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Aufreger

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taz.amwochenende–gehtschonmalvor<br />

In dieser Ausgabe Hoeneß Münchner Stammtische bereiten sich auf den Prozess<br />

gegen den „Hundling“ vor Klitschko Wie „Doktor Eisenfaust“ als Volkstribun weiterkämpft<br />

Grütters Warum Sie von der Kulturstaatsministerin noch hören werden<br />

AUSGABEBERLIN |NR. 10296 |52.WOCHE |35.JAHRGANG |€3,50AUSLAND |<br />

€3,20DEUTSCHLAND | SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013<br />

<strong>Aufreger</strong><br />

Waswerdenwirtrinken?<br />

Worüberwerdenwirreden?<br />

Wenwerdenwirlieben?<br />

Wenwerdenwirhassen?<br />

Wiewerdenwirreisen?Eine<br />

Achterbahnfahrtdurchdas<br />

nächsteJahr<br />

Freiheit statt NSA<br />

ImUntergrund<br />

desInternets<br />

Im Darknet werden Drogen<br />

und Waffen gehandelt.<br />

Der finstere Ort<br />

macht trotzdem Hoffnung<br />

➤ SEITE 20, 21, 22<br />

Ikea Der<br />

Frühjahrskatalog schlägt<br />

vor, wie wir unser Leben<br />

einrichten sollten ➤ SEITE 6<br />

Mediterran Einst war<br />

das Mittelmeer das<br />

politische Zentrum<br />

Europas.Und das sollte<br />

es wieder werden ➤ SEITE 7<br />

Krise Die Bankenrettung<br />

zeigt, dass Moral nicht<br />

alles ist ➤ SEITE 10<br />

b apple taz.berlin<br />

Geschafft 2014 erinnern<br />

wir uns zum vorläufig<br />

letzten Mal an den<br />

Mauerfall ➤ SEITE 41, 44, 45<br />

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MERKUR<br />

DEUTSCHE ZEITSCHRIFT<br />

FÜR EUROPÄISCHESDENKEN<br />

Wir?<br />

Collage: taz, Fotos: Siepmann/Alimdi, dpa (3), Wolfgang Borrs, Getty (2); Matthias Schrader/ap (oben)<br />

4190254 803208<br />

60652<br />

TAZ<br />

MUSS<br />

SEIN<br />

Dietageszeitungwirdermöglicht<br />

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tazimInternet:www.taz.de<br />

twitter.com/tazgezwitscher<br />

facebook.com/taz.kommune<br />

Wir leben heute in einer Gesellschaft,<br />

die auf das, was einmal<br />

emphatisch »Gemeinschaft«<br />

hieß, im Ganzen gut verzichten<br />

könnte.<br />

Doch: Es gibt Zonen kollektiven<br />

Einvernehmens, gemeinsamer<br />

Wertbindung, es gibt Vereine<br />

und Schicksalsgemeinschaften,<br />

Netz-Communities und mafiöse<br />

Strukturen.<br />

Um diese Formen der Vergemeinschaftung,<br />

die es auch in<br />

einer liberalen Gesellschaft gibt,<br />

geht es im aktuellen Doppelheft.<br />

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02 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE NACHRICHTEN | taz<br />

WirQuerschnittsredakteure haben es<br />

nichtleicht.DennwirhabenkeinenGebietsschutz.<br />

Wir werden gezwungen,<br />

über alles zu quatschen. Man erwartet<br />

vonuns, bei allem mitzureden, immer<br />

einengeistreichenGedankenzuhaben,<br />

einenbrillantenEinfall,einegescheite<br />

Idee, einen anderen Zugang, einen superlustigen<br />

noch dazu. Und also plappernundplaudernwirdenganzenTag,<br />

Prophetie<br />

vomDach<br />

UmherschweifendeBlicke<br />

aufdas,waskommenkönnte<br />

die ganze Woche, von morgens bis<br />

abends, mit jedem und allem, aufden<br />

Konferenzen, den Sitzungen, am Telefon,perMail,imChatoderüberTwitter.<br />

Aberentscheidendürfenwirnichts.Bevorwir<br />

irgendetwas machen, müssen<br />

wir immer erstmal die Experten fragen.<br />

Und weil uns die Expertenmeinung<br />

oft zu expertenmeinungsmäßig<br />

ist, steigen wir sommers wie winters<br />

über die Wendeltreppe hinaufinden<br />

Pavillon,undvondorttretenwiraufdie<br />

Dachterrasse. Da oben, unter dem großen<br />

freien Himmel, atmen wir tief<br />

durch,lassendieBlickeschweifenund<br />

die Gedanken baumeln und machen<br />

uns so unsere Vorstellungen. Vorstellungen<br />

voneiner Welt ohne Expertenmeinung.Sommerssitzenwiraufdem<br />

sattgrünenRasen,lesenRilke,binden<br />

Sechs Tote<br />

bei Anschlag<br />

in Beirut<br />

LIBANONEhemaliger<br />

Ministerermordet.<br />

Hisbollahbeschuldigt<br />

BEIRUT ap/rtr | Bei einem Bombenanschlag<br />

inder libanesischenHauptstadtBeirutsindam<br />

Freitagmindestens sechs Menschen<br />

ums Leben gekommen,<br />

darunter der frühere Finanzminister<br />

Mohammed Chatah. Der<br />

62-jährigeChatahwarzuletztein<br />

enger Berater des früheren Ministerpräsidenten<br />

Saad Hariri,<br />

der2011seinAmtverlorenhatte.<br />

Dem Berichtzufolge tötete die<br />

BombeihnundseinenFahrersowie<br />

vier weitere Menschen. Zudem<br />

wurden nach Angaben des<br />

Gesundheitsministeriumsmehr<br />

als 70 Personen verletzt. In der<br />

schicken Hauptstraße in Beirut,<br />

indersichFünfsternehotelsund<br />

Edelboutiquen befinden, standen<br />

AutosinFlammen, waren<br />

vieleScheiben geborsten. Dicke<br />

Rauchschwaden standen über<br />

den Regierungsgebäuden in der<br />

Nähe.<br />

Chatah, der früher Botschafter<br />

in den USAwar,galtals bedeutender<br />

Volkswirtund gemäßigter<br />

sunnitischer Politiker.Er<br />

war bereits Berater des Vaters<br />

vonSaad Hariri, dem ehemaligen<br />

Ministerpräsidenten Rafik<br />

Hariri.Dieserwurde2005beieinem<br />

Anschlag–nichtweitentferntvonderAttackeamFreitag<br />

–getötet. Später wurdeChatah,<br />

als Saad Ministerpräsidentwurde,Finanzminister.<br />

In weniger als drei Wochen<br />

soll der Prozess gegen die Verdächtigen<br />

beginnen, die für die<br />

ErmordungRafikHaririsverantwortlich<br />

sein sollen. Fünf Mitglieder<br />

der Hisbollah sind angeklagt.DieHisbollahweistdieAnklage<br />

zurück und weigerte sich,<br />

dieVerdächtigenauszuliefern.<br />

Der frühere libanesische Ministerpräsident<br />

Saad al-Hariri<br />

machte die Hisbollah auch für<br />

den Bombenanschlagvom Freitagverantwortlich.<br />

„Soweit wir<br />

wissen, sind die Verdächtigen<br />

diejenigen,dievorderinternationalen<br />

Justiz fliehen und sich<br />

weigern, sich einem internationalem<br />

Tribunal zustellen“, erklärte<br />

HaririinBeirut. Er bezog<br />

sichdamitaufdenProzessgegen<br />

die mutmaßlichen Mörder seinesAmtsvorgängersundVaters.<br />

Dinosaurier<br />

fürEinweg-<br />

Lobby<br />

MÜLLHinterEmpfänger<br />

desNegativ-Preises<br />

stehenbekannteFirmen<br />

BERLIN taz | Ein Lobbyverband<br />

für Einwegverpackungen ist<br />

Empfänger des „Dinosauriers<br />

des Jahres“. Der Naturschutzbund<br />

(Nabu) zeichnet damit<br />

jährlich Personen oder Institutionenaus,dieeralsschädigendin<br />

SachenUmweltschutzerachtet–<br />

voriges Jahr etwadie damalige<br />

CSU-AgrarministerinIlseAigner.<br />

Hinter dem „Bund Getränkeverpackungen<br />

der Zukunft“ –so<br />

der volle Name des aktuellen<br />

Empfängers–steckenUnternehmen<br />

wie Aldi, Lidl und Red Bull.<br />

DerVerbandwillunteranderem<br />

eine Zwangsabgabe aufEinwegverpackungen<br />

verhindern. Die<br />

wärelautUmweltschützerneine<br />

umwelt- und verbraucherfreundlichere<br />

Alternative zum<br />

derzeitigenEinwegpfand. SVE<br />

Mehr unter taz.de/!130014<br />

McDonald’s<br />

brätsicheinen<br />

über<br />

FASTFOODInternetseite<br />

rietvoneigenen<br />

Produktenab<br />

NEWYORK ap | Für McDonald’s<br />

drohteinemitGesundheitstipps<br />

für Mitarbeiter gespickte Website<br />

zumPR-Fiaskozuwerden:<br />

Für einen gesunden Lebensstil<br />

sei der Genuss von Fast Food<br />

nicht zuempfehlen, stand auf<br />

der Internetseite „McResource“<br />

zulesen,wiederTV-SenderCNBC<br />

meldete. Betrieben wurde das<br />

Programm demnach voneinem<br />

externen Unternehmen. Der<br />

größte Burger-Brater der Welt<br />

reagierte prompt und ließ die<br />

Webseite abschalten. Zu dem<br />

Programm habe es irrelevante<br />

und überholte Informationen<br />

gegeben, teilte der Konzern am<br />

Donnerstagmit.Zudem hätten<br />

Außenseitergruppen Elemente<br />

ausdem Kontext gerissen und<br />

unangemessene Kommentare<br />

gemacht.<br />

SPEKULATIONSBLASE?<br />

Schönen Sonntag und<br />

guten Appetit!<br />

Foto: dpa<br />

… dass meine<br />

Kräfte infolge<br />

des vorgerückten<br />

Alters<br />

nicht mehr geeignet<br />

sind, um in<br />

angemessener<br />

Weise den Petrusdienst<br />

auszuüben<br />

PAPST FRANZISKUS AM 17. MÄRZ 2013 ZU<br />

DEN GLÄUBIGEN AUF DEM PETERSPLATZ<br />

IN ROM<br />

PAPST BENEDIKT XVI. AM 11. FEBRUAR<br />

2013 IN SEINER RÜCKTRITTSERKLÄRUNG<br />

Foto: ap<br />

DER DAX KNACKT DIE 9500-PUNKTE-MARKE.<br />

DIE AKTIEN LEGTEN 2013 ZU, DIE WIRTSCHAFT KAUM<br />

DEUTSCHER<br />

AKTIENINDEX<br />

23%<br />

DEUTSCHE<br />

WIRTSCHAFT<br />

0,5%<br />

QUELLE: Deutsche Börse, BMWi<br />

Justiz stoppt<br />

Allmacht<br />

Erdogans<br />

TÜRKEIRegierungerhält<br />

keinenEinblickin<br />

Polizeiermittlungen<br />

ISTANBULdpa/rtr|ImKorruptionsskandalinderTürkeihatein<br />

Gerichtden Versuch der Regierung<br />

gestoppt, mehr Einblick in<br />

die Ermittlungen der Polizei zu<br />

bekommen.DieRichterblockierten<br />

das Vorhaben, neue Regeln<br />

für die Informationspflichtvon<br />

Polizisten einzuführen. Unterdessen<br />

hatdie Regierungspartei<br />

AKP ein Parteiausschlussverfahren<br />

gegen drei kritische Abgeordnete<br />

eingeleitet. Dem früheren<br />

Kulturminister Ertugrul<br />

Günay sowie den Abgeordneten<br />

ErdalKalkanundHalukÖzdalga<br />

wirdvorgeworfen,ParteiundRegierunggeschadetzuhaben.Für<br />

Schlagzeilen sorgte außerdem<br />

die Ablösung des Istanbuler<br />

StaatsanwaltsMuammer Akkas<br />

von seinen Korruptionsermittlungen.<br />

Militärs<br />

gegen<br />

Islamisten<br />

ÄGYPTENMindestens<br />

dreiDemonstrantenbei<br />

Protestengetötet<br />

KAIROrtr/afp |NachderEinstufung<br />

der Muslimbruderschaft<br />

als Terroristengruppe ist esin<br />

mehreren ägyptischen Städten<br />

zu Zusammenstößen zwischen<br />

PolizistenundAnhängernderislamistischen<br />

Bewegung gekommen.MindestensdreiMenschen<br />

wurden getötet. 265 Demonstranten<br />

sollen festgenommen<br />

worden sein. Schon am Vortag<br />

war ein Demonstrant getötet<br />

worden. In Kairokam es zu Krawallen.<br />

Die Polizei ging dortmit<br />

Tränengas gegen Demonstranten<br />

aufdem Campus der Al-Ashar-Universitätvor,die<br />

Sicherheitskräfte<br />

mit Steinen bewarfen.<br />

In zwei Kairoer Vororten<br />

wurden Protestveranstaltungen<br />

durchdenEinsatzvonTränengas<br />

aufgelöst.AuchinanderenStädtenkameszuAusschreitungen.<br />

Deutschland<br />

heizt sich<br />

weiter arm<br />

ENERGIENochniewares<br />

soteuer,seineBudeim<br />

Winterwarmzuhalten<br />

BERLIN taz | Kohle, Öl und Gas<br />

werden immer teurer.2012 und<br />

2013warennacheinerStudieder<br />

Hamburger Energy Comment<br />

im Auftrag der Grünen-Bundestagsfraktion<br />

die teuersten Heizjahre,<br />

seitentsprechende Statistiken<br />

erhoben werden. Wermit<br />

Öl wärmt, musste für eine 80-<br />

Quadratmeterwohnung 2012 im<br />

Schnitt 204 Euro nachzahlen.<br />

2013 siehtesnichtbesser aus.<br />

NacheinerStudiedesDeutschen<br />

MieterbundeskommenfürFernwärme,ÖlundErdgasimSchnitt<br />

nochmals9Prozentdazu.<br />

„Wir diskutieren nur über<br />

Strompreise, obwohl sie den<br />

niedrigsten Anteil an den Energiekosten<br />

haben“, sagt die neue<br />

Vorsitzende des Bau- und Umweltausschusses<br />

im Bundestag,<br />

die Grünen-Politikerin Bärbel<br />

Höhn, der taz. Heizkosten seien<br />

vielrelevanterfürFamilien.<br />

Mitdem Anstieg schlägt ein<br />

Trenddurch,derseiteinemJahrzehntungebrochen<br />

ist: der unaufhaltsame<br />

Kostenanstieg bei<br />

fossilen Rohstoffen. Verglichen<br />

mitdenPreiseninderletztenDekade<br />

des 20. Jahrhunderts stiegendieKostenfürKohle,Ölund<br />

Gas in den nuller Jahren um ein<br />

Vielfaches an. Öl kostet heute<br />

mehrals5-malsoviel.DieFolgen<br />

für die deutsche Wirtschaft: Im<br />

Jahr 2012 gingen 3,5 Prozentdes<br />

Bruttoinlandsproduktes, 94 MilliardenEuro,fürdenImportvon<br />

Kohle,ÖlundGasdrauf,vorzehn<br />

Jahrenwarenes1,6Prozent.TeilweisegehtderAnstiegdaraufzurück,<br />

dass im Ruhrgebiet der<br />

Kohleabbauausläuft.<br />

Um der Preisspirale zuentkommen,<br />

schlagen die Grünen<br />

vor, die energetische Sanierung<br />

vonGebäuden schneller voranzutreiben.<br />

2Milliarden Euroim<br />

Jahr sollen in einen Fonds fließen,<br />

den Kommunen dazueinsetzen<br />

können, auch Wohnungen<br />

vonMietern mitgeringem<br />

Einkommen zu sanieren, ohne<br />

dass die Warmmieten steigen.<br />

Union und SPD hatten in ihrem<br />

Koalitionsvertrag zusätzliche<br />

Mittel für Sanierungen kurz vor<br />

Ende der Verhandlungen gestrichen.<br />

INGO ARZT<br />

AFGHANISTANBundesregierungverteidigtdeutschesBieramHindukusch:Trotzdeutlichmehr<br />

