,gibtesTote,<br />
dieGrenzezwischenUnfallund<br />
Mordverwischt.KommissarBorowski(AxelMilberg)undAssistentinSarahBrandt(SibelKekilli,hölzernasusual)checkeneinfachnicht,wiederEngel,dieverschuldete<br />
Immobilienmaklerin<br />
(Leslie Malton) und der Toddes<br />
Jungpianisten, Sohn eines Bankiers(HorstJanson),zusammenhängen.<br />
Die Tonlagen zwischen dem<br />
bräsig-unterkühlten Borowski-<br />
StilunddemslapstickhaftenInferno,<br />
das der Engel mit sich<br />
bringt,sindsoverschieden,dass<br />
esquietscht.Abernursofunktioniert’s:MansiehtdasKawumms<br />
nichtkommen, das DrehbuchautorSaschaArango<br />
und Regisseur<br />
Andreas Kleinertdauernd<br />
mittenreinschmeißen.UndverschlucktsichamSchock-Lachen.<br />
Nur Janson ist natürlich eine<br />
komplette Fehlbesetzung: Rollstuhl?Gehstock?Mensch,Horst,<br />
den Geronten kauft dir keiner,<br />
äh, keine ab! Ehrlich, selbstmit<br />
78bistduderartsexy,dasssogar<br />
GeorgeClooneydagegenwieein<br />
Knilchwirkt.DuLässigsteraller<br />
Sunnyboys.<br />
■ Kiel-„Tatort“: „Borowski und<br />
der Engel“; So., 20.15Uhr, ARD<br />
TAGESTIPP<br />
SONNTAG:<br />
… „WHO WANTSTOBEAMILLIONAIRE?“ (1998–2013), „PUNKT 6“ (1997–2013), „DER LANDARZT“(1987–<br />
2013), „BRITT“ (2001–2013), „DER LANDSER“ (1957–2013), 90ELF (2008–2013), „INKA!“ (2013–2013). RIP<br />
Fotos: Arte France; Sebastian Kahnert/dpa (rechts)<br />
Chaplin-Dokus gibtesnie genug, hier eine Weitere:<br />
Serge Brombergund Eric Lange haben in<br />
Archiven gewühlt und zeichnen die Anfänge<br />
des „Tramps“ und „Großen Diktators“ nach. Im<br />
Anschluss: Chaplins „The Kid“ und „Der Graf“.<br />
■ „Charlie Chaplin, wie alles begann“,<br />
21.40 Uhr,Arte<br />
ARD<br />
8.35 Tierebis unters Dach<br />
9.00 Tierebis unters Dach<br />
9.30 Die Sendung mit der Maus<br />
10.05 Ski-Weltcup<br />
19.15 Drama am Gipfel (1/2)<br />
20.00 Tagesschau<br />
20.15 Tatort: Borowski und der Engel.<br />
D2013<br />
21.45 Iron Man 2. Comicverfilmung,<br />
USA 2010.Regie: Jon Favreau.<br />
Mit RobertDowneyjr.,Gwyneth<br />
Paltrow<br />
23.40 Tagesthemen<br />
23.55 The WayBack –Der lange Weg.<br />
Abenteuerfilm, USA/PL/VAE<br />
2010.Regie: Peter Weir.Mit Colin<br />
Farrell, Ed Harris<br />
2.00 Iron Man 2. USA 2010<br />
ZDF<br />
8.10 Löwenzahn<br />
8.35 Löwenzahn Classics<br />
9.00 sonntags<br />
9.30 Evangelischer Gottesdienst<br />
10.20 Weißblaue Wintergeschichten<br />
11.25 Die Helene Fischer-Show<br />
14.20 Rosamunde Pilcher: Vier Jahreszeiten<br />
15.55 Rosamunde Pilcher: Vier Jahreszeiten<br />
17.25 Downton Abbey<br />
19.00 heute<br />
19.10 Berlin direkt<br />
19.30 TerraX:ExpeditionDeutschland<br />
(2)<br />
20.15 Inga Lindström: Feuer unterm<br />
Dach<br />
21.45 heute-journal<br />
22.00 Inspector Barnaby: Geisterwanderung.<br />
GB 2010<br />
23.30 ZDF-History<br />
0.20 Beginners.Drama, USA 2010.<br />
Regie: MikeMills.Mit Ewan Mc-<br />
Gregor,Christopher Plummer<br />
1.55 Frag den Lesch<br />
RTL<br />
12.00 sonntags.live<br />
13.40 Familien Duell Prominenten-<br />
Special<br />
14.40 Bauer suchtFrau–Wasist auf<br />
den Höfen los?<br />
15.40 Der V.I.P.Bus –Promis auf Pauschalreise<br />
17.45 Exclusiv –Weekend<br />
18.45 RTL Aktuell<br />
19.05 Die erfolgreichsten Disneyfilme<br />
aller Zeiten (1/1)<br />
20.15 Küss den Frosch<br />
22.05 Spiegel TV Magazin<br />
22.50 Death Race.Actionfilm, USA/D/<br />
GB 2008.Regie: Paul W.S. Anderson.<br />
Mit Jason Statham, Joan<br />
Allen<br />
0.45 Faculty –Traukeinem Lehrer.<br />
Horrorthriller,USA1998.Regie:<br />
RobertRodriguez. Mit Jordana<br />
Brewster,Clea DuVall<br />
SAT.1<br />
13.50 Asterix bei den Olympischen<br />
Spielen. Komödie,F/D/E/I/B<br />
2008.Regie: Frédéric Forestier,<br />
Thomas Langmann. Mit Clovis<br />
Cornillac,GérardDepardieu<br />
16.15 Bedtime Stories.Familienkomödie,USA<br />
2008.Regie: Adam<br />
Shankman. Mit Adam Sandler,<br />
Keri Russell<br />
18.15 Wickie und die starken Männer.<br />
Abenteuerfilm, D2009.Regie:<br />
Michael Herbig<br />
19.55 SAT.1Nachrichten<br />
20.15 Navy CIS: Ghostrunners.USA<br />
2012<br />
21.15 Navy CIS: L.A.: Der Meisterdieb.<br />
USA 2011<br />
22.15 Hawaii Five-0<br />
23.10 HouseofCards<br />
0.10 HouseofCards<br />
PRO7<br />
13.00 Big Fish. Fantasyfilm, USA<br />
2003.Regie: Tim Burton. Mit<br />
Ewan McGregor,AlbertFinney<br />
15.25 The Da Vinci Code –Sakrileg.<br />
Mysterythriller,USA 2006.Regie:<br />
RonHoward. Mit Tom<br />
Hanks, Audrey Tautou<br />
18.00 Newstime<br />
18.10 Die Simpsons<br />
19.05 Galileo<br />
20.15 Hangover. Komödie,USA2009.<br />
Regie:ToddPhillips.MitBradley<br />
Cooper,EdHelms<br />
22.25 Gesetzder Rache.Thriller,USA<br />
2009.Regie: F. GaryGray. Mit<br />
GerardButler,Jamie Foxx<br />
0.30 Shooter.Actionthriller,USA<br />
2007.Regie: Antoine Fuqua<br />
KI.KA<br />
8.05 Ein Engel füralle!<br />
8.35 stark!<br />
8.50 neuneinhalb –Deine Reporter<br />
9.00 Checker Can<br />
9.25 Paula und die wilden Tiere<br />
9.50 Zoés Zauberschrank<br />
10.15 Kleine Prinzessin<br />
10.25 TOMund das Erdbeermarmeladebrot<br />
mit Honig<br />
10.35 Siebenstein<br />
11.05 Löwenzahn<br />
11.30 Die Sendung mit der Maus<br />
12.00 Die Schneekönigin. Märchenfilm,<br />
SU 1966.Regie: Gennadi<br />
Kazansky. Mit Lena Proklova,<br />
Slawa Zjupa<br />
13.20 Sweethearts<br />
13.30 Schau in meine Welt!<br />
13.55 kurz+klick<br />
14.10 Really Me –Der Star bin ich!<br />
14.30 Sturmfrei<br />
15.00 Krimi.de/Jena –Katzenauge<br />
15.45 Trickboxx<br />
16.00 Willi wills wissen<br />
16.25 Hexe Lilli<br />
17.35 1, 2oder 3<br />
18.00 Shaun das Schaf<br />
18.15 Die Biene Maja<br />
18.40 Lauras Stern<br />
18.50 Unser Sandmännchen<br />
19.00 Das Dschungelbuch<br />
19.25 pur+<br />
19.50 logo! Die Welt und ich.<br />
20.00 OccupySchool –Comedians besetzendie<br />
Schule<br />
20.25 Prank Patrol –Die Streichpatrouille<br />
ARTE<br />
8.00 Ein Tagmit ...<br />
8.10 GEOlino<br />
8.25 Kleckse,Kunst, Künstler<br />
8.45 Es wareinmal ... unsereErde<br />
9.10 Prinzund Bottel<br />
9.50 X:enius<br />
10.20 Werhat Angstvor dem Weißen<br />
Hai?<br />
11.45 Meeresströmungen –Tanzder<br />
Ozeane<br />
12.45 Die Südsee<br />
13.30 Die Südsee (2/6)<br />
14.15 Die Südsee (4/6)<br />
15.00 Die geheime Welt der Termiten<br />
16.00 Schwanensee,ein getanztes<br />
Märchen<br />
16.50 Schwanensee<br />
19.15 ARTE Journal<br />
19.35 Karambolage<br />
19.45 Zu Tisch in ...<br />
20.15 ModerneZeiten.Tragikomödie,<br />
USA 1936.Regie: Charles Chaplin.<br />
Mit Charles Chaplin, Paulette<br />
Goddard<br />
21.40 Charlie Chaplin, wie alles begann<br />
22.40 The Kid. Stummfilmkomödie,<br />
USA 1921. Regie: Charles Chaplin.<br />
Mit Charles Chaplin, Jackie<br />
Coogan<br />
23.30 Der Graf<br />
23.55 Rossini: Petite Messe Solennelle<br />
1.30 Arthur –Die Erfindung eines Königs<br />
3SAT<br />
18.45 Der Äquator –Breitengrad der<br />
Extreme (1 +2+3+4+5/5)<br />
22.20 Tiger &Dragon. Martial-Arts-<br />
Drama, TWN/HK/USA/CHN<br />
2000.Regie: Ang Lee. Mit Yun-<br />
FatChow, Michelle Yeoh<br />
0.15 Blind Side –Straße in den Tod<br />
1.50 Bis aufsBlut. Western, USA/E<br />
1962. Regie: Michael Carreras.<br />
Mit RichardBasehart, Paquita<br />
Rico<br />
BAYERN<br />
19.45 Wirtshausmusikanten beim<br />
Hirzinger<br />
21.15 freizeit<br />
21.45 Rundschau-Magazin<br />
22.00 Django Asül: Rückspiegel 2013<br />
–Ein satirischer Jahresrückblick<br />
22.45 Bayerischer Kabarettpreis 2013<br />
0.25 Gardenia –Eine Frau will vergessen.<br />
Psychokrimi, USA 1953.<br />
Regie: Fritz Lang. Mit Anne Baxter,RichardConte<br />
1.50 Dschungel im Sturm. Liebesdrama,<br />
USA 1932.Regie: Victor Fleming.<br />
Mit Clark Gable,Jean Harlow<br />
MAGAZIN<br />
SWR<br />
20.15 Die schönsten Naturparadiese<br />
im Südwesten<br />
21.45 SWR Landesschau aktuell<br />
23.15 Spätschicht–Die SWR Comedy<br />
Bühne<br />
0.00 Meine Lachgeschichte: Dr.Eckartvon<br />
Hirschhausen<br />
0.45 GrafYostergibtsichdieEhre:Ein<br />
brillanter Plan /Strahlendes<br />
Wasser. D/F1970<br />
HESSEN<br />
20.15 Erlebnis Mühle<br />
21.45 Das große Hessenquiz<br />
22.30 Dings vomDach<br />
23.15 strassenstars<br />
23.45 Werweisses?<br />
0.30 Ich trage einen großen Namen<br />
1.00 In Flammen –Die mit dem Feuer<br />
spielen<br />
Der perfekte Wegweiser durch die ARTE Welt.<br />
ExklusiveInterviews und Hintergrundberichte sowie<br />
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TESTEN!<br />
WDR<br />
20.15 Wunderschön! Wintersonne in<br />
NRW<br />
21.45 Schmitz' Mama<br />
22.45 Ein Herz und eine Seele<br />
0.15 Rockpalast: Fettes Brot<br />
NDR<br />
20.15 Das große Wunschkonzert<br />
21.45 50 JahreDinner forOne<br />
23.30 Die beliebtesten Komiker des<br />
Nordens<br />
0.15 Tatort: Feuerkämpfer.D2006<br />
RBB<br />
20.15 Andrea Berg–Die 20 Jahre<br />
Show<br />
23.05 Playgirl. Milieustudie,D1966.<br />
Regie: Will Tremper.Mit Eva<br />
Renzi, Harald Leipnitz<br />
0.30 Der Profi 2. Actionfilm, F1987.<br />
Regie: Jacques Deray.Mit Jean-<br />
Paul Belmondo,Michel Creton<br />
MDR<br />
19.50 Kripo live<br />
20.15 Damals war's<br />
21.45 MDR aktuell<br />
22.00 Wie der Kudamm nach Karl-<br />
Marx-Stadt kam<br />
22.45 Eolomea. Science-Fiction-Film,<br />
DDR/BUL/SU 1972.Regie: Herrmann<br />
Zschoche.Mit CoxHabbema,<br />
Iwan Andonow<br />
0.10 Die lange Biwak-Nacht<br />
PHOENIX<br />
13.00 Glaubenswege<br />
17.30 Ashoka–Der indische Krieger<br />
Buddhas<br />
18.15 Islam heißt Hingabe<br />
18.30 Werwar Jesus?<br />
19.15 Werwar Jesus?<br />
20.00 Tagesschau<br />
20.15 Werwar Jesus?<br />
21.00 Gefährlicher Glaube<br />
21.45 Bis aufsBlut<br />
22.45 Schöpfungsmythen<br />
0.15 Amen!<br />
1.10 Teufels Werk und Gottes Beitrag<br />
2.40 Glaubenswege
sonntaz |FLIMMERN +RAUSCHEN<br />
www.taz.de | medien@taz.de apple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 39<br />
ABGESANGDieJugendholtsichihreBewegtbilderimNetz.IstdasklassischeFernsehennochzuretten?<br />
Hashmichdoch!<br />
MehrAnspruch<br />
VON JULIA NEUMANN<br />
DerschnelleKlicktötetdas<br />
lineare Fernsehen. Im<br />
Internet gibt es alles on<br />
demand, auf Knopfdruck,<br />
ein Klick genügt. Für das<br />
Fernsehenheißtdas:DieJugend,<br />
die begehrte Zielgruppe der 14-<br />
bis29-Jährigen,hautabinsNetz.<br />
Wastun, um sie wieder einzufangen?<br />
Ein Jugendkanal muss her,<br />
dachte mansich bei ARD und<br />
ZDF.Crossmedial sollte er sein,<br />
alleKanälebespielend: Fernsehen,RadioInternet.Rund45Millionen<br />
Euroveranschlagte man<br />
für das Projekt –und scheiterte<br />
damitimHerbstvorerstamVeto<br />
der Ministerpräsidenten der<br />
Länder.ZukostspieligdasGanze,<br />
dasinhaltlicheKonzeptüberzeugenicht.<br />
Tatsächlich istdie crossmedialeIdee<br />
nichtgerade neu –und<br />
bisherauchnochnichtüberzeugenderfolgreich,wennesdarum<br />
geht,dieJugendausdemNetzzu<br />
fischen. Die „Tageswebschau“<br />
zumBeispiel,dieabJuni2012gut<br />
einJahrlangaufdenDigitalkanälenEins<br />
Plus, Eins Festivalund<br />
tagesschau24 ausgestrahltwurde<br />
und in der Mediathek abrufbar<br />
war. Das Konzept: Junges<br />
Team, junge Protagonisten als<br />
Moderatoren, Themen ausdem<br />
Internet. Eine Mischung aus<br />
„Tagesschau“ und den jungen<br />
ARD-Hörfunkwellen.<br />
„Wir haben versucht, unsere<br />
QuellenausdemInternetzu beziehen,ausSozialenNetzwerken.<br />
Wirhaben geschaut, wasTrending-Topic<br />
bei Twitter ist“,sagt<br />
Redaktionsleiter Marcello Bonventre.<br />
Die Zielgruppe ging ihm<br />
trotzdemdurchdieMaschen:Im<br />
Mai 2013 kappte die ARD die Finanzierung<br />
wegen ungenügend<br />
hoherAbrufzahleninderMediathek.<br />
Bonventremachtetrotzdemweiter,mit<br />
der „Wochenwebschau“,<br />
einem Wochenmagazin mitwenigerBudget,dasnunalleineaus<br />
dem schmalen Topf der kleinsten<br />
ARD-Anstalt, dem chronisch<br />
defizitärenRadioBremen,finanziertwird.<br />
„Es istmagaziniger,<br />
mitjungen Protagonisten“, sagt<br />
Bonventre.IneinerAusgabegeht<br />
es um Online-Adventskalender,<br />
eine Comic-App und einen Blog<br />
miteinem Hund, der komische<br />
Die Jugend. Immer im Netz Foto: Vincent van Dam/Flickr/Getty Images<br />
Sachen aufdem Kopf hat. Funktioniertnur<br />
leichte Kost?Nein,<br />
sagtBonventre.Bisherammeisten<br />
geklickt worden sei ein Beitrag<br />
über die Diskriminierung<br />
vonHomosexuelleninRussland.<br />
Es sollejaauch ein journalistisches<br />
Produkt sein, etwas Verlässliches.<br />
Aber: „Wir brauchen<br />
mehrKlicks.“<br />
AmBerlinerOstbahnhofsteht<br />
eine alte Fabrik aus Backstein,<br />
derbraunePutzbröckeltvonden<br />
Wänden im Treppenhaus. Ein<br />
mit schwarzer Farbe gemalter<br />
PfeilweistdenWegnachoben:in<br />
die Zukunft, die hier ein großer<br />
Raumist,hellweißbeleuchtet,in<br />
demjungeMenschengeschäftig<br />
wuseln.VonhiersendetJoiz.Der<br />
private schweizerische Jugendkanalstartete<br />
im Augustund ist<br />
via Kabel und Satellit auch in<br />
Deutschlandzuempfangen.Das<br />
Motto:DieJugendbestimmt,was<br />
imFernsehenpassiert.SocialTV,<br />
die Couch-Kartoffel wirdaktiver<br />
Nutzer.JugendlichesollenInhalte<br />
mitgestalten, per Chat,Skype<br />
undindenSozialenNetzwerken.<br />
Für die Macher istdas Internet<br />
Primärquelle. Mittzwanziger<br />
quatschen in Talks über den<br />
Syrienkrieg, den Internetminister,einen<br />
Pornodarsteller oder<br />
gutenSex.<br />
OliverPocher,Casper und SelenaGomezsaßenschonaufder<br />
Couch. Dauergast: das Internet.<br />
Ein Bildschirm im Hintergrund<br />
zeigt die Chatkommentare. Wer<br />
dabei sein will, wirdnach kurzem<br />
Vorgespräch per VideotelefonieindieSendunggeschaltet–<br />
und hinterher fürs interaktive<br />
DabeiseinmitWerbegeschenken<br />
belohnt.<br />
Geschäftsführer Carsten Kollmusglaubt<br />
an das Medium. Der<br />
Sender trägt sich zwar noch<br />
nicht,inderSchweizwareraber<br />
bereits nach zwei Jahren rentabel.„WirholendieLeuteinsFernsehenzurück.Esisteherso,dass<br />
der Trend zum Second Screen<br />
geht.“ Kollmus istsicher: „Fernsehenwirdnietotsein.“ZurNot<br />
erhalten eben kleine Geschenke<br />
dieFreundschaft.<br />
„SocialTVistkeinRettungsanker“,<br />
sagt dagegen Christopher<br />
Buschowvom Institutfür Journalistik<br />
in Hannover. Er forscht<br />
seitzweiJahren zu dem Phänomen<br />
Social TV.„Es wirdBewegtbildgeben–aberobsoetwaswie<br />
Fernsehen mit linearen Programmabläufen<br />
überhaupt<br />
noch eine Rollespielen wird, da<br />
bin ich mir nicht sicher.“ Das<br />
Fernsehen sei kein relevantes<br />
Medium mehr für Jugendliche.<br />
„Die würden aufeine einsame<br />
Insel nichtden Fernsehen mitnehmen,<br />
sondern ihr Smartphone.“<br />
FünfterStockineinerDachgeschosswohnung<br />
in Berlin. Im<br />
Wohnzimmer stehen große Sessel,aufeinemgoldenenSchwein<br />
reitet eine Spiderman-Puppe.<br />
Hier entsteht„Wasgehtab“,ein<br />
Youtube-Kanal mitNachrichten<br />
fürJugendliche.Seriössollendie<br />
sein,aberdabeinichtsosteifrüberkommen.<br />
Florian, Frodo,StevenundRickredeninihrenprivaten<br />
Kanälenüber Onlinespiele,Vaginapilze<br />
und Schlussmachen.Für„Wasgehtab“sprechen<br />
sie Nachrichten ein. Ihre Zielgruppe:<br />
13- bis 21-jährige Youtube-User.Vier<br />
bis fünf Videos<br />
werdenamTaggedreht,mindestens<br />
18 in der Woche. Ohne das<br />
UnternehmenMediakraftwürde<br />
das nichtgehen. Das Netzwerk<br />
nimmtYoutuber unter Vertrag,<br />
übernimmt die Vermarktung,<br />
akquiriert Werbepartner. Ähnlich<br />
wie eine Plattenfirma bekommtMediakraft<br />
dafür einen<br />
AnteilderEinnahmen.DieFirma<br />
machtnochkeinenGewinn,sondern<br />
wird von Gesellschaftern<br />
undInvestorenfinanziert.<br />
Redaktionsleiter Alex Moebius<br />
sprichtvon „früher Bildung“<br />
als Konzept. Ganz schön ambitioniert,<br />
denn die Youtuber klicken<br />
am liebsten Schabernack.<br />
„DukriegstebenmehrKlicksmit<br />
lustigenSketchen,wennduüber<br />
Celebrities herziehst oder aus<br />
deinemAlltagerzählst.“180.000<br />
Abonnenten hatder Kanal. Um<br />
die 40.000 Klicks haben die<br />
„Flash-News“, knappdreiminütige<br />
Videos im wilden Themenmix,vonAngelaMerkelsneuem<br />
Kabinett, über Nelson Mandelas<br />
TodbiszurDebatteumdieLegalisierungvonMarihuana.<br />
MehrKlicks<br />
„Umuns zu finanzieren bräuchten<br />
wir das zehn- bis zwanzigfacheanKlicks.“DerNachrichtenkanalprofitiertvon<br />
den Youtubern<br />
als bekannte Marke. Die<br />
Fanswollenwissen,obSteveneineneueBrillehat.Undvielleicht<br />
tatsächlich etwas über Merkels<br />
neuesKabinetterfahren.<br />
Soll das öffentlich-rechtliche<br />
Fernsehen sich also einfach ein<br />
Beispiel an Youtube nehmen?<br />
Nicht Fernsehen mit ein bisschen<br />
Internet, sondern Internet<br />
mit Fernsehen? Da wäre dann<br />
der Rundfunkstaatsvertrag im<br />
Weg: ein Angebot, das ausschließlich<br />
oder primär im Web<br />
existiert,istnichtvorgesehen.<br />
Doch im Prinzipwäre ein öffentlich-rechtliches<br />
Youtube die<br />
Zukunft, sagt Markus Hündgen,<br />
VeranstalterdesDeutschenWebvideo-Preises.<br />
Bewegtbild ohne<br />
Fernseher,ohnedenStaubdesLinearen.<br />
Er sagt: „Journalismus<br />
und Bildung sind weiße Flecken<br />
auf der deutschen Webvideo-<br />
Landkarte.“ Es fehleanVideos<br />
mitjournalistischen,edukativen<br />
Inhalten. Die hätten dann auch<br />
nichtszutunmitYoutubern,die<br />
„vermeintlich hippe Fließbandware<br />
über die Kanäle schieben“.<br />
Da gebe es für die Öffentlich-<br />
Rechtlichen eine Lücke–wenn<br />
siesiedennutzendürften.<br />
Visionen<br />
Ein öffentlich-rechtliches<br />
Youtube, das wäre doch<br />
eigentlich die Zukunft, sagt<br />
Blogger Markus Hündgen
40 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple www.taz.de | wahrheit@taz.de DIE WAHRHEIT | sonntaz<br />
DER BUNDESGEDÄCHTNISTRAINER EMPFIEHLT: ARSCH AUF EIMER<br />
DAS WETTER: AUFGEPASST!<br />
Gabrielfoto: reuters<br />
Wasesalles gibt! Sogar einen<br />
BundesverbandGedächtnistraining.<br />
Um die Merkfähigkeitzu<br />
steigern,empfehlendieBundesgedächtnistrainer<br />
Alten und<br />
Vergesslichen, „zehn Minuten<br />
Gedächtnistraining am Tag“ zu<br />
betreiben:„LesenSiedieZeitung<br />
und versuchen Sie anschließend,<br />
sich an die wichtigsten<br />
Themen zu erinnern. Dasselbe<br />
können Sie bei den Fernsehnachrichten<br />
ausprobieren. MachenSiesichfürsEinkaufeneine<br />
ListeundlernenSiesieauswendig.DabeihilfteinTrick:Ordnen<br />
SiejedesProdukteinemKörperteilzu.“GehtdasmitdenKörperteilen<br />
auch bei den Fernsehnachrichten?<br />
Dann versuchen<br />
wirdasmal:Inder„Tagesschau“<br />
tauchtSigmar Gabriel auf. Jetzt<br />
müssen wir uns ein passendes<br />
Körperteil denken … Moment<br />
mal! Das isteinfach. Zu Sigmar<br />
Gabrielpasstdiesesdicke,breite<br />
DinghintenuntermRücken.Wie<br />
heißtdasnochmal?Genau!Ein<br />
Arsch. Tatsächlich!DasfunktioniertwieArschaufEimer!Sovergessen<br />
wir Sigmar Gabriel nie<br />
mehr.WasfüreintollerTrickfür<br />
unserGedächtnis.Danke,werter<br />
BundesverbandGedächtnistraining.DaswerdenwirjetztmitallenFernsehnasenprobieren<br />
…<br />
Es warimmer dasselbe, es war<br />
unausweichlich,eswarzumKotzen.<br />
Dem 1. Januar stand es bis<br />
hier.364,manchmal365Tagekamennochnachihm,dochChinaböller,<br />
Knallfrösche, römische<br />
Lichter,Raketen, Bombenrohre<br />
undwasalles:Kaumhatteder1.<br />
Januarum0Uhr0seinenDienst<br />
angetreten, brach die Höllelos.<br />
Da knallte, knatterte, krachte,<br />
platzte, explodierte es wie ver-<br />
rückt, nirgends gabesein ruhigesPlätzchen.DazuderGestank,<br />
derNebel!Aberdiesmalsollteallesanders<br />
werden, der 1. Januar<br />
hattemiteinemanderenTaggetauscht.<br />
Mitwelchem, warsein<br />
großes Geheimnis. Nursoviel:<br />
Wer diesmal Pyrotechnik abbrennenwürde,würdedaswahreNeujahrgarnichtmitkriegen!<br />
InschadenfroherVorfreuderieb<br />
sichder1.JanuardieHände.<br />
TanteLola lebt<br />
NACHBARLÄDENDerkleineSexshopvonnebenanfeierteinComeback<br />
Alles wirkt so vertraut:<br />
Die Türglockebimmelt,<br />
bunte Plastikstreifen<br />
wehen mir entgegen.<br />
Schummriges Rotlichtfälltauf<br />
den schmuddeligen Tresen mit<br />
derWaage,anderder62-jährige<br />
HeinzP.geradegebrauchteVHS-<br />
Cassetten zum Kilopreis abwiegt.<br />
Alles weistauf einen guten<br />
alten Sexshop hin, wie ihn<br />
diemeistenvonunsnochausJugendtagenkennen,dochderEindruck<br />
täuscht: Keine zwei Wochen<br />
istesher,dass der Verein<br />
„Tante Lola e.V.“sein Ladenlokal<br />
eröffnet hat, um eine Tradition<br />
wiederzubeleben, die andernortslängstverlorengegangenist.<br />
GewisseinDutzendNeugieriger<br />
schiebt sich an mir vorbei,<br />
mithochgeschlagenem Mantelkragen<br />
und ausgebeulter Hose.<br />
Schon jetzt übertrifft der Erfolg<br />
desungewöhnlichenProjektsalle<br />
Erwartungen. Die Registrierkasse<br />
klingeltimFünfminutentakt,<br />
während Videos, Strapse<br />
undasiatischeLustkugelnindiskret<br />
unbeschriftete Packpapiertütenwandern.<br />
„WirhabendenLadenalsNon-<br />
Profit-Organisation gegründet,<br />
wollten eigentlich nur Bürgersinnzeigen“,<br />
freutsichFrührentnerHeinzP.,dergemeinsammit<br />
Spätaussiedlerin Bianca Z. die<br />
Vielevermisstenden<br />
gepflegtenPlausch<br />
imLadenzwischen<br />
StrapsenundDildos<br />
Geschäftsleitung übernommen<br />
hat. „Gerade hier aufdem Land<br />
haben doch vielenur einen Videorecorder,aber<br />
nichts mehr,<br />
wassiereinsteckenkönnen.“<br />
Mit Hingabe kümmern sich<br />
die beiden Ehrenamtlichen um<br />
die Spezialwünsche ihrer Kundschaft.<br />
Wasnichtdaist,wirdbestellt:Hi-HeelsinGröße49,eine<br />
Eskimo-Gummipuppe, Kondome,<br />
die wie früher noch richtig<br />
nachKondomschmecken.<br />
Trotz des Andrangs lassen es<br />
sich die zwei nichtnehmen, jeden<br />
Neuankömmling namentlich<br />
zu begrüßen: „Gott zum<br />
Gruß,FrauDr.Pötter!“,ruftBianca<br />
Z. soeben. „Wie istdas Befinden<br />
der werten Geschlechtsteile?“<br />
Die Kunden danken es mit<br />
glutvollem Erröten und bedingungsloser<br />
Treue. Es scheint, als<br />
ob die kleine niedersächsische<br />
GemeindeihresozialeMittewiedergefundenhat.<br />
Früher nämlich gabessoeinenkleinenTante-Lola-Ladenan<br />
jeder Ecke. Für vieleältere MenschenwarerdieeinzigeMöglichkeit,sich<br />
mitdem täglichen Bedarfzuversorgen<br />
und malmit<br />
anderen ins Gespräch zu kommen<br />
–ein Ort, an dem mananschreiben<br />
lassen konnte, wenn<br />
der Druck am Monatsende zu<br />
groß wurde. In den letzten Jahrenjedochverschwandendieinhabergeführten<br />
Läden, wurden<br />
durch anonyme Kaufhallen mit<br />
steriler Beleuchtung und unfreundlichem<br />
Personal ersetzt.<br />
InScharenwandertendieKonsumenten<br />
erst zuden ErotikversandhäusernunddanninsInternetab,ganzeLandstrichehatten<br />
plötzlich keine funktionierende<br />
Pornoinfrastrukturmehr.<br />
Junge Leute verließen solche<br />
Gegenden, um ihr Glück woanders<br />
zu suchen. Zurück blieben<br />
die Alten, die Armen und die<br />
Technikverweigerer. Doch immermehrvonihnenvermissten<br />
denpersönlichenSchnackander<br />
Ausleihtheke, den gepflegten<br />
PlauschandenVitrinenmitden<br />
Handschellen, Gleitcremes und<br />
Muschikitzlern, das SchwätzchenüberGottunddieWelt.<br />
So ging es auch Heinz P. und<br />
Bianca Z. Voretwaeinem Jahr<br />
aberhattensieanderThekedes<br />
Dorfkrugs die rettende Idee<br />
gegenVereinzelungundEinsam-<br />
Im kleinen Sexshop nebenan kann man Nachbarschaft spüren Foto: imago<br />
keit:„WarumnehmenwirdieSache<br />
nicht selber in die Hand?<br />
Zum Beispiel den Superdildo<br />
‚Goliath‘ für 74,95 Euro?“ Statt<br />
endlos weiterzulamentieren,<br />
machten sich die beiden aufdie<br />
Suche nach toleranten Gleichgesinnten<br />
mit viel Tagesfreizeit.<br />
NachVereinsgründungwurdein<br />
Eigenleistung eine leerstehende<br />
Reinigungrenoviert,derKontakt<br />
zuchinesischenLieferantenaufgenommen,<br />
und als endlich die<br />
bürokratischen Hürden genom-<br />
menwaren,konntediegroßeEr-<br />
öffnunggefeiertwerden.<br />
„DerLadenschlugeinwieeine<br />
Bombe, eine Sexbombe gewissermaßen“,<br />
grinst Heinz P.<br />
schmierig. „Das halbeDorfkam<br />
angeschlichen, viele zwar mit<br />
hochgeschlagenemKragen,aber<br />
hier kenntjanun wirklich jeder<br />
jeden –nichtwahr,Herr Pfarrer?“Widerstrebendlöstsichder<br />
OrtsgeistlichevonderKlinkeder<br />
Videokabine und schmunzelt<br />
uns mitverstellter Stimme zu:<br />
„AlsderHeinzunddieBiancajedem<br />
vonuns ein Gläschen Sekt<br />
spendierthaben –Natursekt natürlich<br />
–, das hatunsere Nachbarschaft<br />
zusammengebracht.“<br />
SeithervergehtkeinTag,andem<br />
der Pfarrer die beiden nichtin<br />
seine einhändiges Nachtgebet<br />
einschließt.<br />
Und auch Heinz P. versteht<br />
langsam, welch unschätzbaren<br />
Diensterseinem Dorferwiesen<br />
hat. „Wenn die Tabusfallen, steigen<br />
Herzlichkeit und Wir-Gefühl“,<br />
brummterzufrieden und<br />
nimmtdie Hand ausder Hose<br />
des Geistlichen. Seine Beobachtung:<br />
Insbesondere das gemeinsame<br />
Granteln über die ständig<br />
steigenden Buttplug-Preise<br />
schweißeeineGemeinschaftzusammen.<br />
„Angeblich sind die<br />
erdölexportierenden Länder<br />
schuld –ja, ja, wer’s glaubt!“,<br />
schimpft er in die Menge, und<br />
derPfarrerwieauchalleanderen<br />
Anwesenden stimmen lautstark<br />
ein,ehesieunterderLadentheke<br />
verschwinden.<br />
Die ermutigenden Geräusche<br />
bürgerschaftlichen Engagements<br />
begleiten mich noch, als<br />
ichdenkleinenLadenlängstverlassen<br />
habe. MitSicherheitwird<br />
er anderswo bald Nachahmer<br />
finden –vielleichtsogar bei uns<br />
untenimHaus? MARK-STEFAN TIETZE<br />
WAHRES RÄTSEL 068<br />
VON RU<br />
GURKE DES TAGES<br />
Die Ziffern hinter den Fragen zeigen<br />
die Buchstabenanzahl.<br />
1 Kellners Dachkammer? Grauzellenzelle.<br />
(13); Viehischer Nachzügler wie Suppenwürzer.(13)<br />
2 Kopfschutz fürKaltes.(8)<br />
3 Wenn es bricht, kann ein Blutrettschal<br />
nichtschaden. (13)<br />
4 Verhalten in Vogelschwärmen. (13)<br />
5 Gefühlige Hardcoreunterabteilung. (3)<br />
6 Haarverlustgradangabe.(13)<br />
7 Warendie Zehn Gebotewirklich in Stein<br />
gemeißelt oder nichteher doch in das Material<br />
der Bundeslade geritzt? (9)<br />
8 Bevorergilt,gefragter Stand. (3)<br />
9 Nochkleiderschrank für2.(13)<br />
10BemuttertziemlichgroßeEllipsoide.(3)<br />
11 Überraschend noch zu vernehmendes<br />
Echo des Nikolausrufes.(3)<br />
12 Körbchenbefehl. (5)<br />
13Etwasleiser,s’ilvousplaît,Madame!(3)<br />
14 In drei Tagen nichtzuüberhören, der gesteigerte<br />
Heinrich. (7)<br />
15 So gehtder rohe Grobian lateinisch eine<br />
Sache an. (5)<br />
16 Mussdie zwei Cent Gebührenerhöhung<br />
nächste Woche nichtfürchten. (5)<br />
17 Sind in dessenGeltungsbereich Linkseigentlich<br />
erlaubt? (5)<br />
18 Auch dieser papierene Untergrund verdankt<br />
sich womöglich einem solchen. (3)<br />
19 Gemüsekommtdoppelt vomBeet. (4)<br />
20 Dertauchtundrührtin1senkrechtsflüssigem<br />
Ambiente.(13)<br />
21 Hallo,Robert! Wie geht’sinIndien? (5)<br />
22 So sind derzeit die Nächte.(3)<br />
23 Buchstabe vomStockwerk drüber oder<br />
drunter. (3)<br />
24 Dramatische Wasserstandsmeldung<br />
aus deutscher Literaturpersonalie.(4)<br />
25 Hottehü im Land des 10.(5)<br />
26 Hallo,Dienstmann! Der Franzmussgeschwind<br />
ins SchwarzeRössl! (5)<br />
27 Der sprechende Löwe?Eher nachgesagt.<br />
(3)<br />
28Dasgibtsvom10nurimXXL-Format.(2)<br />
29 Hellwegstation nichtnur fürEsel. (4)<br />
30 Ohne Fleiß kein Preis,ohne das kein<br />
Bloggen. (6)<br />
31 Die vorige Tätigkeit istauf jeden Fall so<br />
eine.(7)<br />
32Musserstsosein,wenn’sbesserwerden<br />
soll. (3)<br />
33 MedienverwaltungsgehilfeimTaschenformat.<br />
(5)<br />
34 FerienanschriftimInternet? (3)<br />
35 Einmal wär schon oft. (3)<br />
36 Rille fern des 38.(3)<br />
37WenndieReiheeineArtReiseantritt.(5)<br />
38 Vorne Essbares,hintenauf dem Tisch,<br />
zusammen wasfür die Ohren. (13)<br />
Die Buchstaben in den eingekreistenZahlenfeldern<br />
ergeben in geänderterReihenfolge<br />
das Lösungswort:Wallensteins bekannteste<br />
Bekannte warenKlomänner in<br />
Nürnberg.<br />
Auflösung vom21. 12. 2013<br />
RUPRECHT<br />
1ZWEISTROMLAND,ZWIEBELKUCHEN; 2<br />
WACH; 3ER; 4ISS; 5SCHEINRIESE; 6THE;<br />
7RAEUBERSCHACH; 8OUTLAW; 9ASSIAC;<br />
10DEMONSTRATION;11WARSCHAU;12IC;<br />
13 SHEETS; 14 EHE; 15 UL; 16 BIBO,BRENN-<br />
PUNKT; 17 BIH; 18 PI, PEENE; 19 BAHRAIN;<br />
20 HA; 21 EIGENGEWAECHS; 22 GAEREN;<br />
23GAG;24AERAR;25KOENIGSKINDER;26<br />
KONG; 27 ILSE; 28 DOCS; 29 REE; 30 COL-<br />
PO; 31 CIE; 32 IATA;33SEHNSUCHT; 34<br />
HANSE; 35 SAH; 36 AGENS; 37 ET; 38<br />
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das Lösungswort bittebis zumEinsendeschlussam2.<br />
1. 2014 (Datum des Poststempels)<br />
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per E-Mail an: raetsel@taz.de.Der Rechtswegist<br />
wie immer ausgeschlossen.<br />
Pferde,ihrfaulenSocken!„TrabrenntagamSonntaginMönchengladbachfälltaus“,meldete<br />
dpa. Nach Veranstalterangaben<br />
wurden „nicht genügend<br />
Pferde“gemeldet. Ja,habt ihr<br />
nochalleandenHufen,ihrGäule!DahängtihrüberWeihnachtenvollgefressenaufderCouch,<br />
glotzt Actionfilme und schiebt<br />
euch zwischen den sowieso<br />
schon fetten Mahlzeiten einen<br />
Dominosteinnachdemanderen<br />
zwischen die Zähne –und dann<br />
das! Jetzt flott die Pfunde wiederruntertraben,aberhottehü!<br />
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143. Ausgabe |52. Woche Samstag |Sonntag, 28. |29. Dezember 2013 redaktion@kontextwochenzeitung.de<br />
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Bundesrat beschließt zweites<br />
Scheitern in Karlsruhe“, höhnte<br />
die NPD,nachdem der Bundesrat<br />
im Dezember 2012 einen<br />
neuen Verbotsantrag gegen die Partei beschlossen<br />
hatte.Ein Jahr später,am3.Dezember<br />
2013, erreichte die Klageschrift<br />
der Länder das Bundesverfassungsgericht:<br />
„Die NPD steht außerhalb der Verfassung,<br />
sie bekämpft sie, und deshalb ist sie<br />
zu verbieten“, erklärte der Vorsitzende<br />
der Landesinnenminister-Konferenz, der<br />
niedersächsische SPD-Politiker Boris Pistorius.<br />
„Wir wollen dazu beitragen, dass<br />
die NPD nicht länger von Parteienprivilegien<br />
wie der staatlichen Parteienfinanzierung<br />
und somit von Steuergeldern profitiert.“<br />
Konkret: Den höchsten Betrag kassierte<br />
die Partei im Jahr 2008 in einer Höhe<br />
von 1,5 Millionen Euro, was 48,2 Prozent<br />
ihrer Gesamteinnahmen entsprach. 2009<br />
waren es 1,19 Millionen (37,3 Prozent),<br />
2010 gingen 1,17 Millionen (39 Prozent)<br />
ein, 2011 nochmals 1,3 Millionen (41,9<br />
Prozent), und 2012 waren es 1,44 Millionen.<br />
Nachdem die Partei einen fehlerhaften<br />
Rechenschaftsbericht abgegeben hat,<br />
werden ihr 2013 die zustehenden Mittel<br />
mit einem Bußgeld in Höhe von 1,27 Millionen<br />
Euro verrechnet. Zusammen mit<br />
den Fraktionsgeldern aus Sachsen und<br />
Mecklenburg-Vorpommern, wo die NPD<br />
in den Landtagen sitzt, hat der Steuerzahler<br />
von 2004 bis 2012 mehr als 20 Millionen<br />
Euro in Ausländerhass, Antisemitismus<br />
und Co. investiert.<br />
VomSteuergeld, das der NPD zugutekommt,<br />
profitiert die gesamte Nazibewegung.<br />
Denn die NPD spielt eine wesentliche<br />
Rolle, was die Nachwuchsrekrutierung<br />
für das gesamte rechtsextremistische<br />
Lager betrifft. Sie nutzt ihren Parteistatus,<br />
um werbewirksame Events zu veranstalten,<br />
die keine Freie Kameradschaft genehmigt<br />
bekäme. Darunter sind Großveranstaltungen<br />
wie der „Rock für Deutschland“<br />
in Gera. Dieses Konzert, mit NPD-<br />
Rednern als Pausenprogramm, hat im Jahr<br />
2009 mehr als 5.000 Leute angelockt. Unzählige<br />
Nazis zeigten unter den Augen der<br />
Polizei den verbotenen Hitlergruß.<br />
Die NPD bietet also Rahmenbedingungen,<br />
unter denen Nazis regelmäßig Straftaten<br />
verüben. Denn bei Rechtsrock-Konzerten<br />
gehören Propaganda- und Volksverhetzungsdelikte<br />
zum guten Ton. Meist<br />
werden sie von der Polizei aber weder sofort<br />
geahndet noch im Nachhinein verfolgt<br />
–soauch im Fall des „Rock für Deutschland“<br />
in Gera. Folglich stehen diese Straftaten<br />
in keiner Straftatenstatistik. Dementsprechend<br />
unvollständig und daher<br />
mangelhaft ist der NPD-Verbotsantrag.<br />
Die Länder,welche die Klageschrift eingereicht<br />
haben, sind für diese Mängel verantwortlich.<br />
Denn im deutschen Föderalismus<br />
ist die jeweilige Landespolizei für die<br />
Strafverfolgung zuständig.<br />
Gerade die Musik ist das mit Abstand<br />
bedeutendste Propagandainstrument der<br />
Neonazis. Konzerte ziehen massenhaft<br />
junge Leute an. Das haben sogar manche<br />
Sicherheitsbehörden erkannt. Nachdem<br />
„Hitler,steig hernieder“<br />
Reiner Rocker und Thomas Kuban<br />
Wieder einmal soll die NPD verboten werden. Diesmal<br />
versuchen es die Landesinnenminister mit „öffentlichen<br />
Beweisen“, also ohne Informationen von V-Leuten. Viel<br />
erfolgversprechender wäre es, wenn sie nur genau hinhören<br />
würden –zum Beispiel auf die hasserfüllte Musik,<br />
mit der die staatlich subventionierte Partei auf Stimmenfang<br />
geht<br />
Wir lieben unser Land, wir hassen diesen Staat“: Michael Regener, Sänger der<br />
Band „Die Lunikoff Verschwörung“ in Gera Foto: Kuban<br />
die Polizei in Baden-Württemberg anno<br />
2006 massiv gegen die rechtsextreme Musikszene<br />
vorgegangen war,indem sie Konzerte<br />
gestürmt hatte, stellte das Landesamt<br />
für Verfassungsschutz in seinem Jahresbericht<br />
fest, dass in der Folge das<br />
rechtsextreme Personenpotenzial zurückgegangen<br />
sei.<br />
Ian Stuart Donaldson, der als Gründer<br />
des internationalen Neonazi-Netzwerks<br />
„Blood &Honour“ gilt, hat bereits in den<br />
1980er-Jahren erkannt, dass ein Flugblatt<br />
höchstens einmal gelesen wird, ehe es im<br />
Mülleimer landet. Lieder werden hingegen<br />
auswendig gelernt und mitgesungen,<br />
so dass sich die Inhalte im Kopf festsetzen.<br />
Die NPD hat die Strategie von „Blood<br />
&Honour“ perfektioniert. Sie hat wiederholt<br />
sogenannte Schulhof-CDs herausgebracht.<br />
Das sind Tonträger mit Musik von<br />
rechtsextremen Bands, die kostenlos an<br />
Jugendliche verteilt werden. Außerdem<br />
werden die Lieder zum kostenlosen<br />
Download ins Internet gestellt. Darunter<br />