DisziplinarfällenwegenAlkoholmissbrauchgibteskeineneuenEinsatzregelnfürSoldaten<br />

Trinken bis zumAbzug<br />

tei hervor,die der taz vorliegt.<br />

Darin erklärt die Bundesregierung,<br />

dass Fälle von Alkoholmissbrauch<br />

nicht unmittelbar<br />

statistisch erfasst werden. Sie<br />

können daher nurüber die Zahl<br />

der Disziplinarmaßnahmen geschätztwerden.Ebenfallsunklar<br />

bleibt, wie vieleSoldaten bisher<br />

aufgrund von Alkoholkonsum<br />

vorzeitig ihren Einsatz beenden<br />

mussten.ErstseitMärz2013wird<br />

dies erhoben. Bei 16 Soldaten<br />

wurdebis Ende November demnach<br />

„die besondere Auslandsverwendung<br />

aufGrund vonAlkoholmissbrauchvorzeitigbeendet“,heißtesinderAntwort.<br />

DabeimüssteesdenSoldaten<br />

im Afghanistan-Einsatz eigentlich<br />

unmöglich sein, sich hemmungslos<br />

zu betrinken. Es gilt<br />

diesogenannte„Zwei-Dosen-Regelung“,wonachjederSoldatpro<br />

Taghöchstens zwei Dosen Bier<br />

oder zwei Gläser Wein „aus-<br />

BERLINtaz|TrotzstrikterRegeln<br />

kommtesinden Bundeswehrlagern<br />

in Afghanistan immer<br />

häufiger zu Fällen vonAlkoholmissbrauch.Sowurdenalleinim<br />

größten afghanischen Bundeswehrcamp<br />

inMasar-i-Scharif<br />

2013 gegen 32 Soldaten Disziplinarmaßnahmenwegenübermäßigen<br />

Alkoholkonsums verhängt.2012warenesnur15Fälle.<br />

Das gehtaus der Antwortauf<br />

einekleineAnfragederLinksparschließlich<br />

für den unmittelbarenKonsum“kaufendarf.Andere<br />

Länder haben ein komplettes<br />

Alkoholverbot für die Soldaten<br />

verhängt.Dazugehörenetwadie<br />

USA,KanadaundKroatien.<br />

In welchem Umfang Bundeswehrsoldaten<br />

im Auslandseinsatz<br />

illegaleDrogen konsumieren,<br />

konnte die Regierung nicht<br />

beantworten. Die Linkspartei<br />

hatte die Anfragegestellt, nach-<br />

demesimJunizumehrerenVor-<br />

fällen im Zusammenhang mit<br />

Alkoholkam.SohatteeinSoldat<br />

im CampinMasar-i-Scharif angetrunkenumsichgeschossen.<br />

Trotzdem ergreift die Regierung<br />

kaum Maßnahmen zur<br />

Drogenprävention bei Soldaten<br />

imAusland.Sieverweistaufkulturelle<br />

Unterschiede, um ihre<br />

fehlende Zusammenarbeit mit<br />

anderenNationenindiesemBereichzubegründen.<br />

„Es gibt mehrere Vorfällevon<br />

Alkoholmissbrauch und auch<br />

dadurchverursachteUnfälleam<br />

Einsatzort Afghanistan. Es ist<br />

deshalb nicht nachvollziehbar,<br />

warum die Bundeswehr zu diesemThemakeineinternationale<br />

Zusammenarbeitsucht, um aus<br />

InMasar-i-Scharif<br />

wurdengegen32SoldatenStrafenwegen<br />

Alkoholverhängt<br />

den gegenseitigen Erfahrungen<br />

zu lernen“, sagte Frank Tempel,<br />

drogenpolitischer Sprecher der<br />

Linkspartei im Bundestag. „Wie<br />

die neue Verteidigungsministerin<br />

bei ihrem Afghanistanbesuch<br />

kürzlich mitteilte, möchte<br />

sie sich mehr für das Wohl der<br />

SoldatenundihrerFamilieneinsetzen.<br />

Dazu gehört auch das<br />

ThemaderAlkohol-undDrogenprävention.“<br />

PAUL WRUSCH


taz |NACHRICHTEN<br />

SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE 03<br />

Blumenkränze, stricken Mützen, rauchen<br />

Haschisch, trinken Pfannebecker<br />

und herzen uns. Aber mit Liebe, nicht<br />

sowieRösler,alsernochMinister,und<br />

Diekmann,alsernochhauptamtlicher<br />

Nerdwar.UnserevonExpertentumbefreitenBlickebleibenanAxelSpringers<br />

Riesenlaufband hängen. Wiedas funkelt,<br />

blinkt und pulsiert! Da müssen<br />

echte Kreative am Werk sein. Da kann<br />

unsereDachbepflanzungnichtmithalten.<br />

Aufunserem Dach wehen Fahnen,<br />

sodassmanmeinenkönnte,hierwehte<br />

ein frischer Geist. AufSpringers Dach<br />

hingegen flackertdie Weltgeschichte<br />

vonSpandaubis Teltow,sodass man<br />

meinen könnte, es passierte was im<br />

Land.DieseQuelleinformativerUnterhaltung<br />

istfastsobreitwie das Haus,<br />

aufdemsiethront,undals„Laufband“<br />

nurunkorrekt beschrieben. Es isteine<br />

Reklametafel,dieausvielengroßenPixeln<br />

besteht, die unterschiedliche Farbenannehmenkönnen,wennsienicht<br />

geradekaputtsind.WirhieraufdemRasenzwischenRilke,Haschischundfrei<br />

schweifendem Umherdenken finden<br />

das gut, der psychedelischen Effekte<br />

wegen. Springer strebt nach Start-up-<br />

Tugenden,sagendieExperten.Wiraber<br />

sehen,dasssichbeimContentseit1967<br />

so viel nicht geändert hat. „Chaoten<br />

werfen Pflastersteine aufSPD-Zentrale“,<br />

heißtesauf Springers Display. Die<br />

Veränderungen kündigen sich unten<br />

an.Immerhäufigersehenwirsehrbärtige<br />

Männer in Kapuzenpullis auf<br />

Skateboards durch die Rudi-Dutschke-<br />

StraßeRichtungSpringer-Zentralerollen,solchermaßenstummdenSpirit<br />

FOTO DER WOCHE<br />

„Der Dicke“<br />

sorgtfür<br />

Freude<br />

SeitachtMonatenist<br />

Alfonso(links)aus<br />

LeganesbeiMadrid<br />

arbeitslos.Jetztaber<br />

hatteerGrundzum<br />

Feiern.Wie160andere<br />

Hauptgewinnertrug<br />

seinLosbeider<br />

Weihnachtslotteriedie<br />

Nummer62246.Für„El<br />

Gordo“(denDicken)<br />

gabesvierMillionen<br />

Euro–dieerstmals<br />

versteuertwerden<br />

müssen.<br />

Foto: Pablo B. Dominguez/Getty Images<br />

RUSSLANDDieausderHaftentlassenenPunk-Musikerinnenwollensichkünftigfüreinen<br />

humanerenStrafvollzugengagieren.SieverlangenweitereinEndederPutin-Herrschaft<br />

Pussy Riot gegen Lagerhaft<br />

VON BARBARA OERTEL<br />

BERLIN taz | Die zwei AktivistinnenderrussischenFrauen-Punkband<br />

Pussy Riot, Nadeschda Tolokonnikowaund<br />

Maria Alechina,wollensichkünftigfüreinen<br />

humaneren Strafvollzug einsetzen.<br />

Das kündigten die beiden<br />

FrauenamFreitagbeieinerPressekonferenz<br />

in Moskau an. „In<br />

den Straflagern gibt es Menschen,diesichamRandesdesTodes<br />

befinden“, sagte die 25-jährigeAlechina.<br />

Für ihre geplante Nichtregierungsorganisation<br />

„Rechtszone“<br />

gebeesnochkeineFinanzierung,<br />

esseiabereineZusammenarbeit<br />

mitdem oppositionellen BloggerAlexejNawalnygeplant.Dieser<br />

hatte im vergangenen September<br />

erfolglosfür den Posten<br />

des Moskauer Bürgermeisters<br />

kandidiert. Den kürzlich freigelassenen<br />

Ex-Ölmagnaten<br />

Michail Chodorkowski wolle<br />

mannichtumfinanzielleUnterstützung<br />

bitten. Auf die Frage<br />

nachihrerHaltungzuRusslands<br />

PräsidentenWladimirPutinsagtedie24-jährigeTolokonnikowa,<br />

diese habe sich nichtgeändert.<br />

„Wirwollenweiter,dassergeht.“<br />

DiebeidenMusikerinnen,die<br />

beideeinkleinesKindhaben,waren<br />

im Februar 2012 nach einer<br />

ProtestaktiongegenPutininder<br />

Moskauer Christi-Erlöser-Kathedralefestgenommenundwegen<br />

RowdytumsausHassaufGläubige<br />

angeklagt worden. Im August<br />

2012warensiezuzweiJahrenLagerhaft<br />

verurteilt worden. Der<br />

UrteilsspruchlösteinternationaleProtesteaus.DieHaftstrafefür<br />

ein weiteres Mitglied vonPussy<br />

Riot, Jekaterina Samuzewitsch,<br />

setzte ein Moskauer BerufungsgerichtimOktober<br />

2012 zurBewährungaus.<br />

Während AlechinainNischni<br />

Nowgorod, rund 450 Kilometer<br />

vonMoskau,einsaß, warTolokonnikowa<br />

erst kürzlich ins<br />

4.400 Kilometer vonder Hauptstadt<br />

entfernte ostsibirische<br />

Krasnojarsk verlegt worden. Am<br />

23. Dezember waren die beiden<br />

aufgrund einer Amnestie von<br />

PräsidentPutinfreigekommen.<br />

In ersten Stellungnahmen<br />

nach ihrer Freilassung gaben<br />

sich die beiden Musikerinnen<br />

kämpferisch. Gegenüber dem<br />

russischen TV-Sender Doschd<br />

bezeichnete Alechina die Amnestieals„PR-Trick“.Hättesiedie<br />

Wahlgehabt,dieAmnestieabzulehnen,<br />

so hätte sie dies getan.<br />

Tolokonnikowa, die während ihrer<br />

Haftzeitzweimal in einem<br />

Hungerstreik getreten war,<br />

nannte ganz Russland „ein großes<br />

Straflager“. „Russland ist<br />

nach dem Modell einer Strafkolonieaufgebaut“,sagtesie.„Straflager<br />

und Gefängnisse sind das<br />

GesichtdesLandes.“<br />

Derzeit sitzen in Russland<br />

rund700.000PersoneninHaft,<br />

davon600.000 in sogenannten<br />

Straflagern. Für die derzeit<br />

knapp60.000inhaftiertenFrauensehendieGesetzenureineArt<br />

vonLagervor.DieKomplexeaus<br />

Verwaltungsgebäuden, Schlafräumen<br />

für die Gefangenen so-<br />

Ungebrochen von der Haft in Ostsibirien:<br />

Nadeschda Tolokonnikowa<br />

von Pussy Riot Foto: dpa<br />

„Russlandistnach<br />

demModelleiner<br />

Strafkolonieaufgebaut.Straflagerund<br />

Gefängnissesinddas<br />

GesichtdesLandes“<br />

NADESCHDA TOLOKONNIKOWA<br />

wie einem Arbeitsbereich sind<br />

mit Zäunen, Stacheldraht und<br />

WachtürmenvonderAußenwelt<br />

abgeriegelt. Die Frauen sind in<br />

derRegelinBarackenmit100bis<br />

130 Gefangenen untergebracht.<br />

Jeder Insassin stehen mindestensdreiQuadratmeterPlatzzu.<br />

Je nach Schwere des Verbrechens<br />

gibt es drei Unterbringungsformen:<br />

normal, erleichtertund<br />

streng. Unter normaler<br />

Lagerhaft dürfen die Frauen pro<br />

Jahr sechs kurze (bis vier Stunden)<br />

und vier lange (bis zu drei<br />

Tage) Besuch bekommen. Das<br />

strenge Regime, das bei Regelverstößen<br />

verhängt wird, sieht<br />

zunächsteine Isolationszeitvon<br />

drei Monaten vor. Besuche sind<br />

verboten.<br />

ImGegensatzzudenPussy-Riot-Aktivistinnen<br />

bleibt den Mitgliedern<br />

der Umweltschutzorganisation<br />

Greenpeace eine Lagerhaft<br />

erspart. Nach dem Erhalt<br />

vonAusreisepapieren haben inzwischenmindestens7derrund<br />

30 Aktivisten Russland verlassen.„Dierestlichenfolgeninden<br />

kommenden Tagen“, sagte der<br />

Direktor vonGreenpeace Russland,IwanBlokow.TrotzderHaft<br />

wollten alleAktivisten aber weiter<br />

gegen Umweltzerstörung<br />

kämpfen.<br />

Die Justiz hatte im Zuge von<br />

Putins Amnestie auch die VerfahrenwegenRowdytumsgegen<br />

die Aktivisten eingestellt. Die<br />

Crewhatte an einer Ölplattform<br />

des russischen Staatskonzerns<br />

Gazprom gegen UmweltzerstörunginderArktisprotestiert.<br />

Ostafrika-Gipfel vermeldet<br />

guten Willen und setzt Frist<br />

SÜDSUDANHauptkontrahentenbleibenGipfelfern.<br />

DortdrohenNachbarstaatenMaßnahmenan<br />

NAIROBI/BERLIN rtr/taz | Südsudans<br />

Regierung hat nach<br />

knappzweiWochenBürgerkrieg<br />

angeblich in eine sofortige Einstellung<br />

der Kämpfe eingewilligt.Diesvermeldetenjedenfalls<br />

am Freitagnachmittagdie Teilnehmer<br />

eines Sondergipfels der<br />

Regionalorganisation Igad (Intergovernmental<br />

Authority on<br />

Development) in Kenias HauptstadtNairobi.<br />

„Igad begrüßtdie<br />

VerpflichtungderRegierungder<br />

Republik Südsudan zu einer sofortigenEinstellungderFeindseligkeiten“,hießes.SüdsudansEx-<br />

Vizepräsident Riek Machar,<br />

Hauptwidersacher der Regierung,seiebensowieandereParteien<br />

„aufgefordert, ähnliche<br />

Verpflichtungeneinzugehen“.<br />

Die Tragweite dieser Erklärungbleibtunklar,dawederRiek<br />

Machar noch Südsudans Präsi-<br />

FRAU BINH -36JAHRE, VIETNAM<br />

Spendenkonto: 1020100<br />

Bank für Sozialwirtschaft<br />

BLZ: 10020500<br />

Kennwort: Vietnam<br />

dentSalvaKiiramGipfelteilnah-<br />

men. Machar fordertvon Südsudans<br />

Regierung bedingungslose<br />

Direktverhandlungen und<br />

hat dafür eine Delegation benannt,<br />

die die wichtigsten verhafteten<br />

Oppositionspolitiker<br />

einschließt. Kiir hatimPrinzip<br />

Gespräche zugesagt, will jedoch<br />

offenbar erstdie vonmeuternden<br />

Soldaten besetzten Städte<br />

Südsudans zurückerobern. Eine<br />

TeilnahmeamTreffeninNairobi<br />

sagteerkurzfristigunterVerweis<br />

aufdieLageimLandab.<br />

Die Igad-Gipfelteilnehmer in<br />

NairobigabendenKontrahenten<br />

vier Tage Zeit–also bis Jahresende–umdieKämpfeeinzustellen.Andernfallswerdemanüber<br />

weitereSchrittenachdenken.Die<br />

Kämpfe im Südsudan dauerten<br />

derweil an und konzentrierten<br />

sichaufdieStadtMalakal. D. J.<br />

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VordreiJahren bestand<br />

Frau Binh ihreSchneiderprüfung<br />

und machte<br />

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Frauen auf ihrem Weg<br />

in die Selbstständigkeit!<br />

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04 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE | wochenende@.taz.de DIE HOFFNUNG | taz<br />

vonSiliconValleyanrufend.Manchmal<br />

geraten sie in Händel, wenn sie beim<br />

Skaten die neusten Apps auschecken<br />

unddabeieinaltesMütterchenübersehen,dasgeradedieEinkäufenachHause<br />

bringen will: „Verschwenden Sie<br />

nichtmeineZeit!“,brülltesbarschvom<br />

Brettherunter,und,weiterrollend:„Informationwantstobefree!“Eskommt<br />

jetzt immer häufiger zu personalpolitisch<br />

heiklen Situationen an der Pforte<br />

inAxel-Springer-Alley,weilderDiensttuendenichtweiß,obereinenbärtigen<br />

ChaotenausKreuzberg,einenbärtigen<br />

Abteilungsleiter ausZehlendorfoder<br />

einen bärtigen Hochbegabten aus L.A.<br />

vorsich hat. Isteseine potenzielleBetriebsstörung<br />

oder hoch bezahltes Humankapital?<br />

Den Unterschied, falls es<br />

ihnüberhauptgibt,kannmanwomöglich<br />

nuramGeruch erkennen, wobei<br />

auchdasnichtsicherist,legtmanheute<br />

doch auch zu Haus bei FreaksWertauf<br />

Körperhygiene und olfaktorische Noblesse.<br />

Derweil besetzen brandneue<br />

Start-upsdiegeheimen,atombombensicherenNotredaktionsräumedesKonzerns,wofürmanerstdasbisdahindort<br />

geduldete Künstlertum ausfegen und<br />

dessenGraffitiübertünchenmuss.Was<br />

da wohl entwickeltwird? Sich das auszumalen,dafürreichtselbstunsereexpertenfreie<br />

Dachgartenfantasie nicht<br />

aus. „Die Diktaturder Manipulateure<br />

muss gebrochen werden. Es kommt<br />

daraufan, eine aufklärende Gegenöffentlichkeit<br />

zu schaffen“, hieß es mal.<br />

JetztwirdbeiSpringersausgechillt.Die<br />

Nerds übernehmen das Kommando.<br />

Gefummeltwirdbloßnochanden<br />

KRISEEuroschwäche,Bankenkrise,<br />

NSA-Affäre:VieleBürgersehenihre<br />

demokratischenRechteschwinden.<br />

DasGegenteilistderFall<br />

Demokratie<br />

aufErfolgskurs<br />

Die Bonner Demokratie in den 70ern: autoritär, hierarchisch, männlich. Schlussabstimmung über die Ostverträge 1972 Foto: ullstein bild/dpa<br />

VON PAUL NOLTE<br />

Ausgerechnet die Demokratie!Istdasnichteiner<br />

der unwahrscheinlichsten<br />

Kandidaten für einen<br />

strahlenden Auftritt im<br />

nächsten Jahr? Hängt dieser<br />

Himmel nicht längst voller<br />

dunkler Wolken, die sich in Zukunftehernochbedrohlicherzusammenballenwerden?<br />

Allenfalls können wir froh<br />

sein, halbwegs mitheiler Haut<br />

davonzukommen.Geradehaben<br />

mehr als 500 Schriftsteller und<br />

Intellektuelle flammend dazu<br />

aufgerufen, die Demokratie zu<br />

verteidigen in einem digitalen<br />

Zeitalter,dasliberalePrivatsphäre<br />

und Unverletzlichkeitdes Individuums<br />

mit seinen technischen<br />

Möglichkeiten und<br />

manchmal auch mitder vollen<br />

Absicht demokratisch legitimierter<br />

Staatsorgane auszuhebelndroht.<br />

Die europäische Währungsund<br />

Staatsschuldenkrise: Istsie<br />

überstanden, garerfolgreich bewältigt<br />

oder nurverdrängt, und<br />

welchen vermeintlichen SachzwängenderMärktewerdenParlamentebeimnächstenMalwiederausgesetztsein?DennamRegelwerkhatsichweniggeändert,<br />

und erst recht hat bisher die<br />

Hoffnung getrogen, die Krise<br />

werde einen demokratischen<br />

RuckdurchdieeuropäischeVerfassungsdebatte<br />

gehen lassen.<br />

Nunaber endlich ein EuropäischesParlamentmitvollemBudgetrecht,<br />

mit der Souveränität,<br />

Steuern zu erheben, und miteinerRegierung,diediesemParlamentwirklichverantwortlichist.<br />

Ach ja, der Arabische Frühling:<br />

Kommtdanoch was, oder<br />

können wir froh sein, wenn das<br />

Elend der syrischen Flüchtlinge<br />

nichtnoch schlimmer wirdund<br />

die Herrschaft des Militärs in<br />

Ägypten nicht allzu autoritäre<br />

Züge annimmt? Schließlich ist<br />

die Stimmung, im Jahrhundertjubiläum<br />

des Ersten Weltkriegs,<br />

ohnehin schon melancholisch<br />

geprägt. Könnten die fragilen<br />

RestevonFreiheit,vonhalbwegs<br />

erträglicher Existenz im kommenden<br />

Jahr nichterneutvollständigkollabieren?<br />

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Raus aus dem<br />

falschen Film!<br />

Vertraut auf eure<br />

Handlungsmacht!<br />

Dann kann die<br />

Demokratie im Jahr<br />

2014 einen großen<br />

Auftritt haben<br />

Die Melancholie allerdings<br />

reichttiefer als die Erinnerung<br />

an1914.IndenletztenJahren,zumalseitder<br />

Wirtschafts- und Finanzkrise<br />

von2008, istder demokratischen<br />

Entwicklung in<br />

den westlichen Ländern ebenso<br />

wie unter globaler Perspektive<br />

häufigkeingutesZeugnisausgestelltworden.<br />

In großen Teilen<br />

desintellektuellenLagersundin<br />

großen Teilen der Linken sind<br />

Verfallsdiagnosen und Untergangsängste<br />

weit verbreitet, ja<br />

beinahe schon selbstverständlichgeworden.<br />

Nichterstseitfünf oder zehn<br />

Jahren, sondern seit Jahrzehnten,<br />

im Grunde seitden 1970er<br />

Jahren,wirddemnachdasdemokratische<br />

Versprechen aufFreiheitund<br />

Partizipation öfter gebrochen<br />

als eingelöst. Der Ausbaudemokratischer<br />

Rechte, im<br />

Verein mit dem Ausbau des<br />

Wohlfahrtsstaates, istsoansein<br />

Ende gekommen. Die einstigen<br />

Bannerträger der euphorischen<br />

Expansion, die mitWillyBrandt<br />

und den neuen sozialen Bewegungen<br />

dazuaufgerufen haben,<br />

„mehr Demokratie zu wagen“–<br />

sie haben sich in ihren Verteidigungsstellungen<br />

eingegraben.<br />

Denn höchstens noch darum<br />

scheintesgehen zu können: die<br />

Demokratie zu verteidigen, den<br />

Besitzstandallenfallszuwahren.<br />

Schwer genug. Denn die jahrzehntelange<br />

Aushöhlung von<br />

Rechten und das Unterlaufen<br />

vonInstitutionen durch kapitalistischeMärkte,halblegitimierteBürokratienunddigitaleTechnologienhatwenigmehralseine<br />

Fassadestehenlassen.<br />

Wirsind,mitdeminDeutschland<br />

so besonders populär gewordenen<br />

Begriff des britischen<br />

Politikwissenschaftlers Colin<br />

Crouch, in „postdemokratischen“Verhältnissen<br />

angekommen.<br />

Fassadendemokratie, Placebodemokratie;<br />

eigentlich werden<br />

wir nurnoch, wasunsere<br />

Freiheitund unsere Rechte betrifft,anderNaseherumgeführt.<br />

AlsobesteigenwirdieZeitmaschineundlandenvor40Jahren,<br />

amEndedesJahres1973,dasdem<br />

Westen mit der ersten Ölkrise<br />

auchdenAbbruchderscheinbar<br />

immerwährenden Zuversicht,<br />

desüberbordendenOptimismus<br />

der Nachkriegszeit bescherte.<br />

Aber kulturelle Stimmungen<br />

sindnichtmitderRealitätzuverwechseln.<br />

Wiesah denn die vermeintlichsorobusteDemokratie<br />

damalsaus,kurzbevorihrepostdemokratische<br />

Aushöhlung einsetzte?<br />

Um mitdem vielleichtWichtigstengleichzubeginnen:Frauen<br />

kamen in dieser Demokratie,<br />

praktisch gesehen, kaum vor.<br />

Klar,das Wahlrechtgab es seit<br />

1918, aber das war’sdann auch.<br />

EineAlibifrauinjedemKabinett,<br />

meistzuständig für Familie und<br />

Gedöns.DieSensationjenerZeit:<br />

eineFrau,AnnemarieRenger,als<br />

Bundestagspräsidentin für die<br />

SPD.Demokratie an der Basis?<br />

Abgesehendavon,dasseineVorstellung<br />

davonkaumexistierte,<br />

trifft der Zeitreisende aufMännerrunden<br />

in Hinterzimmern<br />

gleich welcher politischen Couleur.Jenseits<br />

der Geschlechterfrageein<br />

ähnlichesBild. Bürgerinitiativen?<br />

Man muss ersteinmallernen,wasdasist.<br />

Demonstrationen: nichtNormalfallundBestandteil,sondern<br />

StörfallderDemokratie,diedoch<br />

bitte in Parlamenten und Regierungen<br />

stattzufinden hat. Die<br />

Bürger(innen)dürfenjaschließlich<br />

wählen! Konsumentenrechte,<br />

Datenschutz? Vielleicht in<br />

Embryonalform, gerade noch<br />

mitderLupeerkennbar.Undwie<br />

wardasmitdernationalsozialistischenVergangenheit?Wieweit<br />

die personellen und mentalen<br />

Kontinuitäten in der Bundesrepublik<br />

reichten, wissen wir erst<br />

seitKurzem (und lernen immer<br />

noch dazu). Dass ein demokratischer<br />

Staatseine Identität, wie<br />

dasseitden90erJahrengeschehenist,aufdieentschiedeneZurückweisungvonRassismusund<br />

Völkermord inseiner eigenen<br />

Geschichte gründen würde, war<br />

damals noch weit entfernt. Der<br />

Kniefall Willy Brandts in WarschauimDezember1970irritierte<br />

vieleund warnur der Beginn<br />

einer ganz langsamen Bewusstseinsveränderung.<br />

MankönntedasBildnochweiter<br />

ausmalen, und manwürde<br />

nichts verzerren, wenn manzu<br />

dem Ergebnis käme: Vor40Jahren,da,wodie„Postdemokraten“<br />

vonheute den Gipfelpunkt der<br />

Demokratie sehen, wardie Demokratie<br />

nichtnur in Deutschland<br />

erstziemlich am Anfang,<br />

warsieziemlicheindimensional,<br />

autoritär, hierarchisch, männlich.<br />

Aber es gehtnichtumein<br />

billiges Aufrechnen einer Erfolgsgeschichte<br />

seitdem gegen<br />

neueRisikenundGefährdungen,<br />

womöglich auch Verluste, die<br />

ebensounbestreitbarsind.<br />

Verblüffend istvielmehr die<br />

Unfähigkeitder Linken, ihre eigenen<br />

Gewinne wahrzunehmen<br />

und in ein Narrativ von GeschichteundZukunftderDemokratie<br />

einzubinden. Denn zweifelloshandeltessichumeinelinkeundliberaleErfolgsstory.<br />