sind Songs wie „Fuck the USA“ der Band<br />
„Noie Werte“ aus Baden-Württemberg<br />
mit dem singenden Rechtsanwalt Steffen<br />
Hammer aus Reutlingen. „Fuck the USA“<br />
richtet sich gegen den Irakkrieg der USA<br />
und weist keinen rechtsextremen Charakter<br />
auf.Das kann für Überraschungseffekte<br />
sorgen. Denn es dürften mehr junge<br />
Leute einen derartigen Krieg ablehnen als<br />
mit der NPD sympathisieren. Mit einem<br />
solchen Lied im Ohr mag mancher Jugendliche<br />
ins Grübeln geraten: „Sind die<br />
Nazis vielleicht gar nicht so schlimm, wie<br />
es meine Geschichtslehrer immer behauptet<br />
haben?“<br />
„Die Dämme werden brechen,<br />
der deutsche Sturm bricht los“<br />
Die NPD nutzt Szenestars wie den ehemaligen<br />
„Landser“-Sänger Michael Regener<br />
und seine „Lunikoff Verschwörung“, um<br />
massenhaft Publikum anzulocken. Seine<br />
Botschaft beim „Rock für Deutschland“ in<br />
Gera: „Wir lieben unser Land, aber wir<br />
hassen diesen Staat. Ihr werdet sie noch<br />
aufgehen sehn, unsre Saat. Und dann gibt<br />
es keine Gnade,unser Hass ist viel zu groß.<br />
Ihre Dämme werden brechen, und der<br />
deutsche Sturm bricht los!“<br />
An Informationsständen von einschlägigen<br />
Gruppen und Organisationen können<br />
bei NPD-Veranstaltungen vielfältige<br />
Kontakte in die Bewegung hinein geknüpft<br />
werden. Und wenn zwischen den<br />
Bands führende Parteipolitiker wie Udo<br />
Pastörs oder Udo Voigt reden, welche den<br />
Mangel an Arbeitsplätzen beziehungsweise<br />
den Mangel an fair bezahlter Arbeit anprangern,<br />
dann kommt auch das bei jungen<br />
Leuten an –obwohl sie wegen der<br />
Redner vermutlich nie zu einer NPD-Veranstaltung<br />
gegangen wären.<br />
Udo Pastörs,der NPD-Fraktionsvorsitzende<br />
im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern,<br />
sagte am 27. Juni 2009 beim<br />
NPD-Sommerfest in Sachsen: „Wir erleben<br />
zurzeit einen wirtschaftlichen und damit<br />
auch sozialen Niedergang,wie er nach<br />
dem Zweiten Weltkrieg nie stattgefunden<br />
hat, liebe Freunde. Und daraus wird die<br />
nationalistische Opposition den Nektar<br />
saugen, den sie als Kraftstoff braucht.“<br />
Pastörs,der inzwischen Vizechef der NPD<br />
ist, stellte die Frage,obes„nicht doch sein<br />
könnte, dass wir in einer Art judendominierten<br />
Republik leben“. Abgeordnete<br />
außerhalb der NPD diffamierte er als „rote,<br />
bolschewistische, demokratisch angemalte<br />
Affen“. Und er appellierte an das<br />
Publikum, in dem vom Kleinkind bis zum<br />
Rentner alle Generationen vertreten waren:<br />
„Wir sollten alles andere tun, als dieses<br />
Schiff wieder seetüchtig machen zu<br />
wollen. Wirsollten das Gegenteil tun: Wir<br />
sollten das ein oder andere Loch noch in<br />
den Kiel bohren, damit dieser Parteienstaat<br />
hinabsinkt.“<br />
Liedermacher Rennicke: Von<br />
66 Nasen wirddie Welt regiert<br />
Im Unterhaltungsprogramm hetzte der<br />
NPD-Bundespräsidentenkandidat und<br />
Liedermacher Frank Rennicke,der jahrelang<br />
in Ehningen bei Böblingen wohnte,<br />
gegen die damalige Vorsitzende des Zentralrats<br />
der Juden in Deutschland, Charlotte<br />
Knobloch, und sang: „Für Zins und<br />
Zinseszinsen halten sie die Hände auf,<br />
pressen für ihr bisschen Geld das Zehnfache<br />
heraus. Von 66 Nasen wird diese Welt<br />
regiert. […] 66Nasen singen ,History ist<br />
toll‘. Drüber quatschen, labern, stänkern,<br />
macht schnell die Kasse voll.“<br />
Am Abend der Veranstaltung mit<br />
Volksfestcharakter und mehr als eintausend<br />
Besuchern trat die Baden-Württemberger<br />
Band „Carpe Diem“auf: „Schwarz<br />
ist die Nacht, in der wir euch kriegen. Weiß<br />
sind die Männer, die für Deutschland siegen.<br />
Rot ist das Blut auf dem Asphalt.“<br />
Am Schlagzeug saß ein besonders geschäftstüchtiger<br />
Skinhead: Sascha Deuerling<br />
betrieb jahrelang das Szene-Label<br />
„RACords“ und versuchte ein nationales<br />
Auktionshaus analog zu ebay zu etablieren.<br />
Ein anderer Versandhändler, der aus<br />
Baden-Württemberg stammt, war bei der<br />
NPD mit seinem Verkaufsstand willkommen:<br />
Hartwin Kalmus. Ergalt vor dem<br />
Verbot der deutschen „Blood &Honour“-<br />
Division als Vizeführer der Sektion Baden.<br />
Das Landgericht Karlsruhe hat den<br />
CD-Dealer und Konzertveranstalter am<br />
23. März 2011 als „Rädelsführer“ einer<br />
„Blood &Honour“-Nachfolgeorganisation<br />
verurteilt.<br />
Ihre Landtags-Wahlerfolge in Sachsen<br />
(2004) und Mecklenburg-Vorpommern<br />
(2006) feierte die Partei nach dem Scheitern<br />
des ersten Verbotsverfahrens im Jahr<br />
2003. Das Bundesverfassungsgericht hatte<br />
das Verfahren abgebrochen –nicht weil<br />
die NPD so überzeugend demokratisch<br />
gewesen wäre, sondern weil der Verfassungsschutz<br />
zahlreiche Führungskräfte<br />
der NPD auf seiner Mitarbeiterliste stehen<br />
hatte: „Im Schnitt etwa ein bis zwei V-Leute<br />
in den einzelnen Vorständen“, wie das<br />
Bundesverfassungsgericht erfahren hat.<br />
„Ausnahmsweise könnten einem Vorstand<br />
aber auch drei V-Leute angehören.“<br />
Vertrauensleute, kurz V-Leute, sind<br />
keine Verfassungsschützer, welche die<br />
NPD unterwandern, sondern vom Staat<br />
bezahlte Rechtsextremisten. Die Verfassungsschutzämter<br />
wollen bis heute den<br />
Schutz der Verfassung sicherstellen, indem<br />
sie Nazis von Nazis beobachten lassen.<br />
Die staatlichen Vertreter betonten gegenüber<br />
dem Bundesverfassungsgericht,<br />
dass es nicht verboten sei, V-Leute „auf<br />
der Ebene der Vorstände anzuwerben“.<br />
Der NPD-Funktionär und Verfassungsschutz-V-Mann<br />
Udo Holtmann soll immerhin<br />
„während seiner Tätigkeit als<br />
kommissarischer Bundesvorsitzender als<br />
Quelle ,abgeschaltet‘ worden“ sein –von<br />
November 1995 bis März 1996.<br />
Parteichef Voigt sieht in Berlin<br />
schon die neue Reichskanzlei<br />
Dann übernahm Udo Voigt (1996–2011)<br />
die Führung. Mit ihrem neuen Selbstvertrauen,<br />
eine rechtsstaatlich nicht zu verbietende<br />
Partei zu sein, mietete die NPD<br />
für ihre wachsende Anhängerschaft im<br />
bayerischen Grenzgebiet zu Baden-<br />
Württemberg städtische Räume an –in<br />
Senden. Die NPD traf auf eine Gemeindeverwaltung,die<br />
sie in aller Selbstverständlichkeit<br />
wie jede andere Partei behandelte:<br />
als Mieter. In der örtlichen Stadthalle<br />
sprach am 3. April 2004, also ein Jahr nach<br />
dem Scheitern des Verbotsverfahrens, jener<br />
Udo Voigt. Er erklärte vor ein paar<br />
hundert Leuten, warum Bundesregierung,<br />
Bundestag und Bundesrat so viel Angst<br />
vor der NPD hätten. Schließlich erinnere<br />
sich mancher daran, „dass es in Deutschland<br />
schon mal eine Zeit gab, woessechs<br />
Millionen Arbeitslose gab“, und dass es<br />
„nach der Amtsübernahme der NSDAP –<br />
der sogenannten Nazis, wie dieses politische<br />
System sagt –gerade mal zwei Jahre<br />
dauerte,dann gab es in Deutschland keine<br />
Arbeitslosen mehr“. Volksvertreter<br />
demokratischer Parteien diffamierte<br />
er als „Volksverräter“. Was in
2 KONTEXT:<br />
WOCHENZEITUNG<br />
Samstag |Sonntag, 28. |29. Dezember 2013<br />
Der neue Bundesverkehrsminister<br />
Alexander Dobrindt<br />
hat eines mit seinem Vorgänger<br />
Peter Ramsauer (beide<br />
CSU) gemein, beide hatten bei Amtsantritt<br />
noch nie etwas mit Verkehrspolitik zu<br />
tun. Dennoch lobte Dobrindt in der Zeitung<br />
Die Welt das Milliardenprojekt S21<br />
im Februar als „eine Weiterentwicklung<br />
Stuttgarts“.<br />
Bei Eisenbahn nur Bahnhof zu verstehen<br />
ist allerdings keine Besonderheit von<br />
Verkehrsministern; die Bahnchefs Heinz<br />
Dürr, Hartmut Mehdorn und Rüdiger<br />
Grube traten ihren Job imvergleichbaren<br />
Zustand der Wissens-Jungfräulichkeit an.<br />
Und sie haben sich auch ohne Börsengang<br />
das gegönnt, was sie persönlich mit Privatisierung<br />
vor allem verbinden. Viel Geld<br />
auf dem eigenen Konto.Sohaben sich die<br />
Bezüge der Bahnchefs seit Anfang der<br />
90er-Jahre verzwanzigfacht, die Zahlungen<br />
an Vorstände und Aufsichtsräte verzehnfacht.<br />
Drei Ziele sollten mit der Bahnreform<br />
von 1993/94 verfolgt werden: Erstens sollte<br />
der Anteil der Schiene im Verkehrsmarkt<br />
erhöht werden. Zweitens sollten die<br />
öffentlichen Mittel für die Schiene reduziert<br />
werden. Drittens sollte aus einer angeblich<br />
fahrgastfeindlichen „Behördenbahn“<br />
ein kundenorientiertes Serviceunternehmen<br />
werden.<br />
Das einzige der drei Ziele, bei dem es<br />
neben viel Schatten auch etwas Licht gibt,<br />
ist das erste. Die Zahl der Fahrgäste stieg<br />
im 20-Jahres-Zeitraum an; offiziell um<br />
knapp 35 Prozent, real um wesentlich weniger.<br />
Die DB AG hatte –wie auch vom<br />
Bundesrechnungshof moniert –mehrmals<br />
die Fahrgaststatistik so verändert, dass es<br />
zu deutlich geschönten Ergebnissen kam.<br />
So wurden die Fahrgäste der Berliner S-<br />
Bahn in die Statistik neu aufgenommen,<br />
ohne den dadurch entstandenen Wachstumseffekt<br />
rückwirkend zu korrigieren.<br />
Auffallend ist, dass der Fahrgastanstieg<br />
ausschließlich im Nahverkehr stattfand;<br />
im Fernverkehr -und damit ausgerechnet<br />
dort, wo die Masse der Investitionen, vor<br />
allem in neue ICE-Strecken, getätigt wurde<br />
-gab es 20 Jahre lang Stagnation.<br />
Ausnahme<br />
Schienennahverkehr<br />
Das erklärte Ziel „höherer Anteil im Verkehrsmarkt“<br />
wurde nicht erreicht. Da der<br />
Verkehrsmarkt insgesamt wuchs,blieb der<br />
Anteil der Schiene trotz eines Wachstums<br />
der Fahrgastzahlen und der Leistung (Personenkilometer)<br />
nahezu konstant<br />
(6,6 Prozent 1994 und 7,5 Prozent 2012).<br />
Dass es anders geht, zeigt ausgerechnet<br />
der Binnenflugverkehr. Dessen Anteil erhöhte<br />
sich im gleichen Zeitraum von 3auf<br />
5Prozent.<br />
Die Fahrgastzahl wuchs im Nahverkehr<br />
aus zwei Gründen: Erstens weil seit 1996<br />
Nahverkehr Ländersache ist und die Länder<br />
damit „fahrgastnäher“ planen. Zweitens<br />
weil die Nahverkehrsmittel mit der<br />
Bahnreform deutlich aufgestockt wurden.<br />
Die DB Regio und die anderen Schienenverkehrsunternehmen<br />
beziehen daraus<br />
gut 60 Prozent ihrer Einnahmen.<br />
Der Zuwachs im Nahverkehr hat übrigens<br />
nichts mit „Wettbewerb“ und den<br />
„Erfolgen der Privaten“ zu tun. Es gibt real<br />
nur Wettbewerb bei den Ausschreibungen<br />
und dann, nach der Vergabe, langjährige<br />
regionale Monopole.ImÜbrigen gibt<br />
es unter den oft äußerst erfolgreichen Eisenbahnunternehmen,<br />
die mit DB Regio<br />
Der DB-Kunde als Feind<br />
von Winfried Wolf<br />
Die Bilanz zwanzig Jahre<br />
nach der Bahnreform ist<br />
katastrophal: Obwohl die<br />
Aktiengesellschaft zig Milliarden<br />
an Steuergeldern<br />
kassiert hat, wurde fast keines<br />
der ursprünglichen Ziele<br />
erreicht. Und die Kunden<br />
sind so unzufrieden wie<br />
noch nie<br />
konkurrieren, sowohl private als auch solche,<br />
die sich in öffentlichem Eigentum,<br />
teilweise im Eigentum ausländischer<br />
Staatsbahnen, befinden. Privat oder öffentlich<br />
ist in dieser Hinsicht kein relevantes<br />
Unterscheidungsmerkmal. Die wohl<br />
erfolgreichste regionale Bahn, die seit<br />
1994 mehr als eine Verzehnfachung der<br />
Fahrgastzahlen erreichen konnte, ist die<br />
Usedomer Bäderbahn (UBB), eine hundertprozentige<br />
Tochter der Deutschen<br />
Bahn AG.<br />
Das zweite Ziel, die Reduktion von<br />
Staatsknete im Schienenverkehrssektor,<br />
wurde grandios verfehlt. Die staatlichen<br />
Gelder, die pro Jahr in den Schienenver-<br />
Vorsicht, Kundschaft! Foto: Martin Storz<br />
kehrssektor fließen, haben sich gegenüber<br />
der Zeit vor der Bahnreform (und abzüglich<br />
der Sonderaufwendungen für die<br />
DDR-Reichsbahn) deutlich erhöht –von<br />
(umgerechnet) gut 10 auf rund 17 Milliarden<br />
Euro pro Jahr. Eshandelt sich dabei<br />
um folgende Positionen: Gut 4Milliarden<br />
Euro für Erhalt und Ausbau der Infrastruktur,7,1<br />
Milliarden für die Länder,die<br />
damit den Regionalverkehr bezahlen, sowie<br />
5,2 Milliarden für die Bundesbahn-<br />
Altlasten, Pensionen sowie für die noch<br />
rund 40.000 Bahnbeamten, deren Gehalt<br />
der Bund teilweise bezahlt. Dazu kommen<br />
0,6 Milliarden Euro an sonstigen öffentlichen<br />
Geldern. Sie werden unter anderem<br />
von Länder und Kommunen für Bahnhofsinstandhaltung-<br />
und -renovierung<br />
aufgebracht.<br />
Um nicht missverstanden zu werden: Es<br />
gibt gute Gründe für staatliche Unterstützung.<br />
Auch werden die Luftfahrt und der<br />
Autoverkehr deutlich stärker subventioniert.<br />
Dennoch ist festzuhalten: Auch das<br />
zweite Ziel wurde verfehlt; der Schienenverkehr<br />
hat sich für die Steuerzahlenden<br />
verteuert.<br />
Das könnte sinnvoll sein, wenn das dritte<br />
Ziel, die Schaffung eines kundenfreundlichen<br />
und serviceorientierten Unternehmens,<br />
erreicht worden wäre. Doch auch<br />
und gerade dabei: Fehlanzeige. Es<br />
herrscht eine strukturelle Kundenfeindlichkeit:<br />
So wurden seit 1994 weitere 7.000<br />
Kilometer des Streckennetzes abgebaut,<br />
gut 3.000 oder die Hälfte der Bahnhöfe<br />
aufgegeben, Tausende Schalter geschlossen,<br />
und die Pünktlichkeit verschlechterte<br />
sich deutlich. Die Abschaffung der Zuggattung<br />
Interregio hat ganze Regionen<br />
vom Schienenfernverkehr abgehängt.<br />
Zwei Höhepunkte des Serviceabbaus waren<br />
im Sommer 2010 der massenhafte Ausfall<br />
von ICE-Klimaanlagen und ein halbes<br />
Jahr später mit dem „Winterchaos“. Bundesweit<br />
bekannt wurde auch die Dauerkrise<br />
der S-Bahn in Berlin und Brandenburg<br />
seit 2009.<br />
Gleichzeitig werden die Fahrgäste in<br />
immer engere Sitze gezwängt. Der Sitzabstand<br />
des ICE-1, der aus der Zeit vor der<br />
Bahnreform stammt, war in der zweiten<br />
Klasse noch 1.025 Millimeter groß. Im<br />
überarbeiteten ICE-1 schrumpft er auf 920<br />
Millimeter.Und in den ICx-Fernverkehrszügen,<br />
die 2015 in Betrieb genommen werden,<br />
gibt es mit 856 Millimetern das Billigairline-Niveau.<br />
Damit erleben wir in rund<br />
25 Jahren eine Reduktion des Sitzabstands<br />
um 17 Prozent.<br />
Nur in Kriegs- und Krisenzeiten<br />
gab es mehr Ausfälle<br />
Neben den immer unerträglicher werdenden<br />
Verspätungen fallen auch immer mehr<br />
Züge ganz aus: inzwischen pro Woche 200.<br />
Das gab es –Kriege und Zeiten mit extremen<br />
Krisen ausgenommen –inknapp 180<br />
Jahren deutscher Eisenbahngeschichte<br />
noch nie.<br />
Werhäufig Zug fährt, kennt die bedrü-<br />
ckende Situation beispielsweise an einem<br />
Freitagnachmittag, wenn in der 2. Klasse<br />
alle Sitzplätze belegt sind und Hunderte<br />
Fahrgäste zum Stehen gezwungen sind<br />
oder sich einen Sitzplatz in den Wagendurchgängen,<br />
vor den Ausgängen oder auf<br />
dem Boden vor den Toiletten nehmen<br />
müssen. Grund: Die Zahl aller Sitzplätze<br />
im Nah- und Fernverkehr ist heute deutlich<br />
geringer als 1991 oder als 2002 –trotz<br />
höherer Fahrgastzahlen.<br />
Soweit die Symptome.Untersucht man<br />
das System Schiene genauer, soerkennt<br />
man: Es gab in den vergangenen Jahren einen<br />
weitreichenden Abbau von Kapazitäten.<br />
Zur Verkleinerung des Streckennetzes<br />
um 7.000 km (19 Prozent) kommen der<br />
Abbau von Ausweichgleisen und die Halbierung<br />
der Zahl der Weichen. Damit wurde<br />
die Durchlassfähigkeit des Netzes drastisch<br />
minimiert. Die Zahl der Gleisanschlüsse<br />
– die direkten Anschlüsse von<br />
Unternehmen ans Schienennetz –wurde<br />
um 80 Prozent (von 12.000 auf 2.300) reduziert.<br />
Die Folge: mehr Güterverkehr auf<br />
der Straße.<br />
Nicht zuletzt kam es zu einer Halbierung<br />
der Zahl der Beschäftigten im Schienenbereich<br />
bei gleichzeitig enorm erhöhter<br />
Arbeitsdichte für das verbliebene Personal.<br />
Regelmäßig fallen Züge aus, weil<br />
Fachleute wie Lokführer fehlten. Täglich<br />
verkehren Hunderte Züge im Schienennetz<br />
ohne Begleitpersonal. Im Sommer<br />
2013 konnte der Mainzer Hauptbahnhof<br />
fast drei Wochen lang nur extrem eingeschränkt<br />
befahren werden, weil es zu wenig<br />
Stellwerker gab.<br />
Der krasse Sparkurs im Inneren steht in<br />
auffallendem Kontrast zur Spendierlaune<br />
der Bahnchefs im Ausland: Seit 1994 hat<br />
sich die AG zu einem weltweit agierenden<br />
Konzern entwickelt, bei dem zunehmend<br />
Luftfracht, Seefracht, Busverkehr und Logistik<br />
im Zentrum stehen. Gut 40 Prozent<br />
des Umsatzes der Deutschen Bahn AG<br />
werden inzwischen in bahnfremden Bereichen,<br />
oft auch in Sektoren, die mit der<br />
Schiene konkurrieren, erzielt.<br />
Die Operation Bahnreform unter der<br />
rot-grünen Koalition unter Gerhard<br />
Schröder zielte nicht nur auf die Umwandlung<br />
in eine Aktiengesellschaft, sondern<br />
auch auf eine materielle Privatisierung der<br />
Bahn, den Börsengang.Umdie Zahlen zu<br />
schönen, haben die Bahnchefs systematisch<br />
Kapazitäten abgebaut und fuhren<br />
und fahren auf Verschleiß. Für Bahnchef<br />
Grube gilt jedenfalls noch immer, was er<br />
vor zwei Jahren der FAZ gesagt hat: „Der<br />
Zeitpunkt für eine Privatisierung wird<br />
wieder kommen.“<br />
Im neuen schwarz-roten Koalitionsvertrag<br />
heißt das dann so: „Die Eisenbahninfrastruktur<br />
ist Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge<br />
und bleibt in der Hand des<br />
Bundes.“ Damit haben Kanzlerin Angela<br />
Merkel und ihr Vize Sigmar Gabriel ausschließlich<br />
eine Garantie für den Verbleib<br />
des Schienennetzes in öffentlichem Eigentum<br />
ausgesprochen und einen Verkauf<br />
oder einen Börsengang des Restes offengelassen.<br />
■ Winfried Wolf hat zusammen mit Bernhard<br />
Knierim gerade die Arbeiten zu dem Buch „Bitte<br />
umsteigen! 20 Jahre Bahnreform“ abgeschlossen.<br />
Es wirdimFebruar im Stuttgarter Schmetterling-Verlag<br />
erscheinen (220 Seiten im Großformat,<br />
19,80 Euro)<br />
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| MACHT &MARKT |<br />
auf: www.kontext-wochenzeitung.de<br />
Fortsetzung<br />
von Seite 1<br />
Deutschland „abgezogen“ werde, sei die<br />
„planmäßige Vernichtung des deutschen<br />
Volkes“. Mit Hinweis auf das Holocaust-<br />
Mahnmal in Berlin sagte Voigt: „Wir bedanken<br />
uns dafür, dass man uns dort jetzt<br />
schon die Fundamente der neuen deutschen<br />
Reichskanzlei geschaffen hat.“<br />
Der Scharfmacher Voigt ist dabei keineswegs<br />
Geschichte. Nachdem bei der<br />
Partei wieder ein Wechsel an der Spitze<br />
ansteht –Chef Holger Apfel hat sein Amt<br />
„krankheitsbedingt“ abgelegt –ist der Exvorsitzende<br />
wieder als Führerfigur im Gespräch.<br />
Voigt hatte Apfel für dessen Konzept<br />
des „seriösen Radikalismus“ seit Langem<br />
kritisiert.<br />
Voigt trat auch am 10. Februar 2007<br />
beim „Day of Honour“ in Ungarn auf,um<br />
tote SS-Soldaten als Helden zu verehren.<br />
„Wir verneigen uns in größter Ehrfurcht<br />
derem: „Ran an den Feind! Bomben auf<br />
Israel! Wir stellen die jüdische Drecksau<br />
zum letzten entscheidenden Schlag. Wir<br />
halten Gericht, ihre Weltmacht zerbricht.“<br />
Und: „Adolf Hitler, steig hernieder und<br />
regiere Deutschland wieder. Lasse in diesen<br />
miesen Zeiten, das ganze Pack nach<br />
Auschwitz reiten. Wir fülln die Arbeitslager<br />
mit den ganzen Juden. Dann ist Schluss<br />
mit Raffen-Raffen. […]Zeig mir die Öfen,<br />
wo man sie verbrannt hat. Diesen Beweis<br />
man nicht erbringen kann. […] Ja, man<br />
muss zuerst das Giftgas in die Kammer<br />
fülln. Und um das Ganze einen schicken<br />
Schleier hülln. Mit ner Brause und nem<br />
Abfluss,wie ne Dusche sieht das aus.Und<br />
fertig ist der Holocaust.“ Zwei NPD-<br />
Funktionäre salutierten mit dem Hitlergruß.<br />
Für die NPD ist der Verbotsantrag ein<br />
„dummes Unterfangen“ Um solche Eindrücke<br />
von der NPD und ihren Vertretern<br />
für ein Verbotsverfahren zu gewinnen, bedarf<br />
es keiner V-Leute in NPD-Parteivor-<br />
vor unseren gefallenen Kameraden, deren<br />
Opfer uns höchste Verpflichtung ist“, sagte<br />
der damalige NPD-Chef in seiner Rede.<br />
„Kameraden! Ihr seid die neuen, jungen<br />
Freiwilligen für ein besseres Europa! So<br />
lange Ihr weitermacht, ist der Kampf für<br />
ein besseres Deutschland, für ein besseres<br />
Ungarn, für ein Europa freier Völker nicht<br />
zu Ende.“ Über 1.000 Nazis, darunter unzählige<br />
Deutsche, standen auf dem Budapester<br />
„Heldenplatz“ in militärischer Formation<br />
–teilweise uniformiert –stramm.<br />
Mitorganisator dieser Gedenkveranstaltung<br />
war „Blood &Honour“. In einer<br />
Art Clubhaus der Organisation gaben am<br />
Abend des „Tags der Ehre“ internationale<br />
Musiker ein Konzert, zu dem NPD-Funktionär<br />
Matthias Fischer im „Blood &Honour<br />
Hungarica“-Shirt erschien. Neonazis<br />
aus verschiedenen Ländern Europas bejubelten<br />
unter anderem den bayerischen Gitarristen<br />
Manfred „Edei“ Edelmann, der<br />
in Deutschland schon bei NPD-Veranstaltungen<br />
aufgetreten ist. Er sang unter anständen.<br />
Das gelingt aus einer Mitläuferrolle<br />
heraus,wie sie nicht nur Journalisten,<br />
sondern auch verdeckte Ermittler spielen<br />
können –also ausgebildete Verfassungsschützer<br />
oder Polizisten. Hätten die Sicherheitsbehörden<br />
so gearbeitet, dann<br />
müssten die Landesinnenminister jetzt<br />
nicht betonen, dass sie für die Klageschrift<br />
gegen die NPD nur „öffentliche Beweise“<br />
zusammengetragen und V-Leute in den<br />
Führungsgremien der Partei zum 1. April<br />
2012 „abgeschaltet“ hätten.<br />
Ein „tollkühnes, aber<br />
dummes Unterfangen“?<br />
Ob das für ein NPD-Verbot ausreicht?<br />
Der Grünen-Bundestagsabgeordnete<br />
Hans-Christian Ströbele äußert Bedenken:<br />
„Die NPD wird durch ihre Rechtsvertreter<br />
versuchen, V-Leute als wahre Urheber<br />
von Teilen des Verbotsmaterials darzustellen.“<br />
Bereits im ersten Verfahren<br />
hatte die NPD so argumentiert: Ein Parteiverbotsantrag<br />
könne nicht mit Tatsachen<br />
begründet werden, von denen sich<br />
nicht ausschließen lasse, dass sie der betroffenen<br />
Partei von „interessierter Seite“<br />
untergeschoben worden seien - von V-<br />
Leuten. Dazu passt, dass die NPD den aktuellen<br />
Verbotsversuch als „tollkühnes,<br />
aber dummes Unterfangen“ bezeichnet<br />
hat. Die Partei sieht dem Verfahren „mit<br />
dem notwendigen Ernst, aber auch mit der<br />
angemessenen Gelassenheit entgegen“.<br />
■ Thomas Kuban ist das Pseudonym eines Journalisten,<br />
der über zehn Jahre hinweg mit versteckter<br />
Kamera im Neonazi-Bereich recherchiert<br />
hat. Bei jedem konspirativen Konzert konnte er<br />
Straftaten filmen, die auch im Fernsehen dokumentiert<br />
wurden. Aber nur in einem Fall haben die<br />
Ermittlungsbehörden die Straftäter zur Rechenschaft<br />
gezogen.<br />
Mehr aus der Rubrik<br />
| ÜBERM KESSELRAND |<br />
auf: www.kontext-wochenzeitung.de
KONTEXT: 3<br />
Samstag |Sonntag, 28. |29. Dezember 2013 WOCHENZEITUNG<br />
Hans-Walter Roth ist einer,der<br />
gerne genau hinschaut und<br />
den klaren Blick bevorzugt.<br />
Das zeigt schon die mit historischen<br />
Sehhilfen prall gefüllte Vitrine im<br />
Gang zu seinem Arbeitszimmer,die jedem<br />
Technikmuseum gut anstehen würde. Der<br />
Hang zur Erhaltung der Sehschärfe mag<br />
seinem Beruf geschuldet sein, gleichwohl<br />
reicht er weit über seine Praxis hinaus,zumal<br />
Roth bei auftretender Kurzsichtigkeit<br />
nicht selten auch eine politische Indikation<br />
diagnostiziert. Mit seiner nahezu notorischen<br />
Weigerung, eine Parteibrille zu<br />
tragen, hat sich der stellvertretende CDU-<br />
Fraktionsvorsitzende im Ulmer Gemeinderat<br />
in eigenen Reihen Kritik und den<br />
Ruf eines Querkopfs eingehandelt.<br />
Besonders in Fragen der Gesundheitspolitik<br />
sieht Roth rot. Die zunehmende<br />
Privatisierung und das damit einhergehende<br />
Gewinnstreben zulasten einer fairen<br />
Allgemeinversorgung für alle Menschen<br />
haben seiner Ansicht nach bereits unerträgliche<br />
Formen angenommen. „Die<br />
Konsortien haben den Patienten längst als<br />
Melkkuh ausgemacht“, sagt der Mann, der<br />
als Vater und Entwickler der Kontaktlinse<br />
gilt. „Gesundheit gibt es bald nur noch für<br />
Wohlhabende.“ Um an die entsprechenden<br />
Futtertröge zu kommen, machten<br />
Krankenkassen und Großversorger gemeinsame<br />
Sache und unternähmen jegliche<br />
Anstrengungen, Praxen niedergelassener<br />
Ärzte zu übernehmen, um medizinische<br />
Versorgungszentren zu installieren.<br />
„Die Praxen werden<br />
regelrecht ausgehungert“<br />
„Enteignung“ nennt der renommierte Augenarzt<br />
diese planvolle Vorgehensweise,<br />
der auch seine Praxis 2008 zum Opfer gefallen<br />
ist. Damals wurde der Druck über<br />
Budgetkürzungen so lange erhöht, bis sich<br />
die Praxis nicht mehr rechnete: „Die Praxen<br />
werden regelrecht ausgehungert.“ Eine<br />
Belagerung mit schriftlicher Ankündigung:<br />
„Ich erhielt einen Brief mit der Mitteilung,<br />
dass ich runterbudgetiert werde.“<br />
Zuvor belief sich das zugestandene Regelleistungsvolumen<br />
pro Patient und Quartal<br />
auf 80 bis 90 Euro.„Dann wurde es heruntergesetzt<br />
auf 18 Euro.“ Und der gewünschte<br />
Effekt stellte sich prompt ein –<br />
Roth gab seine Praxis auf: „Ich wäre nicht<br />
mehr zahlungsfähig gewesen.“<br />
Nutznießer seien gewinnorientierte<br />
Konsortien wie Sana, Helios oder die<br />
Rhön-Klinik, die Preise gegenüber den<br />
Krankenkassen bestimmen könnten und<br />
sich nur noch jenen Patienten bevorzugt<br />
Rebelliert für guten Durchblick: Augenarzt Hans-Walter Roth Foto: Bernd Rindle<br />
Der graue Star<br />
von Bernd Rindle<br />
Dieser Augenarzt ist Krankenkassen und Gesundheitskonzernen<br />
ein DornimAuge. Und manchmal auch der<br />
Stachel im Fleisch seiner christdemokratischen Parteikollegen.<br />
Denn Hans-Walter Roth rebelliert unverdrossen<br />
gegen den Ausverkauf des Gesundheitssystems. In seiner<br />
Ulmer Armenklinik behandelt er auch jene, die sich<br />
medizinische Versorgung nicht mehr leisten können<br />
widmen würden, deren Krankheitsbilder<br />
lukrativ zu behandeln seien. „Kaufleute<br />
haben längst die Macht über die Medizin<br />
übernommen“, bestätig die Ulmer Autorin<br />
Renate Hartwig. Sie tourt einerseits<br />
durch die Lande, umden Menschen in<br />
Vorträgen zu verdeutlichen, dass sich das<br />
„Gesundheitssystem auf Abwegen“ befindet.<br />
Andererseits hinterfragt sie die Verwendung<br />
von Kassenbeiträgen: „Sind die<br />
190 Milliarden für uns alle da, oder wer bedient<br />
sich an dem Geld?“ Die großen Versorger<br />
hätten jedenfalls keinen anderen<br />
Zweck, als den Betreibern die Taschen zu<br />
füllen.<br />
Tendenz zur<br />
Rosinenpickerei<br />
Eine Entwicklung, die auch der Kassenärztlichen<br />
Vereinigung nicht entgangen<br />
ist. „Dass private Unternehmen versuchen,<br />
Arztsitze zu kaufen, um in den ambulanten<br />
Sektor zu kommen und die<br />
Strukturen zu ihren Gunsten zu verändern,<br />
ist eine Tendenz, die wir durchaus<br />
mit einiger Sorge sehen“, sagt Kai Sonntag,<br />
Sprecher des baden-württembergischen<br />
Verbands. Zwar sei man nicht<br />
grundsätzlich gegen medizinische Versorgungszentren,<br />
„Rosinenpickerei“ und das<br />
Aussuchen von „Gruppen, die besonders<br />
lukrativ“ seien, lehne man jedoch ab.<br />
Jenen, die keine Gewinnerwartungen<br />
erfüllen können, nimmt sich Hans-Walter<br />
Roth in seiner Armenklinik an. Der 69-<br />
Jährige hat über die Jahre ein Netzwerk<br />
gleich gesinnter Ärzte gesponnen, die sich<br />
mehr ihrem Auftrag als dem Reibach verpflichtet<br />
fühlen. Rund 40 Mediziner verschiedenster<br />
Fachdisziplinen kümmern<br />
sich in Ulm um Menschen, die sonst durchs<br />
Raster fallen würden –entweder weil die<br />
Kassen die Behandlungskosten nicht<br />
übernehmen und auch für Medikamente,<br />
Hilfsmittel und Nachsorge nicht geradestehen,<br />
oder weil Patienten schlichtweg<br />
nicht versichert sind. Was, aller Krankenversicherungspflicht<br />
zum Trotz, immer<br />
noch oft der Fall sei.<br />
An Beispielen mangelt es so wenig wie<br />
an Ausreden der Krankenkassen, Leistungen<br />
nicht zu übernehmen –mit einer bisweilen<br />
nicht zu überbietenden Dreistigkeit:<br />
So wurden einer älteren wie mittellosen<br />
Frau sowohl die benötigten Augentropfen<br />
als auch eine Therapie mit dem<br />
Argument verweigert, dass sie nicht unter<br />
einer Krankheit, sondern unter einer „Befindlichkeitsstörung“<br />
leide. Eine andere<br />
Patientin hatte nicht nur die Bürde eines<br />
Augenleidens zu tragen, sondern auch das<br />
Joch der Budgetknappheit –mehr als 18,47<br />
Euro pro Quartal waren an ihr nicht zu<br />
verdienen. Sie fand außer Roth keinen<br />
Arzt, der sie dafür behandeln wollte.<br />
Standesdünkel kann man den Kassen<br />
indes nicht nachsagen. Sie machen keinen<br />
Unterschied zwischen einem Berber und<br />
einem insolventen Selbstständigen: Wer<br />
pleite ist, hat Pech gehabt. Selbst wenn es<br />
sich um lebensbedrohliche Krankheiten<br />
wie Brustkrebs handelt, an dem eine Unternehmerin<br />
erkrankt war.Dasie die Beiträge<br />
ihrer privaten Krankenversicherung<br />
nicht mehr zahlen konnte,winkte die Kasse<br />
zunächst ab und wollte die Frau ihrem<br />
Schicksal überlassen. Erst als Roth Fall<br />
und Versicherung öffentlich bekannt<br />
machte und sich ein befreundeter Gynäkologe<br />
bereit erklärte, die Operation<br />
durchzuführen, übernahm die Kasse die<br />
rund 30.000 Euro teure Behandlung.<br />
Durchschnittlich 50 Patienten suchen<br />
die Armenklinik pro Monat auf, davon<br />
täglich zwei bis drei, die um eine Sehhilfe<br />
bitten, da Krankenkassen den Brillenerwerb<br />
nicht bezuschussen, Roth aber über<br />
Brillenspenden Abhilfe schaffen kann.<br />
Unterstützt und koordiniert wird das Projekt<br />
über den Verein „Medinetz Ulm“, einer<br />
von Medizinstudenten gegründeten<br />
medizinischen Beratungs- und Vermittlungsstelle<br />
für Flüchtlinge, Migranten,<br />
Obdachlose und Menschen ohne Krankenversicherung.<br />
Wer sich dort meldet<br />
und das Codewort „Katharinenstiftung“<br />
nennt, das an die im Mittelalter in Ulm gegründete<br />
Armenklinik des Patriziers Johannes<br />
Roth erinnert, wird an den entsprechenden<br />
Facharzt vermittelt.<br />
Der Bitte um Mäßigung will<br />
Roth nicht nachkommen<br />
Die alte reichsstädtische Tradition des<br />
bürgerschaftlichen Engagements für<br />
Schwächere hat sich allerdings nicht allerorten<br />
in die Gegenwart retten können. Für<br />
seinen Einsatz hat Dr. Hans-Walter Roth<br />
schon manchen Rüffel seiner Parteifreunde<br />
einstecken müssen. Neben seiner Ex-<br />
Stadtratskollegin und ehemaligen badenwürttembergischen<br />
Sozial- und Familienministerin<br />
Monika Stolz, die ihn einst bezichtigte,<br />
„nur eine Show abzuziehen“, ist<br />
auch Annette Schavan „mit der Bitte um<br />
Mäßigung“ an ihn herangetreten. „Dem“,<br />
versichert der Augenarzt, „werde ich nicht<br />
nachkommen.“<br />
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| PULSSCHLAG |<br />
auf: www.kontext-wochenzeitung.de<br />
Schaubühne<br />
Geheimnis des Lebens<br />
Verwundert werden sich die Leserinnen<br />
und Leser die Augen<br />
reiben: ein Sammelsurium an<br />
Fragen? Davon habe ich doch<br />
selber schon genug. Wobleiben die Antworten?“,<br />
fragt der Betriebsseelsorger<br />
Paul Schobel.ZuWeihnachten machen er<br />
und Kontext-Fotograf Joachim E. Röttgers<br />
sich auf die Suche nach dem Sinn und<br />
Unsinn des Lebens. Antworten finden<br />
muss der Schaubühne-Schauer aber selbst.<br />
Eine Frage ist eine „Äußerung zur Beseitigung<br />
einer Wissenslücke“, meint ein<br />
schlaues Lexikon und schießt damit eindeutig<br />
zu kurz. Wenn's nur um eine „Wissenslücke“<br />
ginge –dakönnte man sich behelfen.<br />
In Wirklichkeit aber ist unser gan-<br />
zes Leben ein einziges Fragezeichen. Die<br />
intensive Suche nach Sinn mündet meistens<br />
in der „Sinnfrage“ –sie bleibt weitgehend<br />
unbeantwortet. Auch die Zunft der<br />
Theologen vermag nicht mehr, als die<br />
„Gottesfrage“ immer wieder neu anzugehen<br />
und von verschiedenen Seiten her zu<br />
beleuchten.<br />
„Zu fragen bin ich da, nicht zu antworten“,<br />
meint der norwegische Schriftsteller<br />
und Dramatiker Henrik Ibsen, und ich<br />
vermute, erhat recht! Leben ist frag-würdig,<br />
indes Wortes doppeldeutigem Sinn.<br />
Leben ist es wert, nachgefragt zu werden.<br />
Es ist anstrengend, aber lohnend. Mütter<br />
und Väter mit Kindern im „Warumü?“-<br />
Alter wissen ein Lied davon zu singen. Die<br />
süßen Kleinen lassen nicht locker und nerven<br />
bis zur Weißglut. Damit zwingen sie<br />
uns, nach passablen Antworten zu suchen<br />
oder aber –Fragen offenzulassen. Das ist<br />
für Kinder eine der wichtigsten Erfahrungen,<br />
dass ihre Eltern auch nicht allwissend,<br />
sondern selbst Fragende geblieben sind.<br />
Wir sind Suchende, vom ersten bis zum<br />
letzten Atemzug.Alle Fragen sind die kleinen<br />
Geschwister der großen Fragen nach<br />
dem Woher und Wohin.<br />
Der Kapitalismus verkürzt die Frage<br />
auf „Nach-Frage“ und setzt dieser sein<br />
„Angebot“ entgegen. Ein Ablenkungsmanöver,und<br />
ein gefährliches dazu! Als Kinder<br />
dieser Zeit laufen wir alle Gefahr,unser<br />
tiefstes Sinnen und Trachten, Sehnen<br />
und Fragen mit dem Surrogat des Konsums<br />
zu befriedigen.<br />
Antworten machen satt und träge.<br />
Fragen halten uns wach und rege, so<br />
kommen wir dem Geheimnis unseres<br />
Lebens auf die Spur.<br />
■ Paul Schobel hat 38 Jahre lang in der Betriebsseelsorge<br />
der Diözese Rottenburg gearbeitet,<br />
von 1991 bis 2008 war er deren Leiter.<br />
Bei den katholischen Hierarchen war er nie beliebt,<br />
bei den Malochernschon. Er hat auch<br />
schon undercover an den Werkbänken gestanden.<br />
Zum Buch „Wohin gingen an dem<br />
Abend die Maurer“ von Autor Guido Lorenz<br />
und unserem Fotografen Joachim E. Röttgers<br />
hat er das Vorwort geschrieben.