Sie sind die Sieger der Geschichte,mitdenneuenFormen<br />

demokratischen Handelns, die<br />

damalsdasLichtderWelterblickten:<br />

alternative Bewegungen,<br />

BürgerinitiativenundNGOs,basisdemokratische<br />

Formen der<br />

Partizipation, die zugleich den<br />

bisherigenRahmenderbloßnationalstaatlichen<br />

Demokratie<br />

nichtmehr akzeptieren wollten.<br />

Nunwollensievonihrereigenen<br />

Rolle und den Veränderungen,<br />

die sie, mutig und nichtselten<br />

überdieSträngeschlagend,herbeigeführthaben,<br />

nichts mehr<br />

wissen?<br />

Vonder eigenen Handlungsmacht,<br />

vonder eigenen Rollein<br />

derVeränderungvonPolitikund<br />

Gesellschaft nichts wissen wollen,<br />

darin liegt seiteiniger Zeit<br />

überhaupt ein mentales GrundproblemderlinkenBewegungen<br />

–oder mansolltebesser sagen:<br />

mancherlinkenTheoriegespinsteundapokalyptischenWeltdeutungen.Dennwährenddieeinen<br />

munter die dicken Bretter der<br />

Realitäten bohren, sich organisieren,Spielräumeaustesten,die<br />

Einlösung universaler Rechte<br />

Stück um Stück vorantreiben<br />

(bei der Homo-Ehe), lokale Politik<br />

breiter legitimieren (mit<br />

Volksentscheiden zur Energieversorgung),jammerndieanderen<br />

über die totaleHilflosigkeit:<br />

Die feindlichen Systeme haben<br />

die totaleMachtübernommen,<br />

ja tatsächlich uns einen neuen<br />

Totalitarismus beschert, eine<br />

„Blockwartgesellschaft“ der Unfreiheit<br />

und der Nicht-mehr-<br />

Demokratie, wie sogar der<br />

klugeGeistEnzensbergerdiesen<br />

Sommer schwadronierte, offenbar<br />

in Unkenntnis der Verfolgungs-<br />

und Vernichtungspraxis<br />

der Nationalsozialisten.<br />

Oder der amerikanische Schriftsteller<br />

T.C.Boyle indem eingangs<br />

erwähnten Manifest vor<br />

drei Wochen: „Während wir<br />

schliefen, haben die Maschinen<br />

dieMachtübernommen.“<br />

AberMillionenMenschenhaben<br />

keineswegs geschlafen, sondern<br />

haben sich engagiertund<br />

immer wieder demokratische<br />

Fortschritte erkämpft, ohne die<br />

wir noch in der Welt von1970<br />

stünden.<br />

Raus ausdem falschen Film!<br />

Vertraut auf eure Handlungsmacht!DannkanndieDemokratie<br />

im Jahr 2014 einen großen<br />

Auftritthaben. Vielleichtinder<br />

Ukraine oder in Russland oder<br />

im Iran. Oder bei den Frauenrechten<br />

in Saudi-Arabien. Oder<br />

im Kampf gegen den Moloch<br />

NSAinAmerika. Und nichtzuletzt<br />

aufdem heimischen Spielfeld:<br />

im Jahr der Europawahlen<br />

als mächtiger Druck aufdie Demokratisierung<br />

der Europäischen<br />

Union oder als Ausbau<br />

parlamentarischer Minderheitenrechte<br />

gegen großkoalitionäre<br />

Selbstzufriedenheit oder an<br />

hunderttausend anderen Plätzen,<br />

die ausder ach so hohen<br />

Wartepseudolinker kulturkritischer<br />

Verfallstheorien garnicht<br />

in den Blick gelangen. Warum<br />

sollte das alles ausgerechnet<br />

2014 passieren?So gutwie in jedemanderenJahr.<br />

■ Paul Nolte ist Historiker, Publizist<br />

und Professor amFriedrich-Meinecke-Institut<br />

der Freien Universität<br />

Berlin


taz |DER HELD<br />

wochenende@taz.de | TAZ.AMWOCHENENDEapple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 05<br />

Erwartungen der Shareholder. Wilde<br />

bärtigeMännerundFrauen riefenfrüher:„EnteignetSpringer!“Heutehaben<br />

die Springer-Kollegen statt Budapestern<br />

nurnoch Turnschuhe ausLeinen<br />

an den Füßen. Nichtmal Schnürsenkel<br />

sinddran.IstdasnochNerdoderschon<br />

Franziskus? Über Franziskus geraten<br />

wir hier oben aufdem Dach in Streit.<br />

Die Experten unten behaupten, der<br />

Mann sei ein gewiefter PR-Stratege.<br />

Gut, istjanichtschlimm, gute PR verkauft<br />

sich gut, und was kann daran<br />

falschsein,einkleinesAutozufahren?<br />

AberistFranziskuswirklicheinsoguter<br />

PR-StrategewieDiekmann?MussFranziskus,<br />

wenn er es denn ernstmeint,<br />

nicht umziehen? Sein Gästehaus verlassen<br />

und ins Silicon Valley mitdem<br />

Skateboardfahren,umdortdigitalmesses<br />

zu feiern? Wirstellen uns vor, wie<br />

FranziskushierzuunsaufsDachsteigt<br />

undmitunsdasGastmahlbegeht.Wie<br />

Sokrates würden wir ihn empfangen<br />

undbisindasMorgengrauenmittrunkenem<br />

Kopf über die Fragen vonPR-<br />

Strategie bis Parusieverzögerung diskutieren.<br />

Doch diese beschwingende<br />

Idee wirdjäh zerstört.Denn durch die<br />

schwere Eisentür trittein Experte zu<br />

uns aufs Dach. Mitdem Papstauf dem<br />

taz-Dach rumliegen? Ha! Das hätte er<br />

wohl gern. „Der Mann hatWichtigeres<br />

zu tun“,ermahntunsderExperte.Klar,<br />

die Welt istböse, und daran kann man<br />

mit ein bisschen Rumhängen und<br />

RumspinnenimGrasnichtvieländern.<br />

UndalsoergebenwirunsdemExperten<br />

sowieeinstAgathonundAristophanes<br />

demSokratesundhörenunsan,wasder<br />

DoktorEisenfaustundMisterVolkstribun<br />

VON BERTRAM JOB<br />

Indiesen aufreibenden Wochen<br />

istVitali Klitschkoimmer<br />

beides gewesen, einer<br />

von vielen und gleichzeitig<br />

ein herausragender Akteur.Die<br />

Fernsehkameras hatten wenig<br />

Mühe,ihnmitseinen2,01Meter<br />

einzufangen, wenn sie in Kiew<br />

das Hin und Her am zentralen<br />

Platz der Unabhängigkeit, dem<br />

Maidan,aufzeichneten.Derehemalige<br />

Boxchampion im gefütterten<br />

Parkawar unter den Demonstranten<br />

weder zu übersehen<br />

noch zu überhören.Das Mikrofon<br />

warsein Taktstock, mit<br />

dem er sie bald ermutigen und<br />

baldinihrerRagebremsenwollte.<br />

„Lasst euch nicht provozieren!“,rieferdannbeispielsweise,<br />

„Bleibt besonnen!“ und noch so<br />

allerlei,ohnedabeiselbstgefällig<br />

zuwirken.<br />

Ausgerechnet ein gefürchteterKönigdesK.o.wirdnunnicht<br />

müde,imProtestgegendengerade<br />

eher aufRussland fixierten<br />

Regierungskurs der Ukraine ein<br />

gewaltlosesVorgehenanzumahnen.<br />

Der „ChampionEmeritus“,<br />

sonenntmanTitelträgerdesangesehenenWorldBoxingCouncil<br />

imAusstand,zeigtaufdieseWeise<br />

Führungsqualitäten auf einem<br />

völlig anderen Gebiet. Und<br />

werdarin eine Bewerbung um<br />

höchste politische Ämter sehen<br />

will, liegt vermutlich nicht so<br />

falsch. Vielleichtauch schon für<br />

das kommende Jahr. Klitschko<br />

fordertjaNeuwahlen.<br />

Den Unbezwingbaren mit<br />

dem Kampfnamen „Dr. Eisenfaust“<br />

kann Vitali Klitschko in<br />

seinem 43. Lebensjahr ohnehin<br />

nichtviel länger geben. In der<br />

derzeitigen Situationinseinem<br />

Heimatlandallerdingskönnteer<br />

gebrauchtwerden. Hilft ihm dabei<br />

irgendwie auch seine ErfahrungalsBoxer?<br />

Vorteileausnutzen, wenn der<br />

Augenblickeshergibt:dashater<br />

in mehr als 17 Profijahren im<br />

Ring verinnerlicht. Er versucht,<br />

mitseiner Fraktion „Udar“,also:<br />

Fausthieb, und mit anderen<br />

Oppositionsparteien in die Deckungslücken<br />

hineinzustoßen,<br />

diedieRegierungWiktorJanukowitschszeigt.DieChancefürdie<br />

OppositionliegtimUnmutalljener<br />

Ukrainer, die im AssoziierungsvertragmitderEUeinehistorischeChancesehen,diemarode<br />

Wirtschaft des Landes aufzurichten<br />

und westwärts auszurichten.Unddiedagegenprotestieren,<br />

dass der Vertragauf Eis<br />

gelegt wurde, weil er ihnen eine<br />

Chance bot, die mansich durch<br />

keineLockungoderDrohungaus<br />

Moskauentgehen lassen dürfe.<br />

DarumsagtKlitschkoderÄltere:<br />

„Wirmüssenkämpfenfürunsere<br />

VisionundunserLand.“<br />

Wann immer der Kämpfer in<br />

Kiew deutsche Reporter empfing,<br />

erwies er sich als leidenschaftlicherBotschafterderjungen<br />

Republik. Wieein offizieller<br />

Repräsentant führte er seine<br />

Gäste, an Kirchen und Denkmälernentlang–undentschuldigte<br />

sich jedes Mal, wenn hier ein<br />

Platznichtsauber,dorteinHotel<br />

oder Café zu nachlässig gemanagtwar.Dasergaböftersseltsame<br />

Wortwechsel. Schöne, breite<br />

Boulevards? Könnten gepflegter<br />

sein.EinAbstecherzurKrim?Lieber<br />

erst, wenn da wieder ein<br />

GrandHoteleröffnet.<br />

DawilleinerstolzseinaufseineNationinihrerAufbruchstimmung.<br />

Und Aufbruch ist für<br />

KlitschkoimmereineBewegung<br />

hinzuDemokratieundzumWesten.Ähnlichwieaucherundsein<br />

Bruder Wladimir sich in der<br />

westlichen Welt bewährthaben:<br />

zwei dominante Schwergewichte,dieüberdieJahreChampions,<br />

Publikumsmagneten und Promoter<br />

wurden. Nichtdurch Protektion<br />

vonzweifelhaften Box-<br />

Tycoons wie Don King, sondern<br />

indemsiemitLeistungundsolidem,<br />

mehrsprachigem Auftritt<br />

am Weltmarkt überzeugten. Gut<br />

oder böse, korrupt oder makellos:esgibtimKlitschko-Kosmos<br />

nichtviel Platz für Zwischentöne.<br />

Das machtVitali so populär<br />

KAMPF2014<br />

entscheidetsich,<br />

obdieUkraine<br />

sichdochin<br />

RichtungWesten<br />

orientiert.Vitali<br />

Klitschkowird<br />

einezentrale<br />

Rollespielen.<br />

MitdemWissen<br />

desBoxers<br />

wie auch suspekt: Er hatdas Gespür<br />

für die kurzfristigen Deckungslücken,aberziehterauch<br />

die Schlangengruben im politischen<br />

Alltag ins Kalkül? Seine<br />

Geradlinigkeit, sein Charme<br />

könnten auch zum Handicap<br />

werden.WaszumTeilerklärt,warum<br />

er trotz aller Sympathien<br />

fürihnschonzweimaldarangescheitertist,Bürgermeister<br />

der<br />

Hauptstadtzuwerden.<br />

Du darfst ein, zwei Runden<br />

verlieren,sagtmanbeimBoxen,<br />

nur nicht den ganzen Kampf.<br />

Klitschkoist wieder aufgestanden,<br />

um dann stärker zurückzukommen.<br />

Inzwischen hatererklärt,<br />

für das Amtdes Staatspräsidenten<br />

kandidieren zu wollen,<br />

wieerjüngstmehrfachangedeutethat.DasmachtihnzurJahreswende<br />

zum erklärten Hoffnungsträger–vorallemfürjene,<br />

die sich eine neue, richtungweisende<br />

Politik jenseits etablierter<br />

SeilschaftenimMachtgefügeerhoffen.<br />

„VieleshatsichinderUkraine<br />

in den letzten Jahren getan“,<br />

heißtesinder DoppelautobiografiederKlitschkosmitdemTitel„UnterBrüdern“dazu–„trotzdem<br />

gibt es noch einen riesigen<br />

Berg vonProblemen. Die Demokratieistlängstnichtsoweitvorangeschritten,<br />

wie sich die Bevölkerungdas<br />

wünscht. Und die<br />

Kriminalitätsrateistzwargesunken,<br />

aber nach wie vorerschreckendhoch.“<br />

DieserneunJahrealteBefund<br />

giltmehroderwenigerunverändert,wieKlitschkoMitteDezember<br />

in einem Interviewmit dem<br />

Spiegel betonthat.Das Magazin<br />

machte den unverbrauchten<br />

Quereinsteiger zum Objekt diverser<br />

Projektionen. Endlich sei<br />

da einer,hieß es, der sich nicht<br />

kaufen lasse. Und der nichteinzuschüchternoderzuumgarnen<br />

seivonPutinsRussland,dasdem<br />

klammen Nachbarn kürzlich<br />

durch neue Kredite und gesenkte<br />

Ölpreise fürs Erste den Arsch<br />

gerettethat.<br />

Obdasreicht,umamEndeerfolgreichzu<br />

sein?ImRinghater<br />

in 47 Kämpfen nurzweimal verloren,alserjeweilswegenVerletzungen<br />

ausdem Kampfgenommenwurde.ErselbsthättevorallemimPrestigeduellmitLennox<br />

Lewis 2003 trotz einer klaffenden<br />

Wunde über dem Auge weitergemacht.SolcheEpisodenhaben<br />

den Mythos vom willensstarken<br />

Helden weiter befeuert.<br />

IhrMannkönneeinfachalleserreichen,<br />

wasersich in den Kopf<br />

setze,gabsichseineFrauNatalie<br />

nacheinemWM-Triumphzuversichtlich.<br />

InlangenHosenwirddieSituation<br />

naturgemäß etwas komplexer.GeradehatVitaliKlitschko<br />

nunseinen WM-Titel zurückgegeben.<br />

„Meine Konzentration<br />

giltder Politik in der Ukraine“,<br />

hatervoreinpaarTagenwieder<br />

betont,„ichspüre,dassdieMenschen<br />

mich brauchen.“ So<br />

sprichtderVolkstribunvoneigenenGnaden.<br />

Zwei dominante Schwergewichte, zunächst einmal sportlich: Wladimir und Vitali Klitschko Foto: Volker Roloff/Focus<br />

■ Bertram Job ist Journalist und<br />

Autor zahlreicher Bücher. Eines<br />

seiner Themen: Boxen. Er war<br />

bei jedem WM-Kampf von Vitali<br />

Klitschko live dabei


06 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE | wochenende@taz.de DER TREND | taz<br />

Experte für schlechte Nachrichten zu<br />

prophezeien hat: „Von wegen Franziskusundseindurchihnpersonifizierter<br />

katholischen Freisinn. Es gehtum<br />

Europa.DerMannwirdnochvielzutun<br />

haben. Angespornt durch den Erfolg<br />

beim Referendum wider die Rechtsgleichheit<br />

von Homosexuellen in<br />

Kroatien,sorgendieBischöfegleichfür<br />

die nächste Renaissance antifreiheitlicher<br />

Politik: VonKanzeln predigen sie,<br />

dassAbtreibungendesTeufelssindund<br />

Frauen, die sich für eine solche entscheiden,<br />

ins Gefängnis sollen. Aus<br />

Brüssel wirdeskeine Proteste geben –<br />

schließlich hatneulich die konservative<br />

Regierung in Spanien auch das<br />

Rechtauf Abtreibung erheblich eingeschränkt.Europa–daswirdmitsolchen<br />

Entscheidungen ein politischer Teppich,<br />

der vonreligiösen Maden durchsetzt<br />

istund dringend Reinigung verdient.<br />

Allein, auch in anderen Ländern<br />

wird vieles infragegestellt, waszueinem<br />

Europa des guten Lebens mal<br />

selbstverständlich gezähltwurde. BürgerrechtefürHomosexuelle,Gleichberechtigung<br />

der Frau.Nein, das wollen<br />

vieleinder EU nicht, vorallem die seit<br />

demFalldesEisernenVorhanghinzugekommenen<br />

Länder nicht. In Frankreich,<br />

wo schon vorigen Frühsommer<br />

Massen gegen das Adoptionsrechtvon<br />

LesbenundSchwulenmarschierten,als<br />

ginge es um den Untergang ihres<br />

Abendlandes,wirddaspolitischeEstablishmentschockiertdas<br />

Wahlergebnis<br />

der EU-Wahlen Ende Mai anschauen:<br />

Marine Le Pen–das istdie Marianne<br />

vonLaFranceschlechthin.Einegiftige<br />

KosmosderschwedischenMöglichkeiten<br />

VON ARNO FRANK<br />

WereinenBriefkasten<br />

hat, wirdihn darin<br />

finden.Weltweithat<br />

er eine Auflage von<br />

mehrals175MillionenExemplarenundmindestensebensoviele<br />

Kunden.MitdemErkenntniswillenvonArchäologen,dieSchicht<br />

umSchichteinerantikenKloake<br />

ausheben, blättern FeuilletonistendeshalballeJahrewiedermit<br />

spitzenFingerndurchdiesenKatalog.<br />

Er istwohlnichteinmal<br />

überbewertet,wennmanihnals<br />

ein Kompendium der Möglichkeiten<br />

liestund als universelles<br />

Wohnzimmer betrachtet. Was<br />

Archäologen über die Vergangenheitlernen<br />

wollen, dass wollendieExegetenvoneinem<br />

Möbelhaus<br />

über unsere Zukunft<br />

oder doch wenigstens Gegenwarterfahren.Wersindwir?Wie<br />

werden wir leben? Worauf werdenwirdabeisitzen?<br />

Ein guter Freund, Schauspielerund<br />

Regisseur,schrieb einmalaneinemDrehbuchübereinen<br />

Raubüberfall aufIkea. Dort<br />

wärewohl,soseinKalkül,amEnde<br />

eines langen Tages ausden<br />

Kassen und den Taschen der<br />

Kunden einiges zu holen. Gemeinsam<br />

besichtigten wir den<br />

Schauplatz, das Möbelhaus. Unauffällig<br />

schauten wir uns um,<br />

wiemansichbeiIkeaüberhaupt<br />

immer unauffällig umschaut,<br />

wenn man der vorgegebenen<br />

Routefolgt.NachdemLagermit<br />

seinen Hochregalen, das sich in<br />

einem Showdownwirklich gut<br />

machen würde, standen wir vor<br />

dieser endlosen Kassenreihe,<br />

breiter als die Mautstelleauf einer<br />

französischen Autobahn. Da<br />

dämmerte meinem Freund: Das<br />

gehtnicht,ausdemdramaturgischenZusammenprallvonskandinavischer<br />

Kumpeligkeit und<br />

krimineller Energie würde<br />

nichtswerden.DieKumpeligkeit<br />

wareinfachzugroß.<br />

Offenbar istsie das auch für<br />

manche Kunden. In den USA<br />

drehten2009einpaarLaiendarsteller<br />

die Seifenoper „Ikea<br />

Heights“,dieKulissenimMöbelhaus<br />

einfach als Filmkulissen<br />

nutzend.UndindenneuenHäusern<br />

in Peking oder Schanghai<br />

gehen die Leute sogar noch weiter.Sie<br />

halten in den ausgestelltenBettengernemalihrNickerchen<br />

oder packen auf den Tischen<br />

der Modellküchen das<br />

Abendessen aus. Hier vollzieht<br />

eine Gesellschaft sozusagen den<br />

realeSchritthineinindenvirtuellen<br />

Katalog. In Rom waresder<br />

Haruspex, der in den EingeweidenvonVögelndieZukunftlesen<br />

konnte. Heute wirdvom Kulturwissenschaftlererwartet,dasser<br />

ausdenFarbenundMusternder<br />

Waren im Ikea-Katalog so etwas<br />

wieeinegesamtgesellschaftliche<br />

Befindlichkeitdestilliert.<br />

Dabei istallein der Glaube an<br />

die Möglichkeit eines solchen<br />

Hokuspokus eigentlich schon<br />

die ganze Geschichte. Wieverwirrt<br />

vom weißen Grundrauscheneinerexponentiellsichbeschleunigenden<br />

Hypermoderne<br />

muss mansein, um ausgerechnet<br />

bei ein paar schwedischen<br />

Betriebswirtschaftlern, Markt-<br />

forschernundDesignerndieGa-<br />

WOHNWELTWie<br />

wollenwirsitzen,<br />

schlafen,leben?<br />

DerIkea-Katalog<br />

hatauch2014<br />

fürjeden<br />

idyllisches<br />

Gerümpel<br />

be zu vermuten, hier einen<br />

Durchblickzuhaben,einenAusblickwagenzukönnen?TatsächlichistIkeavorallembillig,allgegenwärtig<br />

und daher so marktbeherrschend,<br />

dass sein Katalog<br />

aus330 Seiten den ganzen KosmosderMöglichkeitenabbildet.<br />

Somit nimmt der Katalog mit<br />

seinem idealisierten Angebot<br />

nur die mögliche Möblierung<br />

unserer Realitätvorweg. WirhabenebenkeineWahl.<br />

Weralsosindwir?Dieabgebildeten<br />

Menschen entstammen<br />

augenscheinlich allen nurdenkbaren<br />

ethnischen Zusammenhängen.Würdensieinihreneinladenden<br />

Interieurs fröhlich<br />

Wo das Private öffentlich wird, bei Ikea in Nanjing/China Foto: Tony Law/Redux/laif<br />

miteinander vögeln, etwa im<br />

Fjall-BettgestellaufeinerHövag-<br />

Federkernmatratze,dannnähertenwirunsauch2014einwenig<br />

mehrderbereits1925vommexikanischenPhilosophenJoséVasconcelos<br />

entworfenen raza cósmica.<br />

Eine gute Nachricht. Und<br />

einerealistischeAussicht,zumal<br />

Ikea ausRücksichtauf wertkonservativeNationenwieRussland<br />

diesmalaufdieverstörendeDarstellung<br />

homosexueller Paare<br />

verzichtethat.<br />

Wiewerdenwirleben?Tja,wer<br />

will das sagen? Was uns die<br />

Schweden2014alsGerümpelanbieten,<br />

unterscheidet sich kaum<br />

vomGerümpelvergangenerJahre.<br />

Nur weil unter den knapp<br />

8.000 Produkten sich auch ein<br />

Nierentischfindet,lässtsichdarausnoch<br />

lange keine Sehnsucht<br />

nachdemBiedermeierderFünfzigerjahreableiten.Auchkönnte<br />

manwohltrefflich über die unterschiedlichenHolzsortenräsonieren,<br />

wüsste mannicht, dass<br />

beim Zusammenschrauben des<br />

Krempels doch wieder nurder<br />

klassisch bröselige TafelpressspanzumVorscheinkommt.Das<br />

Verhältnis zurWeltbestehtdarin,ihrdenRückenzukehren.<br />

Raum und Zeitsind knappe<br />

Güter,weilWohnraumteuerund<br />

ZeitbekanntlichGeldist.Sokonsequentwie<br />

penetrantschraubt<br />

Ikeadeshalbaneinemganzeigenen<br />

Raum-Zeit-Kontinuum. Die<br />

Botschaft lautet, noch dem<br />

„engsten Raum“ sei über ein<br />

„kreatives“ Möbelmanagement<br />

„mehr Zeit“ abzutrotzen. Ikea<br />

kenntnurausgeglicheneSingles<br />

oder glückliche Paare, die Beruf<br />

und Familie dank „cleverer Lösungen“unter<br />

einen Hutbringen.<br />

In dieser Welt sind Bücher<br />

farblich abgestimmtes Accessoire,<br />

in den Tableaus perfekter<br />

Wohnzimmerexistierenschlicht<br />

keine Fernseher,Computer nur<br />

an ausgewiesenen Arbeitsplätzen.<br />

Wienebenbei wirdhier die<br />

nostalgische Sehnsuchtnach einemZuhausebedient,daswenigerdigitalerKnotenpunktistals<br />

vielmehr ein Idylldes sozialen<br />

Zusammenlebens.<br />

Was ein richtiges Idyll sein<br />

will, darfnichtnur nach außen<br />

abgedichtet sein, das muss auch<br />

abstrahleninsElend.GemütlichkeitwirderstmitreinemGewissen<br />

genießbar,und so tutIkea<br />

nichtnur Gutes, Ikea redet auch<br />

darüber.Eine ganzeDoppelseite<br />

zeigt eine triste Wüstenlandschaft,überdieeinKindeinskizzenhaftes<br />

Zeltgemaltzuhaben<br />

scheint. „Ikea-Mitarbeiter“,steht<br />

da,„habendemUNHCRihrWissen<br />

darüber zugänglich gemacht,<br />

wie Zelte für Flüchtlinge<br />

effizienter und effektiver konstruiert,<br />

verpackt und schneller<br />

verschicktwerdenkönnen.“Und<br />

weil Ikea also dem offenbar völlig<br />

hilflosen Hohen Flüchtlingskommissar<br />

der Vereinten Nationensoselbstlossein„Wissenzugänglich<br />

macht“,können Flüchtlingeeinen„sicherenOrtzumLebenbekommen“.<br />

Fehltnurnoch,<br />

dass McDonald’sder WHO sein<br />

Wissen zugänglich macht, und<br />

dem nachhaltigen Weltfrieden<br />

wirdnichts mehr im Wege stehen.<br />

Apropos, vonkeinem Produkt<br />

ist imKatalog so oft die<br />

Rede wie von jener guten Fee<br />

namens Nachhaltigkeit, sie<br />

schwebt über die Seiten 6, 104,<br />

112,164,224,226,238und328.<br />

Eine andere Doppelseite erzähltdanndochnochetwasdarüber,wie<br />

die Strategen vonIkea<br />

sich unsere Zukunft vorstellen:<br />

„Selbstwenn du in der Innenstadt<br />

auf kleinem Raum lebst,<br />

kannstdudirmaleinenPlatzim<br />

Freien einrichten. Nur anden<br />

Parkschein solltestdudenken.“<br />

ZusehenisteinvergnügtesHipsterpärchen,<br />

das aufdem Kopfsteinpflaster<br />

zwischen einem<br />

Volvo und einem Ford seinem<br />

Hampen-Teppichausgerolltund<br />

seine Locksta-Sessel aufgestellt<br />

hat, während zwei mit Älgört-<br />

Meterware ausgeschlagene Ivar-<br />

Seitenteile einen notdürftigen<br />

Sicht- und Spritzschutzdarstellen.KeinWunder,dassdieaufgeschlossene<br />

Nachbarschaft dergleichen<br />

dufte findet. Gentrifizierung,woistdeinStachel?Klag<br />

unsraus,undwirwerdenaufder<br />

Straße „kreativ“ sein. Wenn uns<br />

dasGeldfürdenParkscheinausgeht,<br />

werden wir es uns unter<br />

denBrückengemütlichmachen.<br />

AuchdafürwirdIkeasichgewiss<br />

eine praktische „Lösung“ einfallenlassen.<br />

■ Arno Frank ist Hessenkorrespondent<br />

der taz und lebt schon


taz |DIE UTOPIE<br />

wochenende@taz.de | TAZ.AMWOCHENENDEapple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 07<br />