4 KONTEXT:<br />
WOCHENZEITUNG<br />
Samstag |Sonntag, 28. |29. Dezember 2013<br />
Ich weiß natürlich nicht, ob Du Menschengemachtes<br />
überhaupt noch zur<br />
Kenntnis nimmst. Womöglich bist<br />
du inzwischen derart enttäuscht vom<br />
Homo sapiens –Dukannst ja sicher mittlerweile<br />
ein bisschen Latein –, dass Du dir<br />
der Einfachheit halber Augen und Ohren<br />
zuhältst. Ein bißchen ungerecht wäre das<br />
natürlich, weil auf höchst mysteriöse Weise<br />
sind wir ja auch Deine Geschöpfe,Stichwort<br />
Trinität oder zu Deutsch Dreifaltigkeit,<br />
Du weißt schon.<br />
Ich schreibe Dir trotzdem, weil<br />
Wunschzettel ein uralter Brauch in dieser<br />
Jahreszeit sind. Bräuche und Gewohnheiten<br />
hat man gern hier unten (sind gut fürs<br />
Wir-Gefühl). Auch deshalb gibt es ja schon<br />
seit Wochen in den Kaufhäusern unentwegt<br />
„Sti-hille Nacht“ oder „O du fröhliche“,<br />
wie alle Jahre wieder.Erfahrungsgemäß<br />
steigert das die Kauflaune (ist gut für<br />
die Konjunktur) und zugleich eine weihevolle<br />
Stimmung (ist gut für Dich). Stichwort<br />
gut. Darum, also ums irgendwie<br />
Nützliche,dreht sich ja alles in der Evolution,<br />
aber von der verstehst Du nichts,sehr<br />
geehrtes Christuskind. Jedenfalls sehen<br />
die Leute in Dir seit eh und je so eine Art<br />
Inbegriff vom Guten. Dewegen kommst<br />
Du speziell in der Weihnachtszeit dauernd<br />
vor; in den anderen Jahreszeiten eher weniger.<br />
„Chri-hist der Retter ist da“, singen<br />
Jung und Alt am sogenannten Heiligen<br />
Abend, und den Sentimentalen unter den<br />
Erwachsenen tritt dann oft verstohlen eine<br />
Träne ins Auge. Wenn ich da gleich mal<br />
den ersten Wunsch loswerden dürfte (ich<br />
will nämlich weder Hemd noch Schal und<br />
auch keinen Gutschein für den Flieger<br />
nach Malle): Mach doch mal, dass die Leute<br />
sich wenigstens ein paar Minuten überlegen,<br />
was sie sich da eigentlich alles widerspruchslos<br />
anhören und sogar selber<br />
von sich geben. Das ist nämlich echt der<br />
Hammer.Zum Beispiel halten sich die allermeisten<br />
Leute, die ich so kenne, gar<br />
nicht für rettungsbedürftig,auch nicht von<br />
Dir. Ziemlich viele sind sogar ziemlich<br />
überzeugt von sich, auch wenn mir persönlich<br />
das nicht immer in dem Maße einleuchtet.<br />
Ob das aber zum Text von „Stihille<br />
Nacht“ passt oder nicht, scheint ihnen<br />
komplett schnuppe zu sein.<br />
MEHR KONTEXT AUF<br />
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S-Klasse<br />
Schwarz, rot, depressiv<br />
Der Psychiater hat den Frisör abgelöst.<br />
Jedenfalls als Gesprächsthema bei Party<br />
und vor allem bei Jugendlichen. Das hat<br />
unsereAutorin ELENAWOLF,die im Moment<br />
in den Endzügen ihrer Masterarbeit<br />
liegt, beobachtet. Und sie hat sich gefragt:<br />
Wasist eigentlich los mit uns Jungen?<br />
„Früher haben wir Depression offenbar<br />
mit Langeweile verwechselt. Heute<br />
wissen wir nicht einmal mehr,wie sich<br />
Langeweile anfühlt“, schreibt sie. „Je älter<br />
man wird, desto größer werden die<br />
Srogen –wie weiße Elefanten, die sich in<br />
die Mitte unseres geistigen Wohnzimmers<br />
stellen und die Sicht auf alles andere<br />
blockieren.“ Den ganzen Artikel lesen<br />
Sie online auf www.kontextwochenzeitung.de<br />
Ausgeclippt<br />
Das Ende von Infopaq kam still und leise<br />
in der Adventszeit. Das Aus des traditionsreichen<br />
Medien-Auswerters ist kein<br />
Horrorszenario, das sich Globalisierungskritiker<br />
ausgedacht haben. Es ist<br />
vielmehr ein Lehrstück, wie ein Unternehmen,<br />
das sich einen exzellenten Ruf<br />
erarbeitet hat, systematisch an die Wand<br />
gefahren wird. Unser Autor WILHELMRE-<br />
SCHL war auf der letzten Betriebsversammlung.<br />
KONTEXT:FÖRDERN<br />
Hinzu kommt dieses religiöse<br />
Allianz-Versicherungs-Gefühl<br />
Jedenfalls: Wenn ich ihnen mit der Erbsünde<br />
komme und deren laut Bibel äußerst<br />
unangenehmen Folgen, fällt ihnen<br />
immer gleich ein anderes Thema ein, das<br />
Wetter beispielsweise oder wie teuer alles<br />
ist. Und wenn ich dann nachhake und sie<br />
darauf aufmerksam mache,dass laut Bibel<br />
dermaleinst nur ziemlich wenige ins Paradies<br />
gelassen und die anderen schmoren<br />
werden, dann gelte ich ihnen als Sonderling.<br />
Nicht wenige von denen gehen aber<br />
gewohnheitsmäßig zu Weihnachten in die<br />
Kirche und sprechen dort Worte wie diese:<br />
„… von wo er kommen wird zu richten die<br />
Lebendigen und die Toten.“ Wahrscheinlich<br />
tun sie das auch wegen dieses feierlichen<br />
Kribbelns,und das ist ja etwas Schönes.<br />
Hinzu kommt wohl dieses religiöse<br />
Allianz-versichert-Gefühl, das beruhigt<br />
und ist insofern wieder etwas Nützliches.<br />
Ritus und Tabu, hätte Sigmund Freud vielleicht<br />
gesagt, aber diesen gottlosen Heiden<br />
kennst Du wieder nicht, sehr geehrtes<br />
Christuskind.<br />
Dein Image ist und bleibt jedenfalls super.<br />
Die allergrößten Menschen können<br />
nur träumen davon, sogar Götze(!) oder<br />
Ronaldo.Und das,obwohl es doch für die<br />
allermeisten richtig eng wird, wenn es so<br />
kommt, wie Du prophezeit hast. Dass Du<br />
es trotzdem in zweitausend Jahren zu einem<br />
Mega-Ansehen und einer kolossalen<br />
Popularität gebracht hast, das ist Wahnsinn!<br />
Wenn Du mir wenigstens mal in groben<br />
Zügen verraten könntest, wie Du das<br />
hinkriegst –das wäre toll. Das war schon<br />
mein zweiter Wunsch. Und wenn Du gerade<br />
dabei bist, das eine oder andere zu klären,<br />
dann lass mich doch bitte auch gleich<br />
wissen, wieso Ihr drei da oben (siehe Trinität)<br />
jemanden auf ewig verdammen<br />
wollt, bloß weil der nicht an Euch glaubt.<br />
Wir leben heutzutage in einer Demokratie,<br />
sehr geehrtes Christuskind, auch davon<br />
verstehst Du natürlich nichts.<br />
Das heißt unter anderem, dass man<br />
nicht bestraft wird wegen seiner Meinung.<br />
Das ist auch gut so, und das muss doch<br />
auch für Religionsangelegenheiten gelten.<br />
Das könnte sogar Euch da oben klar sein,<br />
jedenfalls bei etwas Nachdenken. Mein<br />
dritter und letzter Weihnachtswunsch,<br />
man soll ja nicht unbescheiden sein, geht<br />
„Sehr geehrtes<br />
Christuskind …“<br />
von Peter Henkel<br />
Die meisten Menschen halten sich nicht für rettungsbedürftig.<br />
Zur Weihnachtszeit singen viele trotzdem gerne<br />
„Chri-hist der Retter ist da“. Ein Sonderling macht sich<br />
Gedanken über die Erbsünde, ewige Verdammnis und<br />
die sagenhafte Popularität des christlichen Glaubens.<br />
Ein offener Brief ans Christuskind<br />
„Ich hätte da mal einen Wunsch …“ Fotos: Martin Storz<br />
ganz schnell: Macht, dass wenigstens das<br />
größte Elend in Eurer Schöpfung endlich<br />
aufhört. In der Schule lernt man, dass ganz<br />
bestimmt Dein Vater ohne Weiteres dafür<br />
sorgen könnte, wenn er wollte. Ich ahne,<br />
warum er es nicht tut, aber dazu ganz unten<br />
mehr.<br />
Jedenfalls lassen sich Eure Anhänger<br />
viel einfallen, wenn es darum geht, ihn in<br />
Schutz zu nehmen. Mal schieben sie dem<br />
Menschen und seinem sogenannten freien<br />
Willen die Schuld zu für alles Böse auf der<br />
Welt, und wenn das nicht geht, wegen Erdbeben,<br />
Dürre oder Flutkatastrophe, dann<br />
sagen sie, man kann eben nicht alles mit<br />
dem Verstand klären. Also da könnt Ihr da<br />
oben echt stolz sein auf Eure Anhänger.<br />
Sehr geehrtes Christuskind! Natürlich<br />
hast Du weder Zeit noch Lust zu lesen, was<br />
Menschen so alles schreiben. Es ist ja auch<br />
wirklich viel Schrott dabei. An Deiner<br />
Stelle würde ich aber eine Ausnahme machen<br />
und mir für untern Weihnachtsbaum,<br />
falls Ihr so etwas auch aufstellt, das jüngste<br />
Buch von Kurt Flasch holen lassen. Es<br />
heißt „Warum ich kein Christ bin“, handelt<br />
also von Euch beiden da oben und erklärt,<br />
wieso ein frommer, aber kluger<br />
Mensch seinen langen Abschied genommen<br />
hat vom Glauben. Der Professor<br />
Flasch ist leider nun auch schon 83, und<br />
deshalb hat er neulich gesagt: „Jetzt, da es<br />
auf das Ende zugeht, habe ich gedacht,<br />
wenn du demnächst vor dem Weltenrichter<br />
stehst, dann willst du doch ein Buch in<br />
der Hand haben, in dem steht, dass es ihn<br />
nicht gibt.“ So etwas sollte zu denken geben.<br />
Mit weihnachtlichen Grüßen, auch<br />
für 2014 nach Christus,<br />
ein Mensch<br />
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DASINTERVIEW<br />
Der Zauberer<br />
HARTE MUSKELN<br />
Fitnesshandgemacht<br />
PeterSchusterist Vorsitzender des Berliner<br />
Zauberervereins und erzählt,<br />
warum Magier schon mal als Spione<br />
arbeiten, wenn sie sonstnichts zu<br />
tricksenhaben SEITE46,47<br />
Gestaltedeinen Körper ehrlich: Die Suche<br />
nach dem Einfachen hat die professionelle<br />
Körperertüchtigung erreicht. Ein Besuch<br />
im außergewöhnlichen Studio „Blackrock“<br />
in Mitte SEITE48,49<br />
SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013<br />
41<br />
www.taz.de |b@taz.de |fon25902172 |fax2518674<br />
Hey, Stadt, wartemal!<br />
AUSBLICKVondengroßenBauprojektenwirdnächstesJahrkeinesfertig.DaskannKlaus<br />
Wowereitnurfreuen–dennsomusser2014nichtschonwiedereineEröffnungabsagen<br />
apple taz.berlin<br />
VON STEFAN ALBERTI<br />
Die Staatsoper? 2017. Die U-<br />
Bahn-Linie 5? 2019. Der Neubau<br />
auf der Museumsinsel neben<br />
Pergamon- und Neuem Museum?2017.DasSchloss?Bezugsfähig<br />
2017, Eröffnung 2019. Der<br />
Flughafen BER? Zukunft ungewiss.<br />
Keine der Megabaustellen,<br />
keines der Großprojekte der<br />
Stadtwirdinden 365 Tagen des<br />
neuenJahresfertigwerden.2014<br />
wirdeinJahrdesÜbergangs,des<br />
Interims,desWartens.<br />
Nutznießer ist Klaus Wowereit.DerRegierendeBürgermeister,vor<br />
einem Jahr fast über die<br />
BER-Pannegestolpert,muss2014<br />
keine erneute Peinlichkeit befürchten<br />
–woeskeinen Eröffnungstermingibt,istauchnichts<br />
abzusagen.Zudemlässterselbst<br />
warten: aufseine Entscheidung,<br />
ob er bei der Berlin-Wahl 2016<br />
nochmalantritt.<br />
Beim brasilianischen Autor<br />
PauloCoelho und seinem Bestseller<br />
„Auf dem Jakobsweg“ gibt<br />
eseineSzene,inderdasTagesziel<br />
derWanderungschoninSichtist<br />
und doch vorerstunerreichbar<br />
bleibt.DennCoelhosProtagonist<br />
muss sich in den Exerzitien der<br />
Langsamkeit üben, sich selbst<br />
kleine Schritte versagen, darf<br />
stattdessen nur Fußlänge für<br />
Fußlänge voran. Es istein passendesBildfürvielesinBerlin.<br />
DerBER,damalsnochFlughafenBerlinBrandenburgInternational<br />
mitdem Kürzel BBI statt<br />
BER, stand ja kurz vorder Eröffnung.<br />
Auch werihn heute sieht,<br />
denktangesichtsderschierkompletten<br />
Ausstattung nicht, dass<br />
biszueinerEröffnungnochJahre<br />
vergehen könnten. Und eben<br />
auchvielesandere,wasinunmittelbarer<br />
Reichweite schien, ist<br />
wieder in die Ferne gerückt und<br />
sorgtfürweitereWarterei.<br />
DasgiltetwafürdieSPD-Oberen<br />
im Land, Parteichef JanStöß<br />
undFraktionschefRaedSaleh.Zu<br />
Jahresbeginn 2013 waresalles<br />
andere als ausgeschlossen, dass<br />
kurzfristig einer vonihnen ins<br />
Rote Rathauseinziehtund dort<br />
Klaus Wowereit beim Regieren<br />
ablöst.DieFragelautetenur:Wer<br />
macht’s?Nunmüssensichbeide<br />
wiederinGeduldüben.<br />
Denn der Regierende Bürgermeister,dersichnachdererneuten<br />
Verschiebung der BER-Eröffnung<br />
nurknapp im Amthalten<br />
konnte, macht nicht den Eindruck,mitinzwischen60Jahren<br />
in Rente gehen zu wollen. Wenn<br />
WowereitnichtnochPlänehätte,<br />
hätteersichkaumMitteDezember<br />
wieder zum Vorsitzenden<br />
des Flughafen-Aufsichtsratsmachen<br />
lassen. Der Grünen-Abgeordnete<br />
Andreas Ottohat eine<br />
steileThese in die Welt gesetzt:<br />
Wowereithoffe aufeine Eröffnung<br />
im Frühjahr 2016, wenige<br />
MonatevordernächstenBerlin-<br />
Wahl, um aufder Welleder Euphorie<br />
über das endlich abgeschlossene<br />
Projekt seine vierte<br />
Abgeordnetenhauswahl in Folge<br />
zugewinnen.<br />
2014wirdeinJahrdes<br />
Übergangs,desInterims,desWartens<br />
Brandenburger müsste man<br />
seinindiesemJahr2014,dennda<br />
stehtzumindesteinTerminfest:<br />
dieLandtagswahlam14.September.Werallerdingsaufeinegänzlich<br />
andere Regierung wartet,<br />
wirddas auch in Potsdam und<br />
Umgebungüber2014hinaustun<br />
müssen.<br />
Denn wenn bei den SozialdemokratenbiszumWahltagnicht<br />
noch einer goldene Löffel klaut,<br />
wirddie SPD auch danach den<br />
Ministerpräsidentenstellen–an<br />
ihr führtinBrandenburg kein<br />
Wegvorbei. Abzuwarten bleibt<br />
nureines: ob sie das weiter mit<br />
der Linkspartei oder wie früher<br />
mitderCDUmacht.<br />
Was sich 2014 doch noch<br />
tut in der Stadt, lesen Sie<br />
auf SEITE 44, 45<br />
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DASSUMMEN DER<br />
MONTAGSWÜRMER<br />
VONTUĞSALMOĞUL<br />
UND ANTJESACHWITZ<br />
27.-30.12.2013, 20 UHR<br />
(AM29. UND 30.12. MITENGL. ÜT)<br />
Noch lange nix los hier: Bushaltestellen am Flughafen, dessen Eröffnungstermin höchstens in den Sternen steht Foto: Andreas Pein/laif<br />
INFO-UND KARTEN-TELEFON: (030)754 53725<br />
WWW.BALLHAUSNAUNYNSTRASSE.DE
42 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE<br />
www.taz.de<br />
b@taz.de<br />
DAS BLEIBT<br />
b<br />
MITLEID ALLERORTEN<br />
So allein<br />
bin ich<br />
gar nicht<br />
Etwasmitleidiggucktermichan,<br />
der Spätibesitzer in Friedrichshain.IchkaufeeineFlascheWodka,genau<br />
wie letztes Jahr.Das<br />
riechtnatürlichnachganzgewaltigem<br />
Weihnachtsblues, danach,<br />
weinend Dominosteine in sich<br />
reinzustopfen und von„Michel<br />
ausLönneberga“über„SisterAct<br />
2“zu „Disney’sChristmasStory“<br />
zuzappen.<br />
Die Straßen sind menschenleer,selbstdie<br />
Rigaer,woman<br />
nunwirklich weder Zugezogene<br />
noch übertrieben besinnliche<br />
Menschen erwartet hätte. Aber<br />
wenn ich gleich in die nächste<br />
Querstraße einbiege, werdeich<br />
schondenTrubelausdervierten<br />
Etagehören.HierinderEnklave<br />
Liebigstraßeversammeltsichallesaus<br />
meinem Freundeskreis,<br />
was aus religiösen, familiären<br />
oder herkunftstechnischen<br />
Gründen mit Weihnachten sovielzutunhatwiederOsterhase<br />
mitChanukka.UndeswerdenjedesJahrmehr.<br />
Mancherhatzwarein<br />
PaarSockenabgesahnt,aberdiemeistensindfroh,endlich<br />
saufenzukönnen<br />
Unsere Partyhymne stammt<br />
vonSarah Silverman, singt sie<br />
doch in „Give the JewGirl Toys“<br />
so treffend: „I hate to saythis<br />
Santa, but you’re acting likea<br />
dick/youshouldgivepresentsto<br />
everyonethat’sgoodandnotjust<br />
toyourpersonalclique.“<br />
Selbstverständlich gibt es<br />
auchbeiunsweißeHemdkragen<br />
und Tischdecken, ein Sechsgängemenü<br />
und feierliche Stimmung.<br />
Da mansich Freunde allerdingsaussuchenkannundFamiliemeistnicht(irgendwo<br />
versteckt<br />
sich doch immer eine ungeliebte<br />
Tante, die zu Heiligabend<br />
Ärger macht), läuft das<br />
Ganze ziemlich harmonisch ab.<br />
Das mag auch an dem vielen<br />
Wodkaliegen.<br />
Wennwirdannanschließend,<br />
wie seitüber zehn Jahren, ins<br />
Taxi springen, um ins Bassy zu<br />
fahren, wo jedes Weihnachten<br />
die „Swinging 60’s“ Partystattfindet<br />
und man all die Leute<br />
trifft,diemaneinJahrlangnicht<br />
gesehen hat, muss mansich das<br />
GemeckerüberdieWeinachtsfeiernanhören.Dereinoderandere<br />
hatzwarein paar neue Socken<br />
odereiniPadabgesahnt,aberdie<br />
meisten sind doch froh,endlich<br />
saufenzukönnen.<br />
IchbezahldenWodkaundwill<br />
den Späti verlassen, doch der<br />
Blick des Verkäufers wurmt<br />
mich.Ergucktmichimmernoch<br />
an,alssäheergeradeeinenKäfig<br />
mit kleinen Katzen in einem<br />
Tierversuchslabor. Erscheint<br />
nichtzurealisieren,dasserineiner<br />
leeren Straße, in einem wenig<br />
frequentierten Geschäft<br />
sitzt, und ich will ihm auch die<br />
Illusion nichtnehmen, dass es<br />
jemanden gibt, der ärmer dran<br />
istals er.Also gehe ich schweigendhinaus.<br />
IndiesemSinne:Prost!<br />
JURI STERNBURG<br />
IM OSTTEIL DER STADT<br />
Und dann<br />
wird<br />
geschummelt<br />
WeihnachtenistimmereinStück<br />
Kindheitfürmich.Nichtnurwegen<br />
der Verwandten, mitdenen<br />
mansoviel ZeitamStück verbringtwiesonstimRestdesJahres<br />
insgesamtnichtmehr.Auch<br />
weil Berlin sich dann genauso<br />
anfühltwie vorder Wende. Still.<br />
Verlassen.Parkplätzeüberall.<br />
Wirbewegen uns ausschließlichimOstteilderStadt.VonPankownachKarlshorstundwieder<br />
zurück. Wenn’s hoch kommt,<br />
schleppenwirdasEsseninunseren<br />
Mägen noch einmal durch<br />
denPark,bevoreswiederKuchen<br />
gibt.UndwirgehenindieKirche.<br />
Ja,wir gehören zu den Assis, die<br />
sicheinmalimJahrzwischendie<br />
Bankreihenschummeln,umein<br />
bisschen Segen einzusacken. Na<br />
und? Der Pfarrer der Paul-Gerhardt-Gemeinde<br />
hielteine Predigt,<br />
die den Namen verdiente.<br />
Darüber,dassMariaundJosefja<br />
auch Wirtschaftsflüchtlinge waren,<br />
die niemand reinlassen<br />
wollte.Erredetevon„Funktionszusammenhängen“,<br />
vonLampedusa<br />
und Nächstenliebe. Er ist<br />
brillant, ich verliebe mich ein<br />
bisschen.Wennerbloßnichtdie<br />
ganze Zeitvon den Flüchtlingen<br />
aufdem „Oranienburger Platz“<br />
redenwürde!Kreuzbergisteben<br />
weitwegvonKarlshorst.<br />
AußerdemwirdinmeinerFamilie<br />
gespielt. Im Imperativ.<br />
„EsstmaeurePfefferkuchen,wir<br />
wollenspielen!“,sagtmeineTante.<br />
Und dann wirdgespielt. MeineCousinswollenimmer„Stadt,<br />
Land“ spielen, mit Kategorien<br />
Ja,wirgehörenzuden<br />
Assis,diesicheinmal<br />
imJahrindieBankreihenschummeln,um<br />
Segeneinzusacken<br />
wie „Fluglinie“. Ich habe „Scheidungsgrund“<br />
vorgeschlagen.<br />
Und dann wurdegeschummelt.<br />
Die lügen, ohne rotzuwerden!<br />
SportartmitD.„Draisinefahren“,<br />
sagt mein Onkel. Meine Mutter<br />
hatte als Scheidungsgrund „Hose<br />
runter“.Meine Tantehat erst<br />
protestiert.Aberdannkamraus,<br />
dasssiedachte,essolleineSportartsein.IchmagWeihnachten.<br />
LEA STREISAND<br />
„Berlin hat<br />
auchmaldie<br />
Schnauze<br />
voll davon,<br />
immer nur<br />
Berlin zu<br />
sein“<br />
DAS BLEIBT VON DER WEIHNACHTSWOCHE<br />
Manchmaldurchläuftauchdie<br />
StadtMetamorphosen,derKauf<br />
einerFlascheWodkaan<br />
HeiligabendlässtaufEinsamkeit<br />
schließen,deutsch-iranische<br />
Familienzusammenführunggeht<br />
schnellermitSchnaps,undMaria<br />
undJosefwarenauchnur<br />
Wirtschaftsflüchtlinge<br />
INTERKULTURELL FEIERN<br />
Iraner<br />
kennen<br />
keinen Kitsch<br />
So aufregend warWeihnachten<br />
seit den frühen 80ern nicht<br />
mehr. Damals hatte der Weihnachtsmann,alsomeinVater,die<br />
Geschenkefürmichundmeinen<br />
Stiefbruder vertauscht: Ich bekamABBAs<br />
„GreatestHits“ statt<br />
StatusQuo –und wusste beim<br />
ersten Hören, dass mein Leben<br />
endlicheinenSinnhatte.<br />
DiesesJahrwardieAufregung<br />
derTatsachegeschuldet,dasswir<br />
alsfrischgebackeneKleinfamilie<br />
zumersten Mal selbstdas Fest<br />
ausrichtensollten.Allekamenzu<br />
uns: meine Eltern ausKöln, die<br />
Schwiegereltern aus Gießen.<br />
UndKati,dieHalbschwestermeinesMannes,mitihrenzweiKindern<br />
Negar und Ali aus Hamburg.<br />
Die drei kommen ausIran<br />
und leben erstseitKurzem in<br />
Deutschland. Entsprechend gespanntwaren<br />
sie aufein richtig<br />
deutschesWeihnachten.<br />
SeitderGeburt<br />
unseresKindes<br />
sindwiraufdem<br />
Traditionstrip<br />
Mein Mann und ich, seitder<br />
Geburtunseres Kindes ohnehin<br />
auf dem Traditionstrip, hatten<br />
dasvolleProgrammvorbereitet:<br />
um 18 Uhr Bescherung unterm<br />
Weihnachtsbaum, anschließend<br />
Rinderbraten mit Rotkohl und<br />
Salzkartoffeln, zum Nachtisch<br />
Backäpfel. Dazu Rotwein und<br />
SchnapszurBeschleunigungder<br />
interkulturellenÖffnung.<br />
Die Bescherung ließ sich gut<br />
an. Obwohl die mit einem<br />
Strohstern gekrönte Tanne nur<br />
knappeinenMetermaßunddie<br />
Lichterkettegerademal50Zentimeter,brachKatiinlauteEntzückensrufe<br />
aus. Bis zum Essen<br />
warendieIranerdanndamitbeschäftigt,<br />
sich gegenseitig vor<br />
demBaumzufotografieren.„Im<br />
Persischen gibt es kein Wort für<br />
Kitsch“, erklärtemeinMann.<br />
Das Essen verlief ohne Komplikationen,siehtmandavonab,<br />
dassmeinVaterbeimFotografieren<br />
der Tischgesellschaft einen<br />
seiner berüchtigten Witze losließ:<br />
„Was sagt ein Fotograf in<br />
Ägypten, wenn er eine Gruppe<br />
fotografieren will? Allemalachen!“<br />
Noch besser sein Spruch,<br />
alsderRotweinkredenztwurde:<br />
„Ich dachte, im Iran istAlkohol<br />
verboten?!“<br />
InderTatzeitigtederAlkohol<br />
Wirkung bei Kati, die nach dem<br />
Grappa drohte, auf dem Tisch<br />
bauchzutanzen. So weit kames<br />
nicht. Aber ihr Schwips ließ sie<br />
später kurz ernst werden. Sie<br />
fragte unvermittelt: „Wie altist<br />
Jesus geworden?“ –„Ich glaube,<br />
34“,antwortete ich. „33!“,fiel mir<br />
meinVaterinsWort.„UnderhattekeineFamilie!“Daskonnteich<br />
so nicht stehen lassen. „Dafür<br />
aber eine Geliebte“, entgegnete<br />
ich schadenfroh. „Davon weiß<br />
ichnichts“,sagtemeinVater.„SichernureineFreundschaft.“<br />
Zum Abschied küsste mein<br />
VaterdieIraneraufdieWangen–<br />
dreimal, wie es sich gehört.<br />
„KommtmichgernemalinKöln<br />
besuchen“, sagte er zu Kati. „Wir<br />
habendaeinenDom.Dasisteine<br />
großeKirche!“ SUSANNE MEMARNIA<br />
EINWOHNERTAUSCH<br />
Berlin istfür<br />
ein paar Tage<br />
mal Gütersloh<br />
Die Straßen sind ein bisschen<br />
leerer am 24. Dezember morgens.Odersiesindandersbevölkert<br />
als zuvor. Als habe ein Einwohnertauschstattgefunden.<br />
Eine Reiseplattform schätzt<br />
dieZahlderMenschen,dieBerlin<br />
überWeihnachtenverlassen,auf<br />
eine Million; die meisten fahren<br />
demnachindieHeimat.DieZahl<br />
scheint etwas hoch gegriffen.<br />
Und selbstwenn, kehren ja vielleicht<br />
auch eine Menge Menschen,<br />
die einstander Spree gewohnthaben–lassenwireseine<br />
Viertelmillion sein –, wieder<br />
heim.Manstellesichvor,wie13,3<br />
volleLadungen Olympiastadion<br />
die Stadt verlassen. Und wie<br />
gleichzeitig 3,3 volle Ladungen<br />
Olympiastadion zurückkehren.<br />
EineeinfacheRechnung.<br />
Berlin wirdnichtnur leerer,<br />
Berlin wirdauch langsamer in<br />
diesen Tagen. Die Stadtschaltet<br />
einenGangzurück,hateinenanderen<br />
Beat. Man hatdas Gefühl,<br />
sie tauschtsich selbstein paar<br />
Tage aus. Hat auch mal die<br />
Schnauzevolldavon,immernur<br />
Berlin zu sein. Istfür ein paar<br />
TagemalGütersloh.<br />
Auchmanselbstschaltetrunter,vergisstdie<br />
Geschäftigkeit.<br />
Heiligabend lese ich „Auggie<br />
Wrens Weihnachtsgeschichte“<br />
von Paul Auster –die einzige<br />
Weihnachtsgeschichte, die ich<br />
gernlese.<br />
Am späten Nachmittagfahre<br />
ich nach Schöneberg. Der Park<br />
amGleisdreieckistdämmernde,<br />
leergefegteKulisse.HinterderS-<br />
Bahn-Trasse lugen die Gebäude<br />
rund um das SonyCenter versöhnlich<br />
hervor.Vom Park aus<br />
wirken sie nichtsodeplatziert<br />
wie sonst. Niemand unterwegs,<br />
warmer Wind ziehtdurch. Und<br />
selbstdie Kurfürstenstraße und<br />
die Potsdamer sind einigermaßenruhigheute.Laubfliegtauf.<br />
Den Abend verbringe ich<br />
danninSchönebergineinersehr<br />
gemischten Runde bei einem<br />
Freund.TagderoffenenTür;wer<br />
kommt, der kommt. Zehn Menschen<br />
mit unterschiedlichen<br />
Backgrounds, zwischen 30 und<br />
90Jahren,sindda.AusMünchen,<br />
dem Taunus, Bremen, Bottrop –<br />
diemeisteninzwischeninBerlin<br />
lebend.<br />
Wirtrinken Jever, Weißwein,<br />
späterPrimitivo.Wirredenüber<br />
soverschiedeneDingewieLachse,<br />
die in sauberen Gewässern<br />
schwimmen, den morbiden<br />
Charme der Potsdamer Straße<br />
und die Arbeit inJobcentern.<br />
Darüber,was2014bringenwird.<br />
Zwischendurch herrscht auch<br />
malRuhe; alleschauen gemächlich<br />
vorsich hin. Ein Schweigen,<br />
dasnichtunangenehm,sondern<br />
natürlichwirkt.<br />
In ein paar Tagen ist diese<br />
Stadt wieder eine andere. Ein<br />
paar volleOlympiastadien fahrenwiederdavon,einpaarmehr<br />
kommen zurück. AusGütersloh<br />
undanderswo. JENS UTHOFF<br />
BerlinhatdieSchnauzevolldavon,immer<br />
nurBerlinzusein
DAS KOMMT www.taz.de<br />
b@taz.de SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE 43<br />
b<br />
Im Kugelhagel<br />
Fiese Falle: Silvester auf den Straßen Berlins Foto: Georg Schönharting/Visum<br />
APOKALYPSE<br />
Brennende<br />
Rauhaardackelund<br />
einInfernoaus<br />
Rauch–dasist<br />
Neuköllnamletzten<br />
AbenddesJahres.<br />
Besonders<br />
Touristen,diedas<br />
Silvester-in-Berlin-<br />
Paketgebucht<br />
haben,habeneshier<br />
nunschwer<br />
VON ULI HANNEMANN<br />
EinVideoaufYouTubezeigtapokalyptische<br />
Szenen: Schwarzer<br />
Qualm zieht durch vermüllte<br />
Straßen und wabertüber ausgebrannte<br />
Fahrzeuge und tote Tiere.<br />
Hier und da ein lebloser Körper.Lautes<br />
Gebrüll, Blitze, Mündungsfeuer<br />
und Granaten. Vermummte<br />
Gestalten, die unter<br />
unablässigem Geballer Häuserblock<br />
um Häuserblock voranrücken.<br />
AufZivilisten wirdkeine<br />
Rücksichtgenommen,ehernoch<br />
sindsieZielscheiben.<br />
Silvester in Neukölln istdas<br />
nicht. Doch wenn manstatt der<br />
Suchbegriffe „Warlords“,„Mogadischu“und„Straßenkampf“die<br />
Begriffe „Krank!“, „Neukölln“<br />
und „Krieg“ eingibt, stößtman<br />
aufnahezuidentische Aufnahmen<br />
vomvergangenen Jahreswechsel.IndemanzweiterPosition<br />
gelisteten Clipist ein Mann<br />
in einem Inferno ausFeuer und<br />
Rauch zu sehen, der vorLärm<br />
und Angstoffenbar wahnsinnig<br />
geworden ist: „Hör auf“,schreit<br />
erineinemfort.„IchrufdiePolizei“,<br />
„Was istdenn eigentlich los<br />
hier?“,„Wasistpassiert?“„Ichruf<br />
die Polizei an! Ahhhh! Ei, ei, ei!“,<br />
und, der Höhepunkt der Verwirrtheit:<br />
„Ich will eigentlich<br />
schlafen!“<br />
Ein wenig erfüllteseinen ja<br />
doch mitGenugtuung, die kürzlich<br />
auf einem dieser „Besinnungsweihnachtsmärkte“<br />
(Kennzeichen:keineAchterbahn<br />
und gezuckerte Fensterreiniger<br />
mitpseudonordischenFantasienamen)<br />
wie lebende Barrikaden<br />
im Wegherumeiernden Berlinbesucher<br />
auf einmal hurtig<br />
springenzusehen.<br />
ZeterndimZickzack<br />
Was für ein Hallo-Wach-Effekt!<br />
ZeterndundwildmitdenArmen<br />
fuchtelnd, versuchen sie, im<br />
Zickzackhüpfenddenaufsieabgefeuerten<br />
Raketen und Kugeln<br />
sowie den außer Kontrolle herumflitzenden,<br />
brennenden Rauhaardackeln<br />
auszuweichen. Na<br />
also,siekönnenesdoch–soviel<br />
inBewegungsenergieumgesetztesAdrenalinhättemandendrögen<br />
Schleichern garnichtzugetraut.<br />
Wäre manein empathischer<br />
MenschundkeinBerliner,könnten<br />
sie einem durchausleidtun.<br />
DenndasistschoneinefieseFalle.Keinerhatsiegewarnt.Undso<br />
kommtdasPaarausderProvinz<br />
voller Vorfreude hierher. Ge-<br />
buchtist das Silvester-in-Berlin-<br />
PaketimHotel„DaysInnSouth“<br />
am Hermannplatz. Vondortaus<br />
wollensieamSilvesterabendein<br />
wenig frische Luft schnappen<br />
und anschließend vielleicht<br />
noch aufein Glas Holundersekt<br />
in eine nette Bar in der Umgebung.<br />
„Frische Luft“. „Nette Bar“.<br />
„Umgebung“.Andiesen fehlgeleitetenErwartungenmerktman<br />
bereits: Das Hotelpersonal verletzt<br />
seine Fürsorgepflicht. Anstattden<br />
Lehrfilm vomvorigen<br />
Jahreswechsel vorzuführen, keckertesihnen<br />
scheinheilig hinterher:<br />
„Ich wünsche den HerrschaftenvielSpaß“.<br />
Sobehandelt<br />
Berlin seine Besucher.Wie Laufkundschaft,<br />
wie Eindringlinge,<br />
wieVieh.<br />
Schon aufden ersten Metern<br />
werdensieunterDauerfeuergenommen<br />
wie vor ihnen allen-<br />
fallsdieLandungstruppenamD-<br />
Day.RaschflüchtensiesichineineBar.DieBaristnichtnett.Das<br />
Bier schmeckt nach fauligem<br />
Brackwasser,die Cocktails nach<br />
billigem Sprit. Allesind sturzbetrunken<br />
und entblößen Körperteile,vondenenmanliebernicht<br />
gewussthätte, dass es sie überhauptgibt.<br />
Kurz vorMitternachtwerden<br />
sämtliche Gäste aufdie Straße<br />
gescheucht. Dort schießt jeder<br />
aufjeden und unser Paar lernt<br />
schnell, den Bärentanz zu tanzen.DieMengejohlt.Wosinddie<br />
ganzen besinnlichen Menschen<br />
hin,vondenendocherstkürzlich<br />
die Bekannten schwärmten, die<br />
das Advent-in-Berlin-Paket in<br />
PrenzlauerBerggebuchthatten?<br />
Man soll dortsoangenehm auf<br />
dem Weihnachtsmarkt in der<br />
Kulturbrauereiherumgestanden<br />
sein. Aber wo istdas: Prenzlauer<br />
Berg?UndwosindsieumGottes<br />
Willen hier gelandet? Hier sind<br />
dochnurMörderundVerrückte!<br />
Erste Verluste: Die Frau verschwindet<br />
im Getümmel. Der<br />
ManngerätinPanikundbeginnt<br />
zuschreien:„Hörauf!“.<br />
Siesindebennichtsgewöhnt–<br />
und hätte der Hoteltyp ihnen<br />
eindringlich geraten, auf dem<br />
Wäremanein<br />
empathischerMensch<br />
undkeinBerliner,<br />
könntensieeinem<br />
durchausleidtun<br />
Zimmer zu bleiben, die Fenster<br />
zu verschließen und sich an die<br />
Minibar zu halten, wäre weiter<br />
nichtspassiert.Sieverstehenohnehinnicht,wasdadraußenvor<br />
sichgeht.<br />
Dabei istalles doch ganz einfach:<br />
So feiern nunmal die Armen,<br />
die Künstler und die, die<br />
beides gern wären. Das ganze<br />
Jahr über ächzen sie unter der<br />
KnutevonJobcenter,Künstlersozialkasse<br />
oder Partystress. Nun<br />
entlädt sich der aufgestaute<br />
Druck in einer Orgie der Gewalt<br />
und des totalen Irrsinns. Man<br />
musssieverstehen,dennfürsie<br />
gibt es nichtwirklich eine Zukunft<br />
–und wenn doch, dann<br />
heißt sie 666 und nicht 2014.<br />
Trotzdembrichtirgendwannder<br />
neueTag,dasneueJahr,dasneue<br />
Elend an. Im „Days Inn South“<br />
wirddie traditionelleNeujahrsinventur<br />
durchgeführt: Welche<br />
Zimmernummern hatten denn<br />
dasSilvester-in-Berlin-Paket?<br />
Fremde Habseligkeiten werden<br />
in fremde Koffer geworfen<br />
undindenKellergebracht.Wertsachen<br />
werden aufgeteilt, angebrochene<br />
Kosmetikartikel entsorgt,SpurenverwischtundPässe<br />
verbrannt. Die Besitzer kommenniemalswieder.<br />
...........................................................................................................................................................................................................................................................................................................<br />
ÜBERLEGUNGEN ANLÄSSLICH DER ALTARBESTEIGUNG VON KÖLN<br />
Berlin,mittelalterfreieZone<br />
ManmusssichdiemeistenBesucher<br />
des Weihnachtshochamts<br />
im Kölner Dom als zufriedene<br />
Menschenvorstellen.Hättesich<br />
danichtmitteninderZelebrationdiesefürdieJahreszeitgänzlich<br />
unpassend gekleidete Frau<br />
aufdenAltargeschwungen(Hut<br />
abvorsolchbehendemSprung!),<br />
dieMessewäregenausozermürbendgewordenwieimmer–zerdehnte<br />
Zeit, ein SpannungsbogenwieausGranit,mumienhaft<br />
agierendes Personal. So aber<br />
gab’swaszusehen,zubezischen,<br />
zuberaunenund–alsderKardinalwiederdasHeftinderHand<br />
hatte –sogar zu beklatschen.<br />
AuchfürZuhausewarnochjede<br />
MengeGesprächsstoffübrig!<br />
Der Beobachter im fernen<br />
Berlinsiehtes,nunja,miteinwe-<br />
HALLELUJA<br />
.......................................................<br />
VON<br />
CLAUDIUS<br />
PRÖSSER<br />
.......................................................<br />
nigNeid.Dennseienwirehrlich:<br />
WäreeinDramolettmitsolcharchaischerBildsprache–Mittelalter!Hexen!Inquisition!–inder<br />
Hauptstadt vorstellbar? Wohl<br />
kaum:DazuistmananderSpree<br />
inGlaubensdingenvielzuwenig<br />
bewandert.Esfängtschondamit<br />
an,dassGotikhierzulandeMangelwareist.IndenüberschaubarenReliktenbefindensichMuseen,odersiewerdenvontoleranten<br />
Protestanten gegen den<br />
Strich ihrer weltentsagenden<br />
Symbolikgebürstet.Dafehltvon<br />
vornhereindieFallhöhe.Unddie<br />
Berliner Katholiken? Sind im<br />
Großen und Ganzen eher zivile<br />
Menschen.InderHedwigskathedralegibt’skeine<br />
RausschmeißerinSoutanewieinKölnundes<br />
riechtnichtsostrengnachWeihrauch.<br />
Weichgespült<br />
stattreaktionär<br />
Auch im Archivdes endenden<br />
Jahres sucht man vergebens<br />
nach provokanten Duftmarken,<br />
die die römische Kirche hinterlassenhat.AmRheinwarbislang<br />
immerVerlassaufdiereaktionärenAusfälleeinesJoachimMeisner,aberseinAmtskollegeander<br />
Spree ist–zumindestnach außen<br />
–von der weichgespülten<br />
Sorte. Einer der anlässlich der<br />
Berlinalesagt: „Jesus wäre bestimmtgerninsKinogegangen.“<br />
EinerderdenRücktrittdesalten<br />
Papstesgenausopflichtschuldig<br />
bedauerte,wieerdenAntrittdes<br />
neuenbegrüßte.Einer,derauch<br />
den Flüchtlingen vomOranienplatz<br />
schon maleine helfende<br />
Handreichenlässt.<br />
Wasjaauchgutsoist.Nur,den<br />
richtigen vatikanischen Kitzel<br />
versprichtdiesesSettinggenausowenigwieeinöffentlichkeitswirksames<br />
Aufbegehren dagegen.AnwelcherSymboliksollte<br />
mansichauchreiben?Wennder<br />
argentinische Armen-Papst<br />
(dessenWahlausdenReihender<br />
Purpurträger tatsächlich an ein<br />
Wunder grenzte) dem in Prunk<br />
und Behäbigkeit erstarrten<br />
deutschen Staatskatholizismus<br />
tatsächlichandenKragenwollte<br />
–wo,wennnichtinBerlin,hätte<br />
dasamwenigstenPopcornkino-<br />
Qualität?<br />
Berlinistebeninsgesamtkein<br />
sonderlichguterNährbodenfür<br />
religiöseFanatismen.Nichtmal<br />
einpaarvierschrötigeSalafisten<br />
bekommtman hier zu Gesicht.<br />
DieStadtisteinfachzugroß,als<br />
dassdieMittelalterlichenjedwederGlaubensrichtungeinekritische<br />
Masse erreichen würden.<br />
WäreeinDramolett<br />
mitsolcharchaischer<br />
Bildspracheinder<br />
Hauptstadtvorstellbar?Wohlkaum<br />
EigentlichkeinGrundzumJammern,sondernzurFreude.<br />
P. S.: Die schriftlich und mündlich<br />
vorgetragene Behauptung<br />
der rothaarigen Frau ausdem<br />
KölnerDom,sieseiGott,kanneinen<br />
wahren Katholiken selbstverständlich<br />
nichtüberzeugen:<br />
FrauenkönnenesinseinerKonfession<br />
allerhöchstens zurGottesmutter<br />
bringen, und selbst<br />
dabei handeltessich quasi um<br />
eineAttrappe.Wieheißtesdoch<br />
indemaltenLied,dassderKardinalnach<br />
der unbotmäßigen Altarbesteigung<br />
anstimmte? „Er<br />
kommtausseinesVatersSchoß/<br />
undwirdeinKindleinklein/er<br />
liegtdortelend,nacktundbloß/<br />
in einem Krippelein /ineinem<br />
Krippelein.“
44 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE<br />
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DAS THEMA<br />
Hier stehtdie<br />
Zukunft<br />
geschrieben<br />
Der Mauerfall –hier am Grenzübergang Chausseestraße Foto: Norbert Michalke/Ullstein Bild<br />
VORHERSAGEWasbringtdasneueJahr?Dietaz<br />
weißes:GleichimJanuarwirdüberdas<br />
TempelhoferFeldunddasFlüchtlingscamp<br />
amOranienplatzentschieden,in<br />
BrandenburgwirddieSPDwiedergewählt,<br />
derMauerfallwirdeinVierteljahrhundert<br />
altundderErsteWeltkriegschon100.<br />
UnserAusblickauf2014<br />
Die Mauer fällt wieder<br />
JAHRESTAG IZumletzten<br />
MalfürlangeZeitwird<br />
2014andasEndeder<br />
DDRerinnert<br />
Ein historisches Großereignis:<br />
Vor25Jahren, am 9. November<br />
1989,fieldieBerlinerMauerund<br />
damitletztlich auch die DDR. 25<br />
Jahre: Das gehtgemeinhin noch<br />
als „richtig rundes“ Jubiläum<br />
durch und wird deswegen –<br />
wahrscheinlich sogar weltweit –<br />
intensivbegangen.Bei30oder35<br />
siehtesdannschonganzanders<br />
aus.<br />
25Jahresindzudemeinegute<br />
Zeitspanne, um der Fragenachzugehen,<br />
inwieweit der Mauerfall<br />
schon Geschichte ist oder<br />
nochTeilderGegenwart.Anders<br />
als im Fall des Ersten Weltkriegs<br />
leben die meisten Zeitzeugen<br />
noch und haben selbstjene, die<br />
das Ereignis nuraus der Ferne,<br />
meistamFernseher,erlebt haben,<br />
konkrete Erinnerungen an<br />
dieTageimHerbst1989.Diewird<br />
mankommendesJahrauchumfangreich<br />
lesen, hören, sehen.<br />
Die taz.berlin hat damit sogar<br />
schonbegonnen:InderAusgabe<br />
am 9. November dieses Jahres<br />
hatHaraldJäger–derDDR-Grenzer,deranderBornholmerStraße<br />
die Schleusen öffnete –den<br />
Ablauf seiner Arbeitanjenem<br />
Tagdetaillierterzählt.<br />
Wahr-undUnwahrheiten<br />
Das warspannend, fast ein Krimi.<br />
Bisweilen verlor manüber<br />
die FaszinationamPlottatsäch-<br />
Sportlicher Fan: Der Bezirk Mitte glaubt, dass ein Zaun solche<br />
Aktionen verhindert Foto: Tobias Seeliger/Snapshot Photography<br />
lich jene vielen Menschen aus<br />
dem Blick, für die die Situation<br />
etwas Existenzielles hatte. Der<br />
Mauerfallwirdlangsamselbstzu<br />
einer Geschichte, mitall seinen<br />
Wahr- und Unwahrheiten, die<br />
ihm nach und nach angedichtet<br />
werden –von all denen, die sich<br />
nichtmehrgenauerinnernkönnen<br />
oder wollen oder sogar ein<br />
Interesse daran haben, etwas<br />
Neueshinzuzufügen.<br />
Was wird 2014 überwiegen:<br />
die Geschichte des Mauerfalls<br />
oderderMauerfallalsGeschichte?Vorallem:WaswirddieGeneration<br />
der unter 30-Jährigen<br />
mehrinteressieren?Sodröge„25<br />
JahreMauerfall“erstmalklingt–<br />
es könnte erinnerungspolitisch<br />
ein diskussionsreiches Jahr<br />
werden.<br />
BERT SCHULZ<br />
Bezirk Mitte will Fanmeile<br />
im Tiergarten einzäunen<br />
PARKStreitüberfesten<br />
odermobilenZaun<br />
Fußball-WMinBrasilien–dasbedeutet<br />
für Berlin: ein schwarzrot-goldenesMeeraufderStraße<br />
des17.Juni,indemsichüberwiegend<br />
betrunkene „Schland“grölende<br />
Menschen tummeln. Bei<br />
der Europameisterschaft 2012<br />
sollendortmehralseineMillion<br />
Menschen die Spiele verfolgt<br />
haben.<br />
Inzwischen allerdings sorgt<br />
mansich um die Sicherheitbei<br />
Großveranstaltungen auf der<br />
Partymeile.Deshalbsollnunein<br />
Zaunher,dauerhaft.Überdiesen<br />
Zaun,derdieJohn-Foster-Dulles-<br />
Allee, die Tiergartenstraße und<br />
dieHofjägeralleeentlangverlaufensoll,streitenderBezirkMitte<br />
und die Senatsverwaltung für<br />
Stadtentwicklung schon seiteinem<br />
Jahr.Etwa3,5 Millionen EurowürdedieserZaunkosten,der<br />
dieEinlasskontrolleregelnsoll.<br />
EineAlternativewäreeinmobiler<br />
Zaun, bei dem nureinige<br />
Vorrichtungen fest installiert<br />
sindunddenmanimmerwieder<br />
zu den Massenpartys aufbauen<br />
müsste.Daswürde2,8Millionen<br />
Eurokosten –plusbis zu einer<br />
MillionAufstellkosten.<br />
Mittes Baustadtrat Carsten<br />
Spallek (CDU) will den festen<br />
Zaun. Harald Büttner,Leiter des<br />
Tiefbau- und Landschaftsplanungsamtes,erklärt:„Wirwollen<br />
den Zugang regulieren. Es geht<br />
uns darum, dass nichtjeder auf<br />
dasGeländekann,indemerden<br />
Bauzaun zurSeite schiebt. Und<br />
derHypeumdieWMwirdunsda<br />
anneueGrenzenbringen.“<br />
Massensause<br />
Der für Stadtentwicklung zuständigeSenatorMichaelMüller<br />
(SPD) istaber gegen den Zaun –<br />
wie die meisten seiner Parteigenossen.<br />
Bernd Krömer (CDU),<br />
StaatssekretärdesCDU-Innensenators<br />
Frank Henkel, äußerte<br />
sich zuletzt vorsichtig proZaun,<br />
die Polizei istsowieso dafür.Die<br />
Organisatoren der Fanmeile, eine<br />
Unterorganisation der Fifa,<br />
halten sich derzeitbedeckt. Es<br />
heißt,siemachtendenZaunzur<br />
BedingungfürdieMassensause.<br />
Kann ein Zaun wirklich eine<br />
Lösung sein? Die Sicherheitund<br />
dieKostengeltenalsHauptargumente<br />
dafür.Die Anschlagsgefahr<br />
aber wirdeine solche Absperrung<br />
wohl kaum senken, er<br />
wirdnichtmalwirklichabschreckend<br />
wirken. Und einen Bauzaun<br />
bei jedem Eventaufzustellen–wiebisher–kostetmaximal<br />
220.000Euro,sagtBüttner.Klar,<br />
rechnet mandas hoch, hatman<br />
dieseKostenschnellraus.DieInstandhaltungeinesfestenZauns<br />
allerdingshatnochniemandeingerechnet.<br />
Während also an der<br />
schwarz-rot-goldenen Sause<br />
kaum ein Weg vorbeiführt, ist<br />
dasletzteWortumderenUmrandunglängstnichtgesprochen.<br />
JENS UTHOFF<br />
Ohne die SPD gehtnichts<br />
POTSDAMBrandenburg<br />
wähltimSeptember<br />
einenneuenLandtag–<br />
wohlnurmitderSPD<br />
Eine wunderbare Freundschaft<br />
siehtanders aus. In weniger als<br />
neun Monaten wähltBrandenburg<br />
seinen Landtag, und die<br />
derzeitigen Regierungspartner<br />
SPDundLinksparteiliegenbeim<br />
wichtigsten Infrastrukturprojekt<br />
der Region, dem Flughafen<br />
BER,imClinch.<br />
Das drückt sich nichtnur darinaus,<br />
dass die Linke, die seit<br />
2009Juniorpartnerinderersten<br />
rot-roten Regierung des Landes<br />
ist, jüngstausdrücklich betonte,<br />
ihre Leute hätten den Berliner<br />
Während an der<br />
schwarz-rot-goldenen<br />
Sause zur Fußball-WM<br />
auf der<br />
Fanmeile wohl kein<br />
Weg vorbeiführt, ist<br />
das letzte Wort über<br />
deren Umrandung<br />
längstnicht<br />
gesprochen<br />
Regierenden Bürgermeister<br />
Klaus Wowereit(SPD) nichterneutzum<br />
BER-Aufsichtsratschef<br />
gewählt.<br />
Die beiden Parteien sind sich<br />
auch nichtwirklich einig beim<br />
Lärmschutz. Es geschah auf<br />
Drängen der Linkspartei, dass<br />
sichderdamaligeMinisterpräsidentMatthias<br />
Platzeck (SPD) dafür<br />
aussprach, die Forderungen<br />
des Volksbegehrens zumNachflugverbotzuübernehmen–obwohl<br />
die SPD zuvorFront dagegen<br />
gemachthatte. Der Landtag<br />
folgte Platzecks Haltung. Doch<br />
wiesichdiewiderstrebendenInteressenvonlängerenFlugzeiten<br />
und Nachtruhe von22bis 6Uhr<br />
früh zusammenbringen lassen<br />
sollen,istunklar.<br />
Umso offener istdie Lage vor<br />
derWahlam14.September,weil<br />
bei beiden Parteien ausgerechnetjenePersonenindenHintergrundgetretensind,dienochbei<br />
der Koalitionsbildung 2009 für<br />
gute Zusammenarbeitbürgten:<br />
Platzeck und die damalige Linken-Spitzenkandidatin<br />
Kerstin<br />
Kaiser, die als persönlich befreundetgalten.<br />
Matthias Platzeck legte seine<br />
Ämter aus gesundheitlichen<br />
Gründen Ende August nieder.<br />
Kerstin Kaiser geriet währenddesseninihrereigenenParteiin<br />
die Kritik, wo es zudem den<br />
Wunsch nach mehr Profilierung<br />
gegenüberderSPDgab,undtrat<br />
beiderFraktionschefwahlimAugust2012nichtmehran.<br />
NeueSpitzenleute<br />
So gehen beide Koalitionspartner<br />
mitneuen Spitzenleuten in<br />
die Wahl: mitDietmar Woidke<br />
beiderSPDundChristianGörke<br />
bei der Linkspartei. Die SPD ist<br />
dabei in der komfortablen Position,dassesinBrandenburgfaktisch<br />
keine Koalition ohne sie<br />
gibt. Sie kann sich entscheiden,<br />
mit der Linken zusammenzubleiben<br />
oder wie vor2009 mit<br />
derCDUzuregieren.<br />
Die Sozialdemokraten sind<br />
zwar seitAnfang 2013 in Umfragen<br />
von36Prozentauf jüngst<br />
nurnoch 32 abgerutscht, liegen<br />
aberimmernochvorderUnion.<br />
Die hat sich seit ihrer Wahlschlappe<br />
2009, als sie unter 20<br />
Prozentlag,erheblichverbessert<br />
und liegt derzeitbei 30 Prozent,<br />
während die Linkspartei 22 erreicht.<br />
Die Bündnisgrünen, die<br />
2009 erstzum zweiten Mal in<br />
den Brandenburger Landtagkamen,<br />
haben mit6Prozentgute<br />
Chancen,drinzubleiben.<br />
STEFAN ALBERTI
DAS THEMA www.taz.de<br />
b@taz.de SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE 45<br />
Haach, wie schön: Sonnenuntergang auf dem unbebauten Tempelhofer Feld Foto: Pierre Adenis<br />
Die große Leere<br />
PARKAnfangJanuarzeigt<br />
sich,obdas<br />
Volksbegehrenzum<br />
TempelhoferFeld<br />
erfolgreichist<br />
EsistdergrößteStreitdesLandes<br />
–380 Hektargroß, um genau zu<br />
sein.SovielmisstdasTempelhoferFeld,undumdessenZukunft<br />
ringenderSenatundInitiatoren<br />
eines Volksbegehrens. Bis zum<br />
13.JanuarhatdieBürgerinitiative<br />
„100 %Tempelhofer Feld“noch<br />
Zeit, Unterschriften zu sammeln:<br />
Sie wollen das Feld so belassen,wieesist–unbebaut.<br />
107.500 Unterschriften haben<br />
die Feldfreunde bisher zusammen,<br />
mindestens 174.000<br />
müssen es werden. Das wird<br />
knapp. Klappt’s, wirdineinem<br />
landesweitenVolksentscheidabgestimmt.<br />
Die Bürgerinitiative<br />
peilthierfür die Europawahl am<br />
25.Maian.DenTerminaberlegt<br />
die Innenverwaltung fest–und<br />
die hat schon beim Energie-<br />
Volksbegehren gezeigt, dass sie<br />
nichtunbedingt dem Willen der<br />
Initiativenfolgt.<br />
b<br />
Wäre der Volksentscheid tatsächlich<br />
erfolgreich, bliebe auf<br />
dem Feld alles beim Statusquo.<br />
NurSportfelder,Bänkeund Toiletten<br />
dürften dann noch aufgestellt<br />
sowie Bäume gepflanzt<br />
werden. So siehtesder GesetzentwurfderBürgerinitiativevor.<br />
Scheitert das Volksbegehren,<br />
hätte wiederum der Senatfreie<br />
Bahn: 4.700 Wohnungen will er<br />
aufdemFelderrichten,ersteBebauungsverfahrenlaufenschon.<br />
Ab2016sollaufderTempelhofer<br />
Seitelosgebuddeltwerden, am<br />
Ende sollen 230 Hektar des Feldesfreibleiben.SenatorMichael<br />
Müller (SPD) versprach aber,bis<br />