GöttinwiderdierepublikanischeIdee.<br />

Sieist,wierechtspopulistischeKräftein<br />

anderenLändern,nurdieStärksteunter<br />

allen.SieallehabennurdasZiel,Europa<br />

alssäkularen,alsmultikulturellenund<br />

freiheitlichen Raum zugunsten einer<br />

losenSammlungchristlicherNationalstaaten<br />

abzulösen. Seltsam istjajetzt<br />

schon,dasssich,allenAversionenzum<br />

Trotz, die religiösen Kräfte in diesem<br />

EuropaeinigsindinihrenKämpfenwider<br />

die –wie sie es verstehen – Gottlosigkeit.EssindOrthodoxe,Katholiken,<br />

Protestanten mancherorts, aber auch<br />

JudenundMuslime.Dieheterosexuelle<br />

Familie mit einer ammengleichen<br />

MutterundeinemVateralsOberhaupt,<br />

das wollen sie. Sitte und Ordnung, das<br />

wollensie.KeinBabylonderLebensstile,das<br />

sich aufdas demokratische Miteinander<br />

verständigt. Sie heißen nicht<br />

allein Le Pen, sondern auch Orban,<br />

Kaczynski oder Putin. Man muss sie<br />

wohl verstehen: Ihre Sorge istnur die<br />

Eurokrise, der Verlustder HerrschaftspositionaufderErde,dieBeibehaltung<br />

des kolonialen Anspruchs wider die<br />

Auflösung alter Ordnungen. Wenn<br />

schon Ordnung, sagen sie, dann eine,<br />

die sich wie Gott und Vaterland defi-<br />

niert.UnddieTürkei?Diewirdsichwei-<br />

ter einigen und vonder EU abgrenzen.<br />

DergriechischeNachbar,dersichnoch<br />

in den Siebzigern hochmütig vonden<br />

NeureichenamBosporusabgrenzte,ist<br />

nunabgehängt –ein Armenhaus, das<br />

nurdeshalbnichtaufdieBeinekommt,<br />

weilesnichtsandereskenntalsdieAlimentationdurchBrüssel(unddenVerzichtaufReparationsforderungennach<br />

Grenzzaun zwischen Marokko und der spanischen Enklave Melilla. Das ging auch einmal anders Foto: Juan Medina/reuters<br />

MediterraneLehren<br />

UFERDas<br />

Mittelmeerzeigt,<br />

wieUnterschiede<br />

unsvoranbringen<br />

undunsGrenzen<br />

überwinden<br />

lassen.Wir<br />

müssennur<br />

seineschillernde<br />

Geschichte<br />

betrachten<br />

VON DAVID ABULAFIA<br />

Das Mittelmeer istderzeit<br />

zerrissen, zerstückelt<br />

und zerbrochen. Dabei<br />

wardas Wesen des Mittelmeers<br />

in den vergangenen<br />

Jahrhunderten,jaJahrtausenden<br />

die meiste Zeitein anderes, ein<br />

integratives. Nurinden, historischbetrachtet,seltenenPhasen<br />

des Ausschlusses, bedingt durch<br />

politische und ökonomische<br />

Spannungen,verloresseinenintegrativenCharakter.<br />

Aufder Suche nach einer Lösung<br />

ihrer ökonomischen ProblemeschauendieLänderanden<br />

nördlichen Küsten des Mittelmeers<br />

heute auf Brüssel oder<br />

Berlin. Sie kehren ihrem Meer<br />

den Rücken zu und damitihrer<br />

Berufung, die mindestens so<br />

sehr im Mittelmeer liegt wie in<br />

Europa. Es istalso Zeit, diesem<br />

Meer seine historische Rollezurückzugeben:<br />

als Ort imZentrum<br />

der globalen Ökonomie,<br />

PolitikundKultur.<br />

DasMittelmeerhatteinseiner<br />

ganzen Geschichte immer ein<br />

großes ökonomisches Potenzial.<br />

In den integrativen Zeiten war<br />

und istdie Summe seiner Teile<br />

beeindruckend. So erreichten<br />

dieantikenRömeretwas,dasweder<br />

vorher noch nachher jemals<br />

gelang: die politische Kontrolle<br />

über das gesamte Mittelmeer.<br />

Zwischen den Küsten herrschte<br />

reger Verkehr,was dazuführte,<br />

dass sich ethnische, religiöse<br />

und sozialeGrenzen auflösten,<br />

vor allem in Alexandria oder<br />

Rom. Auch in späteren Jahrhunderten<br />

waren die Städte an den<br />

RänderndesMittelmeersOrte,in<br />

denen Menschen verschiedener<br />

ethnischerundreligiöserIdentitäten<br />

zusammenlebten –Juden,<br />

ChristenundMuslime.<br />

Im 19. Jahrhundertschuf die<br />

Kolonisierung der südlichen<br />

Küsten durch die Europäer ein<br />

sehrenges,abersehrunsymmetrisches<br />

Verhältnis zwischen<br />

dem Norden und dem Süden.<br />

Doch mit der Dekolonisierung<br />

wurden die Probleme nichtgelöst,mit<br />

denen sich die daraus<br />

entstandenen neuen Länder<br />

konfrontiertsahen. Das Mittelmeer<br />

warvon nunaninnördliche<br />

und südliche Zonen geteilt,<br />

dieweitgehendgetrenntvoneinander<br />

agierten. Keinesfalls sollenmitdieserFeststellungdieTaten<br />

der Kolonisatoren verteidigt<br />

werden,diebesondersinAlgerienäußerstbrutalundkontraproduktivwaren.EinrabiaterNationalismushattebereitsimfrühen<br />

20. Jahrhundertmit der ZerstörungdesMittelmeersbegonnen.<br />

JeneOrte,dieeinstfürdieBegegnungderKulturen,Religionund<br />

Menschen gefeiertwurden, degradierten<br />

zu monochromen<br />

Städten, die ausschließlich von<br />

der Mehrheitsbevölkerung des<br />

Hinterlandes bewohntwurden.<br />

MitdemBevölkerungsaustausch<br />

der 1920er Jahre zwischen Griechen,TürkenundArmeniernbegannen<br />

ethnische Gruppen ihre<br />

Reviereabzustecken,umdieherum<br />

Menschen und religiöse<br />

Gruppen rangiert wurden. Ein<br />

Prozess, der anhält. Heute beobachtenwirihninSyrienalsAuswanderungvonChristen.<br />

Der Kampf umStabilität,<br />

Wohlstand und Demokratie im<br />

islamischen Mittelmeer wird<br />

langwierig sein. Aber Algerien,<br />

Tunesien und Libyen besitzen<br />

ausreichend Ressourcen, um ihreStädteunddasLebenihrerBewohner<br />

so transformieren zu<br />

können,wieesauchdieGolfstaatengetanhaben.Unmöglich,den<br />

Ausgang des Arabischen Frühlings<br />

vorherzusagen. Hoffen<br />

kannmannur,dasseinebessere<br />

Zukunft am Mittelmeer ohne<br />

den massenhaften Bau von<br />

Shopping-MallswieindenGolfstaatenbewerkstelligtwird.<br />

Instabil aber sind nichtnur<br />

die südlichen Mittelmeeranrainer.WeilimmermehrFlüchtlinge<br />

vorVerfolgung oder ausökonomischer<br />

Notfliehen und an<br />

den Küsten Italiens, Spaniens<br />

und anderer EU-Länder stranden,<br />

wirkt sich diese Instabilität<br />

auchaufdienördlichenAnrainer<br />

aus.AuflangeSichtkannEuropa<br />

also garnichtanders, als wieder<br />

jene gemischten Gesellschaften<br />

desaltenMittelmeerszufördern<br />

undzuzulassen,aufdiemanhistorischsostolzseinkann.Städte<br />

wieBarcelonaundMarseillelernen<br />

längst, wie eine urbane Gemeinschaft<br />

Menschen mitverschiedensten<br />

Hintergründen integriertundorganisiert.<br />

Bedauerlich ist, dass Angst<br />

und Vorurteilediesem neuerlichen<br />

Prozess der kulturellen IntegrationimWege<br />

stehen. Diese<br />

Vorurteilefinden sich unter einerMinderheitderEuropäer,die<br />

die Vielfaltfürchtet, und unter<br />

der Minderheitder Migranten,<br />

die sich im religiösen Fundamentalismus<br />

einmauern. Eine<br />

Utopie des Mittelmeers besteht<br />

aberdarin,dieDifferenzalsWert<br />

zuschätzen,vonihrzulernen.<br />

In all der Differenz gibt es<br />

dringende Fragen, die vonallen<br />

mediterranenNationengemeinsam<br />

gestelltwerden, insbesondere<br />

wasMigrationund die FörderungdesHandelszwischenEU<br />

undNicht-EU-Ländernbetrifft.<br />

Wahrist,dassesVersuchegab,<br />

dieLänderdesMittelmeersineinem<br />

losen Staatenbund zusammenzubinden.<br />

Ungeachtet der<br />

politischenDifferenzensollenin<br />

der „Mittelmeerunion“gemeinsameProblemeangegangenwerden.<br />

Diese Idee vonder „Mittelmeerunion“ist<br />

allerdings in ihremjetzigenZustandtatsächlich<br />

mehr eine Idee, mehr eine<br />

Wunschvorstellung als ein ausgearbeitetes<br />

Konzept, das so<br />

praktizierbarwäre.<br />

Ein weiteres Elementineiner<br />

UtopievomMittelmeerwäretatsächlich<br />

ein runder Tisch, an<br />

demIsrael,diePalästinenserund<br />

die arabischen Staaten sitzen<br />

und ihre gemeinsamen Probleme<br />

ernsthaft und konstruktiv<br />

diskutieren. Die Grundlage aber<br />

füreinesolcheUtopieistdasVertrauen<br />

–obzwischen Israel und<br />

den Palästinensern oder zwischen<br />

Türken und Griechen auf<br />

Zypern. In einem utopischen<br />

Mittelmeer würden sich diese<br />

Spannungen auflösen, auch<br />

wenn es alles andere als leicht<br />

fällt, bei diesem Gedanken optimistischzusein.<br />

Um die Utopie lebbar zu machen,<br />

gibt es noch eine Bedingung:denSchutzdermaritimen<br />

Umwelt.<br />

Wenn das Mittelmeer weiter<br />

als grenzenlose Lebensmittel-<br />

Ressource und gleichzeitig als<br />

riesengroße Müllhalde behandeltwird,gehtesverloren.Schon<br />

jetzterlebteseinenkatastrophalenWandel<br />

durch Überfischung,<br />

demEinleitenvonAbwasserund<br />

den riesigen Mengen an Plastik,<br />

andenendasMeerunddieTiere<br />

ersticken. Die Nahrungskette<br />

wurdeunterbrochenundwirsehen<br />

das Ergebnis in den kleinen<br />

Mengen Fisch, die das Mittelmeernurnochhergibt.Alsgrößtenteils<br />

geschlossener Raum ist<br />

dieses Meer vondem globalen<br />

Missbrauch der Meere am heftigsten<br />

betroffen. Will mandie<br />

UtopievomMittelmeererhalten,<br />

wirdmandieBedürfnissekünftiger<br />

Generationen achten und<br />

dem Meer und seinen EinwohnernZeitgebenmüssen,sichvon<br />

demSchadenzuerholen,denwir<br />

ihnenangetanhaben.<br />

Die Zukunft des Mittelmeers<br />

liegtalsoindenHändenderLeute,<br />

die an seinen Küsten und auf<br />

seinenInselnleben,aberauchin<br />

denHändenunseraller,diesich<br />

um die Zerstörung des Mittelmeers<br />

Sorgen machen. Und es<br />

gibtnureinenWeg,dieseZerstörung<br />

aufzuhalten: die verlorene<br />

Utopie des Mittelmeers wiederherzustellen.<br />

Das bedeutet, dem<br />

Mediterranenwiederseinenhistorischen<br />

Platz zurückzugeben,<br />

alsTreffpunktvonKulturenund<br />

Menschen, als Zentrum der GeschichtederMenschheit.<br />

AusdemEnglischenübersetzt<br />

vonDorisAkrap<br />

■ David Abulafia ist Professor für<br />

Geschichte in Cambridge, England.<br />

Sein aktuelles Buch bei S. Fischer:<br />

„Das Mittelmeer. Eine Biografie“<br />

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08SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE | wochenende@taz.de<br />

DIE REPORTAGE | taz<br />

dem Zweiten Weltkrieg an die Adresse<br />

derBundesrepublik).DieTürkeistrotzt<br />

vor –ökonomisch wohl fundiert –<br />

Selbstbewusstsein. Da wirdselbstdie<br />

Aufstandskultur,diederHaderumden<br />

Geziparkbegründete,gefeiert.Manzerbröselt<br />

politische Opposition, indem<br />

mansie integriert. Im 100. Jahr nach<br />

demErstenWeltkriegwirdEuropazueinemKontinent,dervergisst,sichseiner<br />

habsburgischen Wurzeln zu vergewissern.Habsburg,daswareineguteMonarchie,<br />

die Vielfaltaushalten konnte.<br />

DieEUkönntedieseTraditionbeerben<br />

–wenn sie denn wollte und vonKleinlichkeiten<br />

absähe. Wird am 25. Mai,<br />

abends bei Auszählung der Stimmen<br />

zurEU-Wahl,nochirgendjemandparat<br />

haben, dass Brüssel eine tolle HauptstadtvonEuropaist–undjederSkepti-<br />

zismus den Nationalisten in allen Ländern<br />

in die Hände spielt?“ Also sprach<br />

derExperteundverlässtdasDachwiederdurchdieschwereEisentürundhinterlässtuns<br />

ratlos aufdem Rasen mit<br />

Rilke.Wastunwirdennnun?ErstmaleinenSchluckPfannebeckerundeineZigarette,gefülltmit<br />

individuellgewähltemInhalt.Unddann:essen!Manmuss<br />

sich stärken. Doch kaum ans Essen gedacht,<br />

betrittder nächste Experte das<br />

Dach. Man kann auch hier eben nicht<br />

mal inRuhe nachdenken. Und also<br />

müssenwir,stattdieAnkunfteinesüppigenFestmahlszufeiern,das,aufgroßenSilberplattenserviert,unsereSinne<br />

betäubt, erstmal wieder zuhören. Dieses<br />

Mal dem Fachmann fürs Kulinarische,<br />

der zu wissen meint, waswir im<br />

nächsten Jahr zu essen haben werden:<br />

„WerhatnichtschonmalaufeineSpeisekartegeschautundhätteamliebsten<br />

den Kinderteller genommen. Fand es<br />

dann aber doch irgendwie unpassend.<br />

Damit ist es spätestens 2014 vorbei.<br />

SchonjetztmachensichKleingerichte<br />

indenRestaurantsbreit.Undesgibtda<br />

einen kleinen Unterschied zu den Vorspeisen<br />

oder kleinen Appetitmachern,<br />

die manals ‚Gruß ausder Küche‘ serviertbekommt.<br />

Die Teller sollen satt<br />

machen.MalnennenWirtees‚deutsche<br />

Tapas‘oder‚TirolerAntipasti‘odereinfach‚kleineSchweinereien‘.DerTrend<br />

istsofrisch,dassnochkeineeindeutige<br />

kulinarische Genrebezeichnung existiert.<br />

Tapas sind aber sicher die beste<br />

Entsprechung. Tapa meint Deckel und<br />

hatsich aufder Iberischen Halbinsel<br />

ausdemBrauchentwickelt,eineScheibe<br />

Brot aufdas Weinglas zu legen, um<br />

Fruchtfliegen abzuhalten, vor allem<br />

wenn im Glas süßer und duftender<br />

Sherryschwamm.Ursprünglichwares<br />

eineZwischenmahlzeitodereinkleiner<br />

Imbiss,dennaufderIberischenHalbinsel<br />

wirderstkurz vorMitternachtzu<br />

Abendgegessen,undbisdahinhatman<br />

viel Zeit, in den Bodegas den ein oder<br />

anderen Aperitif zu trinken. InzwischenhatsichausdenTapaseineganz<br />

eigeneArtdesEssensentwickelt.Kleine<br />

Fleischbällchen,frittierteSardinen,gebratenePaprika–dieMinigerichtesind<br />

salzigesNaschwerk.DieKöche,diesich<br />

vom spanischen Vorbild inspirieren<br />

lassen, wollen gern mehr von ihren<br />

Künsten zeigen, zu fairen Preisen.<br />

Großflächige Schnitzel oder breitaufgefächerteBratenverbindenohnehin<br />

RECHTEDieFranzösinMarineLePenundderNiederländerGeertWildersziehengemeinsamindenEU-Wahlkampf.<br />

ImHinterlandvonNizzaundindenDörfernamMarkermeerliegenihreHochburgen.Werwähltdiebeiden?<br />

DasblondierteEuropa<br />

AUS LA TRINITÉ UND VOLENDAM<br />

ANNIKA JOERES<br />

UND TOBIAS MÜLLER<br />

Kerim ist zwölf Jahre alt<br />

underwillgleicheinmal<br />

klarstellen, dass er ein<br />

„echter Franzose“ ist.<br />

„Wirklich.“ Kerimträgt goldene<br />

Turnschuhe,ermachtgeradeein<br />

Praktikum in einem SportgeschäftinLaTrinité,einemVorort<br />

vonNizza. Sein Großvater kam<br />

einmalausTunesienindieStadt<br />

amMittelmeer.<br />

Natürlich kennt Kerim den<br />

FrontNational(FN). „Jaklar,das<br />

sind doch die mitder blonden<br />

Frau.“ Er greift noch einmal in<br />

dieChips,essinddiemitKäsegeschmack,<br />

seine Lieblingssorte,<br />

und bald istseine Mittagspause<br />

umunddieTüteleer.<br />

In Frankreich istesmanchen<br />

wiederwichtig,als„echter“Franzose<br />

zu gelten. Denn die blonde<br />

FrauanderSpitzedesrechtsradikalenFront<br />

National, Marine Le<br />

Pen, ist ständig im Radio und<br />

Fernsehen zu hören und in den<br />

Zeitungen zu lesen. Das haben<br />

auch schon Kerims Klassenkameradenmitbekommen.ImEuropawahljahr<br />

2014 könnte es ihnenundanderennochwichtiger<br />

erscheinen,zu denwirklichechtenFranzosenzuzählen.<br />

Esdürftedannnochmehrvon<br />

MarineLePenzuhörensein.Sie<br />

beschwört den Unterschied zwischen<br />

denen, die schon seitGenerationen<br />

in Frankreich leben<br />

und daher zur„grande nation“<br />

gehören, und denjenigen, die<br />

„nurdesGeldeswegenkommen<br />

undunserLandschwächen.“<br />

SiestehtgutdaindenUmfragen,<br />

genauso wie der NiederländerGeertWildersmitseinerPartijvoor<br />

de Vrijheid. Die beiden<br />

haben im Herbstangekündigt,<br />

eine gemeinsame Fraktion im<br />

Europaparlament zugründen.<br />

Im Bündnis gäbe es mehr Geld<br />

für Mitarbeiter, Dolmetscher<br />

undPRundlängereRedezeiten.<br />

AuchBrüsselkönntedanndie<br />

neue Machtder Rechten zu spürenbekommen.DieMachtallder<br />

Abgeordneten,diedieEU-Gesetze<br />

prinzipiell ablehnen. Schon<br />

jetzt sind es mehr als hundert.<br />

GewinnenimMaiauchnochdie<br />

flämische Abspaltungspartei<br />

Vlaams Belang, die rechtspopulistischen<br />

Schwedendemokraten,<br />

die italienische LegaNord<br />

und die FPÖ in Österreich dazu,<br />

sitzt mitten im Parlament ein<br />

breiterAnti-Europa-Block.<br />

LePenundWilderswollendie<br />

Gesichter dieses Blockswerden.<br />

Im November haben sie sich bereitsinDenHaagfürdasAuftaktbildgetroffen.DieWählerfinden<br />

sie bisher an den Rändern der<br />

Städte.Immermehr.Ingesichtslosen<br />

Orten wie Kerims Viertel<br />

La Trinité. Oder im niederländischen<br />

Volendam, wo Henk<br />

und Ingrid wohnen könnten,<br />

das Musterpärchen, von dem<br />

Wilders in seinen Reden erzählt.<br />

In La Trinité ragen die Häuser<br />

hoch in den Himmel. KinderfahrräderhängenüberdieBalustraden<br />

der Balkons. Im Zentrum<br />

steht eine Shopping Mall mit<br />

1.100 Parkplätzen. Es sind zwar<br />

keinezehnKilometerbisanden<br />

StrandvonNizzamitseinerpalmengesäumtenPromenadeund<br />

den Jugendstilvillen dahinter.<br />

AberfürdieMenschenimVorort<br />

istdieDistanzgrößer.Siesindärmer<br />

und die Mieten hoch, wie<br />

überallanderCôted’Azur.Eine3-<br />

Zimmer-Wohnung wie vonKerim<br />

und seiner Familie kostet<br />

mindestens 900 Eurokalt. „Ist<br />

aber auch schön hier“,sagtKerim.<br />

Aufdem Pausenhof rufen<br />

ihm manche hinterher,ersolle<br />

nachHausegehen.„DassindIdioten“,<br />

sagter.„Ichbinhiergeboren.“SeinFreundMehdinickt.<br />

10.000Menschen,8,2Prozent<br />

Arbeitslosenquote, weniger als<br />

im französischen Durchschnitt.<br />

FüreineneueFrisurzahlenFrauenetwa35Euro,indenBäckereien<br />

liegen Weihnachtsmänner<br />

mitZuckerguss. La Trinité isteiner<br />

dieser durchschnittlichen<br />

Orte, in denen die Rechtsextremen<br />

nach neuesten Umfragen<br />

die Europawahlen im kommendenMaigewinnenkönnten.<br />

FrüherhatdasHinterlandder<br />

reichen Côte d’Azur links gewählt,<br />

oft die Kommunisten.<br />

Auch in Fréderique Duponts Familie<br />

wardas so.Sie ist43Jahre<br />

altund arbeitet in Nizza als Geburtshelferin.<br />

„Den Armen wird<br />

immer mehr gegeben, den Reichennichtsgenommen.Undich<br />

als einfache Angestellte, ich<br />

mussfüralleszahlen“, sagtsie.<br />

MarineLePenkommtvor<br />

allembeiFrauengutan<br />

Eigentlich kommt Dupont gut<br />

zurecht.DieFraumitdenkurzen<br />

Haarenunddemschnurgeraden<br />

Pony trägt neue Winterstiefel<br />

undeinenMantelmit70Prozent<br />

Kaschmir-Anteil.Aberdieteuren<br />

Weihnachtsgeschenke,ihrehohe<br />

Miete in La Trinité: Sie sitzt vor<br />

ihrem bis an den Rand mit<br />

Lebensmitteln und Weihnachtsschmuck<br />

gefüllten EinkaufswagenundredetüberGeldundwie<br />

teuerallesist.<br />

Und sie überlegt, den Front<br />

Nationalzuwählen.„LePenwird<br />

sichumunsArbeiterkümmern“,<br />

sagtsie.<br />

MarineLePennutztdiediffusenAbstiegsängstegezielt.Inihrem<br />

Online-Werbespot sind palmengesäumtekorsischeStrände<br />

zu sehen, Sonnenblumenfelder<br />

in der Provence. „Frankreich ist<br />

schön. Lasst esuns schützen“,<br />

heißtesamEndedesClips.<br />

Marine Le Penkommtvor allembeiFrauenan.Besseralsihr<br />

Vater,Parteigründer Jean-Marie<br />

LePen,derKriegsveteran,dessen<br />

Stimme häufig vor Wut bebte.<br />

„Diebringtmalwas Neues“,sagt<br />

Dupont.<br />

BeiderEuropawahlenhofftLe<br />

Penaufalle,dieschoneinmalgegen<br />

Europa gestimmthaben. 55<br />

Prozentwarenes,die2005beim<br />

Referendum Nein zureuropäischen<br />

Verfassung sagten. Es war<br />

eineFrage,dieFrankreichmonatelang<br />

beschäftigte. Die Franzosen<br />

diskutierten in Hörsälen, in<br />

Talkshows, inder Metro –so<br />

ernsthaft, wie sie es vielleicht<br />

sonstnur bei ethischen Fragen<br />

wiederkünstlichenBefruchtung<br />

tun. In Brüssel wurdenach dem<br />

„Nein“dieVerfassungaufEisgelegt.<br />

Franzosen waren noch nie so<br />

überzeugt von Europa wie die<br />

Deutschen.Beidenvergangenen<br />

Europawahlen gingen nur vier<br />

vonzehnFranzosenwählen.Und<br />

heute sehen sich vieleals Opfer<br />

der Eurokrise. Die Arbeitslosigkeit<br />

isthoch, und ein Werk nach<br />

dem nächsten schließt. Daran<br />

hatauchPräsidentFrançoisHollandenichtsändernkönnen.Der<br />

Sozialist spart, wie Brüssel es<br />

möchte,denkenviele–undumarmtAngela<br />

Merkel. Frankreich<br />

erscheintden Franzosen machtlos–eineperfekteStimmungfür<br />

denFrontNational.<br />

Le Penwill sich in Brüssel dafür<br />

einsetzen, die alte Währung,<br />

den Franc, wiedereinzuführen,<br />

sie will Nein sagen zu den „EU-<br />

Technokraten“undzur„ungezügelten<br />

Migration.“ Ein Minister<br />

fürdie„Landeshoheit“solldafür<br />

sorgen, dass Brüssel ZuständigkeitenwiederandasPariserParlamentzurückgibt,etwadieSubventionen<br />

für französische Bauern.ImGrundewillderFrontNational<br />

zurück in die Normalität<br />

der50erJahre.<br />

Hunderte Kilometer weiter<br />

nördlich setzt GeertWilders auf<br />

dieNormalitätvonHenkundIngrid.<br />

Deswegen mag ihn das<br />

StädtchenVolendam.<br />

Volendam liegt am Markermeer<br />

im Norden, 20.000 Menschen,frühermeistFischer,heuteHandwerker.Morgensschwirren<br />

ihre Kleinbusse zu Baustellenimganzen<br />

Land aus, abends<br />

verstopfen sie die Autobahn<br />

nördlich vonAmsterdam. Man<br />

rackertsich ab für Haus, Kinder<br />

undFamilie.Wo,wennnichthier,<br />

sollenHenkundIngridwohnen,<br />

das fiktive Musterpaar „hartarbeitenderNiederländer“,dieWilders’<br />

Partij voor de Vrijheid so<br />

gernadressiert?HenkundIngrid<br />

sind weiß, untere Mittelschicht<br />

und,sohatWildersdaseinstformuliert,<br />

„bekommen nichts geschenkt“.<br />

Theo Koning könnte Henk<br />

sein. Mitseinen beiden Hunden<br />

läuft er an einem eiskalten DezembervormittagamDeich<br />

entlang.Koningist57undFrührentner,und<br />

mehr Volendam passt<br />

nichtineineBiografie:AlsTeenager<br />

heuerte er aufeinem Boot<br />

an.Später,alsesmitderFischerei<br />

bergab ging, machte er sich als<br />

Gipser selbstständig. Bald beschäftigteervierHandwerkerkolonnen,<br />

die quer durch die Niederlande<br />

kreuzten, nach<br />

DeutschlandundBelgien,oftsiebenTagedieWoche.TheoKoning<br />

ist kräftig, hat volles dunkles<br />

Haar und ein kerniges Gesicht.<br />

Die Plackerei hatihn geschafft.<br />

„Allesverschlissen.“<br />

SeinSohn,derdenBetriebinzwischenführt,habejetztdieBilligkonkurrenzausdemOstenim<br />

Nacken.„ErgipsteinenQuadratmeterfür3,40Euro.EinPoleoder<br />

Rumänemachtdasfür2,25.Und<br />

diebezahlenkeineSteuern,während<br />

bei uns die Hälfte abgeht.“<br />

SoeinfachdieRechnung,soklar<br />

das Fazit: „Der Pole hatmehr.“<br />

Unterm Strich bleibt: eine StimmefürWilders.Derwarntschon<br />

lange, dass Niederländer ihre<br />

Jobs an Osteuropäer verlieren.<br />

Und die Regierung nichts dagegen<br />

tut. Bei den Europawahlen<br />

2009 erzielte die Partij voor de<br />

Vrijheid in Volendam das beste<br />

Ergebnis im ganzen Land: 49,9<br />

Prozent.<br />

AlldieEU-Gesetze,„was<br />

einBullshit“,sagteiner<br />

........................................................................................................................................................................................................<br />

........................................................................................................................................................................................................<br />