Ende des Volksbegehrens keine<br />
Baggerrollenzulassen.<br />
Protestiertwirdsooderso<br />
Nächstes Jahr seien deshalbnur<br />
einige neue Wege und Baumpflanzungen<br />
geplant. Auch die<br />
neueLandesbibliothek,derenfinalerEntwurf<br />
im Frühjahr gekürtwird,sollerstab2016gebaut<br />
werden. Gewiss aber ist: Sobald<br />
Bagger aufdem Feld anrücken,<br />
dürfte es Protestgeben. Ob mit<br />
erfolgreichem Volksbegehren<br />
oderohne. KONRAD LITSCHKO<br />
Aufder Suche nach einer Bleibe<br />
ASYLRund6.000<br />
Flüchtlingenimmt<br />
Berlin2014wohlauf.<br />
GleichimJanuargehtes<br />
umdenOranienplatz<br />
Alles schaut auf den Oranienplatz.<br />
Wenn dortnichtbis 18. Januar<br />
die Zelte des Flüchtlingscampsabgebautsind,willInnensenatorFrankHenkel(CDU)räumen<br />
lassen. Dann dürfte Berlin<br />
bereits zu Jahresbeginn einen<br />
seiner größten Polizeieinsätze<br />
erleben –denn die linkeSzene<br />
mobilisiertbereits.<br />
Derzeithaltensichnochrund<br />
30 Flüchtlinge in dem vormehr<br />
als einem Jahr errichteten Zeltdorfauf.<br />
Sie fordern weiter: weg<br />
mitArbeitsverbotundResidenzpflicht.ImMaisollderProtestsogar<br />
europäisch werden: Dann<br />
wollen Camp-Aktivisten mit<br />
Flüchtlingen ausanderen StädtennachBrüsselziehen.<br />
Kurz zuvorwerden auch ehemalige<br />
Bewohner des Camps<br />
wieder in den Fokusgeraten: 80<br />
vonihnen wohnen derzeitineiner<br />
Caritas-Unterkunft in Wedding<br />
als Winterhilfe. Bis Ende<br />
Märzdürfensiedortbleiben.Was<br />
Lampedusa in Berlin: Flüchtlinge demonstrieren im Oktober vor dem Roten Rathaus Foto: Christian Mang<br />
danach geschieht, berät derzeit<br />
ein runder Tisch aus Kirchen,<br />
Flüchtlingsinitiativen und Bezirksvertretern.<br />
Die Caritas signalisierte,dieFlüchtlingelänger<br />
zu beherbergen –sofern der Senat<br />
dies unterstützt. Der aber<br />
blieb dem runden Tisch bisher<br />
fern. Immerhin Integrationssenatorin<br />
Dilek Kolat (SPD) will<br />
künftigteilnehmen.<br />
Auch weitere Asylbewerber<br />
werden 2014 in Berlin Zuflucht<br />
suchen: 6.000 kamen dieses<br />
Jahr,mit ebenso vielen rechnet<br />
SozialsenatorMario Czaja (CDU)<br />
nächstes. 2.500 Plätze müssen<br />
2014fürFlüchtlingeneugeschaffen<br />
werden, schätzt Czaja. Die<br />
Hilfe für Flüchtlinge bleibt eine<br />
Großaufgabe. KONRAD LITSCHKO<br />
So viele werden es nicht<br />
EUROPÄISCHE UNIONAb<br />
JanuardürfenRumänen<br />
undBulgareninBerlin<br />
auchalsAngestellte<br />
arbeiten<br />
Ab1.JanuargiltdieFreizügigkeit<br />
fürArbeitnehmerausRumänien<br />
undBulgarieninderganzenEU.<br />
Für Hans-Peter Friedrich (CSU),<br />
bisvorkurzemBundesinnenminister,einGrundzumFürchten:<br />
Dann werde Deutschland von<br />
„Armutsmigranten“ überrannt,<br />
die nurvon „unseren Sozialsystemen“profitierenwollen.<br />
Ähnliche Töne hörte man<br />
2011, als dieser Schrittbei zehn<br />
osteuropäischen Staaten anstand.Dochdiedamalsprognostizierte<br />
Masseneinwanderung<br />
etwaaus Polenist ausgeblieben.<br />
So dürfte es auch diesmal sein.<br />
Die Senatsverwaltung für Arbeit<br />
und Integrationerwartet „eine<br />
steigende,aberkeinemassivsteigende<br />
Migrationaus Bulgarien<br />
undRumäniennachBerlin“.<br />
Derzeitleben in Berlin rund<br />
17.000Bulgarenund10.000Rumänen.Bislanggabesfürsienur<br />
in Ausnahmen eine Arbeitserlaubnis<br />
für Angestelltenjobs.<br />
VielemeldetendahereinGewerbe<br />
an. Dies warfastder einzige<br />
Weg,staatlicheUnterstützungzu<br />
bekommen. Derzeitbekommen<br />
knapp20Prozentder Rumänen<br />
und Bulgaren in Berlin Leistungen<br />
nach dem Sozialgesetzbuch<br />
II –allerdings auch 16,3 Prozent<br />
derGesamtbevölkerung.<br />
Probleme gibt es vorallem in<br />
Neukölln, wo etwa5.000 Rumänen<br />
und Bulgaren leben, davon<br />
allein1.500Rumänenauseinem<br />
Dorf, Mitglieder der Pfingstlergemeinde.DieSchulenimWohnumfeld<br />
müssen große Anstrengungen<br />
unternehmen, um die<br />
vielen deutschunkundigen Kinderzuintegrieren.<br />
LegaleArbeit<br />
Mitder Möglichkeit, legalzuarbeiten,<br />
werdefür die hier lebendenRumänenundBulgarenvielesleichter,sagtGeorg<br />
Claassen<br />
vomBerlinerFlüchtlingsrat–das<br />
sei auch bei den Polensogewesen.<br />
Sie seien dann weniger abhängig<br />
von ausbeuterischen<br />
Wohn-undArbeitsverhältnissen<br />
undzudemkranken-undsozialversichert.<br />
Hartz IV gibt es jedoch<br />
für alle EU-Bürger nur,<br />
wennsieeinJahrbeschäftigtwaren.<br />
SUSANNE MEMARNIA<br />
Kriegsbegeisterte Massen<br />
JAHRESTAGIIDerAusbruchdesErstenWeltkriegsjährt<br />
sichzum100.Mal–auchdasDHMerinnertdaran<br />
AndersalsimZweitenWeltkrieg<br />
warBerlin im Ersten Weltkrieg<br />
kein Kriegsschauplatz. In der<br />
Hauptstadt des Kaiserreiches<br />
wurdenichtgestorben, sondern<br />
gejubelt, auch wenn das Bild<br />
vondenkriegsbegeistertenMassen<br />
–das „Augusterlebnis“ –inzwischen<br />
relativiert wurde.<br />
Deutschland kannte auch nach<br />
den Kriegserklärungen an RusslandundFrankreichAnfangAugust<br />
1914 noch Parteien und<br />
nichtnurDeutsche,wieesKaiser<br />
WilhelmII.suggerierte.<br />
Gleichwohlwird2014,auchin<br />
Berlin, ein Mammutjahr des Erinnerns.<br />
Im Deutschen Historischen<br />
Museum startet ab 6. Juni<br />
die zentrale Schau „1914–1918.<br />
Der Erste Weltkrieg“. Esfolgen<br />
Ausstellungen über Fotografie<br />
im Ersten Weltkrieg, über Mode<br />
und Grafik oder das Ende der<br />
BelleÉpoque.<br />
Welche Erzählung aber wird<br />
das Mammutjahr hinterlassen?<br />
Nicht ganz zu Unrecht warnte<br />
MoritzSchuller vorKurzem im<br />
Tagesspiegel davor, dass die<br />
Deutschensichwenigermitdem<br />
Krieg und seinen Opfern beschäftigen<br />
wollten, sondern vor<br />
allem mitder Gegenwart:„Die<br />
Deutschen blicken auf1914 zurück<br />
und sehen darin die Geburtsstunde<br />
der Europäischen<br />
Union.“<br />
AndersdagegeninFrankreich<br />
oder Großbritannien, wo die<br />
Zahl der Opfer weitaus höher<br />
waralsdieimKaiserreich.Nicht<br />
umsonst heißt der Erste Weltkrieg<br />
dortder Große Krieg. In<br />
Deutschlanddagegensteht–wegen<br />
der Dimension der Schuld,<br />
aber auch wegen der Opferzahlen<br />
–der Zweite Weltkrieg im<br />
Zentrum des Erinnerns. Gibt es<br />
alsoüberhaupteineuropäisches<br />
Erinnernan1914?<br />
DasDHMistsichseinerAufgabe<br />
bewusst. Kuratorin Juliane<br />
Haubold-Stolle hatihrer Schau<br />
deshalb einen „erweiterten<br />
Blickwinkel“ verpasst: Am Beispielvon15Orten,darunterBerlin<br />
und Petrograd, soll der Besucher<br />
die Ausmaße des Konflikts<br />
undseineFolgenverstehen,versprichtsie.<br />
Auch die Frage der Kriegsschuld<br />
könnte noch einmal befeuertwerden.InseineBuch„Die<br />
Schlafwandler“ hatder australische<br />
Historiker Christopher<br />
Clark die Deutschen entlastet.<br />
SeinBuchwurdezumBestseller.<br />
In Frankreich sind andere Bücherüber„LaGrandeGuerre“in<br />
denCharts.<br />
UWE RADA<br />
Jubelnd zu Beginn des Krieges: deutsche Artillerieabteilung in Berlin 1914 Foto: Ullstein Bild
46 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE<br />
www.taz.de<br />
b@taz.de<br />
DAS INTERVIEW<br />
DER MAGIERFürseineTricksbrauchtPeterSchusternureinKartenset.Damitaberkanner<br />
einigesanfangen:DerVorsitzendedesBerlinerZauberervereinserzählt,wieersichan<br />
DDR-Grenzernvorbeizauberte,wasMathematikundMagieverbindet–undwarum<br />
ZaubererschonmalalsSpionearbeiten,wennsiesonstnichtszutricksenhaben<br />
„Zauberer und Politiker<br />
haben viel gemeinsam“<br />
INTERVIEW ANNE HAEMING<br />
FOTOS JOANNA KOSOWSKA<br />
taz:HerrSchuster,habenSieIhrenZauberstabdabei?<br />
PeterSchuster:Nein,icharbeite<br />
ohne.<br />
UndwiesiehtIhreZaubereruniform<br />
aus? Umhang und Zylinder?<br />
Nein, das istnichtmein Stil. Ich<br />
zaubere immer wie ich bin, binde<br />
mir vielleichtnoch eine Krawatteum.Frühertrugmantraditionell<br />
Frack, ja, aber das ist<br />
längst vorbei. Heute gilt: Was<br />
mananhat,muss zurShowpassen.<br />
Wenn einer eine jugendlich<br />
flotte Nummer macht, kann der<br />
auch in Jeans auftreten. Auch<br />
wennsichdiePräsentationwandelt:<br />
Die Tricksbleiben im Kern<br />
immerdiegleichen.<br />
Stimmt’s,dass„Simsalabim“eineBerlinerErfindungist?<br />
Kann mansosagen, das hatder<br />
Zauberer Kalanag 1939 hier populär<br />
gemacht, aber eigentlich<br />
hateresvon einem dänischen<br />
Kollegenübernommen.<br />
UndwasistIhrZauberwort?<br />
Ach,maldaseine,maldasandere.AbrakadabraistderKlassiker,<br />
dashatmystischeUrsprünge.<br />
Wo hört denn Zaubern aufund<br />
fängtMagiean?<br />
Dasistsprachlichdasgleiche,darum<br />
heißen wir ja „Magischer<br />
Zirkel“. Ab und an verwechselt<br />
manuns mitspiritistischen Zirkeln,<br />
Leute rufen an und fragen,<br />
ob wir auch Séancen abhalten.<br />
Im Deutschen sind die beiden<br />
Begriffenichtklarzutrennen,sie<br />
sinddoppeldeutig.AndereSprachenhabeneineigenesWortfür<br />
denTrickzauberer:etwadenconjurer<br />
im Englischen oder den<br />
préstidigitateur im Französischen.Im19.Jahrhunderthatein<br />
Sprachreinigungsverein vorgeschlagen,<br />
das französische Wort<br />
direkt zu übersetzen: Daraus<br />
wurde „der Schnellfingerierer“.<br />
Das hatsich dann glücklicherweisenichtdurchgesetzt.<br />
SiesindVorsitzenderdesZauberervereins<br />
„Magischer Zirkel“.<br />
Wasmuss ich machen, um aufgenommenzuwerden?<br />
Manmusszaubernkönnen.<br />
Aha.Wiebeweiseichdas?<br />
Vielehaben miteinem Zauberkasten<br />
angefangen, den sie als<br />
Kind zu Weihnachten bekommen<br />
haben und wollten dann<br />
mehr lernen. Wersich bei uns<br />
meldet, istersteinmal ein Jahr<br />
Anwärter,dann muss maneine<br />
Aufnahmeprüfungablegen.<br />
UnddannstimmendieMitgliedersichergeheimab,oder?<br />
Nein, offen, mit Handzeichen.<br />
Früherhatmanmitweißenund<br />
schwarzen Kugeln gewählt, das<br />
hattemansichvondenFreimaurernabgeschaut.Aberdaswarzu<br />
einer Zeit, als mansich noch als<br />
Geheimbund verstand. Das einzige,wassichdavongehaltenhat,<br />
sinddieSitzungen,indenenwir<br />
unsereKunststückeunterunsoffenlegen<br />
–eine Artinterne Fortbildung.Datreffensichdanndie<br />
einzelnen Arbeitskreise, es gibt<br />
denAKShow,denAKMentalmagie,<br />
den AK Geschichte und den<br />
AKKartentricks.<br />
Wiehaben Sie denn selbst damalsangefangen?<br />
MiteinemBuchausderSchulbücherei,dawarich12.Dahatmich<br />
derBazillusgepackt.<br />
UndwaswarIhrersterTrick?<br />
BeiunsinderSchulewardamals<br />
einZaubereraufgetretenundich<br />
saßdaundhabesofortalleTricks<br />
durchschaut, obwohl ich keine<br />
Ahnung hatte. Er verteilte Kuverts,dieLeutestecktenwasrein,<br />
dieKuvertswurdenverklebt,zurückgegeben,<br />
gemischt. Und<br />
dann sagte er eben: Das haben<br />
Sie reingesteckt, das Sie, das Sie.<br />
Den Kuverttrick habe ich sofort<br />
nachgemacht.DasistmittlerweileeinermeinerStandards.<br />
Undwiegehtder?<br />
Dasverrateichnicht.<br />
Wo bekamen Sie als Kind Ihre<br />
Zaubergeräteher?<br />
InderRegelhabeichmirdieDingeselbergebastelt.Natürlichgab<br />
esinBerlinauchHändler,zudenen<br />
mansein Taschengeld geschleppt<br />
hat, aber die Originale<br />
waren allesehr teuer.Inden Läden<br />
standen fantastische Geräte<br />
rum,undwerwieichZauberbücher<br />
gelesen hatte, wusste, was<br />
waswar.Wir gingen hin, wann<br />
immer wir konnten, zum„Zauberkönig“inderFriedrichstraße<br />
oderebenzuHorster.<br />
Weltkrieg kamen wieder allezu<br />
einerGruppezusammen.<br />
UnddannkamendieNazis.<br />
Nach dem Erlass der Rassengesetze<br />
durften die jüdischen Zaubererab1936nichtmehrimMagischen<br />
Zirkel sein. Der Verein<br />
wurde indie Reichsfachschaft<br />
Artistik eingegliedert. Das war<br />
derÜberlebenstrick,densichder<br />
ZaubererHelmutSchreiberalias<br />
Kalanagausgedachthatte.<br />
…erwarinderFilmbrancheaktiv,<br />
hatte gute Kontakte zu PropagandaministerGoebbels<br />
…<br />
Die meisten jüdischen Zauberer<br />
sind bis Mitte der 1930er gegangen,dieTochtervom„Zauberkönig“<br />
und der Zauberer Günther<br />
Dammann kamen im Konzentrationslager<br />
um. Vielewussten<br />
erst,dassihreZauberer-Kollegen<br />
Juden waren, als einige voneinem<br />
Tagauf den anderen verschwundenwaren.EswareinriesigerAderlass.<br />
InNeuköllngibteseinen„Zauberkönig“,<br />
der 2012 von zwei<br />
Frauen übernommen wurde.<br />
WashatdermitKronerzutun?<br />
Das istdas gleiche Geschäft. Als<br />
es1938inderReichskristallnacht<br />
enteignet wurde, hatesdie Verkäuferin<br />
ReginaSchmidtübernommen.<br />
In den 1950er Jahren<br />
musstesiealsWestberlinerinihrenLadeninOstberlinaufgeben<br />
undzognachNeukölln.Nachihrem<br />
Todhat ihn Günter Klepke<br />
gekauft, jetzt machtseine EnkelinmiteinerFreundinweiter.<br />
Nach der Wende fusionierten<br />
die zwei Berliner „Zirkel“. Wie<br />
viel hatten Sie vorher mitden<br />
DDR-Kollegenzutun?<br />
Wir hatten immer Kontakt zu<br />
dem Ostberliner Magischen Zirkel.<br />
Wirhaben regelmäßig Zauberutensilien<br />
rübergebracht,<br />
einmal hatte ich eine Spielzeugpistoledabei.<br />
Als ich damitan<br />
der Kontrolle erwischt wurde,<br />
hatderGrenzererstmalseineeigene<br />
gezückt. Ich habe erklärt,<br />
dass sie für einen Berufszauberersei,derauchfürdieNVAzaubert–dadurfte<br />
ich sie mitnehmen.<br />
Einmal waren wir bei einem<br />
Gastspiel in Magdeburg.<br />
Aufdem Rückweg stoppten uns<br />
die Grenzbeamten und wollten<br />
wissen,wasindenKoffernist.<br />
........................................................................................................................................................................................................<br />
........................................................................................................................................................................................................<br />
Peter Schuster<br />
■ Der Mann: Der 79-jährige Vorsitzende<br />
des Magischen Zirkels ist lebten. Unteranderem liegt einer<br />
nern, die die Nazizeit nichtüber-<br />
Politologe,saß zehn Jahrefür die vordem Haus der Friedrichstraße<br />
SPD im Abgeordnetenhaus und 55,wodie Familie Kroner einstdas<br />
warab1999 Alterspräsident. Geschäft„Zauberkönig“ betrieb.<br />
■ Der Verein: Der Zirkel istdie Vereinigung<br />
der Berliner Zauberer, Weihnachteneinen Zauberkasten<br />
■ Der Nachwuchs: Kinder,die zu<br />
die am Abend jeden dritten Mittwochs<br />
im Monat eine Showinih-<br />
Januarvon13bis17Uhrerste Tricks<br />
bekommen haben, können am 4.<br />
renRäumen zeigt. Der Verein existiertseit<br />
1920.Erverlegtezuletzt renKastenund 12 Euromitbringen<br />
lernen.SiemüssenfürsTrainingih-<br />
mehrereStolpersteine,umanjüdische<br />
Zauberer aus Berlin zu erin- ■<br />
–und sich vorher anmelden.<br />
www.mzberlin.de<br />
Hokuspokus!<br />
Horster?<br />
Der warauch in der Friedrichstraße.<br />
In der ersten Hälfte des<br />
20. Jahrhunderts beherrschte er<br />
denWeltmarktderZaubergeräte.<br />
Erselbstwar1944gestorben,den<br />
Laden haben seine Frau und derenBruderweitergeführt.Erhat<br />
viele Bücher geschrieben, die<br />
auchheutenochsehrinteressant<br />
sind für alle, die Zauberer werden<br />
wollen. Seine größten Rivalenwaren<br />
zwei Hamburger Zauberhändler,<br />
deren Produkte<br />
Horsters Berliner Konkurrent,<br />
der„Zauberkönig“,verkaufte.<br />
WasistBerlinsZauberkultur?<br />
WirverstehenunsalsVerein,der<br />
sich nach außen öffnet. Wirgeben<br />
hier einmal im Monatöffentliche<br />
Zaubervorstellungen<br />
und bieten Vorträge zurZauberkunstan;<br />
in manchen anderen<br />
Städten sind Zirkel eher wie<br />
Stammtische.Traditionellhaben<br />
wir vieleBerufszauberer,heute<br />
sinddasetwa20ProzentinunserenReihen,aberebenauchviele<br />
Amateure.DerBerlinerZirkelist<br />
offiziell erst 1920 entstanden,<br />
aber der Vorgängerverein schon<br />
1901undistdamitderältesteder<br />
Welt.Der Londoner begann erst<br />
1904.<br />
Wiekam’s?<br />
Zufall. Da haben sich eben einfach<br />
einige Leute zusammengefunden.<br />
Man nannte sich Amateurvereinigung<br />
für magische<br />
KunstzuBerlin.Eswarenimmer<br />
die gleichen Leute, Horster gehörte<br />
auch dazu, aber er sorgte<br />
immer für Konflikte, so gründete<br />
er 1905 die Maja, einen eigenenVerein.ErstnachdemErsten<br />
Unddann?<br />
Alswirsagten,dasswirZauberer<br />
sind,habensieerstmaldieGrenzedichtgemacht.Undwirmussten<br />
in der Baracke eine halbe<br />
Stunde für sie zaubern. Danach<br />
durften wir unkontrolliertweiterfahren.Daswarschonimmer<br />
typischfürZauberer,auchinder<br />
Nazizeit: Sie sind Überlebenskünstler,sie<br />
kommen immer irgendwie<br />
durch. Einige haben<br />
auchalsSpionegearbeitet.Inder<br />
NachkriegszeithabenvieleAmateurzauberer<br />
damit eine Zeit<br />
lang ihren Lebensunterhaltverdient,<br />
weil sie in ihrem eigentlichenBerufkeineChancehatten.<br />
Sie haben hier eine Vitrine mit<br />
historischen Geräten, etwa<br />
„DermoderneFinanzminister“.<br />
Wiefunktioniertedas?<br />
DaerschienamEndedesZauberstabs<br />
eine Münze. Die sind alle<br />
nicht mehr in Betrieb, einige<br />
wurden weiterentwickelt. Auch<br />
die „Wandernden Flaschen“werden<br />
noch vorgeführt: Da wandern<br />
Flaschen zwischen Röhren<br />
hinundher.<br />
KlingtnachdemPrinzipdesberüchtigtenHütchenspiels<br />
…<br />
Das funktioniertetwas anders.<br />
Aufdiese Kriminellen fallen die<br />
Leuteimmerwiederrein,abereigentlichistdasBecherspieleines<br />
der ältesten Zauberkunststücke<br />
der Welt. Das gibt es seit gut<br />
2.000 Jahren und warlange das<br />
SymbolfürZauberer,egalobauf<br />
Tarotkarten oder in den KarikaturenvonDaumier.Dasänderte<br />
sicherstim20.Jahrhundert:SeithersindZylinderundKaninchen<br />
dietypischenSymbole.Dassieht<br />
manauch an den Karikaturen:<br />
Politiker werden heute oft mit<br />
Hutgezeigt, ausdem sie irgendwasherauszaubern.<br />
Haben Sie auch schon mitKaninchengezaubert?<br />
Ja,ichhattemirextradafüreine<br />
Kistegebaut.<br />
„Ich zaubere immer wie ich bin, binde mir vielleicht noch eine Krawatte um. Früher trug man traditionell Frack, aber das ist längst vorbei“: Berlins Chefzauberer Peter Schuster<br />
UndwohattenSiedieTiereher?<br />
Diehatteichmirgeborgt,ichhatte<br />
Freunde aufdem Land. Bevor<br />
die Tiere geschlachtet wurden,<br />
kamensieindieZauberkiste.<br />
Wieso sind Sie eigentlich nicht<br />
Berufszauberergeworden?<br />
Gelegentlich träumt man mal<br />
davon, aber das warimmer nur<br />
ein Hobby,ich habe damitmein<br />
Studium finanziert. Ich habe einen<br />
Abschluss in Politologie gemachtund<br />
dann an der Pädagogischen<br />
HochschuleLehrer ausgebildet.<br />
Und ich warauch zehn<br />
JahreAbgeordneterimAbgeordnetenhaus.<br />
HatIhnen die Zauberei in der<br />
Politikdenngenutzt?<br />
MeineTricksereienwollteichals<br />
Politiker nie einsetzen. Aber es<br />
gibt gewisse Gemeinsamkeiten:<br />
Einige Politiker verdecken und<br />
verschleiern ihre wahren Absichten.<br />
Je besser ihnen das gelingt,<br />
desto besser stehen sie<br />
dann oft da. Schon im 19. JahrhundertgabesinFrankreichvieleKarikaturen,etwavonHonoré<br />
Daumier,diePolitikeralsZaubererdarstellten.Daswarnatürlich<br />
negativ gemeint, im Sinne von:<br />
DertrickstwieeinZauberer.<br />
WasistdennIhreSpezialität?<br />
Ich mache Kartentricksund alles,waszwischenTischundBühne<br />
stattfindet. Wirnennen das<br />
Salonmagie. Ich lasse keine Elefantenverschwinden.<br />
SiehabendaeinKartenspielliegen,<br />
vorne vieleZahlen, hinten<br />
steht„PolitikohneTrick“.<br />
Ja,das hateine doppelte Bedeutung:DieseSetshabeichmalals<br />
Wahlkampfgeschenk anfertigen<br />
lassen.<br />
Kamsichergutan.<br />
Ja,istmalwasanderesalsKugelschreiber.IchzeigeIhnenmitdenen<br />
jetzt maleinen schönen altenTrick.Siesehen,aufdenKarten<br />
sind Zahlenreihen drauf.<br />
Denken Sie sich maleine Zahl<br />
zwischen1und63.<br />
Ok.<br />
JetztschauenSiesichdieKarten<br />
durchundgebenmiralle,aufdenenIhregedachteZahlsteht.<br />
Hier,bitte.Halt–dieauchnoch.<br />
Diesevier?Aha.Istjainteressant.<br />
Na,spuckenSie’sschonaus.<br />
Sie meinen, ich weiß das schon?<br />
Gut:Eswardie23.<br />
Stimmt.WiehabenSiedasdenn<br />
jetztgemacht?<br />
Dasverrateichauchnicht.Esist<br />
einsimplerZahlentrick.DieMathematik<br />
warschon immer Teil<br />
derZauberei,fürvieleMathematikereinamüsanterZeitvertreib.<br />
Am anderen Ende des Spektrums<br />
gibt es Löffelverbieger<br />
wieUriGeller.Istereineandere<br />
GattungZauberer?<br />
Letztlich macht erdas gleiche<br />
wiewir:ErarbeitetjamitZaubertricks.<br />
Nur: Leute wie er wollen,<br />
dassdieLeutedenken,sieverfügenüberübersinnlicheFähigkeiten.<br />
Aber sich als übersinnlich<br />
auszugeben, istinZaubererkreisen<br />
verpönt. Wir arbeiten mit<br />
Physik, Mathematik, Fingerfer-<br />
tigkeitundPsychologie.Diepsy-<br />
chologischen Tricks, mitdenen<br />
Mentalmagier arbeiten, werden<br />
übrigens gerade vonNeuropsychologen<br />
erforscht. Sie schauen<br />
sich die Täuschungsmomente<br />
an,mitdenenZaubererarbeiten,<br />
weilsieentdeckthaben,dassdiese<br />
Mechanismen brauchbar für<br />
andere Bereiche sind, etwadie<br />
Werbung.<br />
Inwiefern?<br />
EinZauberersteuertimmerauch<br />
die Aufmerksamkeitdes Publikums.Wenneretwasverstecken<br />
will, tritt indem Moment die<br />
schöneAssistentinaufdieBühne<br />
undallesindvonihmabgelenkt.<br />
So etwas istfür einen Werbeclip<br />
natürlich wichtig, genauso für<br />
denAufbauvonWarenineinem<br />
Geschäft.<br />
DieAssistentinisteinKlischee,<br />
so auch der Macho-Trick mit<br />
der zersägten Jungfrau.Unter<br />
Ihren 75 Mitgliedern sind auch<br />
nurfünfFrauen.Warum?<br />
Ich habe dafür keine endgültige<br />
Erklärung.Vielleichtbekommen<br />
eher Jungs einen Zauberkasten<br />
geschenkt. Aber Frauen gehen<br />
mittlerweileaktivgegendasKlischeevor,inDeutschlandgibtes<br />
sogareigeneTreffenderZauberkünstlerinnen.<br />
Aber was soll<br />
manmachen,alsAssistentinhabensieeinewichtigeFunktion.<br />
Über Tricks mit Kaninchen<br />
Die hatte ich mir geborgt, ich hatte<br />
Freunde auf dem Land. Bevordie Tiere<br />
geschlachtet wurden, kamen sie<br />
in die Zauberkiste<br />
Ein attraktiver Mann würde<br />
abergarantiertauchablenken.<br />
Ja,könnte sein. Aber ich kenne<br />
derzeitkeineZaubershow,inder<br />
eine Frau einen Mann als HilfskraftzurAblenkungeinsetzt.<br />
GehenSiehin,wennein„Übersinnlicher“hierauftritt?<br />
Ich würde mir das interessehalber<br />
anschauen. Aber wir rufen<br />
natürlich nichtinden Saal: „Ist<br />
allesTrick!“.<br />
Auch weil es gegen den Ehrenkodex<br />
ist, Trickszuverraten?<br />
Sieweigernsichjabeharrlich.<br />
Ja,das giltgrundsätzlich. Es ist<br />
unangebracht, eigene oder die<br />
Tricksder anderen zu verraten.<br />
Es wäre auch dumm: Die Leute<br />
kommenjaindieShows,weilsie<br />
getäuschtwerden wollen. Aber<br />
mankannsichnatürlichZauberbücher<br />
kaufen oder vieles bei<br />
YouTubesehen.<br />
Der „Zauberkönig“ musste fast<br />
schließen. Hatdie Zauberei in<br />
ZeitenvonYouTubedenZauber<br />
verloren?<br />
Im Gegenteil, die Zahl der Zaubershowsnimmtzu,geradetourendie„EhrlichBrothers“durchs<br />
Land. Anders als in den vergangenen<br />
zehn Jahren gibt es auf<br />
einmal ein wachsendes Interesse,<br />
das merken wir auch –nachdemesjahrelangkeineNachfragegab,habenwirjetztwiedereine<br />
Jugendgruppe mitüber zehn<br />
Nachwuchszauberern.<br />
Die Plakate für die deutschen<br />
„Ehrlich Brothers“ hängen seit<br />
Wochen überall in der Stadt.<br />
Man denkt sofort: haha,ehrlicheZauberer.<br />
Dieheißenübrigenswirklichso.<br />
Der Name hat einen schönen<br />
Klang und istmit der Doppeldeutigkeit<br />
natürlich auch sehr<br />
werbewirksam.<br />
WasistIhrZauberer-Name?<br />
Sowashatteichnurfrüher.<br />
Undwelchen?<br />
PeterFabian.<br />
Wiesoausgerechnetden?<br />
KeineAhnung,einfachso.<br />
Klingt jetzt nichtsospektakulärwie„DerGroßeHoudini“.<br />
Stimmt. Früher hatman häufig<br />
seinen Namen etwas verändert,<br />
damitesplakativerwirkt:Dagab<br />
es dann Zauberer namens „Fritzini“oder„Müllerano“.<br />
Als Zauberer ist manstets im<br />
Dienst–Siehabensicherimmer<br />
wasfürirgendwelcheTricksdabei,oder?<br />
Ja,ein Kartenspiel. Aber zurNot<br />
reichen mir auch ein paar Papierservietten.
48 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE<br />
www.taz.de<br />
b@taz.de<br />
BERLINKULTUR<br />
BERLINER SZENEN<br />
fürlau<br />
fuer-lau@taz.de<br />
sonntag bis 20 uhr<br />
mailen&<br />
gewinnen<br />
HISS IM MASCHINENHAUS<br />
Ich schenk mein Herz<br />
VertrauteKlänge ausder Ferne<br />
undexotischeRhythmenvondaheim,<br />
so beschreiben Hiss zutreffend<br />
ihren Sound zwischen<br />
Taiga-Twist, Texas-Tango und<br />
Balkan-Polka. Zudieser wilden<br />
Melange werden launige, ironische<br />
Texte aufDeutsch gesungen.<br />
Sieben Tage saßen Hiss für<br />
ihre immerhin schon siebte CD<br />
im Tonstudiound haben sieben<br />
Stunden täglich um jeden Ton<br />
gerungen. Schließlich haben sie<br />
zwei malsieben Songs aufBand<br />
gebracht.Dasklingtbiblisch.Maschinenhausam9.Januar.<br />
GANZ BESINNLICH<br />
Lichter und Katzen<br />
WeilichdiesesJahrnichtsorichtig<br />
in Weihnachtsstimmung<br />
kam,halfmeineMutternach,indem<br />
sie mir am Tagvor Heiligabend<br />
per WhatsApp Fotosvon<br />
Karpfenköpfen schickte. Karpfenkopf<br />
in Suppentopf. Ab da<br />
warmirsehrbesinnlichzumute.<br />
So besinnlich, dass ich mir<br />
abends an der Küchenreibe den<br />
halbenRingfingerwegschrappte<br />
und den Daumen am Ofen verbrannte.<br />
(Ich hieltihn unter kaltes<br />
Wasser,was sich eh anbot,<br />
weil die Gastherme kaputt war<br />
undesnurkaltesWassergab.)<br />
S.riefanundsagte,siehätten<br />
gerade bei sich zuhause den<br />
Baum geschmückt. „Und“, fragte<br />
ich, „habt ihr echte Kerzen am<br />
Baum?“„Tüllich“, sagteS.„So,so“,<br />
sagteich,„wirhabenimmernur<br />
’neLichterkette.“–„Echt?“–„Weil<br />
wirPolensind.“–„Ihrfreuteuch,<br />
dass es elektrisches Licht gibt,<br />
ne?“–„Ja.“–„Istjaauchschön.“–<br />
„Ja.“Natürlichistesschön.Schön<br />
auch, dass es jetzt LED-Lichterketten<br />
gibt. Also, schön nicht,<br />
abersparsam.<br />
Katze1mobbtKatze2.<br />
Deswegenpinkelt<br />
Katze2untersBett<br />
undkacktindenFlur<br />
Dann rief M. an. Ob ich seine<br />
Katzen füttern könne über die<br />
Feiertage.IchhabeeineUmfrage<br />
gemacht. 155 Prozentaller Berliner<br />
füttern an Weihnachten die<br />
Katzen ihrer nichtberliner<br />
Freunde.M.schicktemirzurBelohnung<br />
ein Foto von einem<br />
Pfeifhasen. Von Spiegel Online.<br />
Im Artikel dazustand, der Pfeifhase<br />
ernährtsich vonMoos. HabenForscherrausgefunden.„Um<br />
auch die letzten Nährstoffe aus<br />
demMoosherauszuholen,fresse<br />
der rund 15 Zentimeter lange<br />
Pfeifhase seinen Kotmehrfach.“<br />
Wo wir auch schon beim Thema<br />
waren. M.s Katzen sind nämlich<br />
etwas speziell im Kopf. Katze 1<br />
mobbtKatze2.Deswegenpinkelt<br />
Katze 2unters Bett und kackt in<br />
denFlur.WeilKatze1zeigenwill,<br />
dasssiesowasauchkann,pinkelt<br />
sieaufsSofaundkacktinsSchlafzimmer.Das<br />
kannte ich schon.<br />
M. sagte, neu sei, dass Katze 2<br />
auchindieDuschepinkle.Obich<br />
das auch wegmachen könnte.<br />
Klar.Danke, sagte M., und alle<br />
freutensichaufdieFeiertage.<br />
MARGARETE STOKOWSKI<br />
Tu,was du tun musst<br />
SWINGENDE MELODIEN<br />
Melancholieund<br />
Lässigkeitvereinen<br />
DieHöchste<br />
Eisenbahnaufihrem<br />
Debütalbum„Schau<br />
indenLaufHase“,<br />
einerderbesten<br />
Plattenindeutscher<br />
SprachedesJahres<br />
VON JENS UTHOFF<br />
Es ist ein guter Moment für<br />
Flucht: Wirhaben Ende Dezember;manweißnichtsorecht,was<br />
manvondiesertotenZeithalten<br />
soll. Draußen spielen die Kids<br />
Krieg, während es öde und regnerisch<br />
ist und der Boden im<br />
Parktiefundmatschigist.Sieben<br />
Tage Wochenende. Menschen<br />
stehen mit hochgezogenen<br />
SchulternundrotemKopfander<br />
Haltestelle; sie alledachten, dieses<br />
Jahr würde besser werden.<br />
Wurdeesnicht.Frühlingistweit.<br />
Sollte Ihnen also nach Flucht<br />
sein, wären Die Höchste EisenbahneineLösung.SteigenSiezu,<br />
drehen Sie die Musik laut.Die<br />
Lokführer sind der Regisseur<br />
und Songwriter MoritzKrämer,<br />
der bisher solo Musik machte,<br />
undFrancescoWilking,denman<br />
bereitsvonderBandTelekannte.<br />
Beidegründeten2011DieHöchste<br />
Eisenbahn. ZweieinhalbJahre<br />
später hatdie Band ihr Debütalbum„Schau<br />
in den Lauf Hase“<br />
veröffentlicht. Unterstützt werden<br />
Krämer und Wilking inzwischen<br />
vonMultiinstrumentalist<br />
Felix Weigt und Max Schröder,<br />
derunteranderembeiTomteam<br />
Schlagzeugsitzt.<br />
DierundeineStundedauerndeReisemitdenvierHerren,alle<br />
sozwischen30und40Jahrealt,<br />
ist unterhaltsam bis durchgeknallt,<br />
anarchisch bis angepisst,<br />
dannaberauchnachdenklichbis<br />
melancholisch.DiesesAlbumist<br />
mehr als nureine beiläufige, eine<br />
„nette“Platte. „Schau in den<br />
Lauf Hase“zähltzuden besten<br />
AlbendesJahres2013,aufdenen<br />
Deutsch gesungen wird. Dafür<br />
gibt es Gründe. Es sind derer<br />
mindestensfünf.<br />
Erstens: Die Höchste Eisenbahnsindangenehmundeutsch.<br />
Los legt die Band gleich malmit<br />
„Egal wohin“, einem funkigen<br />
Discostück mit simplen Beats<br />
undfast ordinärenSaxofon-Soli,<br />
auf das wohl von den Talking<br />
Heads bis zu BillyJoel alleneidisch<br />
gewesen wären, so lockerleicht<br />
überschreitet es jede<br />
Kitschgrenze. Und, eben, lockerleicht:<br />
Die Höchste Eisenbahn<br />
habennichtsSchweres,Biederes<br />
imGepäck,nichtdiedickebraune<br />
Soße auf den Kartoffeln,<br />
selbst dem Stück „Aliens“, mit<br />
WAS TUN?<br />
■ Volksbühne, 1.Januar<br />
Schön ins Jahr<br />
Das traditionelle Neujahrskonzert der<br />
Volksbühne bestreitet in diesem Jahr<br />
die Südafrikanerin und Wahlberlinerin<br />
Cherilyn MacNeil alias Dear Reader.Sie<br />
singt Folksongs voller Geistesblitzeund<br />
schöner Melodien. Reduzierte<br />
Instrumentierung und ausformulierterGesang ergeben<br />
ein Klangbild klarer Schönheit. Zweiter Act des Abends<br />
istEinar Stray aus Oslo.Das Instrumentarium dieser Band ist<br />
so vielseitig, wie die Talente ihrer Mitglieder es sind: Piano,<br />
Streicher,Percussion, sparsam eingesetzt auch Bläser und<br />
mehrstimmiger Gesang. 18/14 Euro.<br />
Die Höchste Eisenbahn ist bärtig, ihr Album unterhaltsam bis durchgeknallt Foto: Tapete<br />
eher melancholischem Text,<br />
liegt ein swingender Rock-’n’-<br />
Roll-Beatzugrunde.<br />
Zweitens: Die Höchste Eisenbahn<br />
istrotzig und romantisch<br />
zugleich. Wenn Krämer im vierten<br />
Lied die Geschichte vonRobertundIsabel(„Isi“)vorträgt,so<br />
fällteinem als große Referenz<br />
nurRio Reiser ein. Gefühltwar<br />
Reiserderletzte,derdieMärchen<br />
sowiedietraurigenShortStories<br />
des Alltags erzählen konnte, ohne<br />
dass es weichgespültdaherkam.In„Isi“klingtSehnsuchtgenauso<br />
an wie die unbedingte<br />
HoffnungaufdasbessereLeben.<br />
Heterotopie und Anachronismuszugleich,<br />
wasWilking und<br />
Krämer hier entwerfen. Die Mu-<br />
Fotos: Promo<br />
Siesindangenehm<br />
undeutsch.<br />
DieHöchste<br />
Eisenbahnhaben<br />
nichtsSchweresoder<br />
BiederesimGepäck,<br />
nichtdiedicke,<br />
brauneSoße<br />
aufdenKartoffeln<br />
■ Martin-Gropius-Bau, mittwochs bis montags<br />
Lernen vonden Irokesen<br />
Sie warengefürchtete Krieger und begnadete Diplomaten:<br />
Die Irokesen hielten im 17.und 18.Jahrhundertdie kolonisierenden<br />
Europäer auf Trab. Zugleich inspirierte ihr Zusammenschlusszueiner<br />
einflussreichen Stammesliga die europäische<br />
Geistesgeschichte.Eine<br />
Ausstellung im Martin-Gropius-<br />
Bau zeigt historische Gemälde,<br />
Zeichnungen, ethnografische<br />
Exponateund erzählt eine Geschichte<br />
vonKrieg, Handel,<br />
christlicher Missionierung und<br />
Landverlust. 9/6 Euro.<br />
sik und die Texte fesseln einen,<br />
wenn manRoberts Wegdurch<br />
dieIrrungenundWirrungender<br />
Liebemitverfolgt:„UnddieLeute<br />
schrien: Los Robert, tu,was Du<br />
tun musst/ und er sprang die<br />
fahrende Bahn an, schlug die<br />
Scheibe ein und gab Isi einen<br />
Kuss“.<br />
Drittens: Die Höchste Eisenbahnsindverspielt,mitunteralbern.<br />
Beim zweiten Song, „Body<br />
&Soul“,fehlennurnochdieLiege<br />
und der Cocktail; es beginntdirekt<br />
miteiner seichten Gitarre,<br />
Bacardi Feeling stellt sich ein.<br />
Später krakeelt irgendwo eine<br />
Mundharmonika, die Snare des<br />
Schlagzeugshacktindessenmonotonvorsichhin,einabgedreh-<br />
tes Klavier rauschtrein. Wilking<br />
und Krämer singen dazu: „Ich<br />
willmeinenNamenhörenausjederStadtundjedemDorf.“Selbst<br />
eine Zeilewie letztere istbei ihnen<br />
sorgsam eingebettet in toll<br />
erzählte Geschichten von Einsamkeit,<br />
vom Scheitern, vom<br />
täglichenSisyphusdasein–ohne<br />
im Mindesten peinlich zu klingen.<br />
Denn, viertens: Die Höchste<br />
Eisenbahnkönnentexten.Sicher<br />
gibtesauchbeiKrämerundWilking<br />
bessere und schlechtere<br />
Texte; woran esden meisten<br />
deutschen Bands aber krankt,<br />
das gelingt hier oft. Beim Titelstück,<br />
das mitKaribikrhythmen<br />
daherkommt, harmoniert der<br />
Text wunderbar mit dem beschwingtenRhythmus:„Schauin<br />
denLauf,Hase/Lauf,Hase“variiertdamit„Schlafdichaus,Hase<br />
/aus, Hase“oder „Gib nichtauf,<br />
Hase /auf, Hase“. In „Pullover“<br />
gibt es eine unangestrengte Erzählung<br />
vom Auseinandergehen,indersichwohl–wennauch<br />
nichtimDetail–somancherwiederfinden<br />
dürfte: „Haben geschworen,<br />
sich zu lieben, sich ja<br />
nie wieder zu trennen /Sie hatten<br />
Sex inder Umkleide von<br />
H+M /Sie haben sich verletzt,<br />
entschuldigt und verziehen und<br />
gelacht/unddanninWien,Rom<br />
undParisLiebegemacht/siehaben<br />
gewusstoder geahnt, dass<br />
dieLiebenichtreicht/Siemachte<br />
Schluss in der Bahn aufdem<br />
WegindieSchweiz.“Essindeinfache,<br />
neorealistische Zustandsbeschreibungen,<br />
die ohne<br />
Schwülstigkeitauskommen.<br />
Fünftens: Die Höchste EisenbahnpasseninkeinSchema.Indiepop<br />
und Singer-Songwriter<br />
sind Kategorien, die manihnen<br />
gerne zuspricht, aber nicht so<br />
rechttreffen, wasauf dem aktuellen<br />
Albumzuhören ist. Klar,<br />
ein Hamburger-Schule-Einschlag<br />
bleibt nicht aus; auch<br />
klingtdurch,dassmanmitSongwriter<br />
Gisbert zuKnyphausen<br />
befreundet istoder mitJudith<br />
Holofernes(dieauchlivebisweilenmitmischt).<br />
Aber am besten<br />
sind die Höchste Eisenbahn,<br />
wenn sie Klänge in der Karibik<br />
aufsammeln oder ein bisschen<br />
Bay Area Funk und New York<br />
Boogie aufschnappen. Um dann<br />
zu landen aufdem Berliner BodenderTatsachen.<br />
DievierMusikermachenesin<br />
diesem Berlin, Ende 2013 nicht<br />
sonderlichschwer,aufihrenZug<br />
aufzuspringen.Melancholieund<br />
Lässigkeitzuvereinen und ein<br />
Albumdarauszustricken, das<br />
kanngründlichschiefgehen.Die<br />
Höchste Eisenbahn schaffen es<br />
spielerisch.<br />
■ „Schau in den Lauf Hase“ ist<br />
bei Tapete Records erschienen.<br />
Das Konzert am16. Februar im<br />
Lido ist schon ausverkauft. Ein<br />
Zusatzkonzert spielen Die Höchste<br />
Eisenbahn am 1. Juni<br />
■ Picknick, 4.Januar<br />
Die vorletzteParty<br />
Neun Gründe fürden Besuch der 9. Ausgabe der Pierreversion:<br />
1. Pierrehat Geburtstag. 2. Er wird34. Er brauchtjetzt<br />
jede Unterstützung. 3. Es istdie vorletzteParty im Picknick<br />
ever. Danach kommtdie Apokalypse.<br />
4. Es istdie erste Partydes Jahres.Wer<br />
will das verpassen? 5. Es gibteinen<br />
Electronic Floor mit fünf sehr guten DJs,<br />
darunterRampue (im Bild). 6. Es gibt<br />
einen HipHop Floor mit zwei sehr guten<br />
DJs. 7. Die letzten achtPierreversionen<br />
warenauch schon super.8.BestimmtgibtPierreeinen aus.<br />
9. Welche Alternativegibtesdenn? Ab 23 Uhr.
BERLINKULTUR<br />
www.taz.de<br />
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SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE 49<br />
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deinen<br />
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Besuchimaußergewöhnlichen<br />
Studio„Blackrock“inMitte,wo<br />
Fitnesshandgemachtist<br />
So trainierte man 1930, und so ähnlich trainiert man auch im Jahr 2014 –ganz ohne Laufband und Edelstahlinstrumente Foto: Hulton Archive/Getty<br />
VON THOMAS ALKEMEYER<br />
RomantischeingefärbteKritiken<br />
an den vermeintlichen Sackgassen<br />
der modernen Welt sind<br />
soaltwiedieseselbst.Undsiehaben<br />
vieleGesichter.Seiteinigen<br />
JahrenzeigensiesichinderLiebe<br />
zumVintageebensowieinbärtigenjungenMännern,dieingrob<br />
gestrickten Pullovern auf dem<br />
Wochenmarkt kleine Kartoffeln<br />
verkaufen, „an denen extraviel<br />
Erdeklebt“,wiemanimSommer<br />
in der Süddeutschen Zeitung<br />
lesenkonnte.<br />
HandgemachteshatKonjunktur.<br />
Manufakturen für Schuhe,<br />
Schokolade, Fahrräder oder Rasierpinsel<br />
ausNaturborsten bedienen<br />
nostalgische Gefühlefür<br />
eine vorindustrielleZeit, in der<br />
„die Dinge noch gutwaren“, wie<br />
esinderWerbungfür„Manufactum“<br />
heißt. Die Großstadt-Boheme<br />
besinntsich aufRohkost<br />
und die guten alten Werteder<br />
Bürgerlichkeit; urban knitter<br />
strickengegendiegraueWeltdes<br />
Großstadtbetons an und überziehen<br />
Parkuhren und Straßenschilder<br />
mitihren bunten Strickereien;<br />
ungezählte Rockbands<br />
zwischen Los Angeles, London<br />
und Berlin suchen wieder Inspiration<br />
in der Mythenwelt von<br />
Country, Folk und Americana<br />
und lassen ihre Musik aufVinyl<br />
pressen.<br />
Längstprägt die Suche nach<br />
dem Einfachen auch die trendigen<br />
Welten des Fitnesssports<br />
undderurbanenBewegungskultur.<br />
Ob Fitness-Bootcamps oder<br />
das riskante Fahren mitFixed-<br />
Gear-BikesohneGangschaltung,<br />
LichtundBremse,mankonzentriert<br />
sich aufs Wesentliche. In<br />
BerlinhatderneuePurismusinzwischen<br />
aber auch die Kultur<br />
derFitnessstudioserreicht,ineinem<br />
Hinterhof in Mitte –wo<br />
sonst?<br />
In feiner Lage zwischen<br />
Reichstagsgebäude und Friedrichstraße<br />
isteine Stätte minimalistischer<br />
Körperertüchtigungentstanden,dienurInsider<br />
finden.KeineaufdringlicheWerbung,<br />
weder Namenszug noch<br />
LogoanderEingangstür.Diebeiden<br />
Betreiber setzen aufMund-<br />
propaganda. Wer Einlass begehrt,musswissen,womanklingelt.<br />
Drinnen eine Mischung aus<br />
Berliner Altbauwohnung, Weinkeller,<br />
Galerie, Turnhalle und<br />
Spielplatz. Zweistöckig. Im gewölbeartigenSouterrainderEingangsbereich<br />
mit dezenter<br />
Sportartikelwerbung, Sportfotografien,<br />
Bildbänden über Muhammad<br />
Ali und den Sportin<br />
derKunstsowiePokalenderbeiden<br />
Chefs ausihrer aktivenZeit<br />
als Bodybuilder und Eishockey-<br />
spieler.Imangrenzenden„Spiel-<br />
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Martin-Gropius-Bau<br />
Verlängert bis 6.1.2014<br />
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Schiffszubehör und Latexbändern,<br />
Sandsäckeund –er<br />
darfnatürlich nichtfehlen –<br />
derMedizinball.<br />
Oben dann –Geübte<br />
müssennichtdieTreppe,<br />
sondern können auch<br />
ein Kletterseil nehmen,<br />
umindieersteEtagezu<br />
kommen–die„Turnhalle“<br />
mit Parkettboden,<br />
Sprossenwandundeiner<br />
flexiblen Konstruktion<br />
ausPfosten und Stangen<br />
zum Klettern und Turnen,<br />
für Klimmzüge und<br />
Liegestütze.Allesaushellem,<br />
hochwertigem Holz, exklusiv<br />
vomTischlergefertigt,sogardas<br />
WaschbeckenaneinerderQuerwände.EinSpiegelzwischengroßen<br />
Fenstern an der Längswand<br />
macht esmöglich, sich beim<br />
Übenselbstzubeobachten.<br />
DieserOrtisteineAntwortauf<br />
die Unorte der großen Fitnessketten<br />
mit ihren Maschinenhallen,<br />
die ähnlich wie Flughäfen,<br />
Bahnhöfe oder Hotels überall<br />
aufder Welt gleich aussehen.<br />
Er gibt sich unverwechselbar –<br />
hip,aberdochauchfamiliärund<br />
persönlich.AnstellevonMassenabfertigung<br />
wird hier ausschließlich<br />
ein individuell zugeschnittenes<br />
Personal Training<br />
mitTrainern angeboten, die die<br />
„Philosophie“des Ortes mitihren<br />
eigenen Körpern beglaubigen:<br />
um die dreißig der eine, an<br />
die fünfzig der andere, GroßstadtbartundtiefsitzendeSweat<br />
Pantshie, Tattoos und ärmelloses<br />
MuscleShirtdort, beide unverschämtgut<br />
austrainiert, aber<br />
doch ganz anders als die Titelfiguren<br />
von Men’s Health oder Fit<br />
forFun.<br />
Körperertüchtigungja,<br />
Lifestylenein<br />
Ursprünglich sollte das Studio<br />
stundenweise auch an andere<br />
Trainer vermietet werden. Aber<br />
dieser Plan istersteinmal vom<br />
Tisch. Zu groß sei die Gefahr einer<br />
Trübung der Reinheit von<br />
Konzept und Stil durch unpassende<br />
Performances und Trainingsmethoden.<br />
Körperertüchtigung<br />
soll hier weder anonyme<br />
Körperproduktionseinnochbloßer<br />
Lifestyle,indem der Schein<br />
über das Sein triumphiert, sondern<br />
ehrliche Hand-, nein<br />
Körperarbeit–ein wenig so,wie<br />
Bruce Springsteen den Rock ’n’<br />
Roll arbeitet: in dreistündigen<br />
Konzerten, bis wirklich nichts<br />
mehrgeht.<br />
Es versteht sich von selbst,<br />
dass Safttheke, Espressomaschine<br />
und Fitnessriegel-Sortiment<br />
hier nurstören würden: es soll<br />
geschuftet werden, sonstnichts.<br />
FürFortbildungenmitSportwissenschaftlern<br />
und Medizinern<br />
gibt es in der „Turnhalle“ eine<br />
WandtafelundKreide.Computer<br />
oder garSmartboardsuchtman<br />
ebenso vergeblich wie chromblitzendeKraftmaschinen.<br />
Die Trainingsmethoden und<br />
KompetenzenderbeidenBetreiberstammenausdermodernen<br />
Sport- und Trainingswissenschaft,<br />
ihre Semantik und ihr<br />
Selbstverständnisabersinddem<br />
Handwerk und dem Baumarkt<br />
entliehen. Sie steuern die Auswahl<br />
der Materialien und die<br />
BauweisenderGeräte.DasResultatsind<br />
Trainingspraktiken, die<br />
ganz anders sind als diejenigen,<br />
die manaus normalen Fitnessstudios<br />
kennt: keine EinspannungdesKörpersineineMaschinerie„entfremdeter“Körperproduktion,<br />
die Bewegungsrichtungen<br />
und -umfänge vorgibt wie<br />
ein Korsett; dagegen Arbeiten<br />
mitdemeigenenKörpergewicht,<br />
selbsttätiges Ausbalancieren,<br />
FindendesGleichgewichts.<br />
Werhier trainiert, möchte individuell<br />
betreut werden und<br />
seinen Körper im direkten Umgang<br />
mitTrainer und Material<br />
handwerklich gestalten. Nachdem<br />
der Körper in den Maschinenhallen<br />
der Fitnessketten zu<br />
einem Massenprodukt gemacht<br />
wurde, soll das Fitnesstraining<br />
hier wieder menschlich und individuellwerden.<br />
EsisteinLeichtes,StättendieserArtalsOrteeinerumsoziale<br />
Distinktion bemühten Wohlstandsklientel<br />
zu dechiffrieren<br />
oder ihre romantisierendes Gestaltung<br />
als bloße Fassade einer<br />
fortschreitenden Disziplinierung<br />
und Ökonomisierung des<br />
Körpers zu entlarven. Tatsächlich<br />
muss manneben dem nötigen<br />
Kleingeld auch einen bestimmten<br />
Geschmack haben,<br />
um Zugang zu finden. Hier werden<br />
nichtnur Gesundheitund<br />
Fitness verkauft, sondern auch<br />
das Lebensgefühl von Milieus,<br />
dieihreSmartphonesgerninaus<br />
gebrauchtem Leder gefertigte<br />
Hüllen der Marke „Zirkeltraining“<br />
stecken und High Technology<br />
so mitSchwärmereien für<br />
die guten alten Zeiten versöhnen.Esistvermutlichnichtallein<br />
deretwasteurerePreis,derandereMilieusdavonabhält,hiereine<br />
StundemiteinemPersonalTrainer<br />
zu buchen. Auch das AmbientesorgtfürExklusivität.<br />
Sehnsuchtnachdemnicht<br />
entfremdetenLeben<br />
Keine kulturellePraxis gehtallerdings<br />
in der puren Funktion,<br />
sich vor anderen hervorzutun,<br />
vollkommen auf. In der Suche<br />
nachdemEinfachen,demSelbstgemachten<br />
und Authentischen<br />
zeigtsichvielmehraucheinwiedererwachtes<br />
Bedürfnis nach<br />
nicht entfremdeten Beziehungen,<br />
nach Nähe zum Material,<br />
zumProdukt und zumeigenen<br />
Körper,nach einer Versöhnung<br />
des Menschen mitder Welt der<br />
Arbeit, nach persönlicher BetreuungundTätigkeiten,dieum<br />
ihrer selbstwillen gutgemacht<br />
werden.<br />
In den Räumen eines neuen<br />
Körper-Handwerks wird der<br />
technologischenUtopiedesKörpers<br />
als möglichsteffizientund<br />
reibungslosfunktionierender<br />
Maschine,dieimvergangenenJahrhundertdieFantasien<br />
in Medizin, Arbeitund<br />
Sportbeflügelte,<br />
die Vorstellung<br />
eines Körpers entgegengestellt,<br />
um dessen<br />
Gesundheit<br />
nachhaltig Sorge zu<br />
tragen ist–genauso<br />
wie um die bedrohte<br />
Natur. Essinddieskeine<br />
Räume für Anabolika,schoneherfürbiologisch<br />
angebauten Gemüsesaft.<br />
■ Thomas Alkemeyer istProfessor<br />
für Soziologie und Sportsoziologie<br />
an der Carl von Ossietzky Universität<br />
Oldenburg –und kennt das Studio<br />
aus einer entschieden teilnehmenden<br />
Beobachtung.
50 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE<br />
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LESERINNENBRIEFE<br />
Theaterdonner<br />
■ betr.: „Im Schutz des Herrn“ u. a.,<br />
taz vom 21. 12. 13<br />
DieKirchen„springenindieBresche“fürden<br />
Staat.AllenvoranBischofDrögeundKardinal<br />
Woelki,dieallerdingsselbsteinfürstlichesGehalt<br />
vomStaatbeziehen,jeca.10.000EuroimMonat.<br />
Wieglaubhaftistes,wenndieKircheneinenStaat<br />
kritisieren,dessenhöchsteÄmtermehrheitlich<br />
vonihreneigenenMitgliedernbesetztwerden?<br />
ZumBeispielistauchderBerlinerInnensenator<br />
FrankHenkelbekennenderKatholik.WarumsolltenessichdieKirchenwegeneinpaarFlüchtlingenmitihrenTop-LobbyisteninderRegierung<br />
verderben?DiesesindjaletztendlichdieGarantendafür,dassdieinderVerfassungvorgesehene<br />
TrennungvonStaatundKircheweiterignoriert<br />
wirdunddassdiestaatlichenKirchensubventionenweiterungeschmälertfließen.Diegroßen<br />
SozialkonzerneCaritasundDiakonie,dieweitestgehendvomStaat,denPflege-undKrankenversicherungenfinanziertwerden,kostendieKirchen<br />
imVerhältniszuihrenEinnahmennurwenig,<br />
werdenabernachwievorgernealsAushängeschilderfür<br />
christlicheNächstenliebebenutzt.<br />
DerTheaterdonnerwegenderFlüchtlingewird<br />
vorbeigehen,unddannstehenBischofundKardinalwiederbeimSenataufderMatteundbettelnummehrGeldfürdenReligionsunterricht,<br />
unddieKirchenmitgliederimSenatwerdenes<br />
ihnengewähren.RALFBÖHM,Berlin<br />
die tageszeitung|Rudi-Dutschke-Str. 23|10969 Berlin | briefe@taz.de|www.taz.de/Zeitung<br />
DieRedaktionbehältsichAbdruckundKürzenvonLeserInnenbriefenvor.DieveröffentlichtenBriefegebennichtunbedingtdieMeinungdertazwieder.<br />
Kirche und Staat trennen<br />
■ betr.: „Der Rückzug des Staates ist offenkundig“,<br />
taz.de vom 20. 12. 13<br />
„Christenfragensich,gegenüberwelcherMacht<br />
siesichletztlichverantwortenmüssen.Fürsieist<br />
staatlicheMachtetwasVorläufiges–imZweifelsfallmussmanGottmehrgehorchenalsdem<br />
Staat.“ZeugenderartigeundweitereStatements<br />
desRolfSchiedernichtbereitsvonVerfassungsfeindlichkeit?<br />
„WirhabennieineinemLandgelebt,indemes<br />
eineTrennungvonStaatundKirchegibt!“Genau<br />
dasgiltesimeigentlichenSinndesGrundgesetzesendlichauchzurealisieren,dieabsoluteTrennungallerorganisiertenReligionsgemeinschaftenvomStaat!ION,taz.de<br />
Blick auf Kriminalstatistik<br />
■ betr.: „Projekt Heimwegtelefon. ‚Die Angst ist<br />
einfach da‘“,taz.de vom 23. 12. 13<br />
EinBlickaufdieBerlinerKriminalstatistikreicht,<br />
umsichsichererzufühlen.JANZRUISCH,taz.de<br />
Gegenseitig anrufen<br />
■ betr.: „Projekt Heimwegtelefon. ‚Die Angst ist<br />
einfach da‘“,taz.de vom 23. 12. 13<br />
WaswäredennmitdemVorschlag,dasssichdie<br />
ängstlichenLeuteeinfachgegenseitiganrufen.<br />
DannspartmansichdieZentralezurVermittlung.DemgeneigtenTriebtäterbrauchtman<br />
nachtsinderdunklenBahnhofsunterführungja<br />
garnichtsdavonzuerzählen,dasssichamanderenEndederLeitunginWirklichkeitnureine<br />
nicht-professionelleKraftbefindet.<br />
BENJAMINBRINK,taz.de<br />
Kategorisierung erstaunt<br />
■ betr.: „Runder Tisch bildet Arbeitsgruppen.<br />
Nur der Senat fehlt“, taz.de vom 19. 12. 13<br />
Wersinddie„nichtkirchlichenOrganisationen“?<br />
ErstaunlicheKategorisierung!StammtdieseDefinitionausderPresseerklärungderchristlichen<br />
Organisationenundwurdesovondertazübernommen?Hierwirddievielfachehrenamtliche<br />
ArbeitvonvielenanderenunbenanntenEinzelpersonen,GruppenundOrganisationeninder<br />
ÖffentlichkeitsdarstellungdurchdieKirchen<br />
vereinnahmt.Schade,dassdietaznichtausführlicherberichtet.WiebreitistdasSpektrumtatsächlich?ERSTAUNLICHEKATEGORISIERUNG<br />
NICHTKIRCHLICH,taz.de<br />
Vonkleiner Eliteokupiert<br />
■ betr.: „Bauhaus baut Haus“,<br />
taz.de vom 22. 12. 13<br />
Bauhaus?Dasistdochdas,wasmalfürjeden,beziehungsweisefürMannundFraumitkleinem<br />
Geldbeutelgedachtwar …dannabersehrschnell<br />
voneinerkleinenEliteokkupiertwurdeumdiese<br />
Design-undLebensartrevolutionfinanziellaus-<br />
zuschlachtenundsichvonderAllgemeinheitab-<br />
zugrenzen.Schließlichkönnensichdochnur<br />
nochAngehörigeabderoberenMittelschichtdie<br />
Bauhausklassiker–Stühle,Lampenundandere<br />
Gegenstände–leisten.<br />
IchwarbeimBesuchdesBauhaus-Museums/ArchivsimletztenJahr,ziemlichangewidert,nach<br />
demichimdortigenShopwarunddiePreisegesehenhabe.BauhauswarhaltschonzuBeginn<br />
des20.Jahrhundertsetwas,daseigentlichfüralle<br />
daseinsollte,dannabervoneinerkleinen,vermögendenGruppevereinnahmtwurde.<br />
JUSTJAN,taz.de<br />
Frage beantwortet<br />
■ betr.: „Historisches Kaufhaus. Event für Zwischendurch“,<br />
taz.de vom 19. 12. 13<br />
„wasgenaudieWünschedesEigentümerssind,<br />
istallerdingsunklar …“<br />
IchbeantworteIhnen,liebetaz,dieseFragegerne:<br />
SovielGeldundProfitdamitmachen,wieesnur<br />
geht.TOMAS,taz.de<br />
Verlogen<br />
■ betr.: „Akten belegen Deal mit BMW“, taz.de<br />
vom 19. 12. 13<br />
IndiesemZusammenhangwirktdasletztjährige<br />
BMWGuggenheimLabmitseiner„Wir-müssenalle-miteinander-reden“-Rhetoriknochverlogener.PUBLIK,taz.de<br />
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FieberanfallkamihmeineIdee,dieCharlesDarwin<br />
inPanikversetzte:20Jahrehattedieserbereitsan<br />
seinerTheoriedernatürlichenZuchtwahlgefeilt,als<br />
WallaceihmvonseinerEingebungschrieb…<br />
»DieWallace-Expeditiongiltalserfolgreichste<br />
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b<br />
Feiern im<br />
Untergrund<br />
KULTURFastdasganzeJahrwardieU6<br />
unterbrochen,derU-BahnhofFranzösische<br />
StraßeEndstation.InsechsJahrenwirder<br />
ganzgeschlossen.EinStudentwilldort<br />
danneinVeranstaltungszentrumeröffnen<br />
–unddenBahnhofsofürdieÖffentlichkeit<br />
erhalten<br />
VON<br />
KLAAS-WILHELM BRANDENBURG<br />
DavidDrekersiehtnichtauswie<br />
der klassische Geschäftsmann.<br />
Der fast zwei Meter große,<br />
schlankeMannstehtimU-BahnhofFranzösischeStraße,erträgt<br />
eine übergroße Vintage-Jacke,<br />
eng anliegende Jeans und unter<br />
dem offenen Hemd ein T-Shirt<br />
mittiefem Ausschnitt. Seine lockigenHaare,mühsamzumSeitenscheitelgekämmt,fallenihm<br />
ins bärtige Gesicht, sobald eine<br />
U-Bahn einfährt. Der frische<br />
Fahrtwind, das kühleNeonlicht,<br />
die lauten Züge –esist kein besonderseinladenderOrt,andem<br />
Dreker steht. Aber er magihn,<br />
und wahrscheinlich isterdeshalbsofestvonseinerIdeeüberzeugt:Erwillhier,imU-Bahnhof<br />
Französische Straße, ein Veranstaltungszentrum<br />
eröffnen –<br />
wenndieStationinsechsJahren<br />
überflüssigwirdwegendesBaus<br />
des neuen Kreuzungsbahnhofs<br />
Unter den Linden nur wenige<br />
Meterentfernt.<br />
Künstler,Firmen,Initiativen–<br />
sieallesollendannindemknapp<br />
700QuadratmetergroßenBahnhofinMitteihreHeimatfinden.<br />
Gelingen soll das, indem Unternehmen<br />
oder größere Gruppen<br />
den U-Bahnhof für ihre Zwecke<br />
mietenkönnen:fürPressekonferenzen,<br />
Firmenessen oder Geburtstagsfeiern.<br />
Die Einnahmen<br />
will Dreker nutzen, um Künstler<br />
kostenlos ihre Werkeausstellen<br />
zulassenundanTagen,andenen<br />
sich niemand eingemietet hat,<br />
den U-Bahnhof für die Öffentlichkeitzuöffnen.„Ichwillnicht,<br />
dass hier einfach abgeschlossen<br />
wird,unddannkommtdakeiner<br />
mehr rein –essein denn, er ist<br />
prominent oder hat Geld“, so<br />
Dreker.„DerU-Bahnhofistheute<br />
einöffentlicherOrt,undersollte<br />
dasauchnach2019bleiben.“<br />
Das erinnertein bisschen an<br />
Robin Hood: den Reichen nehmen,<br />
den Armen geben. Aber es<br />
klingt nichtnach der Idee eines<br />
erfolgsorientierten Geschäftsmanns.Drekeristwederdaseine<br />
noch das andere: Der 23-Jährige<br />
studiertzwarimBachelorVolkswirtschaftslehre<br />
an der Freien<br />
UniversitätBerlin.Einewirkliche<br />
Leidenschaft konnte er dafür jedochnieentwickeln.Eristschon<br />
jetztimsiebtenBachelor-Semester,erstimSommerwirderwohl<br />
fertigwerden.<br />
Vielleichtkönnte mansagen,<br />
er istkein Theoretiker,sondern<br />
ein Praktiker.Denn ausgerechnetfürseinStudiumistdieIdee<br />
für das Veranstaltungszentrum<br />
entstanden.ImOktober2012fiel<br />
ihmeinFlyerindieHand,beworbenwurdeeinSeminarzurExistenzgründung<br />
an der FU. „Da<br />
dachteichmirzumerstenMalin<br />
meinem Studium: Das klingt<br />
spannend“, erzähltDreker.Also<br />
machteermit.<br />
Aufder Suche nach einer Geschäftsidee<br />
erinnerte er sich an<br />
die Zeit zurück, als er gerade<br />
frisch in seine WG gezogen war,<br />
ganz nahe am U-Bahnhof Platz<br />
derLuftbrücke,dendieU6ebenso<br />
anfährtwie die Französische<br />
Straße. „Als ich damals gelesen<br />
hab,dassdieU6füreinJahrunterbrochen<br />
wird, habich mich<br />
tierisch drüber aufgeregt“,erinnertersich.<br />
Zumauerngehtnicht<br />
Als er nach dem Grund der Unterbrechung<br />
suchte, las er,dass<br />
zwischen Friedrichstraße und<br />
Französischer Straße ein neuer<br />
Bahnhofentsteht:UnterdenLinden,<br />
an dem ab 2019 die dann<br />
verlängerte U5 und die U6 halten.WeildieserBahnhofabernur<br />
80 Meter vonder Französischen<br />
Straße entferntist,bedeutet die<br />
Öffnung des neuen Bahnhofs<br />
gleichzeitig das Ende des alten.<br />
Aber keineswegs das vollständige<br />
Ende: Der Bahnhof Französische<br />
Straße, in den 1920ern gebaut,ist<br />
denkmalgeschützt: Einfach<br />
zugemauertwerden darfer<br />
alsonicht.„DakammirdieIdee,<br />
daraus ein Veranstaltungszentrumzumachen“,<br />
sagtder23-Jährige.<br />
Neben Kunstausstellungen<br />
kannsichDrekerdortauchregelmäßige<br />
Partys vorstellen. „Aber<br />
ichwillnichtnochsoetwas Versnobtes.<br />
Davongibt es in Mitte<br />
schon genug“, schränkt er ein.<br />
Dort, wo heute der Kiosk ist,<br />
könnte dann die Bar durstiges<br />
Feiervolkmit Getränken versorgen.<br />
Und dort, wo heute Plakate<br />
hängen, könnten Künstler ihre<br />
Bilderaufhängen,dieauchwährend<br />
der Partys oder Firmenveranstaltungen<br />
zu sehen bleiben.<br />
Dreker will möglichstviel vom<br />
heutigenZustanderhalten:„Man<br />
soll erkennen, dass das malein<br />
U-Bahnhof war.“ Alte U-Bahn-<br />
Sitze würden als Bänkedienen,<br />
und auch die U6 würde weiter<br />
fahren –allerdings durch dicke<br />
Plexiglasscheiben getrenntvom<br />
Bahnsteig. „Das Schimmern der<br />
Lichter ausdem Zug, das wäre<br />
schoneineinmaligerEffekt“,findetDreker.<br />
All diese Ideen haterfür das<br />
Existenzgründungsseminar in<br />
einen27SeitenlangenBusinessplan<br />
gegossen –nachdem er ein<br />
Semester lang dafür Vorlesungen<br />
und Seminare von Unternehmens-Coaches<br />
und Anwälten<br />
besuchthatte. BrittPerlick<br />
vonProfund,derGründungsförderung<br />
der FU,leitete den Kurs.<br />
„Ich wusste garnicht, dass die<br />
FranzösischeStraßegeschlossen<br />
Endlich Spaß an der Uni: David Dreker, Student mit Visionen Foto: Lia Darjes<br />
wird“,erzähltdie34-Jährige.Umso<br />
mehr habe sie die Kreativität<br />
Drekers überzeugt: „Das KonzepthataufjedenFallPotenzial.“<br />
Auch andere scheinen das zu<br />
denken: Beim Businessplan-<br />
WettbewerbBerlin-Brandenburg<br />
schaffte es Drekers Entwurfauf<br />
Platz 7von mehr als 150 Studierenden,<br />
an der FU landete er sogarindenTop3.<br />
Die Idee scheintalso vielversprechend.AberDavidDrekerist<br />
nichtderEinzige,dersichschon<br />
jetzt Gedanken um die künftige<br />
NutzungdesU-Bahnhofsmacht.<br />
„Wir haben bereits mehrere Anfragen“,<br />
sagtBVG-SprecherKlaus<br />
Wazlak.DieBVGhatoffiziellvom<br />
Senatden Auftrag,ein Nachnutzungskonzept<br />
zu entwickeln,<br />
hält sich bislang aber bedeckt.<br />
„Nochsindwirineinemsehrfrühen<br />
Anfangsstadium“, begründet<br />
das Wazlak. „Darum können<br />
wirnochnichtsagen,wasspäter<br />
aus dem Bahnhof wird.“ Man<br />
nehme aber alleVorschläge offenauf.<br />
Ein kritischer Punkt in Drekers<br />
Idee ist die Finanzierung.<br />
Denn für den Umbau des U-<br />
Bahnhofs werden nach seiner<br />
Rechnung mehr als 5Millionen<br />
Eurobenötigt–Geld,daserselbst<br />
nichthat.Das Land müsste über<br />
die BVGden Großteil finanzie-<br />
Einkritischer<br />
PunktinDrekers<br />
Ideeistdie<br />
Finanzierung.<br />
Dennfürden<br />
Umbaudes<br />
U-Bahnhofswerdennachseiner<br />
Rechnungmehr<br />
als5Millionen<br />
Eurobenötigt<br />
ren,wäredannaberauchMitge-<br />
sellschafterin des Veranstaltungszentrums.Aberwennalles<br />
soläuft,wiesichDrekerdasvorstellt,solldasVeranstaltungszentrum<br />
bereits nach zweieinhalb<br />
Jahren schwarze Zahlen schreiben.<br />
Ein Anreiz, der die chronisch<br />
in den Miesen steckende<br />
BVGvielleichtüberzeugenkönnte–oderandereInvestoren.„Mit<br />
dem richtigen Partner kann er<br />
das mit Sicherheit umsetzen“,<br />
glaubtauchBrittPerlick,dieLeiterin<br />
vonDrekers Businessplan-<br />
Seminar.<br />
WürdensichdieBVGoderandereInteressiertetatsächlichfür<br />
David Drekers Idee entscheiden,<br />
wäredasfürihndieErfüllungeines<br />
ganz besonderen Traums:<br />
Denn mitdem Bahnhof verbindet<br />
ihn mehr als nurein Business-Plan.„Esgabvorkurzemeine<br />
Zeit, da bin ich immer zur<br />
Französischen Straße gefahren,<br />
wenn es mir schlechtging“,erzählter.„Wennmandortausdem<br />
U-Bahnhof kommt, fühlt man<br />
sichsostädtisch.Esherrschtimmer<br />
Trubel, man ist umgeben<br />
vonschönen Häusern. Das habe<br />
ihnwiederaufgemuntert.<br />
VielleichtkannerinsechsJahren<br />
diese Schönheit jeden Tag<br />
genießen.DannaufdemWegzu<br />
seinerArbeit.<br />
.......................................................................<br />
.....................................................<br />
Die Baustelle<br />
■ Mehr als ein Jahr lang glich die<br />
Friedrichstraße morgens einem<br />
Pilgerweg. Wegen einer U-Bahn-<br />
Baustelle mussten Tausende Berufspendler<br />
laufen –rund 500 Meter<br />
weit. Zwischen den Stationen<br />
Friedrichstraße und Französische<br />
Straße warder Zugverkehr eingestellt.Seit17.Novemberfahrendie<br />
Züge der U-Bahn-Linie 6nach 16<br />
Monaten Bauzeit wieder ohne Unterbrechung<br />
durch.<br />
■ Grund fürdie Unterbrechung<br />
warenBauarbeiten fürden künftigen<br />
Umsteigebahnhof Unter den<br />
Linden.HiersollsichdieLinie6mit<br />
der U-Bahn-Linie 5kreuzen, die<br />
gegenwärtig vomAlexanderplatz<br />
zumBrandenburger Torverlängertwird.<br />
Täglich werden bis zu<br />
155.000 Fahrgäste erwartet. Die<br />
U5 dockt dann an die sogenannte<br />
Kanzlerlinie an, die bis zumHauptbahnhof<br />
führt. 2019 soll alles fertig<br />
sein. Bisher seien die Arbeiten<br />
im Zeitplan, sagte ein BVG-Sprecher.<br />
■ Die Baustelle hatte aber nicht<br />
nur Nachteile: Einzelhändler in<br />
der Friedrichstraße hätten gefragt,obdie<br />
Baustelle nichtüber<br />
dieWeihnachtszeitnochbestehen<br />
bleiben könne,sodie BVG.<br />
Schließlich führte die Baustelle<br />
täglich viele potenzielle Kunden<br />
an den Läden vorbei. Einzelne Geschäfte<br />
hätten ihreÖffnungszeiten<br />
in den Morgenstunden deswegen<br />
sogar ausgeweitet.<br />
■ Den neuen Tunnel und den künftigen<br />
U-Bahnhof Unter den Linden<br />
werden die Fahrgäste durch das<br />
U-Bahn-Fenster im Übrigen kaum<br />
zu sehen bekommen. Zwar gebe<br />
es schon Bahnsteige im Rohbau,<br />
die seien allerdings nur dann erkennbar,wenn<br />
das Tunnellicht<br />
brenne.„Man fährtnichtdurch<br />
einen Geisterbahnhof“, sagte der<br />
Sprecher. (dpa)
52 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE<br />
www.taz.de<br />
berlin@taz.de<br />
DAS WAR’S<br />
apple taz.berlin<br />
InderS-BahnvonderYorckstraße<br />
inRichtungPrenzlauerBergmiteineraltenMinoxgeknipst.Ichfinde<br />
die Situationeinfach lustig: Kommunikationund<br />
Nichtkommunikation<br />
aufengstem Raum. IstsowiesomeinThemainderFotografie.<br />
Drei Menschen hintereinander,zweischlafen,einerfreutsich<br />
übersHandy,TraumundRealität.<br />
HARALD HAUSWALD/OSTKREUZ<br />
NACHRICHTENTICKER<br />
+++<br />
Ein15-Jährigeristam<br />
zweiten Weihnachtsfeiertagauf<br />
dem Güterbahnhof<br />
in Prenzlauer Berg durch einen<br />
Stromschlag aus der Oberleitung<br />
getötet worden. Nach ersten<br />
Ermittlungen war der Jugendliche<br />
aufdem Gelände an<br />
der Greifswalder Straße aufeinen<br />
Kesselwagen geklettert. Ein<br />
19-jähriger Begleiter des VerunglücktenschildertederPolizei,er<br />
habe einen Knall gehörtund einen<br />
Lichtblitz gesehen. Danach<br />
sei der 15-Jährige vomWaggon<br />
gefallen. Als die Rettungskräfte<br />
eintrafen,seiderJugendlichebereits<br />
totgewesen +++ Angegriffen<br />
und leichtverletzt wurden<br />
zwei Tierschützer im asiatischenDongXuanCenterinLichtenberg.SiehattenKritikamVerkauflebenderSpeisefischegeäußert.<br />
Die Polizei ermittlewegen<br />
gefährlicher Körperverletzung,<br />
sagte eine Sprecherin. Ereignet<br />
habe sich der Vorfall bereits am<br />
16. Dezember.Die beiden Tierschützer<br />
hatten nach eigenen<br />
Angabengefilmt,umvermeintliche<br />
Verstöße gegen das Tierschutzrechtzudokumentieren.<br />
KundenseienlebendeFischefür<br />
die Heimschlachtung verkauft<br />
worden +++ Nicht alle Erwartungen<br />
erfüllt hat das Weihnachtsgeschäft,jetztschöpftder<br />
Handel neue Hoffnung: „Das<br />
Nachweihnachtsgeschäftistsuper<br />
angelaufen“, sagte Günter<br />
Päts, stellvertretender Hauptgeschäftsführer<br />
des Handelsverbands<br />
Berlin-Brandenburgs.<br />
Viele nutzten den Brückentag<br />
amFreitag,umGutscheineoder<br />
Geldgeschenkeeinzusetzen +++<br />
An den Flughäfen Tegel und<br />
Schönefeld hat die Zahl der<br />
Passagiere erstmals 26 Millionen<br />
übertroffen. Die Marke<br />
wurde laut Flughafengesellschaft<br />
am Freitagerreicht, vier<br />
Tage vorJahresende. 2012 wurden25,3MillionenFluggästevon<br />
und nach Berlin befördert, 2013<br />
werden es etwa4Prozentmehr<br />
sein. Die Bundeshauptstadtsei<br />
der einzige große FlughafenstandortinDeutschland,derein<br />
Wachstumindieser Größenordnung<br />
vorweisen könne, verkündete<br />
Flughafenchef Hartmut<br />
MehdornmitstolzgeschwellterBrust+++<br />
+++<br />
Noch istdie Eisfabrik nichtdicht<br />
MITTEAuchamFreitagwirddieRuineamSpreeufernichtgeräumt–trotzGerichtsurteil.<br />
BewohnerundUnterstützerdemonstrierenfüreineUnterbringunginWohnungen<br />
VON PLUTONIA PLARRE<br />
VorderehemaligenEisfabrikam<br />
Spreeufer stehteine Menschentraube.<br />
Unterstützer des Bündnisses<br />
gegen Zwangsräumung<br />
sinddarunterundBewohnerder<br />
Fabrikruine. 35 Menschen aus<br />
Bulgarien leben derzeitindem<br />
heruntergekommenen Gemäuer<br />
in selbstgezimmerten Bretterverschlägen.<br />
Es ist Freitag,<br />
9Uhr früh. Soeben istdie Frist<br />
abgelaufen, die der Gebäudeeigentümer,die<br />
Telamon GmbH,<br />
den Bewohnern zumVerlassen<br />
des Gebäudes gesetzt hat. Nun<br />
warten alle auf die Räumung.<br />
AberdiePolizeikommtnicht.<br />
DieSituationist verfahren.In<br />
einer bauordnungsrechtlichen<br />
Sicherungsanordnung hatte das<br />
Bezirksamt Mitte im Oktober<br />
vonder Telamon verlangt, alle<br />
Zugänge zurEisfabrik zuzumauern.<br />
Telamon-Geschäftsführer<br />
Thomas Durchlaub hatte eingewandt,dasGebäudeerstsichern<br />
zu können, wenn die Bewohner<br />
eineandereUnterkunfthätten.<br />
Am 20. Dezember entschied<br />
das Verwaltungsgericht imEil-<br />
verfahren, dass die Telamon die<br />
Eisfabrik ohne weiteren Aufschub<br />
sichern und räumen lassenmuss.Gleichzeitigergingan<br />
das Bezirksamt die Aufforderung,fürdieUnterbringungunfreiwilligObdachloserzusorgen.<br />
„Die Häuser denen, die drin<br />
wohnen“, skandieren die Unterstützer<br />
vom Bündnis gegen<br />
Zwangsräumung. Als klar ist,<br />
dass keine Polizei kommt, formiertsich<br />
ein Demonstrationszugzum<br />
BezirksamtMitte. „Keine<br />
Notunterkünfte, sondern<br />
neueHeimezuwehren“, soLüke.<br />
InzwischenseiendieBezirkekooperativer,lobtesie.<br />
Lüke warimFrühjahr am WiderstanddesBezirksCharlottenburg-WilmersdorfmitihrenPlänen<br />
für ein Wohnheim gescheitert.<br />
Vorgesehener Standortder<br />
Unterkunft,diezwarimRahmen<br />
des Roma-Aktionsplans, aber<br />
nichtnurfürRoma-Familienentstehen<br />
sollte, wardie Remise eines<br />
Mietshauses in der Sophie-<br />
Charlotten-Straße am Rand des<br />
Klausenerplatzkiezes.DerBezirk<br />
kritisierte den Standort, weil es<br />
bereitszweiFlüchtlingsheimein<br />
der Nähe gebe und der Kiez<br />
Wohnungen für die Bewohner<br />
derEisfabrik“,sodieForderung.<br />
DasSozialamtistschonda<br />
DasParadoxeist:DasBezirksamt<br />
istlängstvor Ort. Aufdem BürgersteigvorderEisfabrikstehen<br />
der Leiter des Sozialamts, HermannHeil,undzweiseinerMitarbeiter.Heil<br />
istda, weil er von<br />
einerRäumungausgegangenist.<br />
Nunweiß er auch nichtmehr<br />
weiter.ImFalleeiner Räumung<br />
hätte er vonder Polizei die Liste<br />
mitdenNamenderinderFabrik<br />
Zweiter Anlauf fürWohnheim<br />
ROMAMonikaLükewilldasgeplanteWohnheimfürobdachloseFamilienendlichrealisieren.<br />
GeldundTrägersindda,jetztfehltnochderOrt.DaranscheiterteesbereitsimFrühjahr<br />
Die Integrationsbeauftragte MonikaLükeist<br />
zuversichtlich, im<br />
kommenden Jahr endlich das<br />
vonihr seitLängerem geplante<br />
Wohnheim für obdachlose Roma-Familien<br />
zu realisieren. Im<br />
neuen Haushalt seien dafür<br />
150.000Euroeingestellt,mansei<br />
im Gespräch mitverschiedenen<br />
Trägern, sagte sie der taz. „Details<br />
verrateich nicht, sonstgibt<br />
es wieder einen Aufstand wie in<br />
Charlottenburg.“InvielenBezirkenhabeesbiszumSommereine<br />
große Ablehnung gegen<br />
Flüchtlingsunterkünfte gegeben.<br />
„Da wurdeteilweise mitallenMitteln<br />
versucht, sich gegen<br />
Demo am Freitagmorgen vor der Eisfabrik Foto: pemax/imago<br />
„deutlich überlastet“ sei. Diese<br />
Abwehr, soLüke heute, „war<br />
nichthilfreich.Ichbedaueredas<br />
sehr,dass mansounkooperativ<br />
war. Aber vonmir waresauch<br />
nicht geschickt, frühzeitig mit<br />
derIdeeandieÖffentlichkeitzu<br />
gehen“, gibtsieselbstkritischzu.<br />
Dennoch sei ein solches<br />
Wohnheim für Familien gerade<br />
im Winter dringend notwendig,<br />
inganzBerlingebeeskeinederartigeEinrichtung,sagtdieIntegrationsbeauftragte.<br />
„Eigentlich<br />
müsstemanjetztsoetwashaben,<br />
wiedieDebatteumdieEisfabrik<br />
zeigt.“IndemleerstehendenGebäude<br />
an der Spree in Mitte ha-<br />
angetroffenen Bulgaren erhalten.<br />
Jedem vonihnen hätte Heil<br />
dann einen Gutschein für einen<br />
Platz in einer Notunterkunft<br />
odereinemHostelausgestellt.<br />
„Ohne Räumung können wir<br />
nichts tun“,sagtHeil. Die Mitarbeiter<br />
nicken. Warum sie nicht<br />
selbst Kontakt zu den Bewohnernaufnehmen?Erdürfefremdes<br />
Gelände nichtbetreten, erklärtHeil.DasseieineOrdnungswidrigkeit.<br />
Die Mitarbeiter nickennocheinmal.<br />
Die Berliner Morgenpost<br />
schreibt am Nachmittag unter<br />
Berufung aufden Sozialstadtrat<br />
vonMitte, Stephan Dassel, die<br />
WohnungslosenhättendieangeboteneHilfedesSozialamtsMitte<br />
am Freitag abgelehnt. Die<br />
Wahrheit ist: Es gab keine<br />
Hilfsangebote.<br />
MitBlick aufdas Urteil sagte<br />
Telamon-Geschäftsführer<br />
Durchlaub zurtaz: „Ich gehe davonaus,<br />
dass das Sozialamtden<br />
LeuteneinefesteBleibebesorgt.“<br />
Einem Unterstützer zufolgehabendie35BewohneramFreitagabend<br />
in der benachbarten St.-<br />
Michael-KircheumAsylgebeten.<br />
ben sich zahlreiche Obdachlose,<br />
vorallemausSüdosteuropa,niedergelassen.<br />
Immerhin, so Lüke, arbeite<br />
mannun mitden Bezirken im<br />
RahmendesRoma-Aktionsplans<br />
gut zusammen, was die akute<br />
Notversorgung und Kältehilfe<br />
für obdachlose Familien, Roma<br />
wie Nicht-Roma, angehe. „Aber<br />
wir müssen bald etwas richtiges<br />
haben für Familien.“ Eigentlich<br />
seienfürdieUnterbringungvon<br />
ObdachlosendieBezirkeundSozialverwaltungzuständig,betont<br />
Lüke.„AberwirwolleneinenAnfangmachen,vielleichtspringen<br />
andereauf.“ SUSANNE MEMARNIA<br />
Konflikt im<br />
Kreuzberger<br />
Jobcenter<br />
SOZIALESErwerbslose<br />
bringtGruppemit–<br />
JobcenterruftdiePolizei<br />
AmTagvorHeiligabendistesim<br />
Jobcenter Friedrichshain-KreuzbergzueinerlautstarkenAuseinandersetzung<br />
gekommen: Eine<br />
GruppevonzehnPersonenwollteamTermineinerErwerbslosen<br />
teilnehmen und drängte ins Büro.DerSachbearbeiterwolltenur<br />
eine weitere Person als Beistand<br />
zulassen.EskamzuWortgefechten,schließlichriefdasJobcenter<br />
diePolizei.<br />
Christel T. hält die Aktion für<br />
rechtswidrig. „Die Beistände<br />
sind auf meinen Wunsch zum<br />
Jobcenter gekommen“, so die Erwerbslosedertaz.Siehattezuvor<br />
vomJobcentererfahren,dassihr<br />
ab Januar sämtliche Zuwendungen<br />
für drei Monate gestrichen<br />
werden. Im Clinch mitdem JobcenterbefindetsichT.seitMonaten.<br />
„Ich habe es immer abgelehnt,<br />
mich aufJobs zu bewerben,beidenenklarwar,dassich<br />
sie nichtbekomme“, erklärtsie.<br />
Mehrere Klagen gegen das Jobcenter<br />
sind anhängig, auch gegendieTotalstreichungwillT.juristisch<br />
vorgehen. „Mir warvorher<br />
das Geld um 30 Prozentgekürztworden,dannfolgtegleich<br />
die 100-prozentige Streichung.“<br />
Das Sozialgerichtschreibe aber<br />
eineKürzungvon60Prozentals<br />
Zwischenschritt vor, begründet<br />
T. ihre Hoffnung, die Totalsanktionierungaufhebenzulassen.<br />
DochChristelT.setztnichtnur<br />
aufden Rechtsweg. In den kommenden<br />
Tagen will sie im JobcentergegendieGutscheineprotestieren,<br />
mitdenen Erwerbslose,<br />
denen alleZahlungen gestrichen<br />
wurden, Lebensmittel kaufenkönnen.DieGutscheinekönnen<br />
nur inbestimmten Läden<br />
eingelöst werden, die Auswahl<br />
der Waren istbeschränkt. Auch<br />
zudiesemProtestwillT.mehrere<br />
Beistände mitbringen. Die ErwerbsloseninitiativeBastabestätigt,dassdasJobcenterBeistände<br />
nichteinfachabweisenkann.<br />
PETER NOWAK
DASNORDWORT<br />
apple<br />
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„Julwe“ istein nordfriesisches Nomen aus dem Mooringer Dialekt. Es istein<br />
eigenes Wort fürdie Besuche bei Verwandten und Freunden zwischen<br />
Weihnachtenund Silvestersowie Festen in genau dieser Zeit. In ihm finden<br />
sich die Ausdrückefür Weihnachten(jul) und Besuche machen (schulwe)<br />
SONNABEND/SONNTAG, 28./29. DEZEMBER 2013<br />
41<br />
Nach Weihnachten fängt es an zu stinken.<br />
Nora riechtanihrer Wolldecke.Die Decke<br />
riechtein bisschen nach Wolleund Muff,<br />
abernichtschlimm.SchlimmfängtimFlur<br />
an, schlimm wirdschlimmer,wenn sie die Treppe<br />
hinuntersteigt und am schlimmsten wirdder Geruch<br />
im Wohnzimmer, in dem sie sich irgendwann<br />
alleversammeln.<br />
SieistdieeinzigeohnePartnerunddaswärekein<br />
sogroßesProblem,wennsienichtvorkurzemauch<br />
noch einen gehabt hätte. Nunschläftsie in einem<br />
Bett, das für zwei gedachtwar,ein Bett, in dem der<br />
Partner fehlt, nichtihr,aber grundsätzlich,inder<br />
Aufstellung.<br />
An den Feiertagen, wenn Christian und sie rumhingenundaßenundvorallemtranken,hattensie<br />
häufig Sex. Besonders, wenn Andere da waren, um<br />
ihnherumundumsieherum.Siegewannenbeide<br />
inGegenwartanderer,auchfürsichselbst.Siewaren<br />
attraktivimVergleich.Allein,fürsichzuzwein,waren<br />
sie das nichtmehr.Die Attraktivitätvon ihnen<br />
beidenzerbrach an der Einsamkeit. Dass sie überhaupteinsamwaren,wennsiezusammenwaren,lag<br />
auch daran, dass sie so gutzusammen passten, sie<br />
warenzuzweitwieeiner.<br />
EshatteeineStörunggegeben,erhattezumArzt<br />
gemusst, es gabUntersuchungen und es konnte,<br />
möglicherweise, sogar schlimm sein. Er hatte lieb<br />
gelächeltundihreHandgenommen,alssiegemeinsam<br />
vom Arzt nach Hause liefen, winzig kleine<br />
Schneeflocken wirbelten in der Abenddunkelheit,<br />
und die Feuchtigkeitinihren Augen wargar nicht<br />
seinerKrankheitgezollt.<br />
AmselbenAbendsagtesieihm,dassesvorbeisei,<br />
mitihrer Liebe zu ihm. „Es tutmir leid“, sagte sie,<br />
„aberichkannnichtsdafür,esisteinfachsogekommen.“<br />
ErtrugesmiteinerzartenVerzweiflung,abermit<br />
einemtapferenLächelnimGesicht.Erwollekämpfen,<br />
sagte er,umseine Gesundheit und ihre Liebe.<br />
„Dubistüberfordert“,sagteerauchundsiestelltees<br />
nichtrichtig.<br />
ErlegtesichaufdieCouchundsahsich„Friends“<br />
aufDVDan,währenddieFlockenandasFenstertaumeltenundinderKüchederGeschirrspülersummte.SiesetztesichindenSesselundsiesahendieganzeNachtdiealten„Friends“,eineFolgenachderanderen,<br />
und währendsich Ross und Rachel liebten<br />
undtrennten,schienihrdasLiebenunddasTrennen<br />
nurTeil eines großen albernen Zwanges, aber sie<br />
konntenichtvondemSesselausstehenundinsBett<br />
gehen,siemussteessichallesansehen,obwohlsiees<br />
allesschonmehralseinmalgesehenhatte.<br />
Das Haus gehört Sebastians Mutter,die in HollandbeiihrerSchwesterlebt.Esisteinekleine,rote<br />
BacksteinvillamitmoosigemDach,dieeinStückzu<br />
weitvomMeerentferntstehtundzuungepflegtist,<br />
um gewinnbringendverkauft zu werden, aber die<br />
LuftumdasHausistsofeuchtundsosalzigwiedas<br />
MeerselbstunddrumherumgibtesnurFelderund<br />
KüheundeinendiesigenWaldrand.<br />
SiedrehtsichaufihrerWolldecke,Regenklatscht<br />
gegen das Fenster. Weihnachten war nicht das<br />
Schlimmste gewesen, dass sie partnerlos und geschenkeloswar,dasSchlimmstewar,wienettsiealle<br />
mitsichwaren.JonasundJudith,HerrmannundLinda,<br />
Jürgen und Sarah, Sebastian und Christina. JürgenundSarahhattensichnichtsgeschenkt,weilsie<br />
nach Islandfahrenwollten, im nächsten Jahr,das<br />
wardasGeschenkgewesen.DieAnderenhattensich<br />
auchkaumwasgeschenkt,eswareigentlichgarkein<br />
ProblemderGeschenkegewesen,siewussteeigentlich<br />
nicht, wasdas Problem gewesen war. Das Problemwarvielleicht,wiederBaumausgesehenhatte,<br />
so vollgehängt mitKugeln,und dass sie überhaupt<br />
einen Baum hatten, wie eine Familie und dass sie<br />
Weihnachtsliedersangen,Jimmyhatte„JingleBells“<br />
gesungen und dazuauf seinerGitarre gespielt. Sie<br />
hatte aufdem Teppich gesessen und etwas kaltes<br />
FleischausdemKühlschrankgegessen,währenddie<br />
AnderenihrPapierfaltetenundsichküssten.Wenn<br />
sie doch jetzt „Friends“ sehenkönnte, hatte sie gedacht.<br />
Keiner vonihnen warsowitzig wie Phoebe<br />
oderRossodersosüßwieRachel.Daswarihraufgefallenundauch,dasssiegemeinwar.SiehatteüberhauptkeineGefühlemehrinsichdrin,fürirgendjemandenausderRunde,siesahsiealleganzkaltund<br />
ganz neu, wie fremde Menschen. Sie hätte lieber<br />
„Friends“geguckt.<br />
(FortsetzungSEITE44)<br />
DasGuteistdasLeben,<br />
dasmankennt<br />
EINE ERZÄHLUNG VON KATRIN SEDDIG/ILLUSTRATIONEN: IMKE STAATS
44 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE ERZÄHLUNG | nord<br />
Ihr Atem dampftvor ihr her,esbimmelt aus der Erinnerung, ein weihnachtliches<br />
Gebimmel, obwohl es schon Silvester ist, aber das Weihnachtsfestfehlt ihr<br />
plötzlich, als wäresie drum betrogen worden. Die Kindheit fehlt ihr plötzlich, die<br />
Wünsche, die Freude, die Fähigkeit, sich etwas zuerhoffen. Das Leben istganz<br />
einfach, kommt esihr wieder in den Sinn, vor sich ihre blauen Turnschuhe, die<br />
sich auf den Weg setzen, Schritt für Schritt, kleine Pfützen zerscherbeln und<br />
Grashalme zerbrechen. Der Geruch der Draußenwelt istangenehm, istsauber<br />
und kalt wie der Tod<br />
(FortsetzungvonSEITE41)<br />
DafingesmitdemGeruchan.DerGeruchwarerst<br />
nurschwach,undsiehattesichgefragt,obervon<br />
einem einzelnen vonihnen ausging, vonHermann<br />
vielleicht, hatte sie gedacht. Ob er unreinlich<br />
war, unkontinent, kränklich? Aber mitder<br />
Zeitfielesihrauf,dassderGeruchsichindenNuancenunterschiedunddasservonjedemeinzelnenvonihnenandersausging.<br />
Daistdernussartige,talgigeGeruchderKopfhaut<br />
vonJonas, der säuerliche, leichtranzige Geruch<br />
vonden Achseln vonJudith, der beißende<br />
GeruchderUrintröpfchen,dieinderLuftbleiben,<br />
wennJimmydieToiletteverlässt,derGeruchvon<br />
faulendenEssensrestenindenRäumenzwischen<br />
denZähnenvonSarah,dazuderGeruchvonVerdautem,<br />
Darmgase, alter Rauch in der Kleidung<br />
vonJürgen und Haut und Atem und kreisende<br />
FlüssigkeitenwieBlutundSpeichel.Sienimmtes<br />
alleseinzelnwarunddannverdoppeltessichund<br />
vervielfachtessich ins Unerträgliche. Sie begegnetdemmitTrinken.<br />
„Wie gehtesChristian?“,fragt Judith, während<br />
sieamTischgrüneBohnenschneidet.<br />
NorahocktamKamin,aufihrenKnien,starrtin<br />
die Flammen, das Glas Rotwein in der Hand und<br />
müht sich, nichtins Feuer zu kippen, obwohlsie<br />
sichangezogenfühlt.DerRotweinhängtwiealter<br />
BelagaufihrerZungeunddenZähnenundlähmt<br />
sie.<br />
„Wieduweißt …“, hierlegtsieeinelängerePause<br />
ein, um einen Schluck Wein zu trinken, einen<br />
neueneinzugießen,undauch,einwenig,umdie<br />
Spannungzusteigern,„isterkrank.“<br />
DannzündetsiesicheineMentholzigarettean,<br />
obwohlsie garnichtrauchtund das garnichterlaubtistimHaus.Werraucht,JürgenzumBeispiel,<br />
in seiner alten, blauen Daunenjacke, ausder die<br />
kleinen Daunen einzeln rauspieksen und davonschweben,alswürdeersichganzlangsamverlierenundimalten,feuchtenHausverteilen,dertut<br />
das Rauchen trampelnd, mit hochgezogenen<br />
Schultern, draußen neben der vereisten Vogeltränke.ErkneiftdabeidieAugenzusammen,und<br />
manchmalredetermitsichselbst.Manchmalfällt<br />
ihmdieAschevonderZigarette,weilervergisstzu<br />
ziehen. Manchmal stehterda, als wollte er steif<br />
frieren,reglosundinseinenkleinen,zartenalten<br />
Federchen.<br />
SieziehttiefdurchundderSchmerztreibtihr<br />
dieTränenindieAugen,sobrenntesinihrerLunge.<br />
Judith sagt nichts, schneidet die Bohnen und<br />
siehtnurkurzrüber,ganznettsogar.Judithriecht<br />
nachihrenAchseln.UndnachBohnen.Undnach<br />
Küche.<br />
Nora drückt die Zigarette aufdem Unterteller<br />
mitden Mandarinenschalen aus. Sie kann gar<br />
nichtrauchen.Siekannnichttrinken.Sieistkein<br />
Rebell, in garnichts istsie rebellisch, sie hatnur<br />
ausFurchtihre Beziehung beendet. Ihr kommt<br />
der Gedanke, dass mitihr etwas nichtstimmt.<br />
Vielleichtstinken die Menschen irgendwie, aber<br />
normal istes, den Geruch seiner Freunde in die<br />
Welt des Vertrauten aufzunehmen, einzuordnen<br />
und zu erkennen als das Gute. Das Gute stinkt<br />
nicht.DasGuteistdasLeben,dasmankennt.<br />
Judith lächeltwieder aufihre vorsichtige Art.<br />
JudithhatsoAugenvondenenmansagt,dasssie<br />
Pünktcheninsichdrinhaben.Judithhataucheine<br />
StupsnaseundSommersprossen.<br />
„MachdirkeineSorgen.Eswirdschonalles.“<br />
Siefragtsich,wassiedamitmeint.<br />
„Waswird?“,fragtsieundanalysiertJudithsGeruch,<br />
Judith riecht wie dürre, ausgetrocknete<br />
Frauenriechen,wennsiezuwenigtrinkenundessen,wenndieHautsichfaltetundihrKörpersich<br />
voninnen nach außen reckt und um ein TröpfchenÖlunggiert.JudithistsoschlankwieeinReh<br />
imeisigenWinter.UndhatAugenmitPünktchen.<br />
GeschmackundWitz.<br />
„DasLebenisthaltkompliziert“,sagtJudithund<br />
zwinkerte mit ihren Pünktchen und zwinkert<br />
nochmal.<br />
„Neinneinneinnein“,sagteNora.Siespürte,wie<br />
der Text, diese ‚Ns‘ und ‚Ns‘ sie hin und her wiegen,„DasLebenist<br />
…ganzeinfach.“<br />
Undobwohlsieeinbisschenbetrunkenist,und<br />
garnichtmalsowenig,kommtesihrwirklichso<br />
vor,alswennsiewasganzWichtigeserkannthätte,<br />
eine große Wahrheit, eine Weisheit. Als hätte sie<br />
nureineTürgeöffnet,hinterderdasEinfachesich<br />
endlich offenbart, als Gemeinheit. Eine große<br />
KlarheitnähertsichihrenGedanken,Gegenstände<br />
und Gerüche und Möbel und Melodien drum<br />
herumaufgereiht.Esistalleseinfach,wennman<br />
dieNettheitvonJudithweglässt.<br />
„Christanistkrank,ja?“,sagtNorainausgewählter<br />
Langsamkeit. Dazuhat sich indessen Herrmanngesellt.<br />
„Ja?“, antwortet Herrmann für Judith. Herrmann<br />
hatimmer etwas Schmuddeliges an sich,<br />
obwohlersehrgepflegtist.Gepflegt,immerneue<br />
Sachen,feinesWollhaar,Schuhe,soschönwieein<br />
vergangenesJahrhundert.<br />
„Eristvielleichtkrank,ja?“,wiederholtsie.<br />
VierAugenblicktensiean.ZweiPünktchenaugen,zweibrauneBrillenaugen.<br />
„Ichwollteihnnichtpflegen.“<br />
Sienicken.Sielassensichnichtprovozieren.Sie<br />
sehensichan,sietauschenirgendwasaus,abersie<br />
sagengarnichts.Sienickennur.<br />
„Ichhätteesgekonnt,aberichwollteesnicht.“
nord |ERZÄHLUNG<br />
SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE 45<br />
„Das kann manjaverstehen“, sagt Herrmann.<br />
ErnimmtdieBohnennichtindieHand.Erkocht<br />
nicht.Erkannnichts,wasGeschicktheitverlangt.<br />
Erlegtseinebreiten,weichenHändenuraufden<br />
TischundmühtsichumRuheundGerechtigkeit.<br />
„Findestdu?“,fragtsie.„Ichfinde...“Sieweißgar<br />
nicht, wassie findet. Sie stehtder Krankheitvon<br />
Christianganzneutralgegenüber.Mitihrhatdas<br />
garnichtszutun.<br />
„Wirbemühenunswirklich,dichzuverstehen.<br />
Wirwissen nicht, waszwischen euch passiertist,<br />
aberniemandverurteiltdich.Wirklich.Dumusst<br />
deineneigenenWeggehen.“<br />
Sienickt.IhreneigenenWeggehen.<br />
AmAbendvorSilvesteristihrschlechtvonden<br />
GerüchenundsiebrichtindiegelblicheToilettenschüssel.Christianruftan,erwillmitihrreden,er<br />
klingtnettundvernünftig.<br />
„SilvestergehichmitIngbertessen.Ersagt,es<br />
warnotwendig, dass du dich vonmir getrennt<br />
hast,wirwarenineinerSackgasseundeswareine<br />
Artvon Distanzierung, die notwendig war, für<br />
dich,füruns.Damitdudichabspaltenundwieder<br />
duselbstseinkonntest.DieKrankheit,alsomeine<br />
Krankheit,hättedichsonstganzinunser‚Wir‘gezogen.<br />
Aber ich denke, wenn wir das erkennen,<br />
dannhabenwireineChance.WirkönnendocheinenSchnittmachen,einensauberenSchnittund<br />
dannhabenwirdocheineganzneueChance?“<br />
„Sicher“,sagtsie,aberihreStimmesagtfastgar<br />
nichts.Siefragtsich,wieneuundgroßdieChancen<br />
sind, für ein ‚Wir‘, wenn einer vondem ‚Wir‘<br />
vielleichtganzschlimmkrankistundderAndere<br />
nursichselbstnochriechenkann.<br />
AmSilvestermorgenistesihrklar,dassalleihre<br />
Freundestinken.<br />
SiegehthinausindieKälte,esisttrockenund<br />
eisig und es liegt auch kein einziges Fitzelchen<br />
Schnee.DieFarbensindklar.DieHimmelistblau,<br />
winzigeFedernausJürgensalterJackehabensich<br />
zumHorizonthinweißlichverdichtet.DieFelder<br />
sind schwarz und der Boden und die alten StoppelninihrerFormerstarrt.DieBäumestehenkahl<br />
inderLandschaftherum.JedesBlattisthartgefroren,jedereinzelnenrotenBeerehafteteinfarblichesDramaanundüberallemliegteineSchicht<br />
vonkaltemGlitzer.Siegehtganzallein,siehatzu<br />
Judithgesagt,„Nein,ichmöchtelieberallein.“Judithwäremitgekommen,obwohlsiesichimmer<br />
krümmtinder Kälteund ganz entsetzlich friert<br />
mitihrerMagerkeitundinihrerdünnenHaut.<br />
Ihr Atem dampft vorihr her,esbimmeltaus<br />
der Erinnerung, ein weihnachtliches Gebimmel,<br />
obwohl esschon Silvester ist, aber das Weihnachtsfestfehltihrplötzlich,alswäresiedrumbetrogen<br />
worden. Die Kindheitfehltihr plötzlich,<br />
dieWünsche,dieFreude,dieFähigkeit,sichetwas<br />
zuerhoffen.DasLebenistganzeinfach,kommtes<br />
ihrwiederindenSinn,vorsichihreblauenTurnschuhe,<br />
die sich aufden Wegsetzen, Schrittfür<br />
Schritt,kleinePfützenzerscherbelnundGrashalme<br />
zerbrechen. Der Geruch der Draußenwelt ist<br />
angenehm,istsauberundkaltwiederTod.<br />
Alssiezurückkommt,isterda.ErsitztinderKüche,trinktwarmeMilch,undisteinfachda,ganz<br />
normal.Lindasitztbeiihm,hältihrenKopfschräg<br />
geneigtundhörtihmzu,wieervonderKrankheit<br />
erzählt.NorableibtinderTürstehen,erbemerkt<br />
sie, er hatein kleines, schlechtes Gewissen, sieht<br />
sie.<br />
„Wowillstdudennjetztschlafen?“,fragtsie,als<br />
wäre das das größte Problem, während die Hitze<br />
unddieKüchengerüchesieangreifen.<br />
Er zuckt mitden Schultern. Er kramtnur mit<br />
letzter Mühe ein Fünkchen Humor noch heraus.<br />
Ausden Tiefen seiner Gewohnheit, ein bisschen<br />
FlitterundkeinGold.<br />
„Wer will denn hier schlafen?“,sagterund bemüht<br />
sich um ein Lächeln. Seine Lippen sehen<br />
ganzsprödeausundeinMundwinkelisteingerissen.<br />
„Wasmachstdudennhier?“,fragtsieweiterund<br />
ohne aufihn einzugehen. Unfähig, nett zu sein.<br />
DerGeruchvonMenschströmtinihreeisigkalten<br />
Nasenlöcher.<br />
„Nora!“,ermahntLindasie,siehateinbisschen<br />
echtenHassindenhübschgeschminktenAugen.<br />
„Du wolltestdoch nichtkommen!“,Norakann<br />
nichtaufhören,sieweintfastvorWut.<br />
ErschütteltdenKopf.LindalegtihrenArmum<br />
ihn,aufseinemStuhl,woersitzt,gekrümmt,mit<br />
Blick aufseine Schuhe. Seine Schuhe sind schon<br />
aufgebunden,alswollteersieausziehenundhat<br />
esdanndochnichtgetan,weilersichnichtsicher<br />
war.<br />
„Nora,hördochauf!“,flehtLinda.<br />
„DuwolltestdochmitIngbertessengehen.Du<br />
hast gesagt, meine Distanzierung warnotwendig.“<br />
„Ichhättenichtkommensollen.“Ersenktden<br />
Kopf noch tiefer.Erist eigentlich ganz erledigt<br />
undgarnichtsoklugundauchgarnichtsoausgeglichen,wieersiedasamTelefonhatglaubenlassen.<br />
Sie gehtamWohnzimmer vorbei, die Treppe<br />
hochinihrZimmerundlegtsichaufdieDecke.Sie<br />
steckt die Nase in die alte Wolleund schnüffelte<br />
amaltenWollstaub.EinHundwürdegutriechen,<br />
denkt sie. Ein Schaf auch. Hühner. Schweine,<br />
SchweineriechennachSchwein.Pferde.Sieweiß<br />
ganz genau,wie Pferde riechen, wie sie am Hals<br />
riechen, wie ein Hund ausdem Maul riecht, wie<br />
Katzenpipi riecht, all das kenntsie und es würde<br />
gutseinundnichteklig,selbstwennesstank.<br />
„Hallelujah,hallelujah!“,schreituntenjemand.<br />
DannklopftesanihreTür.Herrmann.<br />
Sie bleibt liegen, drehtnur kurz den Kopf zurück,<br />
ihm ihren Hintern zuwendend, aufgestützt<br />
aufihren Arm, ausdem kleinen Fenster sehend,<br />
aufdasFeldunddieschwarzenBäumehintenam<br />
Horizont,derrotwirdundglüht,alsständeesalles<br />
inFlammen.<br />
„Ichmöchtewirklichwissen,wasmitdirlosist“,<br />
sagtHerrmann.<br />
„Ichauch.Ichmöchtedasauchwissen“,sagtsie.<br />
„Dasistjaimmerhinwas“,sagtHerrmannund<br />
schweigt eine Weile. In der Stillehörtsie sein<br />
Schnaufen,dasihnimmerbegleitet.Erhatsicheine<br />
Krawatte angezogen. Er ist der Clown, der<br />
Freak,deram wenigsten Attraktive in derGesellschaft<br />
auserwählter Freunde rund herum um einenSohnmitDepression.ErhatkaumHumor.Er<br />
istnichtmalbesondersintelligent.<br />
„Christian,esgehtihmnichtgut.Undwirsind<br />
…sindseineFreunde.“<br />
„Sind–sind“, äfftsieihnnach.„Danngeheich<br />
eben.“<br />
„Dasmusstdunicht.“<br />
„Ichhättegarnichtkommensollen.“<br />
Undalsernichtssagt,fügtsiehinzu,„Esriecht.“<br />
„Hier,imZimmer?“<br />
„Ja,abernochmehraufderTreppe.Undamallermeisten<br />
…“Sieschweigt,siefindetesunerhört,<br />
wassiesagt.<br />
„Amallermeisten?“,fragter.<br />
„Unten bei euch. Ihr stinkt alle. Mir istschon<br />
ganzschlechtvoneuremGestank.“<br />
„Ichdenke,dannsolltestduwirklichbesser …“,<br />
sagte er und schließtleise die Tür, bevorsie den<br />
Schlusshörenkann.<br />
„Ja, das sollte ich“, sagt sie und erhebt sich. Sie<br />
solltewirklichunbedingtgehen.Sieistdiejenige,<br />
dienichtzurechtkommt.SiewerdenChristianin<br />
ihreArmenehmenundihnwiegen,biserschläft.<br />
Sie sind alleganz gute Menschen, verhältnismäßig,undgarnichtsobesondersegoistisch.Siesind<br />
klug, sie sorgen sich und sie zeigen Verständnis,<br />
alleswasmanerwartenkannundsogarnochein<br />
bisschenmehr.<br />
SiepacktihreSachenzusammenundschleicht<br />
sichraus.DraußenstehtihrAutonebenalldenanderenAutos,großeundkleine,wiedieVerhältnisse<br />
so sind, sie öffnet den Kofferraum, draußen<br />
stehtauch Jürgen in seinen alten Daunen und<br />
aschtindieVogeltränke.ErhebtdieHand.„Fährst<br />
du?“,rufter.<br />
Sienickt.<br />
„Warum?“<br />
„Ichmussweg.“<br />
Silvesterabend, denkt sie, nichtder beste Zeitpunkt,<br />
um abzuhauen. Wenn jemand krank ist,<br />
dannistdasnichtderbesteZeitpunkt,umihnzu<br />
verlassen. Die besten Zeitpunkte erwischtman<br />
nurselten,deshalbwirdesallesimmersoschief,<br />
so garnichtbesonders, wie in „Friends“,wozum<br />
bestenZeitpunktimmerdaspassiert,wasdannalle<br />
zumWeinen bringt oder zumLachen, aber so<br />
kannmanleidernichtleben.SiefährtdenFeldweg<br />
runter,ruckeltüber die hartgefrorenen Treckerspuren,demMondentgegen,denndraußensteht<br />
schonderweiße Mond überdemFeld,überdem<br />
DorfundüberderLandstraße.<br />
Dannistdawas,zweiLeuchtpunkte,undalssie<br />
bremst, sind die Punkte schon unter ihr verschwunden,<br />
von ihrem Auto verschluckt, sie<br />
stemmtsichmitallerKraftweiteraufdieBremse,<br />
obwohlsie weiß, dass sie vernünftiger bremsen<br />
sollte, dass es sowieso schon zu spätist,weil sie<br />
schon drüber ist, sie schliddertund rutscht, sie<br />
hörtdasQuietschen,siekanngarnichtsmachen,<br />
nursichinnerlichklammernundbebenundhoffen,<br />
und dann stehtsie still an einem Baum, den<br />
GurthartandenRippen,sieistaneinenBaumgefahren,nichtschlimm,nureinbisschen,siesteigt<br />
ausundsiesuchtmitdenAugendieStraßeab.Auf<br />
derStraßeliegteindunklerKlumpenTier.Siezittertein<br />
bisschen, sie nähertsich dem Klumpen,<br />
einWiesel,eineKatzeodereinkleinerHund,langgestreckt,aufdenBodengekauert.Sienähertsich,<br />
sienähertsichrechtunentschlossen,dieMuskeln<br />
tunihrwehvomZittern,dieLuftriechtnachverbrannten<br />
Reifen, irgendwo weit wegknalltes,<br />
Lichter steigen auf, über den Bäumen und dem<br />
Feld,inrotgrünblau,siegehtganzdichtheran,da<br />
bewegtsichwas,dabewegtsichderSchwanz,die<br />
Katzestehtauf.<br />
DieKatzestehtauf.<br />
DieKatzestehtauf,alswärenichtebeneinAuto<br />
über sie gefahren. Sie stehtauf und der Mond<br />
scheintauf die Katze und neue Lichter explodierenamHimmel,ingrünundsilberunddieKatze<br />
macht,„mau“.Danngehtsieweg.Langsam,majestätisch,<br />
ein unverwundbares, zauberhaftes Katzenvieh,dasjedeMengeLebenhat.Noragehtzurück,ihrAutostehtamBaum,esistverbeult,aber<br />
esbrummtleise,vondrinnenströmtihrdieWärmeentgegen,siesetztsichaufihrenSitz,fasstdas<br />
Lenkrad, betrachtet den Baumstamm vorihrer<br />
Frontklappe und das Leben kehrtlangsam und<br />
freundlich in sie zurück. Vorsichtig legt sie den<br />
Rückwärtsgangeinundvorsichtigdrücktsichihr<br />
WagenausdemBaumheraus.<br />
..............................................................................................<br />
............................................................................<br />
Katrin Seddig<br />
■ istSchriftstellerin in Hamburg. Ihr Interessegilt<br />
dem Fremden im Eigenen. Ihr jüngstesBuch, „Eheroman“,erschien<br />
2012 bei Rowohlt.
42 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE WAR WAS •KOMMT WAS | nord<br />
POLIZEIEINSATZ<br />
Rote Flora:<br />
Gewalt von<br />
beiden Seiten<br />
Dass es ein heißer 4. Adventssamstag<br />
inHamburg werden<br />
würde, war eigentlich klar.<br />
Schließlich ging es bei der Rote-<br />
Flora-Demonstration umdrei<br />
Themen: den Erhaltdes besetzten<br />
autonomen Stadtteilzentrums,<br />
den Umgang des SPD-SenatsmitdenLampedusa-FlüchtlingenunddenErhaltdermarodenEsso-HochhäuseraufSt.PaulialspreiswertenWohnraum.<br />
Dielinks-autonomeSzeneum<br />
dieRoteFlorahatte,nachdemEigentümer<br />
Klausmartin Kretschmer<br />
und sein Immobilienberater<br />
GertBaer im Herbstdie Räumungangedrohthatten,international<br />
zur Verteidigung<br />
des Projekts<br />
aufgerufen. Selbst<br />
die Polizei rechnete<br />
mit mindestens<br />
6.000 Teilnehmern<br />
ausganzEuropa.<br />
Öl in das Feuer gossen<br />
KretschmerundBaer,indemsie<br />
Tage zuvorden Nutzern der RotenFloraeinUltimatumstellten:<br />
biszum20.Dezemberhättensie<br />
das Areal im Schanzenviertel zu<br />
räumen.<br />
Und für erhitze Gemüter gab<br />
esweitereGründe:Sowarenzwei<br />
Kundgebungen im direkten InnenstadtbereichimRahmender<br />
Kampagne Rechtauf Stadtvon<br />
der Polizei mitHinweis aufden<br />
Weihnachts-Einkaufstrubel verboten<br />
worden. Zusätzlich hatten<br />
am Vorabend vermeintliche St.-<br />
Pauli-Fans die Davidwache auf<br />
dem Kiez wegen des Umgangs<br />
des SPD-Senatsmit den Lampedusa-Flüchtlingenattackiert.<br />
DiePolizeiwollteoffenkundig<br />
keineDemofürdieRoteFlorazulassen.<br />
Nach wenigen Metern<br />
stoppten Einsatzkräfte ohne ersichtlichen<br />
Grund gewaltsam<br />
den Aufzug mit7.500 Teilnehmern,<br />
Greiftrupps stürmten in<br />
dieMenge,danachgabesschwere<br />
Krawalle. Stundenlang liefertensichProtestlerundPolizisten<br />
ein zumTeil brutales „Katzund<br />
Maus“-Spiel, bei dem mehr als<br />
120Polizistenund500Demonstrantenverletztwurden.<br />
KVA<br />
WESER-KURIER<br />
Chef<br />
gesucht<br />
Die Bremer Weser-Kurier-Mediengruppe<br />
suchteinen neuen<br />
Chefredakteur.DasteiltederVerlagam23.Dezembermit.Offenbar<br />
war die Nachricht als Geschenk<br />
gedacht: Seit Monaten<br />
wartenvieleinderRedaktionauf<br />
die Ablösung der derzeitigen<br />
Chefredakteurin Silke Hellwig,<br />
dieseit2011denWeser-Kurierallein<br />
leitet. Im Sommer hatte der<br />
Vorstandsvorsitzende der Mediengruppe,<br />
Ulrich Hackmack,<br />
nach 14 Jahren seinen Hutnehmen<br />
müssen –nach einer langwierigen<br />
gerichtlichen Auseinandersetzung.<br />
Hackmack hatte<br />
Hellwiggeholt.DerBremerJournalistenverbandDJVstelltenach<br />
sieben Monaten AmtszeitHellwigs<br />
im Frühjahr 2012 fest, dass<br />
das Klima beim Weser-Kurier<br />
undbeidenBremerNachrichten<br />
„auf dem Tiefpunkt“ sei. Doch<br />
Hellwig hatte damals noch RückendeckungvonHackmack.<br />
Nach dessen Ausscheiden im<br />
Sommer2013engagiertederVorstanddenJournalistenKarlGünther<br />
Barth für eine Expertise<br />
über den Zustand der Redaktion<br />
des Weser-Kuriers, die<br />
nicht positiv ausgefallensein<br />
dürfte. Jedenfalls<br />
wirdseitMonaten<br />
über die Ablösung der<br />
Chefredakteurin intern<br />
verhandelt. In den letzten Wochen<br />
schrieb die frühere Redakteurin<br />
vieleTexte –und warselteninihrerRollealsLeiterinder<br />
Redaktionsarbeitpräsent. In Zukunft<br />
soll sie sich, so teilte der<br />
Verlagmit,„vorallempublizistischenAufgabenwidmen“.<br />
Neuer „kommissarisch“ verantwortlicher<br />
Chefredakteur<br />
wirdabNeujahreinalter–der61-<br />
jährige Peter Bauer.Erwar bis<br />
zumJahre 2006 stellvertretender<br />
Chefredakteur –und wurde<br />
dann in den Bremer Vorort Delmenhorstgeschickt,umdortals<br />
Geschäftsführer der TochterfirmaPressedienstNordGmbHdie<br />
Außenredaktionen der Mediengruppe<br />
zu leiten. Die Führungsgremien<br />
der Weser-Kurier-Mediengruppe<br />
hatten sich nach einer<br />
neuen Chefredaktion umgesehen,warenaberamEndenicht<br />
zueinerpräsentierbarenLösung<br />
gekommen. Offensichtlich war<br />
die Regie der Chefin SilkeHellwigsountragbar,dassmannicht<br />
weiterwartenwollte.<br />
SchoninihrerfrüherenFunktion<br />
als Chefin des TV-Regionalmagazins„butenunbinnen“war<br />
eszugroßemUnmutüberihren<br />
Führungsstil gekommen. 2010<br />
wurdesieabgesetzt. KAWE<br />
NORD-SÜD-GEFÄLLE<br />
Beim Sammeln von<br />
Biomüll sind die<br />
Niedersachsen bundesweit<br />
Spitzenreiter. Laut dem<br />
Landesbetrieb für Statistik<br />
und Kommunikationstechnologie<br />
sammelte 2011<br />
jeder Niedersachse im<br />
Durchschnitt<br />
153<br />
Kilogramm<br />
biologisch abbaubarer Garten-<br />
und Parkabfälle in der<br />
Biotonne.<br />
Weniger<br />
eifrig<br />
waren<br />
etwa die<br />
Baden-<br />
Württembergermit<br />
131<br />
Kilogramm<br />
pro Kopf.<br />
Deutschlandweit<br />
liegt der<br />
Schnitt<br />
bei 113<br />
Kilogramm Biomüll pro<br />
Person<br />
Foto: dpa<br />
HANDELSKAMMER-WAHL<br />
Oppositionfür<br />
die heimliche<br />
Regierung<br />
Die Handelskammer Hamburg<br />
wirdeinen Wahlkampf bekommen.ZurWahldesPlenumsEnde<br />
Januar/Anfang Februar wollen<br />
sich 15 UnternehmerInnen mit<br />
demZielstellen,die350JahrealteInstitutionzureformieren.Vor<br />
der „Versammlung eines Ehrbaren<br />
Kaufmanns“, mit dem die<br />
Hamburger Wirtschaft am Silvestertagihren<br />
Jahresabschluss<br />
begeht, wollen sie die ersten<br />
Flugblätterverteilen.<br />
BeiderVersammlungliestder<br />
Kammerpräses dem Senat die<br />
Leviten. Die Kammer ist eine<br />
Körperschaft öffentlichen<br />
Rechts, in der alleFirmen Mitgliedseinmüssen.Siehatinder<br />
KaufmannsstadtHamburg großen<br />
Einfluss, giltmanchen gar<br />
alsheimlicheRegierung.<br />
DochderKursderKammerist<br />
längstnichtimSinne aller ihrer<br />
Mitglieder,daistsichdieInitiative<br />
„Die Kammer sind wir!“ sicher.DieKandidaturder15seizu<br />
verstehen „insbesondere als Reaktion<br />
aufdie rechtkonservativen<br />
Einmischungen der Kammer“,sagtGregorHackmackvom<br />
Internetportal Abgeordnetenwatch.<br />
Das<br />
Portal wird technisch<br />
betrieben von<br />
der Firma Parlamentwatch.<br />
Hackmack<br />
ist Geschäftsführer und<br />
kanndeshalbselbstkandidieren.<br />
Die Mitglieder der Wahlalternative<br />
störten teils der hohe<br />
Kammerbeitrag,teilsdiePolitik.<br />
Dazu gehöre die ablehnende<br />
Haltung, mitder sich die Kammer<br />
in die Diskussion über den<br />
Rückkaufder Energienetze einmischteundwiesieversuchthabe,<br />
die Verabschiedung des<br />
Transparenzgesetzes zu torpedieren.Nochimmererkennedie<br />
Kammer das Gesetz für sich<br />
nichtan, wasauch der DatenschutzbeauftragteJohannesCaspar<br />
rügte: Die Ausnahmen, auf<br />
die sich die Kammern beriefen,<br />
seien „häufig vollkommen fernliegend“–etwawennsiefürihre<br />
Beratungen den gleichen Schutz<br />
in Anspruch nehmen wollten<br />
wiederSenat.<br />
An der Plenarwahl 2011 beteiligtensich13ProzentderFirmen.<br />
„DaistnochLuftnachoben“, findet<br />
Hackmack. „Wir hoffen, dass<br />
die Kammer-Mitglieder nicht<br />
einfach ihre Wahlunterlagen in<br />
denPapierkorbwerfenwiesonst<br />
immer.“ KNÖ<br />
SILVESTER<br />
Beschränktes<br />
Böllern<br />
Gut115 Millionen Eurowurden<br />
2012 bundesweit für Böller ausgegeben.<br />
In diesem Jahr startet<br />
der Verkaufvon Feuerwerkskörpern<br />
für Silvester an diesem<br />
Samstag. Gezündet werden dürfen<br />
die gekauften Knaller ausschließlichanSilvesterundNeujahr.NichtsoinNiedersachsen,<br />
hierverhängenmittlerweileeine<br />
ganzeReihevonStädtenoffizielle<br />
Feuerwerksverbote. In Hameln,<br />
Bad Gandersheim, Hann.<br />
Münden oder Hildesheim etwa<br />
ist das Böllern in den historischen<br />
Innenstädten zumSchutz<br />
vorBränden gänzlich verboten.<br />
In Wolfenbüttel drohtdie Stadt<br />
mit Bußgeldern von bis zu<br />
50.000 Euro, sollte sich jemand<br />
nichtandas Innenstadt-<br />
Silvesterknaller-Verbot<br />
halten.<br />
DieKommunenberufen<br />
sich bei ihren Verboten<br />
auf eine Änderung<br />
des Bundessprengstoffgesetzesvon2009.Seitdemistdas<br />
AbbrennenvonSilvesterraketen,<br />
China-Böllern und Knaller-Batterien<br />
in der Nähe vonKirchen,<br />
Reetdach-undFachwerkhäusern<br />
sowie Krankenhäusern, Kinderund<br />
Altenheimen untersagt. Es<br />
gelten mindestens 200 Meter<br />
Abstand–vielerortsschließtsich<br />
dasBöllerndamitohnehinaus.<br />
Bereitsvor2009gingmanim<br />
Harz zumRaketen-Verbot über:<br />
Im niedersächsischen Osterode<br />
giltesausSorgeumdenhistorischenStadtkernschonseit1998.<br />
DortwareninderSilvesternacht<br />
1997/98 gleich mehrere Altbauten<br />
durch Feuerwerkskörper in<br />
Brandgeraten.DasFeuerdrohte<br />
in den engen Straßen Osterodes<br />
aufbenachbarteHäuserüberzugreifen,währenddieFeuerwehrleute<br />
bei ihren Löscharbeiten<br />
vonFeiernden mitBöllern beworfen<br />
wurden. Auch im benachbarten<br />
Goslar brannten in<br />
der Silvesternacht 2006/2007<br />
drei Fachwerkhäuser aus–ein<br />
Millionenschaden, ausgelöst<br />
durchSilvesterraketen. THA
nord |INTERVIEW<br />
SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE 43<br />
Setzt sich in der letzten Woche des Jahres hin und lässt das Jahr noch einmal vor sich ablaufen: Buchhalter Detlef Pätzold<br />
Foto: Miguel Ferraz<br />
WAHRHEITDiewenigstenliebenes,Bilanzzuziehen.Dochestutgut.Sagteiner,derschonvieleBilanzengezogenhat<br />
„DerZwangführtzuEntscheidungen“<br />
........................................................................................................................................................................................................<br />
INTERVIEW FRIEDERIKE GRÄFF<br />
und sagt: „Das kann nichtstimmen,<br />
da haben Sie sich verrech-<br />
Wennmansagt:Buchhaltersind<br />
HatdichdeinBerufgeprägt?<br />
........................................................................................................................................................................................................<br />
Detlef Pätzold<br />
DetlefPätzoldistingewisserWeise<br />
Teil der taz.nord, er hat sein inzwischen als selbstständiger Un-<br />
■ 60,istseit30JahrenBuchhalter,<br />
Büro im selben Haus wie die Redaktion.<br />
Man hört ihn oft im arbeitet und Bilanzensowohl für<br />
ternehmer.Erhat als Prokuristge-<br />
Nachbarzimmer lachen, er hat andereals auch fürdas eigene Unternehmen<br />
erstellt. Gemeinsam<br />
eine Heiterkeit und Redefreude,<br />
diedemKlischeedesBuchhalters mit seiner Frau führtereine Kita in<br />
nichtentspricht.VieleguteGründealso,ihnzumWesenderBilanz<br />
Hamburg.<br />
zubefragen.<br />
taz: Ist Bilanz zu ziehen etwas<br />
Wohltuendes,Detlef?<br />
DetlefPätzold:Wenneseineguteist,machtesrichtigSpaß.Aber<br />
esistimmereineschwierigeGeburt.<br />
Warum?<br />
Du willstzweiunterschiedliche<br />
Dinge unter einen Hutbringen.<br />
DerBankwillstduerzählen,dass<br />
du ganz viel Geld verdienst, jedenKreditzurückzahlenkannst,<br />
unddemFinanzamtwillstduerzählen,<br />
dass du am Hungertuch<br />
nagst. Und wenn es Mitgesellschafter<br />
gibt und du ihnen vielleichtetwas<br />
ausschütten musst,<br />
willstduihnen auch etwas vorjammern<br />
–aber nicht soviel,<br />
dass sie aufdie Idee kommen,<br />
denLadenzuverkaufen.<br />
Das wirft kein so schönes Licht<br />
aufdasWesendeinerKlienten.<br />
Das kann ja auch positivsein:<br />
Man will das Geschäft erhalten.<br />
Es gibt unterschiedlicheInteressen,dasliegtinderNaturderSache.<br />
Stößt du als Buchhalter aufdie<br />
Nachtseiten der menschlichen<br />
Natur?<br />
Nein. Eher auf die Kreativität,<br />
wenn die Leute sich Gedanken<br />
machen,wiesiedieseZieleerreichenkönnen.<br />
Zuletzt hatsich die HSH Nordbank<br />
Gedanken darüber gemacht.<br />
Die waren sehr kreativ, haben<br />
vieletolleGeschäftegemacht.<br />
Zurück zur Bilanz: Wasist das<br />
Schönedaran?<br />
Ichfindegutdaran,alleseinmal<br />
aufeinenPunktzubringen.Auch<br />
denZwangdazu.Erführtauchzu<br />
Entscheidungen.Geradewennes<br />
unangenehm ist, schiebt man<br />
dieDingegernvorsichher.EinigegebendieBilanzab,wenndie<br />
Dinge gutlaufen und wenn sie<br />
schlechtist,blendensieesaus.<br />
IstderZeitpunktderBilanzfür<br />
Unternehmer nichtvon außen<br />
vorgegeben?<br />
Man hatGestaltungsspielraum.<br />
Die kaufmännisch geprägten<br />
Menschenkennen,wennsiekein<br />
Weihnachtsgeschäft haben, im<br />
September das Jahresergebnis.<br />
Ichhabeeinmalineinemgroßen<br />
Konzerngearbeitet,derseineBilanzschonam29.12.fertighatte<br />
und sie am 2. oder 3. Januar veröffentlichte.<br />
Und die nicht kaufmännisch<br />
Geprägten?<br />
DiegebendenSchuhkartonzum<br />
Steuerberater,der ihn auch ungernanfasst,weilerUnheilahnt.<br />
WelcherArt?<br />
Da kommen böse Zahlen raus<br />
und der Mandantist ärgerlich<br />
net.“ Die menschliche Vorstellungistoftetwasanderesalsdas,<br />
wasdie Zahlen hergeben. Insbesondere,<br />
wenn mankein kaufmännisches<br />
Gefühl hat. Diese<br />
Unternehmer können trotzdem<br />
erfolgreichsein.Siehabeninder<br />
Regel einen Buchhalter,der den<br />
Chef zurückhält, wenn er zu<br />
überschäumendist.<br />
Das heißt, der Buchhalter hat<br />
echtenEinfluss?<br />
Er muss mitdenken und isthäufig<br />
auch eine Vertrauensperson:<br />
Er istoft der einzige, der alles<br />
weißundkennt.WasimPrivatlebenderArztist,istimKaufmännischenderBuchhalter.Wobeier<br />
dieBilanznichtselbsterstellt,er<br />
sammeltdieDatendafür.<br />
Arbeitest du lieber mit den<br />
Kaufmännischen oder den<br />
Schuhkartonlernzusammen?<br />
Lieber mitden Kaufleuten. Das<br />
anderekostetohneEndeNerven,<br />
Zeitund Geld. Ausder Unkenntnis<br />
heraus entsteht oft auch<br />
Misstrauen. Es istjaauch ganz<br />
natürlich: WirMenschen haben<br />
am Jahresende gefühlsmäßig<br />
eher die letzte ZeitimBlick und<br />
nichtdasganzeJahr.<br />
abenteuerlustig, ja. Ganz viele<br />
BuchhaltermachenabenteuerlicheSportarten:Fallschirmspringen,<br />
Rafting –das sind Buchhalter,diedaunterwegssind.<br />
DasBilddesBuchhaltersinder<br />
Öffentlichkeitistjaehereinanderes.<br />
Das Bild vomMann mitden Ärmelschonernhebenundpflegen<br />
wir auch. Das weckt Vertrauen<br />
beidenUnternehmern.<br />
Washat dich an dem Beruf gereizt?<br />
IchwarfrühereinMensch,derallesplanenwollte.UndZahlengeben<br />
die Möglichkeit darzustellen,<br />
wie etwas funktioniert–damitkann<br />
manlange im Voraus<br />
planen. Mitden Jahren hatdie<br />
ArbeitauchimmerneueAspekte<br />
bekommen.FrüherwarBuchhaltungZahlenpinseln.Heutegeht<br />
esdarum,Sachverhaltezuanalysierenundeinzuordnen.<br />
Der Glaube an die Planbarkeit<br />
hatdichinzwischenverlassen?<br />
Ich habe malKurse besucht, wie<br />
maneineFrauanspricht,dienie<br />
zu etwas geführthaben. Dann<br />
traf ich meine spätere Frau,sah<br />
sie und dachte: Die möchte ich<br />
heiraten. Seitdem lasse ich die<br />
Dingeeheraufmichzukommen.<br />
WievielWahrheitliegtinBilanzen<br />
–können sich darin überhauptTendenzenspiegeln?<br />
Die spiegeln sich und der Sachkundige,derdieHintergründein<br />
der Branche kennt, vergleicht<br />
mindestens drei Bilanzen. Es<br />
kommtauch daraufan, welche<br />
Bilanz manvor sich hat: Die internen<br />
sind viel weiter aufgefächertalsdieveröffentlichten.<br />
IstdieMehrheitderLeutebereit<br />
für die Wahrheiten, die Bilanzenbringen?<br />
Eigentlich sind wir nichtsogepolt,ihnen<br />
ins Auge zu sehen.<br />
AberjemehrKenntnissewirhaben,destoeherbegreifenwirdie<br />
BilanzauchalsInstrument.<br />
Weil die Dämonen dann zum<br />
Haustierwerden.<br />
Ja,wenn ich den Fakten ins Gesichtsehe.<br />
Ich kenne einen Unternehmer,der<br />
in den Bankrott<br />
ging,undeswartollzusehen:Er<br />
hatMillionenverloren,zweiMonate<br />
gejammertund sich dann<br />
eineSägegekauftundEuropalettengesägt.Undwieessoist:Heutehaterwiedereinnetteskleines<br />
Unternehmendamitaufgebaut.<br />
Dasistnatürlichdersehrglück-<br />
Die menschliche Vorstellung istoft etwasanderes<br />
als das, was die Zahlen hergeben. Insbesondere,<br />
wenn man kein kaufmännisches Gefühl hat. Diese<br />
Unternehmer können trotzdem erfolgreich sein<br />
licheFall:BankrottalsChance.<br />
Viele Menschen, die vor dem<br />
Bankrott stehen, sind alt und<br />
grau.DannkommtderBankrott,<br />
dusprichstsiespäterwiederund<br />
sie sind entspannt: Die Angstist<br />
weg.<br />
Mein Großvater hatEnde des<br />
Jahres immer eine private Bilanzgezogen:Erschriebsichjedes<br />
Jahr seine Pläne für das<br />
nächste aufund verglich dann<br />
am Jahresende, wasdabei herausgekommen<br />
war. Hältst du<br />
dasfürklug?<br />
Ja.Solange das kein Diktat, sondern<br />
eine Unterstützung ist. Es<br />
kannjaauchdabeihelfen,zusehen,<br />
wo man sich selbst beschummelt–sei<br />
es, dass man<br />
sich die Dinge zu schön oder zu<br />
schlechtredet.FrüherwardasBilanzieren<br />
zumJahresende eine<br />
Menge Arbeit, das istdurch die<br />
Hilfe der EDV kaum mehr so.<br />
Jetzt kommen meine Kunden<br />
zumJahresende eher runter.Telefonisch<br />
istniemand mehr zu<br />
erreichen,esistgestattet,einfach<br />
malzwischen den Zahlen nachzugucken:<br />
Was tue ich eigentlich?<br />
Wasist mitmeinem Personal–warum<br />
gabessolcheinen<br />
Wechsel?<br />
Ziehst du selbst am Jahresende<br />
Bilanz?<br />
Nein.<br />
Weder privat noch als Unternehmer?<br />
Als Unternehmer steht die BilanzfürmichschonimOktober.<br />
UndalsPrivatmensch?<br />
Da setze ich mich in der letzten<br />
Woche des Jahres hin und lasse<br />
dasJahrnocheinmalvormirablaufen.<br />
Alsodoch.<br />
Alsodoch.
46 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE<br />
KULTUR | nord<br />
DAS DING, DAS KOMMT<br />
Rache für<br />
den Weltkrieg<br />
Nichtnur die Hamburger<br />
Polizei warnte vorWeihnachten<br />
wieder vorgefährlichen<br />
illegalen Feuerwerkskörpern.<br />
Schon 160.000<br />
Exemplareseienbeschlagnahmt<br />
worden. Der Begriff „Polenböller“seilautPolizeiinAnbetracht<br />
der Sprengstoffmenge allerdings<br />
„gefährlich verniedlichend“,<br />
denn bei der Explosion<br />
besteheLebensgefahr.Damithat<br />
die Polizei das P-Wortauf eine<br />
Weise, die sie für eleganthalten<br />
mag,gesagtundirgendwieauch<br />
nichtgesagt.<br />
Wiekommteseigentlich zu<br />
dieserBezeichnung?Vermutlich<br />
kamen Knallkörper,die hierzulande<br />
nichtzugelassen sind, im<br />
größeren Stil erstmals 1989 von<br />
Polenaus im kleinen GrenzverkehrnachDeutschland.Aberden<br />
Siegeszug des abwertenden Begriffserklärtdasnochnicht.Der<br />
„China-Böller“hatkeinennegativenUnterton,<br />
obwohleraus einemLandkommt,daslandläufig<br />
nichtgerademitSpitzenqualität<br />
assoziiertwird. Aber immerhin<br />
einem,dasdenEuropäerninSachen<br />
Pyrotechnik traditionell<br />
einStückvorauswar.<br />
■ Der Polenböller verbreitet dieser<br />
Tage wieder Angstund Schrecken,<br />
vorallem im Boulevard.Darin<br />
spiegeln sich vorallem<br />
Ressentiments gegen den Nachbarn<br />
Dass die Boulevardgazetten<br />
dagegenalljährlichganzeSeiten<br />
mitHorrorgeschichten unter einem<br />
dicken Balken „POLENBÖL-<br />
LER“ füllen, hatauch miteinem<br />
tief sitzenden Ressentimentzu<br />
tun.DerPolenböllerstehtgewissermaßen<br />
pars prototofür den<br />
deutschenBlickaufdasNachbarland<br />
und seine Produkte: Polnisch,<br />
das istimVolksmund immer<br />
noch gleichbedeutend mit<br />
billig, vonminderer Qualität, irgendwie<br />
geschummelt oder<br />
(schlecht)nachgemacht.Deralte,<br />
abwertende Topos vonder „polnischen<br />
Wirtschaft“ schwingt<br />
mit.<br />
Fast könnte manglauben, die<br />
Polenwürdensichfürdenverlorenen<br />
zweiten Weltkrieg rächen<br />
wollen, indem sie unseren deutschenJungs(Mädchensindesin<br />
allerRegelnicht)dieFingerwegsprengen.Dabeigilt:Wersichdie<br />
Finger wegsprengen will, kann<br />
dasmitFeuerwerkverschiedenster<br />
Herkunft schaffen. Er muss<br />
nur einen möglichst großen<br />
Böller so lange in der Hand behalten,biserexplodiert.<br />
AuchinPolenwerdenFeuer-<br />
werkskörperübrigensnachEU-<br />
Richtlinien behördlich getestet<br />
und zugelassen. Anders als in<br />
Deutschland darf darin auch<br />
biszueinGrammBlitzknallsalz<br />
enthalten sein, das schneller<br />
undaucheinwenigheftigerexplodiertalsSchwarzpulver.<br />
Wirklichgefährlichsindillegalproduzierte<br />
Böller,die wesentlich<br />
größere Mengen Blitzknallsalz<br />
enthalten. Sie werden<br />
inverschiedenenLändernhergestellt:Polen,Tschechien,China–<br />
und Deutschland. Deutsche Polenböller,sozusagen.<br />
JANK<br />
VON ALEXANDER KOHLMANN<br />
Werdabeian„SouthPark“denke,<br />
liegenichtganzfalsch,sagtMalte<br />
C. Lachmann: Mit der Comic-<br />
Trash-Revue„SüdPark“,die jetzt<br />
am Schauspiel Hannover Premierehat,wolleersichauseinandersetzen<br />
mit der in Deutschland<br />
vorherrschenden Political<br />
Correctness. Die bitterböse Zeichentrickserie<br />
ausden USAsei<br />
Inspiration,aberdieUmsetzung<br />
orientieresichandeutschenVerhältnissen:„Hiersind“,sagtLachmann,„andereThemenrelevant<br />
alsinAmerika.“<br />
„South Park“ läuft seit 1997<br />
ununterbrochen im US-Fernsehen.<br />
Die Hauptfiguren sind vier<br />
acht- bis neunjährige Jungen,<br />
Schüler in einer typischen USamerikanischen<br />
Kleinstadt namens<br />
South Park. Durch die Augen<br />
der Kinder erlebt der ZuschauereinezugespitzteAuseinandersetzung<br />
mit amerikanischen<br />
Realitäten, miteiner nur<br />
scheinbar gerechten Welt gnadenloserErwachsener.<br />
Subversive Botschaften<br />
Ob beim ThemaHomosexualität,<br />
Rassismus oder Frauenrechte:<br />
Die Macher von„South Park“,<br />
TreyParkerundMattStone,provozieren<br />
gerne. Immer wieder<br />
unterläuftdieSeriedieverbalen<br />
KompromisseeinerSprache,die<br />
Missstände eher manifestiert,<br />
stattsiezuverändern.Wegenihres<br />
derben Humors –aber mehr<br />
noch wegen ihrer subversiven<br />
Botschaften –ist die Serie für<br />
Kindernichtgeeignet.<br />
Aber auch Erwachsenen hilft<br />
kritische Distanz dabei, die betont<br />
politisch unkorrekte Oberfläche<br />
nicht fälschlicherweise<br />
ernstzunehmen. Insofern kann<br />
derHumorvon„SouthPark“mit<br />
dem vonHarald Schmidtinseinen<br />
schwärzesten Zeiten verglichen<br />
werden: Als er mitseinen<br />
Witzen über Polen oder türkischen<br />
Putzfrauen die unterschwellige<br />
Fremdenfeindlichkeit<br />
der Deutschen nichtzubedienen,sondernerstoffenzulegensuchte.<br />
InDeutschlandfehlegenauso<br />
eine Serie, die den Auswüchsen<br />
einer wirkungslosen, nur<br />
sprachlichen Political Correctness<br />
den Spiegel vorhalte,<br />
sagt Lachmann. So habe ihn<br />
etwadiejüngsteDebatteum<br />
das sogenannte „Blackfacing“besondersinspiriert:In<br />
dergingesletztlichumdieFrage,<br />
ob hellhäutige Schauspielersich<br />
aufder Bühne schwarz<br />
schminkendürfen–freilicheine<br />
Der schwarz<br />
geschminkte<br />
Führer<br />
THEATER-REVUEStän,Keil,Kartmänund<br />
Kenniim„SüdPark“:AmJungen<br />
SchauspielHannoverbringtRegisseur<br />
MalteC.Lachmanneineganzeigene<br />
VersionderZeichentrickserie„South<br />
Park“aufdieBühne<br />
Methode miteiner rassistischen<br />
Tradition. Unter anderem sah<br />
sich, am Deutschen Theater in<br />
Berlin, IntendantUlrich Khuon<br />
gezwungen, in einer Inszenierung<br />
eigentlich schwarze Boat<br />
Peoplemit weißer Farbe umzuschminken<br />
–als ob damit irgendeinemrealenFlüchtlinggeholfenwäre.<br />
„Alleserlaubt“<br />
„Das Theater ist ein Raum, in<br />
demalleserlaubtist“,findetnun<br />
Lachmann. Am Streit umdas<br />
Blackfacingnennter„besorgniserregend“,<br />
dass „plötzlich bestimmte<br />
Dinge verboten sind“–<br />
genau dann werdeesaber gefährlich.<br />
Malte C. Lachmann, geboren<br />
1989 im hessischen Marburg,<br />
studierte Regie für Sprechtheater<br />
und Oper in München. Mit<br />
seiner Inszenierung von<br />
„SchwarzeJungfrauen“vonFeridunZaimogluund<br />
Günter Senkelgewann<br />
er 2012 das KörberstudioJunge<br />
Regie. Inzwischen<br />
arbeitet er am Thalia Theater in<br />
Hamburg, dem Schauspielhaus<br />
Bochum, dem Staatsschauspiel<br />
Dresden,inGießenundinOsnabrück.<br />
Ob seine South-Park-, nein,<br />
„Süd Park“-Figuren nuninHannoveraufderBühnemitschwarzerSchminkehantierenwerden,<br />
lässtLachmannoffen.DasPlakat<br />
immerhin zeigt einen schwarz<br />
geschminkten Hitler –was aber<br />
„die Presseabteilung verbrochen“habe,<br />
wie Lachmann unterstreicht.<br />
Er wolleseinen Revue-Abend<br />
nichtals bewusste Provokation<br />
verstanden wissen –sowie ja<br />
auch das Vorbild nicht ausschließlich<br />
auf Provokationen<br />
setze. „Wir decken bestimmte<br />
Dinge aufund zeigen, wie bestimmte<br />
Debatten verlaufen“,<br />
sagt Lachmann. Er weiß aber<br />
auch:GeradedieseAuseinandersetzungmitderRealitätkannextremprovozierendwirken.<br />
Stilistisch komme man den<br />
amerikanischen Vorbild aufder<br />
Bühne „so na-<br />
Hitler geht immer: Das Plakat habe<br />
„die Presseabteilung verbrochen“,<br />
sagt Regisseur Lachmann<br />
Foto: Staatstheater Hannover/Katrin Ribbe<br />
he,wiefürdieästhetischeAusei-<br />
nandersetzungmitdemStoffauf<br />
derBühneinteressantist“. DieFiguren,<br />
wenn auch nichtdieselben<br />
wie in der Vorlage, seien<br />
trotzdem wiedererkennbar.<br />
„StanMarsh,KyleBroflovski,Eric<br />
CartmanundKennyMcCormick<br />
gibtesbeiunsnicht,sondernnur<br />
Stän,Keil,KartmänundKenni.“<br />
ZweidimensionaleFiguren<br />
BegleitetwirdderAbendvoneinem<br />
Live-Pianisten, der eigens<br />
für„SüdPark“Musicalnummern<br />
und Szenenmusiken geschaffen<br />
hat.AuchdieStapelmethodeder<br />
ComicfilmederVor-Computerära<br />
wirdimBühnenbild deutlich<br />
wiederzuerkennen sein: Die<br />
Schauspieler –TinaHaas, HenningHartmann,DominikMaringer<br />
und Peter Sikorski –haben<br />
spezielleBewegungsabläufe erarbeitet,<br />
um den zweidimensionalen„SouthPark“-Figurennahe<br />
zukommen.DieAnnäherungan<br />
die Comic-Ästhetik sei aber nur<br />
ein Mittel zumZweck, sagt der<br />
Regisseur: „Uns gehtesumdie<br />
Auseinandersetzung mit Inhalten.“<br />
■ Premiere: Montag, 30. Dezember,<br />
19.30 Uhr, Hannover, Ballhof<br />
Zwei. Nächste Vorstellungen: 10.,<br />
16. und 29. Januar<br />
www.staatstheater-hannover.de<br />
Vorbild Zeichentrick:<br />
Die Schauspieler erarbeiteten<br />
sich spezielle Bewegungsabläufe,<br />
um dem<br />
Zweidimensionalen nahe<br />
zu kommen<br />
Foto: Karl-Bernd Karwasz/Staatstheater<br />
Hannover<br />
Polnisch,dasistim<br />
Volksmundimmer<br />
nochgleichbedeutend<br />
mitmindererQualität
nord |KULTUR<br />
SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE 47<br />
Janis E. Müller: Fahrrad für Konzert mit Fahrrad und Gitarren, 2013<br />
Foto: Frederick Hüttemann<br />
Der Nachbar vonJohn Cage<br />
KUNSTDerKarin-Hollweg-PreisträgerJanisE.MüllerpräsentiertinderKunsthalleseine<br />
ersteinstitutionelleEinzelausstellung„IntoPieces“–mitprominenterNachbarschaft<br />
VON RADEK KROLCZYK<br />
Auf dem Boden hat jemand<br />
sternförmig12Holzlattenausgebreitet.Eserinnertentferntaneine<br />
Uhr. Ein junger Mann mit<br />
Käppi drehtüber den Latten auf<br />
einem Klapprad seine Runden.<br />
Es ist ein seltsamer Hindernisparcours,<br />
beschränkt und<br />
doch nie enden wollend. Der<br />
Radfahrer fährt immerzu im<br />
Kreis. Unter seinen Reifen poltern<br />
die Latten. Ein in der Mitte<br />
des Sterns platziertes Schlagzeugbecken<br />
hüpft scheppernd<br />
aufundab.„Fahrradkonzertmit<br />
Latten und Becken“ist der Titel<br />
der Videoarbeitvon Janis Elias<br />
Müller.<br />
DasVideoistTeilderersteninstitutionellen<br />
Einzelausstellung<br />
desjungenBremerKünstlers.Sie<br />
istaktuell in der KunsthalleBremen<br />
zu sehen. Der Titel der<br />
Schau klingt einigermaßen destruktiv:„IntoPieces“.MülleruntersuchtinseinenmeistinstallativenArbeiten<br />
die Welt nach ihren<br />
Klängen. „Die meisten Menschen<br />
möchten in ihrem Leben<br />
nochvielsehen.Ichmöchtenoch<br />
möglichstvielhören“, soMüller.<br />
IhrenSoundentlocktmanden<br />
Dingen, indem man sie reibt,<br />
schlägt oder drückt. Die ErzeugungvonKlangisteinStückweit<br />
immer destruktiv. Bei Müller<br />
entstehenaufdieseWeisebewegliche<br />
Skulpturen und klingende<br />
Objekte. Musikinstrumente verwendeterentgegenallenRegeln.<br />
Oft benutzt er zurKlangerzeugungmusikfremdeGegenstände<br />
ausder Welt des Alltags und des<br />
Überflusses, ausdem Baumarkt<br />
und vom Sperrmüll. Wie sich<br />
rhythmisch angeordnete Holzlatten<br />
klanglich unter Fahrradreifenverhalten,wirdinseinem<br />
Videoerfahrbar.<br />
Die Ausstellung ist Teil des<br />
jährlich in Bremen vergebenen<br />
Karin-Hollweg-Preises. Eine von<br />
der Hochschulefür Künste zusammengestellte<br />
Jury wähltaus<br />
den Meisterschülern eines Jahrgangs,diegemeinsaminderBremerWeserburgeineAusstellung<br />
DerRadfahrerfährt<br />
immerzuimKreis.<br />
UnterseinenReifen<br />
polterndieLatten.Ein<br />
inderMittedesSterns<br />
platziertes<br />
Schlagzeugbecken<br />
hüpftschepperndauf<br />
undab<br />
bestreiten, den Gewinner aus.<br />
DerPreisgehörtmit15.000Euro<br />
zu den am höchsten dotierten<br />
Förderpreisen in Deutschland.<br />
Entsprechend begehrtist er unter<br />
den Bewerbern. Die Summe<br />
schützt die Kunsthochschulabsolventen<br />
zumindesteine Weile<br />
vordem Zwang der Erwerbsarbeit<br />
und ermöglicht esihnen,<br />
sichaufihrekünstlerischeArbeit<br />
zu konzentrieren. Neben dem<br />
Preisgeld erhält der Gewinner<br />
die Möglichkeit, an einem renommierten<br />
Ort auszustellen.<br />
Müller hatte sich eine Ausstellung<br />
in der Kunsthalle gewünscht.<br />
„Dort würden neben<br />
dem einschlägig kunstinteressierten<br />
Publikum auch Sonntagsausflügler<br />
meine Arbeiten<br />
sehen“, hatteerletztenSommer,<br />
nachdem er den Preis verliehen<br />
bekam,dertazerzählt.<br />
Gewonnen hatte er damals<br />
miteiner mobilen Klangskulptur.<br />
„Weniger“ warder Titel der<br />
Arbeit, die er 2012 in Bremen in<br />
derWeserburgzeigte.Destruktiv<br />
wardies allerdings nicht. VielmehrwurdehiereinRettungsgedanken<br />
beschworen. Wiefür einen<br />
unbekannten Ritushatte er<br />
allerleiGegenständeaufdemBoden<br />
kreisförmig angeordnet: einen<br />
Pinsel, Holzleisten, eine<br />
Fahrradlampe, eine leere Mineralwasserflasche<br />
ausKunststoff,<br />
alteFotografienundvielesmehr.<br />
Diese Gegenstände waren Fundstücke.<br />
Müller hatte sie gesammeltund<br />
aufbewahrt. Indem er<br />
sie für seine Installation ausgewählthatte,<br />
richtete er die Aufmerksamkeitauf<br />
sie. Indem er<br />
sie in die symbolbeladene Form<br />
desKreisesbrachte,ludersiemit<br />
Bedeutungauf.EinZeigerkreiste<br />
überihnenundzogeinenKohlestab<br />
über sie hinweg. Er streifte<br />
sie und erzeugte so einen sanften<br />
leisen Klang. Gleichzeitig<br />
zeichnete er sie, so wie die in<br />
Asche getauchten Finger des<br />
Priesters die Stirn der Besucher<br />
derAschermittwochsmesse.<br />
Müllers Werk ist reich an<br />
kunsthistorischenBezügen.Man<br />
denktandieheutesogenannten<br />
Spurensicherer der 70er-Jahre.<br />
Künstler wie NikolausLang und<br />
Christian Boltanski sammelten<br />
persönliche Gegenstände Verstorbener<br />
oder ihre Fotografien,<br />
bewahrten sie vordem VergessenundpräsentiertensiewieReliquienoderIkonen.<br />
MitJohnCagehat Müller einen<br />
der prominentesten Soundkünstler<br />
zumNachbarn. Direkt<br />
neben Müllers KlanginstallationenbefindetsichCagesraumfüllende<br />
Arbeit „Writing through<br />
theEssayOntheDutyofCivilDisobedience“,<br />
entstanden in den<br />
Jahren 1985–91. 36 Lautsprecher<br />
und 24 Lampen hängen vonder<br />
Decke der lichtdurchfluteten<br />
oberenEtagederKunsthalle.Auf<br />
dem Boden stehen sechs unter-<br />
schiedlicheStühle.Esistwieeine<br />
ArtKlanggarten:AusjedemLautsprecher<br />
ertönt ein anderer<br />
Sound. Man hört Alltagsgeräusche<br />
und Stimmengemurmel.<br />
EinmächtigerNachbar.Aberein<br />
passender.Denn voneiner solchen<br />
Polyphonie ist auch der<br />
RaumvonJanisE.Müllererfüllt.<br />
So etwadie Hauptarbeitder<br />
Ausstellung„HimmelundHölle“.<br />
An einer quer durch den Raum<br />
gespanntenLeinehängen15Teelöffel<br />
in einer Reihe. Die Löffel<br />
scheinen eine Art Yoga-Figur<br />
nachzumachen. Sie legen sich<br />
hin, schleifen der Länge nach<br />
über den Boden, beugen sich<br />
hoch, erheben sich und steigen<br />
in die Luft. „Sie legen sich zum<br />
Sterben hin und stehen wieder<br />
auf“,sagtMüller.JedesMal,wenn<br />
siemitihrenStielendendenBodenberühren,gebensieklirrende<br />
Geräusche von sich, dann<br />
schleifensieinihrerganzenLängedarüber.DieLeine,anderdie<br />
Löffel befestigt sind, wird von<br />
Holzlatten, die wiederum an<br />
Rundmotorenmontiertsind,gesenkt<br />
und gehoben. Man denkt<br />
bei Aufbauten wie diese an ein<br />
Landschaftsbild, eine BerglandschaftmitStrommastenodereinenSkilift.<br />
Besonders der Einfluss der<br />
Fluxus-Bewegung, mitder Cage<br />
zeitweise lose assoziiertwar,ist<br />
hier deutlich sichtbar.Zum Beispiel<br />
„Fahrrad für Konzertmit<br />
Fahrrad und Gitarren“. Müller<br />
hatanein altes Kinderfahrrad<br />
ein Rudel kaputter Gitarren angebunden.<br />
Tatsächlich erinnert<br />
es an Joseph Beuys Rudel, „The<br />
Pack“.Beuys hatte den VW-Bus<br />
seinesGaleristenRenéBlockmit<br />
mehreren Holzschlitten gefüllt,<br />
die hinten herausströmten. An<br />
jeden Schlitten waren eine Filzdecke,FettundeineTaschenlampegeschnallt.Blockhattemitseinem<br />
Bulli in den 60er-Jahren<br />
Kunstwerke heute berühmter<br />
Künstler wie Sigmar Polkeoder<br />
GerhardRichter in die vonden<br />
Deutschen zerstörteStadtLidice<br />
in der Tschechoslowakei gebracht.<br />
Oder „Duo forVioline“. Hier<br />
hatMüller eine Geige aufdem<br />
Boden platziert. Zwei MetallraspelnspielensieimDuett.ImLaufe<br />
der Ausstellung werden sie<br />
sich zunächstdurch die Saiten,<br />
dann durch den hölzernen Korpusfressen.DanachwirdderMotorabgestellt.NamJunePaikhatte<br />
einst während einer Performance<br />
aufder Straße an einer<br />
Schnur eine Geige hinter sich<br />
hergezogen. Paiks Geigenreste<br />
befinden sich in der Sammlung<br />
der Kunsthalle. Ob die Bremer<br />
KunsthallewohlMüllers durchgesägte<br />
Violine für ihre Sammlungankaufenwird?Eswäreimmerhinkonsequent.<br />
■ bis 2. März 2014,<br />
Kunsthalle Bremen<br />
................................................................<br />
POPCORN, COLA, REVOLUTION<br />
Schnellins<br />
Konzert!<br />
KaumhatmandieeinenFei-<br />
ertageüberstanden,kommt<br />
dernächste.Auchhier:hohe<br />
Erwartungen,nuranders.<br />
ZumindestinSachenPophält<br />
sich Silvester eher bedeckt. Und<br />
was vorher und nachher geschieht,<br />
istmehr oder minder<br />
das Erwartbare. Am heutigen<br />
SamstagabendzumBeispielgastieren<br />
die Busters zu ihrem alljährlichenBremen-Gastspielim<br />
Schlachthof.Der Stadtsind sie<br />
KONZERTE IN BREMEN<br />
.......................................................<br />
ANDREAS<br />
SCHNELL<br />
.......................................................<br />
nichtnurwegendergutenalten<br />
Weser-Label-Zeiten verbunden,<br />
sondern mittlerweilenatürlich<br />
erstrechtauch ihrer zuverlässigenErscheinungsweisewegen–<br />
undselbstredendauch,weildie<br />
GemeindeinBremendengutgelauntenSkaderbaden-württembergischenBandschätzt.<br />
Im Bluesclub Meisenfrei gibt<br />
es am Samstagabend ebenfalls<br />
bekanntenStoff,nämlichSongs<br />
von Johnny Cash, dargeboten<br />
von dem Neuseeländer Peter<br />
Caulton und seiner Band. Optisch<br />
erinnertereher nichtan<br />
den „Man in Black“,stimmlich<br />
triffteresaberziemlichgut.Beginn:21Uhr.<br />
Inetwagleichzeitigspielenin<br />
der Friese Todeskommando<br />
Atomsturm,die ganz unbefangen<br />
unprätentiösen Hardcore-<br />
Punk spielen und aufgeweckte<br />
Menschenzuseinscheinen,eingedenk<br />
von Zeilen wie „Mein<br />
Problem mit dem System<br />
schlichtet nicht mal Heiner<br />
Geißler“ oder Songtitel wie<br />
„Popcorn,Cola,Revolution“.<br />
Am gleichen Abend in der<br />
Stadthalle Bremerhaven: unser<br />
aller Nena,die sich auf„Du bist<br />
gut“-Tourbefindet.<br />
Am Sonntaggibt’smit Lotto<br />
King Karl &den Barmbek<br />
Dream Boys ab 20 Uhr im<br />
SchlachthofundSubwayToSallymitGefolgeab20UhrimPier2<br />
sattsam bekannte Weihnachtsdauergäste,<br />
während die Berliner<br />
Verquerspiel-Metalcore-<br />
Band War From AHarlots<br />
MouthaufihrerAbschiedstourneeamgleichenAbendimTower<br />
vorbeischaut. Mitdabei:ATraitorLikeJudasundTheBleeding.<br />
Am MontagfeiertdieMIBab<br />
20UhrimMomentsihreSession<br />
Gala zum Jahresausklang,danachheißtesvorerstdarben.<br />
WOHIN IN BREMEN UND UMZU?<br />
■ Samstag, 23 Uhr, Tower<br />
Kele Okereke<br />
■ Dienstag auf den Bühnen dieser Stadt<br />
SilvesterimTheater<br />
■ Dienstag in Konzertsälen und Kirchen<br />
Silvestermit Musik<br />
■ Sonntag, 18 Uhr, Havarie<br />
ElifsMänner<br />
Wirdlangsam zurInstitution und ist<br />
vielleichteine Strategie,einbrechenden<br />
Plattenverkäufen entgegenzuwirken:<br />
Platten auflegen. Immer<br />
wieder stellten sich in den letztenJahren<br />
Musiker,die eher dafür<br />
bekanntsind, mit ihrer Band auf der<br />
Bühne zu stehen, an die Turntables<br />
und spielten ihreLieblingsplatten,<br />
auf Festivals als kleines Schmankerl<br />
oder in Clubs als Highlighteiner langen<br />
Nacht. Im Towerlegt nun mit<br />
Kele Okerekeein Musiker auf,dessenSet<br />
mit Spannung erwartet werden<br />
darf, isterdoch hauptberuflich<br />
Sänger der Indie-Avantgarde-Institution<br />
TV On The Radio,deren Musik<br />
sich kundig zwischen Afro-Punk,<br />
Jazz, Soul und Rock bewegt.<br />
Die großen Menschheitsfragen<br />
kommen zu SilvesteramTheater ein<br />
bisschen kurz, nach der Vorstellung<br />
will man ja eher feiern als diskutieren.<br />
Ein bisschen mehr als<br />
„nur“Unterhaltung geht<br />
aber schon. „La Traviata“<br />
zumBeispiel, zu sehen im<br />
Theater am Goetheplatz<br />
(15 Uhr), zeichnetdas Porträt<br />
einer Frau, die sich<br />
nach Liebe verzehrt, aber<br />
unfähig ist, sie zu leben. Patricia<br />
Andress(FOTO:JÖRGLANDSBERG)<br />
gestaltet die Violetta mit erschütternder<br />
Intensität. Angesichts der<br />
durchaus im Stück angelegten Drastik<br />
präsentiertsich der „Pericles“<br />
der Bremer ShakespeareCompany<br />
(16 und 21.30Uhr,Theater am Leibnizplatz)<br />
als poetische Annäherung<br />
an das umstrittene Stück. Deutlich<br />
komödiantischer: „Das Glück<br />
istjaschließlich keine<br />
Dauerwurst“ von<br />
Mensch, Puppe!,<br />
das um 20 Uhr in<br />
der Schildstraßezu<br />
sehen ist. Kabarettistisch<br />
sezieren<br />
zwei Menschen und<br />
achtPuppen die Idee,<br />
Glück ohne seine Voraussetzungen<br />
zu denken. Saisonal auf<br />
seine Weiseangemessensind die<br />
„Dänischen Delikatessen“,die im<br />
Bremer Kriminaltheater zu sehen<br />
sind (17 und 21 Uhr).<br />
Es überwiegen ganzdeutlich klassische<br />
Töne,wobei der Klassikbegriff<br />
hier,wie ja auch gewohntals erweiterter<br />
zu verstehen ist. Nichtzuletzt<br />
Johann Sebastian Bach stehtnämlich<br />
auch zumJahreswechsel hoch<br />
im Kurs.„Mit Bach ins neue Jahr“<br />
geht’sbeim Lesumer Silvesterkonzert<br />
mit der Bremer Ratsmusik und<br />
Solistenab19Uhr in St. Martini in<br />
Lesum. Schon um 17 Uhr spielt in<br />
der Glockedie Klassische Philharmonie<br />
Nord-West Werkevon Haydn,<br />
Mozart,Bruch und anderen im Kleinen<br />
Saal (auch um 20 Uhr), um 18<br />
Uhr istdie Großpolnische Philharmonie<br />
nebenan im großen Saal zu<br />
hören, mit Musik vonMendelssohn-<br />
Bartholdy,Moszkowski und Schu-<br />
mann. Ein Zusammentreffenvon<br />
Schlagzeug und Orgel findetebenfalls<br />
ab 18 Uhr in der Martin-Luther-<br />
Gemeinde in Blumenthal statt,Ausführende<br />
sind Jörn Schipper und Andreas<br />
Kettmann. Im Dom gibtesab<br />
20 Uhr ein Silvesterkonzert mit dem<br />
Domchor und Solisten–und vielleichtjaauch<br />
ein bisschen Bach. Ab<br />
20.30Uhr singt der Bremer Raths-<br />
Chor in der St.-Ursula-Kirche in der<br />
Schwachhauser Heerstraßeunter<br />
der Leitung vonJan Hübner „Lobgesänge<br />
zumneuen Jahr“. Und ab 21<br />
Uhr befindetsich in der St.-Remberti-Kirche<br />
das Ensemble Silves-Musik<br />
im Dialog: Jazz, World, Klassik und<br />
Eigenkompositionen stehen auf<br />
dem Programm.<br />
Wir nanntensie Gastarbeiter.Was ja<br />
an und fürsich schon ein komisches<br />
Wort ist, aber immerhin doch noch<br />
eines der freundlicheren vonden<br />
Worten, die die Deutschen fürMenschen<br />
haben, die nichtvon hier sind.<br />
Inzwischen leben wir mit den Kindern<br />
und Enkeln jener Gastarbeiter<br />
und Gastarbeiterinnen zusammen.<br />
Der Regisseur Markus Fiedler hat<br />
mit „ElifsMänner“einen spannenden<br />
Mehrgenerationenfilm über<br />
eine Familie gedreht, der die Konfliktlinien<br />
innerhalb der Familie und<br />
außerhalb ihrer nachzeichnet. Zu sehen<br />
isterinder „Havarie“,auch bekanntals<br />
alter Saal der Schwankhalle.Der<br />
Eintritt istfrei, der Regisseur<br />
anwesend.
nord |KULTUR<br />
SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE 47<br />
Die Musiker der Klassikphilharmonie Hamburg lassen sich auf der Bühne im Großen Saal der Laeiszhalle<br />
bejubeln: Das Publikum feiert auch sich selbst Fotos: Hinrich Schultze<br />
................................................................<br />
GEWALT &MUSIK<br />
Umgehend<br />
analysiert<br />
Nach all der Gewalt im UmfeldderDemonstrationam<br />
letzten AdventswochenendebefindetsichHamburgweiter<br />
inderPhasekonzentrierterAufarbeitung.<br />
Einen, nunja, ungewöhnlich<br />
weit vorpreschenden<br />
VorschlagzumUmgangmitGewalttätern<br />
hatetwaflugs Karl-<br />
Heinz Warnholz unterbreitet:<br />
Der CDU-Mann möchte den Zugang<br />
zu Abiturund Hochschule<br />
erschweren.Aberauchdieklassischen<br />
„Analysen“ sind umgehendeingetroffen:KaiVoetVan<br />
Vormizeele (CDU): „Psychopathen“;<br />
Björn Werminghaus<br />
(Deutsche Polizeigewerkschaft):<br />
„Abschaum“.<br />
Auch das eine oder andere<br />
Konzert der kommenden WochenlässtsichdurchausalsBeitragzurDebattelesen:Dieklassische<br />
Analyse aus der anderen<br />
PerspektivegibtesdiesenSamstagetwavon<br />
Dritte Wahl in der<br />
Markthallezuhören:EinePunkband,diesichbereitszuDDR-Zeiten<br />
gegründet und vor allem<br />
durch polizeifeindliche Texte<br />
aufsich aufmerksam gemacht<br />
hat: „GSG9 und Terroristenjäger/Todesschützen<br />
und brutale<br />
Schläger“.<br />
HAMBURGER SOUNDTRACK<br />
.......................................................<br />
NILS<br />
SCHUHMACHER<br />
.......................................................<br />
Die leichte MuseanSilvester<br />
ORCHESTERDasalljährlicheSilvesterkonzertderKlassikphilharmonieHamburgistmitHitsausdemKlassik-<br />
Repertoire,buntenLuftballonsundetwasaufgelockertenRitualenauchwasfürEinsteigerinsGenre<br />
VON ILKA KREUTZTRÄGER<br />
Aufden Balustraden der vorderen<br />
Logen liegen Bastelscheren<br />
bereit. Kurz vorEnde des Silvesterkonzerts<br />
huschen Frauen mit<br />
LuftballonsanSchnürengeduckt<br />
die Gänge entlang, greifen nach<br />
den Scheren, durchschneiden<br />
die Schnüre und lassen die Ballons<br />
frei. Die sinken gemächlich<br />
ins Parkett hinab und das PublikumreißtdieArmeindieHöhe.<br />
SiestupsendieBallonsan,halten<br />
siesoinderLuftundeinigefliegen<br />
aufdie Bühne zu den GeigernundBratschisten.DasPublikumimwunderschönenGroßen<br />
Saal der Laeiszhalle feiert sich<br />
selbst und die Klassikphilharmoniker.<br />
WAS TUN IN HAMBURG?<br />
■ Di, 31.12., 23 Uhr, Hafenklang<br />
Traurige Party<br />
Bislang hat Silvesterhier die schöne Regelmäßigkeit<br />
geherrscht: Seit einer gefühlten<br />
Ewigkeit haben die traditionsbewussten Motorbooty!-DJs<br />
im Molotow das Jahr ausgeläutet.<br />
Eigentlich sollteamDienstag noch ein allerletztes<br />
Mal „in unserem gemütlichen Keller“amSpielbudenplatz<br />
gefeiertwerden.<br />
Weil aber vorzweiWochen die Wände der<br />
Esso-Häuser darüber wackelten und auch das<br />
Molotow geräumtwerden musste, wirddaraus<br />
leider nichts.Zumindestein Obdach hat<br />
„Dein besterSilvester“ noch kurzfristig gefunden:<br />
Am Dienstag steigt die traurigste Silvesterparty<br />
der Stadt im Hafenklang.<br />
Seit 1986 spielt die Klassikphilharmonie<br />
Hamburg am Silvesterabend<br />
in der Laeiszhalle<br />
als Kammersinfonieorchester<br />
mit55Musikernauf.DiesesJahr<br />
stehen etwadas Walzerlied von<br />
„Romeo und Julia“, die Arie der<br />
Butterflyaus Puccinis „Madame<br />
Butterly“ und Rossinis Ouvertüre<br />
zu „Semirade“auf dem Programm.<br />
Als Zugabe gibt es bei<br />
diesen Silvesterkonzerten gern<br />
etwaden Radetzky-Marsch, also<br />
wasbekanntSchwungvolleszum<br />
Mitklatschen und Schunkeln.<br />
Selbst Klassik-Neulinge erkennen<br />
die Stückeinden Zugaben<br />
bereitsandenerstenTakten.Das<br />
Publikum goutiertdie Hits und<br />
begrüßtjubelnd die ersten Töne<br />
von dem Präludium aus „Car-<br />
Foto: dpa<br />
men“. SoalsspieltedieLieblingsbandendlichnacheinemlangen<br />
Konzertabend nurmit Stücken<br />
vonderneuenPlatteendlichdas<br />
eine Lied, das sie vor30Jahren<br />
malbekanntmachte.<br />
Das Orchester selbst nennt<br />
dieseSilvesterabendeseine„ÖffnunghinzurleichtenMuse“und<br />
demPublikumgefällt’s.Esgefällt<br />
ihnenauch,weildieRegelnnicht<br />
ganzsostrengsind,wiebeiklassischen<br />
Konzerten sonstüblich.<br />
Die Luftballons sind ein Zeichen<br />
fürerwünschteAusgelassenheit.<br />
Auch Zwischenapplaus und<br />
Juchzen sind willkommen. Die<br />
Stimmung im Großen Saal erinnert<br />
andie seit 1996 jährlich<br />
stattfindete „Hamburg Proms –<br />
Last Night“, bei dem auch die<br />
■ Do, 2.1., 20 Uhr, Lustspielhaus<br />
Phrasenmüllmann<br />
„Einer mussdasein, aufräumen, sonstersticken<br />
wir am ideologischen Unrat.“Das klingt<br />
nichtungefährlich und istvermutlich, bei allem<br />
Augenzwinkern, sogar ernstgemeint.<br />
Wersich hier alljährlich aufmacht, den „Phrasenmüll,<br />
der sich in einem Jahr ansammelt“<br />
hinauszukehren, istglücklicherweisekein politischer<br />
Hasardeur,sondern ein<br />
verdienterKabarettist, der darin<br />
jahrelange Erfahrung hat: Henning<br />
Venskeräumtin<br />
Alma Hoppes Lustspielhaus<br />
wie jedes<br />
Jahr „den Mistweg“.<br />
klassischen Konzertrituale fehlenunddasPublikumsingenderund<br />
pfeifenderweise Teil des<br />
Konzerteswird.<br />
1978wurdedasOrchestervom<br />
mittlerweile über 80-jährigen<br />
Schweizer Dirigenten Robert<br />
StehlialsHamburgerMozart-Orchester<br />
gegründet. Der Name<br />
warProgramm, sie spielten vor<br />
allem Mozart. Am 28. Juni gab<br />
dasOrchesterseinerstesKonzert<br />
im Kleinen Saal der Laeiszhalle,<br />
die damals noch Musikhalle<br />
hieß.ZufriedenesPublikumund<br />
wohlwollende Presse waren das<br />
Ergebnis. Gleich im GründungsjahrspieltedasOrchester13Konzerte<br />
im norddeutschen Raum.<br />
Heute reichtihr Repertoire weit<br />
über Mozarthinausvon Klassik,<br />
■ Mo, 30.12., 21 Uhr, Fabrik<br />
Alle Jahrewieder I<br />
Es isteine bemerkenswert eingeschworene<br />
Fangemeinde,die seit 35 Jahren zumJahresende<br />
in der Fabrik zusammentrifft. „[D]ie<br />
Jungs schaffen es,die Leuterichtig zu begeistern,<br />
sogar mich, der ich in Hamburgalles<br />
kenne,was seit 1975 über die Bühne gelaufen<br />
ist!“,weiß der Kollege Bruno Werther etwa<br />
über Hannes Bauer und sein OrchesterGnadenlos<br />
zu berichten. Das Trio mit den „bärenstarken<br />
Texten“,das grundsätzlich „mit Volldampf“durch<br />
die Lande ziehe,sei der festen<br />
Überzeugung, den Rock ’n’Roll entweder erfunden<br />
zu haben, „oder er istfür sie erfunden<br />
worden“.<br />
leichter Muse über Filmmusik<br />
bis zumJazz. Und wegen dieser<br />
musikalischen Öffnung haben<br />
siesich2011auchinKlassikphilharmonieumbenannt.<br />
Am Endes Konzertes spuckt<br />
dieLaeiszhalledieBesucherwieder<br />
ausund die schlendern zu<br />
Fuß von der hell erleuchteten<br />
Konzerthalleweg.KleineGrüppchen,<br />
die Frauen haben sich bei<br />
denMännernuntergehakt,erim<br />
Anzug,sieinKleidoderKostüm.<br />
Allesindsieheiter,plaudernentspannt.<br />
Ganz offensichtlich hattensieeinenschönenAbend.<br />
Silvesterkonzert der Klassikphilharmonie<br />
Hamburg: 31.Dezember,19<br />
Uhr, Großer Saal der Laeiszhalle,<br />
Johannes-Brahms-Platz<br />
■ Mo, 30.12., 21 Uhr, Markthalle<br />
Alle Jahrewieder II<br />
Vorein paar Jahren hat auch Kai Havaii seinen<br />
Beitrag „Hartwie Marmelade“ ins Regal<br />
„Rocker-Leben in der westdeutschen Provinz“<br />
gestellt. Der Mann kann ja auch mit einigem<br />
aufwarten: Eingerahmtvon Heroin kennter<br />
so ziemlich alle Drogen und weiß nichtnur<br />
vomsteilen Aufstieg, sondern auch vomnoch<br />
viel steileren Untergang zu berichten. Über<br />
die literarische Gütemag man streiten, eines<br />
aber weiß man danach: Der Mann machtimmer<br />
weiter und treibtseine immer wieder irgendwie<br />
zumLeben erweckteBand Extrabreit<br />
auch diesen Winterwieder per „Weihnachts-Blitz-Tournee“<br />
durchs Land. MATT<br />
Ein wenig genauer hinhören<br />
muss manhingegen bei diesen<br />
beiden: Der Singer/Songwriter<br />
BerndBegemannkommentiert<br />
dieaktuelleLageamSonntagim<br />
Knust ingewohnt ironischer<br />
Brechung: „Oh St. Pauli“ bzw.<br />
„Man fühltsich wie ein Gewinner,<br />
obwohl man nichts erreicht“.AmFreitagnächsterWoche<br />
dann streichtder stets mit<br />
scharfer Zunge ausgestattete<br />
Liedermacher und Kabarettist<br />
RainaldGrebeimThaliaTheater<br />
einen zentralen motivationspsychologischenAspektheraus:<br />
„Ichbraucheeinfach[...]Chaos“.<br />
BeimbestenWillennichtherauszuhören–aberalsBeitragzur<br />
Debattedurchauserhellend–ist<br />
allerdings die Geschichte, die<br />
hinter diesem Konzert steckt:<br />
Zwischen der Musikabteilung<br />
der Hamburger Ordnungspolizei<br />
und dem sozialdemokratischen<br />
„Reichsbanner Schwarz-<br />
Rot-Gold“, das die Republik gegen<br />
ihre Feinde an den politischen<br />
Rändern schützen sollte,<br />
bestandinden1920er-Jahreneine<br />
enge Kooperation, die ihresgleichen<br />
suchte. Grundlage war<br />
dieSchirmherrschaftdesSenats<br />
über das Reichsbanner,die es<br />
auch Polizeibeamten möglich<br />
machte,Mitgliedzuwerden.Die<br />
Nachfolgerin der „Orpo-Kapelle“,<br />
das Hamburger Polizeiorchester,spieltamFreitagnächster<br />
Woche aufdem Norderstedter<br />
Neujahrskonzertinder Tribühneauf.<br />
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apple taz.bremen<br />
www.taz.de |redaktion@taz-bremen.de |Tel. 960 260 |Trägerdienst Tel. 35 42 66<br />
Das Eisbären-Wetter<br />
Nach 41 Jahren isterstmals wieder ein gesundes<br />
EisbärenbabyimBremerhavener<br />
ZooamMeer geboren worden. Kamerabil-<br />
derzeugenabgeblichvoneinemgesunden<br />
und zufriedenen Säugling. Dabei isteseisbärenfeindlich<br />
warm: Neun Grad, Regen<br />
SONNABEND/SONNTAG, 28./29. DEZEMBER 2013<br />
48<br />
IN ALLER KÜRZE<br />
Neuer Schuldenrekord<br />
Das Bundesland Bremen hateinen<br />
neuen Negativrekord bei<br />
den Landes- und Kommunalschulden<br />
erreicht. Die Pro-Kopf-<br />
Verschuldung lagzum Jahresende<br />
bei 30.000 Euro, teilte der<br />
Bund der Steuerzahler am Freitagmit.EndeMaiwirdderSchuldenstandvoraussichtlichdie20-<br />
Milliarden-Euro-Marke überschreiten.<br />
Der Bund der SteuerzahlerfordertegrößereAnstrengungen<br />
zur Ausgabenbegrenzung.<br />
Die jährlichen Defizite<br />
müssten durch Einsparungen<br />
beidenPersonal-undSozialausgaben<br />
sowie Subventionen und<br />
Finanzhilfen verringertwerden.<br />
AndernfallsgeratedasZielinGefahr,<br />
von 2020 an ganz ohne<br />
neue Schulden auszukommen.<br />
Im Ländervergleich belegt Bremen<br />
bei der Pro-Kopf-VerschuldungeinenSpitzenplatz.Erstmit<br />
deutlichem Abstand folgen Berlin<br />
(18.200 Euro), das Saarland<br />
(16.100 Euro) und Nordrhein-<br />
Westfalen(14.700 Euro). Niedersachsen<br />
(8.813 Euro) liegt unter<br />
dem Länderdurchschnitt von<br />
9.703Euro.<br />
Neuer Cheffür<br />
„buten un binnen“<br />
FrankSchultekehrtzurückzuRadioBremen<br />
und wirdneuer Leiter<br />
der Fernseh-Regionalsendung<br />
„buten un binnen“. Der 39<br />
Jahre alte Journalistist zurzeit<br />
Chef vomDienstund Leiter des<br />
HEUTE IN BREMEN<br />
„Das warein Glücksfall“<br />
ALLDasPlanetariumberichtetvonKatastrophen<br />
undsagt,obwirunsSorgenmachenmüssen<br />
taz: Wasist denn eine kosmischeKatastrophe,HerrVogel?<br />
Andreas Vogel:All das, wasdas<br />
LebenaufderErdeoderdieErde<br />
als solches bedroht und in irgendeiner<br />
Form mitdem Weltraumzutunhat.Daskönnennahe<br />
ausbrechende Supernovae<br />
sein,Asteroiden,diemitderErde<br />
kollidieren, oder auch<br />
unsere eigene Sonne. Auch die<br />
wirduns eines Tages gefährlich<br />
werden.<br />
Aber dauert das nichtnoch unvorstellbarlange?<br />
Dabrauchenwirunserstmalkeine<br />
Sorgen machen. Die Sonne<br />
wirderstinvierbisfünfMilliarden<br />
Jahren zu einem roten Riesen.<br />
Und es wirdauch noch ein<br />
paar hundert Millionen Jahre<br />
dauern,bisesaufderErdeungemütlichwird.<br />
GibtesAsteroiden,dieunshier<br />
wirklichernsthaftbedrohen?<br />
Ja.Ganz große Einschläge kommenzwarnurallehundertMillionen<br />
Jahre vor, kleinere Einschläge<br />
sind aber viel häufiger,<br />
alsmandenkt.Dashatmanjaim<br />
Frühjahr in Tscheljabinsk gesehen:<br />
Dortkam ein Brocken runter,der<br />
etwa15bis 20 Meter im<br />
Durchmesserhatte,aberfürgrößere<br />
Schäden gesorgt hat. Das<br />
kann prinzipiell auch in<br />
Deutschland passieren. Sowas<br />
kommtetwaalle100 Jahre vor.<br />
Man sollte den Himmel also im<br />
Blickbehalten.<br />
Könnte manüberhaupt etwas<br />
gegensolcheEinschlägetun?<br />
Newsdesk beim Weser-Kurier.<br />
Schulte arbeitete bereits von<br />
2004bis2012fürdasFernsehen<br />
vonRadioBremen, unter anderemalsChefvomDienstbei„butenunbinnen“undAutordiverser<br />
Dokumentationen und Reportagen.<br />
Der bisherige „buten<br />
un binnen“-Redaktionsleiter<br />
Guido Schulenberg wechseltzurückindenHörfunk.<br />
Kritik an steigenden<br />
Müllgebühren<br />
Die Linkspartei verlangt, die beschlossene<br />
Anhebung der Müllgebühren<br />
wieder zurückzunehmen.<br />
Diese sollen zum1.Januar<br />
2014 insgesamtum20Prozent<br />
steigen. Zudem gibt es künftig<br />
nurnoch 13 stattbisher 17 LeerungenimJahrkostenlos.„Esist<br />
schon sehr dreist, wie die UmweltbehördeunddasfürdieAbfallentsorgung<br />
zuständige Unternehmen,<br />
scheinbar Hand in<br />
Hand, die Gebührensteigerung<br />
durchgepeitscht haben“, kritisiert<br />
Landesvorstandsmitglied<br />
Michael Horn. Zugleich verlangteHornvomgrünregiertenUmweltressort,<br />
die Verträge mit<br />
dem Müllentsorger offenzulegen<br />
–was dieses bisher immer<br />
noch verweigert. Die Gewerkschaft<br />
Ver.di wirft der Firma<br />
Nehlsen nach wie vor „Lohndumping“<br />
vorund forderttarifvertragliche<br />
Stundenlöhne von<br />
14bis15Euro–Nehlsenzahlewe-<br />
RANDALEEinneuesBuchausderBremerFan-SzeneerzähltauseigenerErfahrungvonder<br />
Fußballgewalt.AuchdieCDUversuchtderzeit,dasPhänomennäherzuergründen<br />
Schlägertyp und Spaß dabei<br />
Für die einen der Inbegriff von Randale beim Fußball, für die anderen Symbol des Protests gegen Einschränkungen der Fankultur: Pyrotechnik<br />
VON JAN ZIER<br />
Sicher: An Dirk T. istkein ganz<br />
großer Erzähler verloren gegangen.<br />
Dennoch istsein aktuelles<br />
Buch lesenswert. Als authentische<br />
Milieustudie. Als autobiografischerRomaneinesMannes,<br />
den manheute einen Fußball-<br />
Hooligannennenwürde.<br />
Herr T.,heute ein Mittvierziger,warvorallemindenAchtzigernundNeunzigernimUmfeld<br />
vonWerder Bremen aktiv–und<br />
saß dafür vier Wochen im Jugendarrestund<br />
bestimmthundertmalinPolizeigewahrsam.Er<br />
isteiner derjenigen, für die Vereine<br />
zusammen mitSozialpädagogen<br />
eigene Fan-Projekte entwickelthaben.<br />
Wir waren „Kleinkriminelle<br />
undSchlägertyen,ja,sicher,aber<br />
eben auch die Kinder vonganz<br />
normalenBremerFamilien“,sagt<br />
T. heute. Genau davonhandelt<br />
dieses Buch: vom Leben eines<br />
„typischen Siebzigerjahre-Kids<br />
der unteren Mittelschicht“.T.ist<br />
in der Neuen Vahr und in Tenever<br />
groß geworden, sein Vater<br />
warWerftarbeiter,seine Mutter<br />
Verkäuferin.<br />
UndFußballwarquasi„diebedeutendste<br />
Institution in unserer<br />
Gesellschaft des finanziell<br />
entproletarisiertenKleinbürger-<br />
nigerals13Euro. (taz/dpa) .........................................................................................................................................................................<br />
.......................................................................................................................................................<br />
Fußball &Gewalt in Bremen<br />
GegendiekleinerenwahrscheinlichimMomentnochnicht.Das<br />
kommtaufdenZeitpunktan,zu<br />
demwirsieentdecken.Wenndas<br />
frühgenugderFallist,also:viele<br />
Jahre im Voraus, dann könnte<br />
man versuchen, sie aus ihrer<br />
Bahn abzulenken. Da würde<br />
dann im Zweifelsfall schon ein<br />
Mit einer Großen Anfrage versuchte<br />
die CDU kürzlich, „die Gewalt<br />
am Rande vonFußballspielen“ näher<br />
zu beleuchten:<br />
■ Zum„Kern“ der drei Bremer<br />
Hooligan-Gruppierungen zählt<br />
die Polizei 50 Menschen, zu ihrem<br />
Umfeld weitere35. „Nordsturm<br />
Brema“ und Teil der „Standarte<br />
Bremen“ stuftdie Polizei dabei als<br />
„rechtsgerichtet“ ein, die anderenals<br />
„erlebnisorientiert“ und<br />
„gewaltsuchend“.<br />
■ Zu den Ultras –die fürdie Choreografien<br />
in den Fankurven verantwortlich<br />
sind –zählt die Polizei in<br />
BremenimKern260Menschen,zu<br />
ihrem Umfeld weitere150.Der Polizei<br />
Frauen –insgesamt15–20.<br />
■ 267Straftaten im Zusammenhang<br />
mit Fußballspielen vermeldete<br />
die Polizei in der vergangenen<br />
Saison, 2011/12 warenes132,<br />
2008/09 insgesamt106.Oft geht<br />
esdabeiumKörperverletzung und<br />
Landfriedensbruch.<br />
■ 13 Verletzte registrierte die Polizeiinder<br />
letzten Saison am Rande<br />
der Spiele,2008/09 warenes21,<br />
in der Saison darauf 27.<br />
■ Der Personaleinsatz der Polizei<br />
istvon 27.444 Einsatzstunden in<br />
der Saison 2008/09 kontinuierlich<br />
auf 37.127 angestiegen.<br />
■ Bundesweit Stadionverbote haben<br />
laut Senat aktuell 35 Werder-<br />
Fans,20davonwerden vonderPo-<br />
kleinerStoßreichen.Soein<br />
lizei gelten sie überwiegend als<br />
.............................................................................................................................................................................................<br />
Brocken wie der von<br />
„gewaltgeneigt“. Nur in zwei der lizei den Ultras oder Hooligans zugerechnet.<br />
(taz)<br />
........................................................................................................................................................................................................<br />
Andreas Vogel<br />
Tscheljabinsk ist für<br />
achtUltra-Gruppen gibteslaut Po-<br />
■ 44, istLeiter des Olbers-<br />
Planetariums der Hochschule<br />
Bremen.<br />
EDER „WESER-KURIER“ ENTMACHTET SEINE CHEFIN. DIE LESERINNEN ERFAHREN DAZU NUR DIE HALBE WAHRHEIT<br />
ineZeitunghatdieAufgabe,ihreLeserInnenzuinformieren.DerWeser-Kurier<br />
offenbar nicht–wenn es um ihn<br />
selbstgeht.<br />
Zu Weihnachten schrieb der Weser-Kurier,dass<br />
die Zeitung in Zukunft voneiner<br />
„Doppelspitze“geleitetwird–nebenChefredakteurin<br />
SilkeHellwig trete der 61-Jährige<br />
Peter Bauer. Allerdings „kommissarisch“.<br />
Bauer,derschonmalachtJahrelangstellvertretender<br />
Chefredakteur des Weser-Kuriers<br />
war, sei „für die „Organisation der Gesamtredaktion“<br />
zuständig und verantwortlich,<br />
während Hellwig sich „vor allem publizistischenAufgabenwidmenwird“.<br />
Verständlichwirddaserst,wennmandazunimmt,wasderWeser-KurierdenLeserInnen<br />
nichtmitteilt: Die neue Regelung gilt<br />
nur,„biseinneuerChefredakteurgefunden<br />
ist“.Sostehtesinder verbreiten Pressemitteilung.<br />
AufDeutsch: SilkeHellwig, seitihrem<br />
Amtsantritt2011 umstrittene Chefredakteurin,istentmachtet.Siedarfmitdem<br />
Titel der Chefin noch Texte schreiben. Bis<br />
zumEndeihrerVertragslaufzeit.<br />
Dass sie abgesetzt wird, war offenbar<br />
dringend –als Interims-Chef musste Peter<br />
KOMMENTAR<br />
Stürzen und schweigen<br />
Bauer vomPressedienstNordgeholt werden,<br />
weil so schnell kein neuer Chefredakteur<br />
gefunden werden konnte. Anstatt ihre<br />
Leser über diesen Sachverhaltzuinformieren,<br />
schwadroniertdie Meldung zumSturz<br />
derChefredakteurinübereine„Doppelspitze“,<br />
„gemeinsamwollensiediecrossmediale<br />
Ausrichtung des Verlags –die Verknüpfung<br />
der gedruckten Zeitung mitden Internet-<br />
Angeboten der Mediengruppe –vorantreiben<br />
und die journalistische Qualitätweiter<br />
erhöhen“. So ähnlich hatte der Verlagauch<br />
schonbeiHellwigsAmtsantrittorakelt.<br />
Keine halbwegs bedeutsame Firma in<br />
Bremen, bei der Köpfe rollen, kann darauf<br />
setzen, dass solche Vorgänge derart verschleiernd<br />
und, aus Rücksicht auf das<br />
Firmeninteresse, verfälschend dargestellt<br />
werden. Der Weser-Kurier aber betreibt<br />
MachtmissbrauchineigenerSache.<br />
DassderWeser-Kurier,wennesumdieeigenen<br />
Angelegenheiten geht, aufalleStandards<br />
journalistischer Ethik verzichtet, hat<br />
Tradition.ErsteineWochevordemSturzder<br />
Chefredakteurin hatte die Mediengruppe<br />
vordemLandesarbeitsgerichtauchinzweiterInstanzein<br />
Verfahrenverloren,beidem<br />
Foto: dpa<br />
kräftigaufseinlinkesOhr.Erfiel<br />
sofortum.(...)Alsersichhochrappelnwollte,tratenwirihmindie<br />
Rippen.DerandereTypumklammertedieFlascheSpringer.“<br />
Oballeswirklichsowar?Egal.<br />
„Romanekönnenwahrerseinals<br />
Tatsachenberichte“, sagt T.,„weil<br />
sie konzentrierter erzählen können.“<br />
2010 haterschon malein<br />
Buch geschrieben: „Ostkurve“,<br />
ebenfallsbeiTrolsenerschienen.<br />
Die Randaleentwickelte sich<br />
bei T. zu einer echten Sucht. Das<br />
Buch erzähltdavon ganz ungeschminkt.<br />
„Es konnte immer<br />
wiederausbrechen,jenachSituation“,sagtT.,<br />
der vonsich sagt,<br />
dasserseit1999„clean“ist.„Eine<br />
Hauereidauertemeistnielänger<br />
als ein bis zwei Minuten (...).<br />
Wenn eine Seite sah, dass sie unterlegenwar,oderdieBullenauf<br />
den Plan traten, verpisste man<br />
sich, so schnell es ging (...).<br />
Schließlich war nacheinerverlorenen<br />
Schlacht noch nicht aller<br />
Tage Abend und genügend Zeit<br />
füreinRematch.“<br />
Dirk T. hat später trotzdem<br />
studiert. Sein Buch ist„eine Reflexion“,<br />
wieerselbstsagt.ErverklärtseineRandalenicht,aberer<br />
verurteiltsieauchnicht.<br />
uns heute aber noch<br />
nichtauffindbar.<br />
Washalten Sie davon,<br />
Asteroiden zu sprengen,wieimKino?<br />
Es gibt ernstzunehmende Wissenschaftler,die<br />
darüber nachdenken,<br />
Asteroiden mitnuklearenSprengsätzenausihrerBahn<br />
zubringen.Sprengenistaberkeine<br />
gute Idee, sonsthat manes<br />
nachher mitTausenden kleinererGeschossenzu<br />
tun.Daswäre<br />
viel verheerender als ein einzigerBrocken.<br />
Werden wir eigentlich je wirklich<br />
erfahren, ob so eine komischeKatastropheauchamAussterben<br />
der Dinosaurier schuld<br />
war?<br />
MitletzterSicherheitwohlnicht.<br />
Aberessprichtvielesdafür,zeitlichpasstdasextremgutzusammen.<br />
Aber wir können froh um<br />
dieseKatastrophesein:DasEnde<br />
der Dinosaurier hatden SäugetierendenWeggeöffnet.DieEvolution<br />
istdanach mithoher Geschwindigkeitvorangeschritten.<br />
FürunswardaseinGlücksfall.<br />
Es ist also doch nicht alles<br />
schlecht ansoeiner kosmischenKatastrophe?<br />
Sokannmandassehen–zumindestrückblickend.<br />
INTERVIEW: JAN ZIER<br />
16 Uhr, Planetarium, Werderstr. 73<br />
tums“,wieesindemBuchheißt.<br />
Werinden Achtzigern ins Stadion<br />
ging, „gehörte automatisch<br />
zum Kreis einer eingeweihten<br />
Minderheit“, sagt T.„War man<br />
Fan, dann musste manauch bereitsein,<br />
für dieses Bekenntnis<br />
im Zweifelsfall den Kopf hinzuhalten.“<br />
Promis, Wirtschaftsleute,<br />
Firmen, Familien oder auch<br />
nurFrauenwarenaufdenTribünennochdieAusnahme.<br />
Als er das erste Mal eine Prügeleimitbekommt,daistT.zwölf,<br />
mit16haterseineersteAnzeige.<br />
Vonall dem erzählt„Kein WeinfestinTenever“,aber<br />
auch von<br />
der Jugendkultur drumherum,<br />
von Musik, Konzerten, Frauen,<br />
viel zu viel Alkohol und der SuchenachdemerstenSex.<br />
Unddazwischen?ImmerwiederRandale.„Ichzogmitmeiner<br />
rechten Hand den Billiardqueue<br />
aus dem linken Ärmel meiner<br />
Bomberjacke und haute ihm<br />
„Kein Weinfest in Tenever“, 241 Seiten,<br />
Trolsen, 12,90 Euro<br />
es um die Übertragung des AnzeigengeschäftesvoneinereigenenTochterfirmaauf<br />
eine formal unabhängige Fremdfirmaging<br />
–beiderOperationkonntedieMediengruppe<br />
Weser-Kurier nicht nur Tarifverträge,<br />
sondern auch aufmüpfige Betriebsräteabschütteln.<br />
Wenn andere Firmen so mitArbeitnehmerrechten<br />
umspringen, müssen<br />
siemitkritischenBerichtenimWeser-Kurier<br />
rechnen.<br />
Nur die Weser-Kurier-Mediengruppe<br />
kannsichdasleisten,ohneeinegroßekritischeÖffentlichkeitfürchtenzumüssen.Das<br />
Landesarbeitsgericht kam zu dem Urteil,<br />
dass die Verlagerung des Anzeigengeschäftes<br />
arbeitsrechtlich als „Betriebsübergang“<br />
zu werten sei. Das heißt, dass alleMitarbeiter<br />
einen Beschäftigungsanspruch zu gleichen<br />
Konditionen in der neuen Firmahaben.<br />
Auch Betriebsräte. Das wareine schallende<br />
Ohrfeige insbesondere für den Aufsichtsratsvorsitzenden<br />
der Mediengruppe,<br />
JohannesWeberling,dervorGerichtalsAnwaltgegendieRechtederBeschäftigtenauftratundunterlag.<br />
KeinWortmussteerdarüberindereigenenZeitungfürchten.<br />
KLAUS WOLSCHNER
apple taz.hamburg<br />
www.taz.de |redaktion@taz-nord.de |Harkortstraße 81 |22765 Hamburg<br />
das wetter<br />
DerSamstag wirdmitmaximal 10Grad, vielen Wolken, Windaus südwestlicher<br />
Richtung und Regen schmuddelig. Sonntag sinkt das Thermometer<br />
auf 7Grad, es hörtauf zu regnen und es bleibtbewölkt<br />
SONNABEND/SONNTAG, 28./29. DEZEMBER 2013<br />
48<br />
Zehn<br />
MeterDemo<br />
Nur wenige Meter spazierte die<br />
Spitzeder Demonstration „Die<br />
Stadt gehörtallen! Refugees,<br />
Esso Häuser,Rote Florableiben“<br />
am vergangenen Samstag,bissievonderPolizeidurch<br />
den Einsatz eines Wasserwerfers<br />
gestopptwurde.Die Folge:<br />
Polizisten und Autonome bekämpften<br />
sich zuerstvor der Roten<br />
Flora, es flogen Steine,<br />
Farbbeutel, Flaschen und alles,<br />
wasnichtfestgemachtwar.Als<br />
die Demonstration vonder Polizei<br />
wegen „Unfriedens“ aufgelöstwurde,verschoben<br />
sich<br />
die KämpfeinRichtung Reeperbahn.<br />
Auch dabei ging einiges<br />
zu Bruch und insgesamtwurden<br />
mehrereHundertMenschen<br />
verletzt. (taz)<br />
Foto: Roland Magunia<br />
IN ALLER KÜRZE<br />
Inventur im<br />
Tropenaquarium<br />
Im Tropenaquarium des TierparksHagenbeck<br />
istamFreitag<br />
durchgezählt, gewogen und vermessen<br />
worden. Unter anderem<br />
kamen zehn gefräßige Kattas<br />
unddieFransenschildkröte„Raffaello“<br />
aufdie Waage. Im Korallensaumriff<br />
zählten die Pfleger<br />
mehr als sechzig verschiedene<br />
Arten.Insgesamtbeherbergtdas<br />
Tropenaquariumauf8.000Quadratmetern<br />
mehr als 14.300 Bewohner.<br />
(dpa)<br />
Zeitzeugen berichten<br />
über Judenverfolgung<br />
FünfZeitzeugendesHolocaustin<br />
Weißrussland und Polen kommenEndeJanuarnachHamburg.<br />
Sie wollen vom 28. Januar bis<br />
zum1.Februar vorSchulklassen<br />
und anderen interessierten<br />
Gruppen über ihre Erfahrungen<br />
im Minsker Ghettosowie in den<br />
Vernichtungslagern Majdanek<br />
undAuschwitzberichten. (epd)<br />
Tödlicher Stich ins Herz –<br />
Tatverdächtige in U-Haft<br />
NacheinertödlichenMesserattackeauf<br />
einen 23-jährigen Mann<br />
in der Neustadtsitzt die mutmaßliche<br />
Täterin in Untersuchungshaft.<br />
Nach ersten Erkenntnissen<br />
soll sie an HeiligabendihrenehemaligenLebensgefährten<br />
aufeiner Straße mitten<br />
ins Herz gestochen haben,<br />
teiltediePolizeimit.Ob sichdie<br />
ANZEIGE<br />
31-Jährige zu den Vorwürfen geäußerthat,konnte<br />
eine Polizeisprecherin<br />
am Freitagmorgen<br />
zunächstnichtsagen. (dpa)<br />
Mahnmal fürTotenach<br />
Unfall in Eppendorf<br />
Fast drei Jahre nach dem Unfall<br />
vonEppendorfsollkünftig ein<br />
MahnmalandievierTotenerinnern.<br />
Daraufhätten sich die Angehörigen<br />
und das Bezirksamt<br />
Hamburg-Nordgeeinigt,wieder<br />
NDR berichtete. Es werde sich<br />
um eine bescheidene und angemessene<br />
Lösung handeln, sagte<br />
Bezirksamtsleiter Harald Rösler.<br />
Bei dem Unfall am 12. März 2011<br />
waren der Sozialwissenschaftler<br />
Günter Amendt, der SchauspielerDietmarMuesundseineFrau<br />
sowiedieKünstlerinAngelaKurrergetötetworden.<br />
(dpa)<br />
Videoüberwachung<br />
in Spielbanken<br />
DiealleinregierendeSPDunddie<br />
CDU wollen Spielbanken in<br />
Hamburg per Videoüberwachung<br />
kontrollieren und so die<br />
Steueraufsichterleichtern. „Wir<br />
wollenbeiderAufsichtderSpielbankenmehrTechnikundwenigerFinanzbeamteeinsetzen,um<br />
zusätzliche Ressourcen für Betriebsprüfung<br />
und Steuerfahndung<br />
zu gewinnen“, erklärte der<br />
haushaltspolitischeSprecherJan<br />
Quast. Einen entsprechenden<br />
EntwurfzurÄnderungdesSpielbankengesetzes<br />
habe der Senat<br />
bereitsvorgelegt. (dpa)<br />
Staatsstreich am Schulterblatt<br />
KRAWALLAusschreitungenalsKollateralschädeneinkalkuliert:DiePolizeiführungwollte<br />
dieRote-Flora-DemonstrationamvergangenenWochenendevonAnfanganverhindern<br />
VON MAGDA SCHNEIDER<br />
Der Ausschussvorsitzende sagte<br />
Nein.WäreesnachGrünen-und<br />
Linksfraktion gegangen, hätte<br />
sichderInnenausschussderBürgerschaft<br />
am gestrigen FreitagabendmitdenschwerenAuseinandersetzungen<br />
zwischen der<br />
Polizei und Demonstranten am<br />
letzten Samstagbefasst. WasEkkehard<br />
Wysocki (SPD), der Kopf<br />
des Gremiums, aber abzubiegen<br />
wusste – aus „terminlichen<br />
Gründen“. Auch sein Parteifreund<br />
Arno Münster mochte<br />
keinen Grund erkennen, sich<br />
„überstürzt“ mitden Geschehnissen<br />
zu beschäftigen. „Es gilt,<br />
zunächstwesentlicheDatenund<br />
Faktenzusammeln.“<br />
Oder sie zu frisieren –umInnensenator<br />
Michael Neumann<br />
(SPD)nichtzubrüskieren?Denn<br />
essprichteinigesdafür,dassdie<br />
Eskalation gleich zu Beginn der<br />
Demonstrationmit rund 7.500<br />
Teilnehmenden von langer<br />
Hand geplantwar –von Seiten<br />
der Polizei. Die Gesamteinsatzleiter<br />
Peter Born und Hartmut<br />
Dudde„konnteneseinfachnicht<br />
ertragen,dassdieverhasstelinke<br />
SzeneungehindertfürihreZiele<br />
laufen“würde,berichteteinInsider<br />
ausdem Polizeizentrum in<br />
Alsterdorfder taz. Dabei seien<br />
„bewusst Kollateralschäden<br />
durch Ausschreitungen in Kauf<br />
genommen“worden–„oderbessergesagt:gewollt“.<br />
Born und Dudde waren am<br />
vergangenen Samstagfast3.500<br />
Polizisten unterstellt, teils aus<br />
anderen Bundesländern. Peter<br />
Born leitet den Polizei-Führungsstab<br />
und wirdinabsehbarerZeitinRuhestandgehen.Deshalb<br />
berief Innensenator Neumann<br />
Hartmut Dudde, Ex-Chef<br />
derBereitschaftspolizei,imvorigen<br />
Jahr als perspektivischen<br />
Nachfolger zu Borns Stellvertreter.BornwieDuddehabenunter<br />
dem Rechtspopulisten und früheren<br />
Innensenator Ronald<br />
Schill Karriere gemacht, gehörten<br />
zumFührungszirkel um Ex-<br />
Polizeipräsident Werner Jantosch.<br />
Gegen dieses „Kartell des<br />
Schweigens“ und überhaupt einen<br />
„diktatorischen Führungsstil“<br />
inder Hamburger Polizei<br />
wandten sich im August 2010<br />
mehrere Polizeiführer in einem<br />
gemeinsamenBrandbrief.<br />
Born und Dudde schickten<br />
beim Schanzenfest am4.Juli<br />
2009 ihre Truppen trotz noch<br />
aufgebauterBühneindieMenge.<br />
„Heutefangenwirmalan“,hatte<br />
Dudde damals seinen untergebenen<br />
Einsatzleitern gesagt. Das<br />
Resultat: vieleVerletzte sowohl<br />
unter den Festbesuchern als<br />
auchdenPolizisten.Bornverteidigte<br />
dieses Vorgehen später im<br />
Innenausschussdamit,dassesin<br />
den Vorjahren stets nach dem<br />
FestzuKrawallen und Sachbeschädigungengekommensei.<br />
Dem Insider zufolgeließ sich<br />
die Demo am vergangenen Wochenende<br />
trotz der obligatorischen<br />
Gewaltprognosen durch<br />
den Staatsschutznichtgänzlich<br />
verbieten: In der Polizeiführung<br />
bestand demnach die Angst, das<br />
Bundesverfassungsgericht<br />
könnte am Ende eine stationäre<br />
Kundgebung aufdem Jungfernstiegerlauben–sowieesdieDemo-Anmelderselbstvorgeschlagen<br />
hatten. Überhaupt herrsche<br />
unter den Oberen inzwischen<br />
die Mentalitätvor,„die Schlachten<br />
werden aufder Straße und<br />
nichtvorGerichtengeführt“.<br />
SohabenunderLeiterderVersammlungsbehörde,<br />
Dietrich<br />
Wunder, den Auftrag bekommen,<br />
„sich auf die Anschluss-<br />
Kundgebungen im City-Bereich<br />
zukonzentrieren“:Diesewurden<br />
von der Behörde nicht genehmigt.<br />
Die Folge: „Die Flora-Anwältewaren<br />
beschäftigt und die<br />
Szeneglaubte,esgebekeineProbleme“,<br />
fügtderInformanthinzu<br />
–„auchdietaz“.<br />
Bewusstseien<br />
Kollateralschäden<br />
durch<br />
Ausschreitungen<br />
inKaufgenommen<br />
worden,sagt<br />
einPolizei-Insider–<br />
„oderbesser<br />
gesagt:gewollt“<br />
Interessant sei auch, dass<br />
DuddeselbstdieGesamteinsatzleitungvorOrtimSchanzenviertel<br />
übernommen habe, stattmit<br />
Born in der ZentraleimPräsidiumzusitzen.Klarist:DieEskalation<br />
der Gewalt am Samstagnachmittaggingnichtzuerstvon<br />
den Demonstranten aus, indem<br />
sie von der Eisenbahnbrücke<br />
über dem Schulterblatt ausPolizeikräfte<br />
mitSteinen bewarfen.<br />
EbendasaberhattezunächstPolizeisprecherin<br />
Ulrike Sweden<br />
behauptet.<br />
Ob das „Aufstoppen“der Demo<br />
nunmit deren vorzeitigem<br />
Aufbrechen nach den Verhandlungen<br />
über eine Routenänderung<br />
begründet wird –wie es<br />
später Polizeisprecher Mirko<br />
Streibertat–oderweilangeblich<br />
noch Autoverkehr aufder Altonaer<br />
Straße gerollt sei: Es dürfte<br />
für die Sachaufklärung irrelevant<br />
sein. Zu viel deutet darauf<br />
hin, dass die Konfrontation mit<br />
die Demonstrationgeplantwar.<br />
Bei den stundenlangen AuseinandersetzungeninSt.Pauliwurdenmehrals500Protestlerund<br />
120 Polizisten zumTeil schwer<br />
verletzt.<br />
In der nächsten Sitzung des<br />
InnenausschusseswirdInnensenatorNeumann<br />
der Opposition<br />
wohl Rede und Antwortstehen<br />
müssen. Ob er vom Coup der<br />
Schill-Getreuen in der Polizeiführung<br />
wusste oder nicht: Was<br />
den vergangenen Samstag angeht,haterbereitsPositionbezogen.<br />
Schuld seien die „kriminellen“Demonstrantengewesen.<br />
In dieses Bild passtauch, was<br />
einPressefotografaufderEisenbahnbrückemitbekam:<br />
Als ein<br />
Stück die Straße hinunter, vor<br />
der Roten Flora, bereits schwere<br />
Ausschreitungen tobten, habe<br />
ein Hamburger Einsatzleiter zu<br />
einem Offizier der Bundespolizei<br />
gesagt: „Es läuft alles nach<br />
Plan.“ Schlachten werden eben<br />
aufderStraßegeschlagen.
apple nord.thema<br />
www.taz-nord.de •anzeigen@taz-nord.de<br />
Verlagsseiten der taz.nord zum Thema<br />
KOSTPROBE Seite49-51<br />
SONNABEND/SONNTAG, 28./29. DEZEMBER 2013<br />
49<br />
Heißer Kaffee duldet keinen Verzug: eiliger Kellner im Restaurant Al-Mounia in Casablanca<br />
Foto: Eric Martin /LeFigaro Magazine/laif<br />
Kaffee auf Morgenländisch<br />
VON E. F. KAEDING<br />
Er istTeil einer großen Kultur.<br />
WieCocaColaindenUSAundTee<br />
in England istKaffee in arabischen<br />
Ländern eine Tradition<br />
mitlebhafterGeschichte.EinGetränk<br />
mitheiligen und heilenden<br />
Kräften: Ein Mufti soll sein<br />
geschwächtes Augenlichtdurch<br />
das Getränk wiedererlangt haben.<br />
Hirten schwärmten vonihren<br />
lebhaften Ziegen, die von<br />
Bäumen heruntergefallene Bohnenfrüchte<br />
fraßen. Sogar Sufi-<br />
Mönchewarenangetan.Tranken<br />
sie einen Schluck des dunklen<br />
Gebräus, schliefen sie beim<br />
nächtlichen Gottesdienstplötzlichnichtmehrein.<br />
EinemFremdenKaffeezuservieren,giltimOrientalsZeichen<br />
der Gastfreundschaft. „Qahwa“<br />
istein Dessertwie hierzulande<br />
Kuchen. Im Konstantinopel des<br />
16. Jahrhunderts wurdeder Kaffee<br />
gar justiziabel: Sollte der<br />
MannseinerEhefraukeinenKaffee<br />
anbieten, galt dies als Scheidungsgrund.<br />
Die Geschichten hinter dem<br />
Getränk veranschaulichen, warummanbeiderZubereitungdes<br />
Kaffees im Nahen Osten die Liebe<br />
zumDetail beibehalten hat.<br />
Andersalsderhiesigeundzuoft<br />
hektischverbrannteCoffeetogo<br />
versprichtder Qahwa viel mehr<br />
alseineschnelleEnergiewallung.<br />
ImGegenteil:ManmussZeitmitbringen.<br />
Der Geruch der arabischen<br />
Kaffeeversion allein reicht aus<br />
für eine sinnliche Entdeckungstour.Das<br />
liegt an dem Gewürz<br />
Kardamom,dasdemGetränkzugegeben<br />
wird. Das Gewürz<br />
kommtinSamen oder frisch als<br />
Blätter,diePulverversionisteher<br />
einewestlicheExportvariante.<br />
KardamomgehörtzurFamilie<br />
derIngwergewächseundgiltneben<br />
Safran und Vanilleals eines<br />
der teuersten Gewürze der Welt.<br />
Es sind die ätherischen Ölein<br />
den Samen, die Kardamom sein<br />
typisches Aromaverleihen. Ein<br />
feiner Duft mit subtiler Tiefe,<br />
mild würzig, nussig, mitunter<br />
leichtsüßundholzig.Einefeine<br />
Nase könnte einen Hauch FencheloderAnisvernehmen.<br />
WerQahwa selbstzubereiten<br />
will,benötigtZeitundAufmerk-<br />
samkeit.EsgibtkeinePlastikma-<br />
AUSZEITEineder<br />
wichtigstenSorten<br />
heißtzwarArabica–<br />
aufarabischeArt<br />
Kaffeezuzubereiten,<br />
istaberetwasganz<br />
anderes.DerPfiff<br />
dabeiistes,<br />
Kardamom<br />
zuzugeben<br />
schine,dievonalleinheißesWasseranschlürft,esüberKaffeepulververteiltund<br />
durch einen Filter<br />
tröpfeln lässt. Nebenbei weiterimBüroamComputerzu<br />
arbeiten,funktioniertnicht.<br />
Die Grundzutaten sind Kaffeebohnen<br />
und Kardamom-Samen.<br />
Für ein einfaches Portionieren<br />
sollte manbeide Zutaten<br />
unabhängig voneinander in einer<br />
Kaffeemühle mahlen. Danach<br />
wirdder sogenannte TanakaoderDallah(Kaffeekännchen)<br />
je nach gewünschter Menge mit<br />
WassergefülltundaufeineHerdplattegestellt.<br />
Kultur-Genuss, Genuss-Kultur: Geschichtenerzähler in einem damaszener<br />
Kaffeehaus –noch in friedlichen Zeiten Foto: dpa<br />
Jetzt das Wasser aufkochen,<br />
danach 30 Sekunden abkühlen<br />
lassen. Dann die Zutaten hinzugeben<br />
und umrühren. Pro250<br />
Milliliter Wasser ein halber EsslöffelKaffeepulvermachtschwachen,zweiEsslöffelmachenstarkenKaffee.Dazukommteinhalber<br />
bis ein Esslöffel Kardamom-<br />
Pulver.ManchekochendieZutatensogleichmitdemWasserauf,<br />
oderzunächstnurdasKaffeepulverund<br />
erstmit ein paar Minuten<br />
Verzögerung geben sie das<br />
Kardamomdazu.<br />
Wiebei vielen anderen DingenwirdkeinSchadenangerichtet,solltemandieseAbweichungen<br />
unter Geschmacksache verzeichnen.Einezumindestwestliche<br />
Kaffeeweisheit, das sei hier<br />
freilich erwähnt, reimt: „Boiled<br />
coffeeisspoiledcoffee“. Undimmerhin,<br />
auch bei der Zubereitung<br />
vonQahwa wirdzuweilen<br />
geraten: je langsamer das Erhitzen,<br />
desto besser werdeder Kaffeeschmecken.<br />
Einigkeit herrscht bei dem,<br />
wasfolgt:Dreimallässtmanden<br />
Trunk für jeweils mindestens<br />
zwei Minuten langsam köcheln.<br />
Immer wenn der Trunk aufschäumt,nehmen<br />
Sie das Kännchen<br />
kurz vomHerd. Schon entfaltetsichdermildwürzigeDuft<br />
inderKüche.Wichtig:nichtumrühren,<br />
da ansonsten der Satz<br />
aufgewühltwird.<br />
Getrunken wird der Kaffee,<br />
der durch das Kardamom eine<br />
gelbliche Farbe annimmt, aus<br />
kleinenEspresso-TassenundtraditionellohneMilchundZucker.<br />
Die Portionen sind sehr klein<br />
und überdecken nurden Boden<br />
der Tasse, da so das noch sehr<br />
heiße Getränk schneller auf<br />
Trinktemperaturabkühlt.<br />
Werdemnächstineinem orientalischen<br />
Restaurant speist,<br />
oder beim Araber eine Schawarmabestellt,darfnachfragenund<br />
statteines Ayrans als Nachtisch<br />
Qahwa wagen. Mitetwas Glück<br />
serviertderGahwaji(Kellner)dazu<br />
die klassisch korrespondierende<br />
süße Dattel. Sie soll die<br />
leicht bittere Geschmacksnote<br />
des Kaffees ausbalancieren. Der<br />
Mut wirdbelohnt werden. Denn<br />
werarabischen Kaffee probiert,<br />
darfbeides: aufwachen und abtauchen<br />
für einen kurzen MomentineineandereWelt.<br />
Der Weihnachtsapfel<br />
aus Dänemark<br />
OBSTDieSorteIngridMariegedeihtimAltenLand<br />
besondersgut.SieistandenFesttagenbeliebt<br />
Ein Apfel gehörtfür vieleMenschen<br />
zu Weihnachten aufden<br />
„BuntenTeller“wieMandarinen<br />
und Marzipan. Eine Altländer<br />
Sorte, die wegen ihrer kräftigsaftigen,<br />
erfrischenden Note an<br />
den Festtagen beliebt ist, heißt<br />
Ingrid-Marie. „Fein säuerlich bis<br />
mild schmecken diese Früchte,<br />
siesindnichtzugroßunddamit<br />
auch für Kinder gut geeignet“,<br />
sagt Obstbauer Hein Lühs aus<br />
Jork. Dabei hatIngrid Marie ihrenAufstiegzumWeihnachtsapfel<br />
einem Zufall zu verdanken,<br />
wieauchdieEntdeckungderSorteselbstvor100Jahrenehereine<br />
LaunedesAlltagswar.<br />
Es begann aufeinem Pausenhof<br />
der Berufsschulevon FlemloeseaufderdänischenInselFünen.<br />
Dortleuchteten im Herbst<br />
1912 rotbackige Äpfel einer bis<br />
dahin unbekannten Sorte an einem<br />
Baum. Der Lehrer meldete<br />
siederFachwelt.Erbenanntesie<br />
nach seiner schönen, früh gestorbenenTochter,IngridMarie.<br />
DieneueSortewurdedurchTriebe,<br />
die auf andere Bäume gepfropft<br />
wurden, vermehrt. Einige<br />
davonkamen im Kriegsjahr<br />
1940 ins Alte Land. Dorthaben<br />
Gartenbauexperten den Neuzuganghochgepäppeltundweitergezüchtet.<br />
Ingrid Marie wurdedie Sorte<br />
nach Maß für den Marschboden<br />
unddasmaritimgeprägteKlima<br />
an der Niederelbe, wie Matthias<br />
Görgens vom Obstbau-Beratungszentrum<br />
Jork sagt: „Es ist<br />
ein Apfel, der in die nordischen<br />
Länderpasst,inSüddeutschland<br />
gedeiht ernicht, noch weiter<br />
südlichgehtesüberhauptnicht.“<br />
Vorallem ältere Menschen und<br />
LiebhabertraditionellerObstsorten<br />
schätzten heutzutagediesen<br />
Apfel.<br />
Ingrid Marie wirdMitte September<br />
gepflückt, kommtaber<br />
erstimDezemberausden Kühlräumen,<br />
hatalso zu Weihnachten<br />
die volleGenussreife. „Wenn<br />
er richtig und exakt gelagert<br />
wird, dann istersoknackig und<br />
frisch, als wäre er gerade vom<br />
Baum gepflückt worden“, erläutertHeinLühs,der30Ingrid-Marie-Bäumegepflanzthat.<br />
Allerdings habe die wirtschaftliche<br />
Bedeutung dieser<br />
Sorte immer weiter abgenommen,<br />
meint Matthias Görgens.<br />
„Im Alten Land machtsie nur<br />
noch ein Prozentder Anbauflächeaus,aufderrund4.000TonnenÄpfelgeerntetwerden“,<br />
sagt<br />
derObstbau-Berater.<br />
BisindenFebruarhineinwerden<br />
die Äpfel der Sorte Ingrid<br />
Marie verkauft, die zur Cox-<br />
Gruppegehören.CoxOrangegilt<br />
als besonders würzig und ist<br />
auchinderweihnachtlichenKüche,<br />
etwaals Zugabe zumRotkohl,<br />
gefragt. Als Bratapfel empfiehltObstbäuerinBeateLühsbesonders<br />
den „Roten Boskoop“<br />
mit seiner herzhaft-fruchtigen<br />
Note. (dpa)<br />
........................................................................................................................................................................................................<br />
........................................................................................................................................................................................................<br />
Kardamom<br />
Es gibtschwarzes und grünes.<br />
■ Fürden arabischen Kaffee<br />
nimmtmandasgrüneKardamom.<br />
Dieses wirdauch fürindische Gewürzmischungen<br />
(Masalas) verwendetsowie<br />
fürChai-Teeund<br />
Süßspeisen.<br />
■ In Deutschland findetsich Kardamom<br />
vorallem zumVerfeinern<br />
vonLebkuchen, Spekulatius oder<br />
Glühwein.<br />
■ Kaffee mit Kardamom zu kaufen:online<br />
bei alibaba-shop.de<br />
oder my-arab.de,450 Gramm kosten<br />
9,95 Euro.
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VON DARIJANA HAHN<br />
Schon vonWeitem istder markante,rauchendeSchornsteinim<br />
Eidelstedter Industriegebiet<br />
Binsbarg zu sehen. Wersich der<br />
FischräuchereiStöckeninderOttenser<br />
Straße 86 nähert, kann<br />
schließlich den Rauch vonverbranntemHolzdeutlichriechen.<br />
Und werindie Räucherei tritt,<br />
dersieht,dassderRauchbeiWeitemnichtnurdurchdenSchornstein<br />
entweicht. Vielmehr<br />
scheinterdurch alleRitzen der<br />
Öfenzutreten.DieÖfengehören<br />
zu der aussterbenden Gattung<br />
der Altonaer Öfen, die vormehr<br />
als hundertJahren in Altona erfunden<br />
wurden, einer einstigen<br />
HochburgderFischräucherei.<br />
Wasdie Öfen vonihren modernen<br />
Nachfolgern unterscheidet,<br />
istdie Tatsache, dass in ihnen<br />
über offenem Feuer geräuchertwird.Entsprechendhäufig<br />
legt Wolfgang Lamken in der<br />
Räucherei Stöcken neues Holz<br />
nach.BeimFeuernmussLamken<br />
Fingerspitzengefühl beweisen.<br />
„Die Flammen dürfen nie zu<br />
hochschlagen“, sagtder62-Jährige,<br />
der vonseinem Schulfreund<br />
und Chef Hartwig Stöcken vor<br />
Jahrzehnten in die Kunst des<br />
Räucherns eingeführt wurde.<br />
„Wenn die Flammen zu hoch<br />
sind“, erklärt Lamken, „dann<br />
platzendieFischeauf.“<br />
Bevorerweiterspricht, öffnet<br />
ereineEisentürundgießtWasser<br />
Ungemein lecker,aber<br />
ökologisch bedenklich<br />
KONSERVIERUNGInEidelstedtwerdenAal,HeilbuttundForellewie<br />
vorhundertJahrenüberoffenemFeuergeräuchert.Solange<br />
derMeisterweitermacht,genießtderBetriebBestandsschutz<br />
Wolfgang Lamken feuert nach: In zweieinhalb Stunden werden die Aale butterweich<br />
Foto: Darijana Hahn<br />
in das Feuer, dass es nur so<br />
dampftundzischt.„WenndieFische<br />
aufplatzen“, fährtLamken<br />
mitseiner Erklärung fort,„dann<br />
sagenwir,dasswir,Püschen‘gemacht<br />
haben.“ Und diese „Püschen“<br />
lassen sich dann nicht<br />
mehralsvollwertigverkaufen.<br />
Deswegen braucht der Räucherer,wie<br />
dies Oskar Stöcken<br />
ausdrückt, „Umsichtigkeit, Ruhe<br />
und Geduld“. Mehr noch, es sei<br />
wie eine Philosophie, und der<br />
Räucherer müsse „eins sein mit<br />
seinem Ofen“. Auch wenn dies<br />
für Lamken etwas hochtrabend<br />
klingt,hälterseineHandwiezur<br />
DemonstrationandenOfen,um<br />
dieTemperaturzufühlen.<br />
Bei einem Räuchervorgang,<br />
derzweieinhalbStundendauert,<br />
werden bis zu zehn KiloHolz–<br />
Buche, Erle oder Esche –verbrannt,umdieRäuchertemperaturvon<br />
80 Grad zu halten. Immer<br />
wieder prüft Lamken auch<br />
den Zustand der Fische. In dem<br />
einen Ofen hängen 86 Aaleund<br />
in dem anderen eine Mischung<br />
aus Heilbutt, Forelle, Makrele<br />
und Schillerlocken. „Am empfindlichsten<br />
istder Fisch, wenn<br />
er dreiviertel garist“, sagt Lamken,<br />
während er vorsichtig an<br />
den Aalen drückt. „Dann istder<br />
Garvorgangbeendet,dannsoller<br />
nurnochetwasFarbekriegen.“<br />
GoldgelbsollderFischamEnde<br />
sein und vor allen Dingen<br />
weich.„DerKundedarfnichtdas<br />
Gefühl haben, dass er in einen<br />
Apfel beißt“,sagtder Fachmann<br />
undsinniertdarüber,dassheutzutage<br />
garnichtmehr so viele<br />
Kunden überhaupt Aal kaufen.<br />
Wie allgemein die Nachfrage<br />
nach Räucherfisch stark abgenommenhat.<br />
„Ich hab Kubikmeter geräuchert“,<br />
erzählt der wortkarge<br />
Hartwig Stöcken, der in den<br />
60er-Jahren in der Fischräucherei<br />
in der Großen Freiheitnoch<br />
eine Lehre zumFischwerker gemachthat.Zusammen<br />
mitseinemBruderOskarbetreibterdie<br />
Räucherei mitsamtFrischfischgeschäft,dasdiebeidenvonden<br />
Elternübernommenhaben.Was<br />
Stöcken heutzutageanRäucherfisch<br />
anbietet, sei im Gegensatz<br />
zufrühergeradezu„lächerlich“.<br />
WennsichHartwigStöckeneines<br />
Tages entschließen sollte,<br />
mitdem Räuchern aufzuhören,<br />
dannwürdedasauchdasAusfür<br />
dieletztengewerblichgenutzten<br />
AltonaerÖfenbedeuten,dadiese<br />
lautAngabendesBundesverbandesfürFischindustrieundFischgroßhandelausGründendesImmissionsschutzesnichtmehrzugelassenwerdendürfen.Undohne<br />
Altonaer Ofen auch keinen<br />
manuellgeräuchertenFisch,dessen<br />
Geschmack die Slow-Food-<br />
Bewegung in Hamburg als „unvergleichlich“bezeichnet.<br />
Wilhelm Stöcken Fischräucherei,<br />
Ottensener Straße 86, 22525 Hamburg-Eidelstedt,<br />
☎ 040/541125<br />
Anuschka, Bonanza, Goldmarie,<br />
Juwel, Lambada, Pomqueen –<br />
hinter diesen wohlklingenden<br />
NamenverbergensichKartoffelsorten.InDeutschlandsindrund<br />
210 Sorten für den Anbauzugelassen.<br />
Die meisten bekommt<br />
der Verbraucher nie zu sehen –<br />
ein Großteil wirdfür die Industrieangebaut,dieKartoffelstärke<br />
für die Herstellung vonPapier,<br />
Waschpulver, Tabletten oder<br />
Zahnpastaverarbeitet.<br />
Doch auch bei den zumVerzehr<br />
geeigneten Kartoffeln gelangt<br />
jede fünfte nicht inden<br />
Handel –weil ihr Aussehen mit<br />
kleinen schwarzen Flecken oder<br />
merkwürdigen Formen nicht<br />
den Erwartungen entspricht.<br />
Diese geschmacklich meisteinwandfreien<br />
Speisekartoffeln<br />
werdendannverfüttertoderlanden<br />
in Biogasanlagen. Das betrifft<br />
sowohl die konventionell<br />
unterBeigabevonPestizidenals<br />
auchdieimökologischenAnbau<br />
erzeugtenKartoffeln.<br />
„Wir verkaufen unsere Bio-<br />
Kartoffeln auch direkt aufdem<br />
HofunddafindenvieleKunden<br />
besondereKartoffelnwiewelche<br />
in Herzform interessant und<br />
nehmensiegernemit.DerHandel<br />
kauft sie uns aber nichtab“,<br />
Auch Bio-Kartoffeln können<br />
nichtschön genug sein<br />
KONSUMSTANDARDZuklein,zugroß,zuunförmig:JedefünfteSpeisekartoffel<br />
landetnichtaufdemTeller,sondernimSautrogoderineinerBiogas-<br />
Anlage.DasgiltauchfürWareausökologischemAnbau.Absatzgesunken<br />
klagt der LandwirtReiner Bohnhorst<br />
aus Natendorf. Er diskutierte<br />
kürzlich aufeiner Tagung<br />
des Kompetenzzentrums ÖkolandbauNiedersachsen<br />
in Uelzen<br />
mit Fachleuten über das<br />
Marktpotenzial der Bio-Kartoffeln.<br />
„Supermarktkunden sind anders,<br />
auch wenn sie Bio-Ware<br />
kaufen“, entgegnetJohannesvon<br />
Eerde, der für den Gemüseeinkauf<br />
der bundesweit rund 3.300<br />
Rewe-Märkte verantwortlich ist.<br />
„Wenn die Optik nichtstimmt,<br />
bleibtdieWareliegen.“<br />
Der Konkurrent Edeka verkauftin20LädenKartoffelnund<br />
ObstmitkleinenoptischenMängelnzueinemgünstigerenPreis,<br />
um zu testen, ob der Kunde sol-<br />
cheProdukteakzeptiert.„DasInteresse<br />
der Medien an diesem<br />
Themaist bisher leider größer<br />
alsdasderVerbraucher“,sagtAnja<br />
Vollgrebe, Leiterin des Qualitätsmanagements<br />
bei Edeka<br />
NordinNeumünster.<br />
„WirsortierenkleineundgroßeKartoffelnnichtaus,sondern<br />
verkaufen sie zum normalen<br />
Preis“,berichtet Martin Kintrup,<br />
der den Einkauffür Super-Bio-<br />
Markt ausMünster leitet –eine<br />
Kette mit20Biomärkten, unter<br />
anderem in Osnabrück und Oldenburg.<br />
Doch Kintrup weiß<br />
auch, dass vieleseiner Kunden<br />
ihreKaufentscheidungvomAussehen<br />
abhängig machen. Hinzu<br />
kommt:VieleBio-Landwirteverkaufen<br />
ihre Kartoffeln an Ab-<br />
packbetriebe,dieeinestandardi-<br />
sierteWarefavorisieren,umkei-<br />
ne Probleme mitihren Abnehmernzubekommen.<br />
Der Handel bevorzugt gewaschene<br />
Kartoffeln, obwohldiese<br />
nichtsolange haltbar sind und<br />
eher grün werden. „MitKartoffeltüten,ausdenendieErderausrieselt,<br />
hatman keine Chance“,<br />
sagt Matthias Brommer, Leiter<br />
des Qualitätsmanagements für<br />
ObstundGemüsebeiderSupermarktkette<br />
Tegut, zu der 285 Läden<br />
unter anderem in Niedersachsen<br />
gehören. VieleKunden<br />
wollten gewaschene Ware. Die<br />
Supermarktkette hataber auch<br />
Kartoffeln im Sortiment, die<br />
bloß gebürstet sind und daher<br />
längerhalten.<br />
Die Erzeuger verkaufen ihre<br />
Kartoffeln gerne an Verarbeitungsbetriebe,<br />
weil sie so mehr<br />
vonihrerB-Wareloswerdenkönnen.DiesewirdzuBio-Kartoffelchips,<br />
-Gnocchi, -Pommes oder -<br />
Püree–wasallerdingsmeistnur<br />
in Bioläden und nichtimkonventionellen<br />
Lebensmittelhandelzuhabenist.<br />
Trotzdem sind für die Bio-<br />
Landwirte die Discounter am<br />
wichtigsten. Sie verkaufen die<br />
meistenBio-Kartoffeln.„WirstellenRöstiundPufferauchinBioqualitäther,denn<br />
werwie wir<br />
Premiummarken produziert,<br />
muss auch Bio können“, sagt<br />
BerndPfeiffenbergervonSchnefrostaus<br />
Löningen, einem Hersteller<br />
von tiefgefrorenen Kartoffelprodukten.<br />
Nach Meinung von Claudia<br />
Jones, Professorin für LebensmittelchemieanderHochschule<br />
Ostwestfalen-Lippe in Detmold,<br />
hatdie unverarbeitete Kartoffel<br />
generell einen schweren Stand.<br />
„Kartoffelnmüssengeschältund<br />
gekochtwerden, das kostet Zeit,<br />
die sich viele Menschen nicht<br />
mehrnehmen“,sagtsie.„Jüngere<br />
Leute wollen To-go-Produkte,<br />
daraufmüssensichauchKartoffelanbieter<br />
einstellen.“ Sie präsentierte<br />
in Uelzen selbstentwickelteKartoffelmuffins.<br />
Schon heute werden in<br />
Deutschland mehr verarbeitete<br />
als frische Kartoffeln gegessen.<br />
Der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch<br />
betrug 1990 in Westdeutschland72,6KiloundimOsten<br />
154,6 Kilo. Heute liegt er unter60Kilo.<br />
Carsten Niemann, GeschäftsführerderEZZBioKartoffelNord<br />
ausLüchow,fordertvomHandel<br />
bessere Bedingungen. Dann<br />
könnteauchdieAnbauflächefür<br />
Bio-Kartoffeln in Deutschland<br />
steigen.DiestagniertseitJahren,<br />
sodass zu bestimmten Zeiten<br />
Bio-Kartoffeln ausÄgypten und<br />
Israeleingeführtwerden,umdie<br />
Nachfragezudecken.<br />
Stärker als bisher müsse die<br />
Qualitätvon Bio-Kartoffeln betont<br />
werden, um den Absatz zu<br />
steigern. Beim konventionellen<br />
AnbauwürdendieKartoffelnim<br />
LagerbegastundInsektizideeingesetzt,<br />
wasAuswirkungen auf<br />
das Grundwasser habe. „Der<br />
Handel präsentiertBio-Ware als<br />
reineMarke,esmussaberwieder<br />
mehr um Inhalte gehen“, findet<br />
Niemann. JOACHIM GÖRES
nord |KOSTPROBE<br />
hamburg040|389017452•bremen0421|96026442<br />
SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE 51<br />
HEISS &FETTIG<br />
Die mangelhafte Kennzeichnung<br />
vonfrischen Gänsen auf<br />
Wochenmärkten hat die Verbraucherzentrale<br />
Niedersachsengerügt.BeieinerStichprobe<br />
waren an keinem einzigen<br />
MarktstandsämtlichePflichtangaben<br />
vollständig und richtig.<br />
DazugehörendieHandelsklasse<br />
und die Lagertemperatur. Nicht<br />
zulässig seien Bezeichnungen<br />
wie „Weidegans“ oder „freilaufende<br />
Gänse“. Hier gelten ausschließlich<br />
Bezeichnungen wie<br />
„Freilandhaltung“oder„bäuerlicheFreilandhaltung“.(taz)<br />
Geldsegen für Niedersachsens<br />
Landwirte: Rund 850 Millionen<br />
Euro sogenannte Betriebsprämien<br />
sind zumJahresende<br />
aufdie Konten von48.500 Antragstellern<br />
überwiesen worden.„DieseEU-Direktzahlungen<br />
für landwirtschaftliche Flächen<br />
bedeuten Planungssicherheit“,<br />
sagte Agrarminister Christian<br />
Meyer (Grüne). Diese EU-Subventionwirdden<br />
Bauern unabhängig<br />
vonihrer jeweiligen ErzeugunggewährtundistseitJahreneinZankapfel.(dpa)<br />
Mal sehen, ob das Werk gelungen ist: Thomas Kunst zapft einen „Zwickel“ –das junge Bier –vom Pale Ale<br />
Foto: Thomas Joerdens<br />
Der Hopfen will gut gewählt sein<br />
VON THOMAS JOERDENS<br />
Wirstehen im Gang eines stahlgrauen,<br />
weitverzweigten Rohrsystems.<br />
Thomas Kunstschaut<br />
suchend,findetschnellundhält<br />
ein Glas unter einen Hahn, dessen<br />
Ventil er behutsam öffnet.<br />
NachvielSchaumfließtsonnengelbes,naturtrübesPaleAle.Der<br />
Kenner riechtausgiebig, nimmt<br />
einenkleinenSchluckundkommentiert<br />
zufrieden: „Ah, tolles<br />
Aroma.“<br />
BisdasBierallerdingsperfekt<br />
ist, muss es noch einige Zeitin<br />
dem Tank lagern, ausdem sich<br />
derBraumeistergeradedassogenannte<br />
Zwickelbier abgezapft<br />
hat–sowerden junge Biere genannt.<br />
Thomas Kunstreichtdas<br />
Glas weiter.Das Bier schmeckt<br />
hopfig, kräftig und zugleich<br />
fruchtig; im Abgang bitter,aber<br />
nicht unangenehm. Kein Vergleich<br />
mitden üblichen Supermarktbieren.<br />
Der Brauer strahlt<br />
und weiß, dass er gerade alles<br />
richtigmacht.<br />
Dieses Gefühl spürtder 48-<br />
jährige Bremer seitvier Jahren.<br />
DamalsheuerteerbeiderHamburger<br />
Ratsherrn-Brauerei an.<br />
Diese hatte der Stralsunder Getränkegroßhändler<br />
„Nordmann<br />
Unternehmensgruppe“ wiederbelebt,nachdemdie1951gegründeteBierfabrikvor13Jahrenvon<br />
der Bildfläche verschwunden<br />
war. Als Standortguckten sich<br />
die Investoren denkmalgeschützte<br />
Viehhallen eines alten<br />
Schlachthofs ausimSchanzenviertel<br />
auf St. Pauli. Thomas<br />
Kunst,gelernterBrauerundMälzer<br />
sowie Diplom-Braumeister,<br />
solltedieAnlageplanen,einneues<br />
Pils entwickeln und „Ratsherrn“-Bierzudemmachen,das<br />
es Ende der 1970er-Jahre einmal<br />
gewesen ist: das meistverkaufte<br />
Premium-PilsderHansestadt.<br />
Abereskamnochbesser.„Wir<br />
dachten anfangs, wir setzen uns<br />
über Qualität durch, merkten<br />
aber schnell, dass das nichts<br />
wird. Denn Pils istnach wie vor<br />
diebeliebtesteBiersorte,unddie<br />
bieteneinfachallean“,sagtThomasKunst.<br />
So entstand die Idee,<br />
auch auf geschmackliche AbwechslungzusetzenundTeilder<br />
internationalen Craft-Beer-Bewegungzuwerden.<br />
Aus hochwertigen Zutaten<br />
sollten mehrere spezielle Biersorten<br />
entstehen –also das Ge-<br />
BIEREinekleine<br />
BrauereiaufSt.Pauli<br />
nimmtsichein<br />
bisschenmehrZeit<br />
fürsBrauenund<br />
bietetbesondere<br />
SortenwiePaleAle<br />
an.DasKonzept<br />
scheintaufzugehen.<br />
DerBraumeisterhat<br />
früherbeiBeck’s<br />
getüfteltundfreut<br />
sich,dassersich<br />
auslebendarf<br />
genteilderindustriellgebrauten<br />
Einheitsbiere für den Massenmarkt.<br />
„Craft“ istdas englische<br />
Wort für Handwerk, und BrauhandwerksolltebeiRatsherrnim<br />
Vordergrund stehen. DamiterfülltesichfürThomasKunstein<br />
Brauertraum,dennerdarfseine<br />
Lieblingsbiere herstellen. „Natürlich<br />
habe ich früher maldarangedacht,aberesfehltedieGelegenheit“,sagtderzweifacheVater<br />
und grauhaarige Plauzenträger,der<br />
es in Sachen Genuss offenbar<br />
üppig und gehaltvoll<br />
mag.<br />
ThomasKunsthatseinHandwerk<br />
bei der Bremer Brauerei<br />
Beck’sgelerntundetwa20Jahre<br />
amRufdesBeck’s-Biersmitgearbeitet.Die90er-Jahre,alsolange<br />
vorder Übernahme durch den<br />
Anheuser-Busch-In-Bev-Konzern,<br />
nenntThomas Kunstsein<br />
„goldenes Zeitalter“ bei der Traditionsbrauerei<br />
an der Weser.<br />
Der Vertreter des Ersten BraumeistersundseineKollegenhätten<br />
vieles ausprobiertund sich<br />
mit Wissenschaftlern ausgetauscht.<br />
„Wir waren technologisch<br />
führend auf dem deutschen<br />
Markt“, erinnert sich<br />
Kunst, der zumSchluss zuständig<br />
warfür die Qualitätssicherung<br />
der deutschen Anheuser-<br />
Busch-In-Bev-Standorte.<br />
Bei Ratsherrn lebt Thomas<br />
KunstseinQualitätsbewusstsein<br />
und seine Freude an unter-<br />
Bitterhopfensorten sorgen<br />
fürdenbitterenGeschmack,und<br />
Aromasorten geben dem Getränk<br />
floraleoder fruchtige Aromen.FürLaiensindsolcheNoten<br />
kaumzuerkennen,dochsiecharakterisieren<br />
das jeweilige Bier.<br />
Großbrauereien benutzen oft<br />
nur Hopfenextrakt. Thomas<br />
Kunstmischtaus den über 100<br />
existierenden Hopfensorten jeweilsvierbissechsinseineBiere.<br />
Seine aktuellen Lieblinge sind<br />
Simcoe ausden USAmit einem<br />
waldigen, fruchtigen Südfrüchte-Aromaund<br />
der deutsche Saphir-Hopfen.<br />
Dieser sei reich an<br />
ZitrusaromenundanderenHopfenölenundprägtnebenvieranderen<br />
Sorten das Pale Alevon<br />
ThomasKunst.<br />
Außer den Zutaten sei ein<br />
maßgebenderFaktordieZeit,die<br />
der Brauer seinem Bier gibt.<br />
Nach dem Sud, der etwasechseinhalbStunden<br />
dauert, lassen<br />
Thomas Kunst und seine vier<br />
Brauerkollegen das Bier in der<br />
Regel eine Woche bei niedrigen<br />
Temperaturen gären. Anschließend<br />
reift das Getränk in dem<br />
Rohr- und Tanklabyrinth noch<br />
einmalzweibisdreiWochenbei<br />
fast minus zwei Grad Celsius.<br />
„DanachhabensichalleAromen<br />
entfaltet und die Biere runden<br />
sichab“, sagtThomasKunst.Bier<br />
brauengehtauchinnerhalbvon<br />
Die Käsesorte Holsteiner Tilsiter<br />
darfkünftig nurnoch aus<br />
Schleswig-Holstein kommen.<br />
DieEU-KommissionhatdasProdukt<br />
mit dem Gütesiegel geschützte<br />
geografische Angabe<br />
(g.g.A) gekennzeichnet. DemnachdarfsicheinKäseerstdann<br />
Holsteiner Tilsiter nennen,<br />
wenn er in Schleswig-Holstein<br />
hergestelltund gereift ist. Die<br />
Milch muss aber nicht unbedingtausdemBundeslandkommen.<br />
Der Käse verdankeseinen<br />
würzigen Charakter Bakterienkulturen,<br />
die „nur im Klimaraum<br />
zwischen Nord-und Ostseeentstehenkönnen“,<br />
erläutertedieKommission.(dpa)<br />
Frei vongentechnisch veränderten<br />
Bestandteilen sind Kartoffeln,<br />
Senf-, Ölrettich-, Ölleinund<br />
Rübsensaatgut inSchleswig-Holstein.<br />
Damiterfülltdas<br />
Land die Vorgaben der EU.Für<br />
Saatgutgelte die Nulltoleranz,<br />
teiltedasLandwirtschaftsministeriuminKielmit.AufgentechnischeVerunreinigungenuntersuchtwurden<br />
Kartoffelpartien<br />
auf fünfzehn Flächen. Ferner<br />
wurden von sieben Ölrettich-,<br />
dreiSenf-,einerÖllein-sowieeinerRübsensaatgutpartieProben<br />
entnommen.(epd)<br />
........................................................................................................................................................................................................<br />
sieben Tagen. Aber entsprechendödeschmeckees.<br />
........................................................................................................................................................................................................<br />
CraftBeer<br />
■ Die Macher der Craft-Beer-Bewegung<br />
stemmen sich gegen den<br />
ZwergunterRiesen<br />
Trend, dassinternationale Großbrauereien<br />
weltweit die kleineren<br />
Konkurrenten schlucken und industriell<br />
möglichstgünstig Massenwareproduzieren,<br />
die zwangsläufig<br />
nuancenarm schmeckt.<br />
■ Craft istdas englische Wort für<br />
Handwerk. Die Brauer haben es<br />
sich zumVorbild genommen und<br />
experimentieren mit ihren Vorlieben,<br />
Erfahrungen und Ideen.<br />
■ ZumBrauen werden verschiedene<br />
Malzmischungen genutzt. schiedlichen Geschmäckern<br />
Das Bier gärtbei niedrigeren Temperaturen<br />
und lagertlänger.Anstatt<br />
mit Hopfenextrakt zu arbeiten,<br />
verwenden die Craft-Brauer<br />
teilweisemehr als ein halbes Dutzend<br />
Hopfen füreine Sorte.<br />
■ Die Bewegung entstand Mitte<br />
der 1970er-Jahreinden USA und<br />
schwappte über Belgien und Skandinavien<br />
zu uns.<br />
■ Neben der Ratsherrn-Brauerei<br />
eröffnete in Hamburg2012auch<br />
noch intensiveraus. Und er erzählt,wiemanausHopfen,Malz,<br />
WasserundHefeBierebraut,die<br />
sichjenseitsderfadenSortenbewegen,die„zurBallerbrauseverkommen<br />
sind“. Im gläsernen<br />
Sudhausdoziertder gemütliche<br />
Vielredner über unterschiedliche<br />
Malz- sowie Hopfensorten<br />
und zupft Dolden auseinander,<br />
um sie dem Besucher unter die<br />
Nasezuhalten.<br />
die„KreativbrauereiKehrwieder“,<br />
derenMitgründerOliverWesseloh<br />
dieses Jahr Weltmeister der Biersommeliers<br />
wurde. JOE<br />
„Bierkannsounheimlichvielfältigsein“,<br />
schwärmtderChefbrauer.BeiRatsherrnsindseitderEröffnung<br />
im März 2012 achtBiersorten<br />
gebrautworden. Drei habenesindie0,33er-Flaschengeschafft<br />
und werden im norddeutschenRaumverkauft.<br />
Neben dem klassischen Pils,<br />
einem stärkeren Rotbier und einem<br />
noch stärkeren Pale Ale<br />
zapft die Ratsherrn-Crew im<br />
GasthausderBrauereiauchZwickel,<br />
Weißbier und Saisonbiere<br />
wie Iggy Hop, Springbock und<br />
SummerAle.Alsnächstessollein<br />
dunkles,kräftigesWinterbierdas<br />
Sortiment erweitern mit einer<br />
Gewürzmischung aus Nelken,<br />
Zimt, Anis, Orange und Karamell.<br />
Und fürs Frühjahr sei Bier<br />
Nummerzehngeplant.<br />
KunstistmitderEntwicklung<br />
der Ratsherrn-Brauerei zufrieden.<br />
Im vergangenen Jahr habe<br />
man10.000 Hektoliter gebraut<br />
und 2013 werden es wohl über<br />
16.000Hektoliter.ImdrittenGeschäftsjahr<br />
hofft Thomas Kunst<br />
aufeinen Absatz vonmehr als<br />
20.000Hektoliter.Damitistdas<br />
HamburgerUnternehmeninder<br />
Brauerei-Szene ein Zwerg und<br />
wirdesauch bleiben. Als jährliche<br />
Gesamtproduktion sind<br />
höchstens 50.000 Hektoliter<br />
drin. Die führende deutsche<br />
Brauerei Radeberger braute 2011<br />
überzwölfMillionenHektoliter.<br />
Je billiger die Milch, desto mehr fehlt der Kuh.<br />
Für ein besseres Leben.<br />
Für Mensch und Tier.<br />
www.provieh.de
52 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE LESERINNEN •WIESE | nord<br />
taz.nord|Harkortstraße81 |22765Hamburg|briefe@taz-nord.de|www.taz.de<br />
DieRedaktionbehältsichAbdruckundKürzenvonLeserInnenbriefenvor.<br />
DieveröffentlichtenBriefegebennichtunbedingtdieMeinungdertazwieder.<br />
Wunderbar formuliert<br />
■ betr.: „Wir bilden dörfliche Gemeinschaften“,<br />
taz.nord vom<br />
21. /22.12. 2013<br />
ZumindestinBerlin<br />
„EsisteinTrend,dassinnerhalb<br />
derStadtimmermehrdörfliche<br />
Gemeinschaftengebildetwerden.DassindWertegemeinschaften,dawiraufgrundderge-<br />
sellschaftlichenVielfaltjaalle<br />
überfordertsind.Daswirdmeist<br />
wenigthematisiert,weilwiruns<br />
fürsehrtoleranthalten.“<br />
Wunderbarformuliert!Entsprichtjanungarnichtweder<br />
demBildungsbürger-nochdem<br />
Hipster-Selbstbild.<br />
VEREINSMEIER,taz.de<br />
■ betr.: „Wir bilden dörfliche Gemeinschaften“, taz.nord vom<br />
21. /22.12. 2013<br />
ZumindestinBerlineinMotiv,nichtnachOsten,dieAußenbezirke<br />
oderdasUmlandzuziehen. RELATIVNAZIFREILEBEN,taz.de<br />
Mit dem (Zweit-?)SUV<br />
■ betr.: „Wir bilden dörfliche Gemeinschaften“,<br />
taz.nord vom<br />
21. /22.12. 2013<br />
„WennichimUmlandwohne,<br />
braucheichzweiAutos.DieFrau<br />
istMutterundfährtdieKinder<br />
durchdieGegend …“<br />
HatersichinOttensenumgesehen?Dortsitzensie–diehauptberuflichenMütter,mitdem<br />
1.000-Euro-Kinderwagenin/vor<br />
denCafés,währendihrePutzfraudie180-Quadratmeter-EigentumswohnunginSchuss<br />
hält.NachdemLunchwirddann<br />
dasältereKindmitdem(Zweit-<br />
?)SUVausderRudolf-Steiner-<br />
SchuleoderdemGymnasium<br />
Hochradabgeholt.<br />
„BerlinistwasanderesalsMünster,ohneMünsterjetztzunahetretenzuwollen.OrtewieBerlin<br />
habeneinehöhereFreizeitmöglichkeit.“<br />
Wasbitteschönisteinehöhere<br />
Freizeitmöglichkeit?Kino?Theater?Disco?Restaurant?Alles<br />
daswirdMünsterauchhaben–<br />
aberausMünsterkommt<br />
menschmitdemFahrrad<br />
schnellerausderStadtalsinBerlin!Tatsache!AlsoisteinehöhereFreizeitmöglichkeit(einziemlichblödesWort)relativ!<br />
ROSSIGNOL,taz.de<br />
appleThema der Woche<br />
Nix wie hin!<br />
Da wollen viele hin: Hamburg-Ottensen, das Viertel der aufstrebenden<br />
Kreativen Foto: dpa<br />
Im zweiten Teil unseres Schwerpunkts über Ab- und Zuwandern beschäftigtenwir<br />
uns mit den Preisen im Hamburger In-ViertelOttensen –und der<br />
Sehnsuchtnach „dörflichen Gemeinschaften“,die uns dazubringt,homogene<br />
Milieus zu bilden.<br />
Gut beobachtet<br />
■ betr.: „Wir bilden dörfliche Gemeinschaften“, taz.nord vom<br />
21. /22.12. 2013<br />
@Rossignol:Gutbeobachtetundtreffend,dieLunch-SzeneinOttensen.<br />
Tzztzz,undimmerdasGerödelmitdensperrigenPanamerasinden<br />
engenWohnstraßen.<br />
UNDWIEDUWIEDERPARKST! DAILYFLIRRER,taz.de<br />
Das hat Berlin<br />
■ betr.: „Wir bilden dörfliche Gemeinschaften“, taz.nord vom<br />
21. /22.12. 2013<br />
@RossignolDashatBerlinanFreizeitmöglichkeiten,wasMünster<br />
nichthat:<br />
–SogutwiejedenTagDemoszuunterschiedlichstenThemen<br />
–HundertebistausendeGalerien<br />
–VieleClubs<br />
–HunderteInternetcafés<br />
–Bestimmtüberhundert(private)Bordelle<br />
–TausendeGastronomien,SpätkaufsmitÖffnungszeitenteilweise<br />
rundumdieUhr<br />
–UnzählbarvieleDenkmäler,Museen,einigeSehenswürdigkeiten<br />
–KulturelleGroßereignissewiedenKarnevalderKulturen,Fanmeilen,ChristopherStreetDayundandere<br />
–Schätzungsweise60Weihnachtsmärkte<br />
–VieleSchwimmbäder,Seen,mehrereFlüsse<br />
–UnzähligeStraßenfestewiedasjährlichegemeinsameSpaghetti-<br />
EssenvonAnwohnerInnenmittenaufderBergmannstraßeinFriedrichshain-Kreuzberg<br />
–SchrecklicheGeschichtezumDrüberlaufenoderAnfassen:GoldeneSteineimStadtpflaster,dieanimNationalsozialismusDeportierteerinnern,demnächstdaswiederaufgebauteBerlinerSchloss<br />
–EinfinanziellgutaufgestelltesBibliothekensystem<br />
–Einguterschlossene,wennauchfüreinenTeilderBevölkerung<br />
teuere,NahverkehrsstrukturmitTrams,Bussen,U-Bahnen,S-BahnenundFähren<br />
–ZahlreicheParksundöffentlichzugänglicheSportplätze<br />
–dreiOpern<br />
–UnzähligeVereineundInitiativen BERLINERIN,taz.de<br />
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Fax 0421 960 26 60 | kleinanzeigen@taz-bremen.de<br />
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