Die Wahl 2014<br />

■ Er:GeertWilders,50, istderVorsitzende<br />

der niederländischen<br />

Partij voor de Vrijheid, PVV. Sie<br />

entstand aus der Groep Wilders,<br />

seiner Einmannfraktion. Zuvor<br />

hatte er im Streit die liberale Partei<br />

VVD verlassen, die heute<br />

regiert. Er wurde zuminoffiziellen<br />

Nachfolger des ermordeten<br />

Rechtspopulisten Pim Fortuyn. Im<br />

AuslandvorallemalsIslamgegner<br />

wahrgenommen, hatte Wilders<br />

nie nur ein Thema.<br />

■ Sie: Marine Le Pen, 45,ist die<br />

Vorsitzende des französischen<br />

FrontNational, FN, und Mitglied<br />

des Europäischen Parlaments.Mit<br />

15 Jahren begleitete sie ihren Vater<br />

Jean-Marie Le Pen, den FN-<br />

Gründer,zum ersten Mal in einem<br />

Wahlkampf.2003machte der sie<br />

ohne Abstimmung zurVizevorsitzenden.2011beerbtesieihndann.<br />

Bei der Präsidentschaftswahl<br />

2012 stimmten 17,9 Prozentder<br />

Franzosenfür Marine Le Pen.<br />

■ Es: Am 25. Mai 2014 wirdein<br />

neues EU-Parlamentgewählt. Als<br />

Spitzenkandidat der europäischen<br />

Sozialdemokraten soll MartinSchulzantreten.FürdieKonservativen<br />

erwägt der ehemalige luxemburgische<br />

Premier Jean-<br />

Claude Juncker eine Kandidatur.<br />

Die Hürde zumEinzugliegt nur bei<br />

3Prozent,weshalb sich auch die<br />

Alternativefür Deutschland, AfD,<br />

Chancen ausrechnet.<br />

WildersundLePen,siegehenda<br />

hin, wo etwas im Umbruch ist,<br />

wo sie Unsicherheit wahrnehmen.Dahin,wo<br />

dieArbeiterparteieneinmalgroßwaren.Siebenennen<br />

Ursachen für die Unsicherheit:dieFremden,dieRegierungen,Europa.<br />

Dass die PVV den EU-Wahlkampf<br />

zum Anti-Europa-Wahlkampfmacht,<br />

gefälltTheo Koning.„DukannstdochnichteinfachdieGrenzenöffnen“,<br />

sagter,<br />

währendseinHundanderLeine<br />

zieht. „Und all diese europäischen<br />

Gesetze, wasfür ein Bullshit.“<br />

Natürlich wirderimMai<br />

wieder PVV wählen. 72 Prozent<br />

derPVV-Wählerfindenlauteiner<br />

Umfrageauch die Kooperation<br />

mitLePengut.Europazurückzudrängen<br />

sei wichtiger,als in jedemPunktübereinzustimmen.<br />

Wovonmanwenighörtindiesem<br />

Bullerbüder Selbstgenügsamkeit,istdieSachemitdemIslam.EsgibthierauchkaumMigranten.<br />

Im Ausland sieht man<br />

GeertWildersvorallemalsAntiislamisten.<br />

In den Niederlanden<br />

bestimmen andere Aspekte den<br />

rechtspopulistischenDiskurs.<br />

„Mehr Blauauf den Straßen“<br />

für die Sicherheit, „mehr Hände<br />

am Bett“ für den Pflegebereich,<br />

das fordertdie PVV schon seit<br />

2006, als sie erstmals zu den<br />

Wahlenantrat.Undalsesdarum<br />

ging, den EU-Vertrag abzulehnen,warWilderseinerderHauptagitatoren.<br />

Es sei nicht der Rassismus,<br />

sagtJanSnoek,dereineFischbude<br />

aufder Volendamer Uferpromenadebesitzt,essei„wegender<br />

Arbeit“. Die Entwicklungshilfe<br />

streichen und das Geld in die<br />

Pflege „unserer Alten“stecken,<br />

solche Ideen findet der Fischhändler<br />

gut. Wilders zu wählen,<br />

darüberdenkternach.<br />

„Die wollen es doch nichtanders“,sagtSnoek<br />

und zuckt mit<br />

denSchultern.DasistdieEssenz<br />

des niederländischen Rechtspopulismus.<br />

Ein anklagender Zeigefinger,der<br />

aufalleweist, die<br />

sich vermeintlich entfernt ha-<br />

ben vomVolk. Vondenen, die<br />

GeertWilders später Henk und<br />

Ingridtaufte.DaspolitischeEstablishment.DiekulturelleElite.<br />

Die Bühnen, die Wilders und<br />

LePeninzwischenbetreten,werdenimmergrößer.Auchmedial.<br />

An einem MontagimDezember<br />

istdie erst23Jahre alte Cousine<br />

von Marine, die Abgeordnete<br />

Marion Maréchal Le Pen, im<br />

Frühstücksfernsehen zu Gast,<br />

amselbenAbendwirdMarineLe<br />

Penineiner populären Radiosendung<br />

interviewt, und um 22<br />

UhrtrittihrVizeineinerPolitiksendungauf.Neuerdingsmeldet<br />

sichallepaarTageeinProminenter<br />

zu Wort,der den FN unterstützt,<br />

zuletzt der Schauspieler<br />

AlainDelon.<br />

„Der FrontNationalist heute<br />

doch ganz normal“, sagt Yves in<br />

seinem Garten, 35 Kilometer<br />

nördlich vonNizza. Er wirdihn<br />

imMaiwählen,möchteaberseinen<br />

Nachnamen nicht sagen.<br />

„Muss ja nichtjeder wissen.“ 51<br />

istder Mann mitdem Lederhut,<br />

in Duranus isteraufgewachsen.<br />

Er liebt sein Dorf und seinen<br />

1.000 Quadratmeter großen<br />

Garten, in dem er stundenlang<br />

die Beete hackt, dicke Bohnen<br />

aussätund den Kompostmit einerdickenHeugabelumgräbt.<br />

Die Rechtsextremen haben<br />

inzwischen auch zufriedenen<br />

Menschen wie Yves einreden<br />

können, es ginge ihnen bald<br />

schlechter.IndenhübschenDörfern<br />

der Côte d’Azur haben sich<br />

bei den Präsidentschaftswahlen<br />

40 Prozentfür den FrontNationalentschieden.<br />

Auch in Duranus.<br />

Die Fassaden sind gepflegt,<br />

am schwarzen Brett im Rathaus<br />

wirbteineFraunamens„Iris“für<br />

ihren Yogakurs, eine Familie<br />

möchte ihren „neuwertigen“<br />

Wohnwagen verkaufen, eine andereihrenSitzrasenmäher.<br />

Jetzt im Dezember ernten die<br />

EinwohnerihreOliven.Siespannen<br />

große Netze unter die BäumeundschlagenmitStöckenauf<br />

dieÄste,wiemanesschonim17.<br />

Jahrhunderttat.InvielenGärten<br />

stehennochPorreeundKohl,das<br />

kleine Rathausist mitsilbernen<br />

Girlanden geschmückt. Wären<br />

nichtdiemodernenAutos,könnteDuranusnochinden60erJahren<br />

stecken. „Wir wollen, dass es<br />

sobleibt,wieesist“,sagtYves.WovorerAngsthat?„Irgendwann<br />

bestimmen die in Brüssel, dass<br />

ichmeineOlivennichtmehrerntendarf“,sagter.<br />

Marine Le Pens Wahlprogrammkennternicht,esinteressiertihn<br />

auch nicht. Er istein<br />

Wähler,wiesieimmerwiederin<br />

Umfragen auftauchen, die „einemGefühlnach“rechtsextrem<br />

wählen. GeertWilders kennter<br />

zwar auch nicht, aber er sagt:<br />

„WennLePenmitdemHolländer<br />

zusammenarbeitet, haben wir<br />

am Ende wieder eine Brüsseler<br />

Partei.DasistdochUnsinn.“Der<br />

FrontNationalsolle sich um die<br />

französischenDörferkümmern,<br />

nichtumdie niederländischen.<br />

Den Haag, 13. November 2013: Marine Le Pen und Geert Wilders verkünden ihr Bündnis Foto: dpa<br />

„Ich bin nichtrechtsextrem. Ich<br />

magmeinLand“, behaupteter.<br />

Marine Le Penaber istrechtsextrem,auchwennsieihreWorte<br />

strategischer wähltals ihr Vater.BetendeMuslimebezeichnete<br />

sie malals „Gruppe, die wie<br />

KarnickelaufdemBodenhockt“,<br />

die Einwanderung ausfremden<br />

Ländernmöchtesieganzverbieten,<br />

und immer wieder spricht<br />

sie sich für die Todesstrafe aus.<br />

UndsielässtihrenVatermachen,<br />

der bei einer Wahlkampfveranstaltungkürzlichsagte,dieRoma<br />

seien„einstinkendesProblem“.<br />

AndereFN-Mitgliedersindoffen<br />

rassistisch. Zwei wurden in<br />

den vergangenen Wochen von<br />

der Partei ausgeschlossen, weil<br />

siedieschwarzeJustizministerin<br />

ChristianeTaubiramiteinemAffen<br />

verglichen hatten. Der Spitzenkandidatfür<br />

die Kommunalwahlen<br />

in Straßburg schlug vor,<br />

Kampfhunde aufKriminellezu<br />

jagen und Familien ausSozialwohnungenzuwerfen,wennein<br />

MitgliedStraftatenverübe.<br />

Die „blonde Frau“LePen und<br />

ihreAnhängermachennichtnur<br />

Kerimund Mehdi aufdem Pausenhof<br />

Stress. Sie könnten auch<br />

inEuropafürgroßesUnbehagen<br />

sorgen.<br />

AufdemMarktvonVolendam<br />

kommtdann auch eine Ingrid<br />

vorbei. „Ich heiße wirklich so“,<br />

sagt die blonde Frau. Ein vorweihnachtlicherSamstagmittag,<br />

Senioren unterhalten sich zwischen<br />

Waffelbude und Obststand,<br />

die Jungen ziehtesrüber<br />

zur Shopping Mall, Fischbrötchen<br />

und Energydrink in der<br />

Hand. Ingrid Tolist beladen mit<br />

Einkaufstüten.Sieist40,arbeitet<br />

ineinemSchuhgeschäft,trägteinen<br />

eleganten schwarzen Ledermantel<br />

und große Ohrringe.<br />

AuchsiehatPVVgewählt.<br />

IhrmachtvorallemdieKriminalität<br />

Sorge. Die Diebstähle,<br />

„man kann kein Fahrrad mehr<br />

draußen stehen lassen“, und<br />

dannerstdieEinbrüche.Neulich,<br />

sagt sie, ging ihr Mann abends<br />

zumRauchen vordie Tür. „Und<br />

standeinem,nunja,osteuropäischen<br />

Mann gegenüber,der einen<br />

Bus des Nachbarn fotografierte.“SieriefendiePolizei.<br />

„Es gehtmir nichtumDiskriminierung.<br />

AlleMenschen sind<br />

dochgleich!“,sagtsiezwarsofort.<br />

Aberdoch:DassozialeProfilder<br />

Parteisprichtsiean.UnddieAblehnung<br />

offener Grenzen. Die<br />

verursachten doch nur Elend:<br />

„Polnische Handwerker, brauchen<br />

wir das wirklich, wenn Volendamer<br />

dadurch ihre Arbeit<br />

verlieren?“ Ingrid Tol gibt zu,<br />

sich über „negativeSeiten“der<br />

PVVnochnichtinformiertzuhaben.<br />

Auch das Wahlprogramm<br />

kenntsiekaum.<br />

DasverbindetsiemitdemRübenzüchterausSüdfrankreich.<br />

■ Annika Joeres, 35, ist freie Journalistin<br />

in Südfrankreich<br />

■ Tobias Müller, 38, ist taz-Korrespondent<br />

inden Niederlanden


10 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AM ARGUMENTE | taz<br />

nurnoch wenige mit kultivierterKüche.AlsohermitdenKindertellern.“<br />

Also sprach der Experte<br />

fürs Kulinarische und verschwindet<br />

wieder durch die Eisentür<br />

und lässtuns ratlos auf<br />

dem Rasen mitRilke. Zu essen<br />

haben wir immer noch nichts.<br />

AberwerdenktschonansEssen,<br />

wenn es ums Denken geht. Und<br />

dadenkenmitspielenzutunhat,<br />

denken wir jetzt: Ein Spiel! Wir<br />

legendenRilkebeiseite,dennder<br />

Mann fürs Spielerische betritt<br />

den Rasen. Und wirft uns einen<br />

Ball zu. Natürlich wollen alle<br />

spielen, wenn ihnen ein Ball zugeworfen<br />

wird. Die meisten<br />

MännerinderRedaktiondaunten<br />

versuchen dann, einen Fuß<br />

an den Ball zu bekommen, auch<br />

wenn sie vielleichtgar nichtso<br />

gut Fußball spielen können.<br />

Dass das winzige Rasengeviert<br />

aufder Dachterrasse eigentlich<br />

zu klein für ein gepflegtes Spiel<br />

aufzweiToreist–egal.Undwenn<br />

derBallüberdenZaungehtund<br />

ganz unten dann die Windschutzscheibe<br />

eines vorbeifahrendenAutosdurchschlägt,wird<br />

schon keiner einen taz-Redakteurbeschuldigen,sonderneher<br />

mitdem Finger aufdie billigen<br />

Wohnungen gegenüber zeigen,<br />

wo genügend Migrantenbengel<br />

wohnen, denen manjafür gewöhnlich<br />

alles Ungute zutraut.<br />

Währenduntenvon irgendwem<br />

irgendwerbeschuldigt wird, redet<br />

oben die verspielte MännerrundeüberunserenTürkenund<br />

fragtsich, ob der Özil bei den<br />

Engländern endlich so viel gelernt<br />

hat, dass er der Weltmeisterschaft<br />

seinen Stempel<br />

aufdrücken kann. Auch Frauen<br />

des Hauses reden jetzt mit: „Ich<br />

interessiere mich ja eigentlich<br />

nicht für Fußball, aber wenn<br />

GEHT’S NOCH?<br />

2014: Es wirdschlomm<br />

IM NÄCHSTEN JAHR WIRD ALLES SCHLECHTER –<br />

SO VIEL WENIGSTENS IST SICHER<br />

Sagen wir es besser gleich: Das Jahrwirdrichtig,richtigschlimm.Und<br />

Jahr 2014 wird superscheiße. zwar aufallen Ebenen. Es wirddas<br />

Sämtliche Wetterphänomene schlimmste Jahr überhaupt.<br />

erreichenaufdersteilenTreppe „Schlimm“ reicht daals Ausdruck<br />

abwärtsdienächsteStufe:Wasvoriges längstnichtmehr,deshalbmuss eigens<br />

das Attribut „schlomm“erfun-<br />

JahrnochüberdenPhilippinentobte,<br />

verheertnun Thüringen, während in den werden, was–wenwundert’s? –<br />

Ostasien ein Weltraumsturm sein üblesWerk<br />

versieht. „Pech“nennen das 2014wird.<br />

zugleich Wort und Unwort des Jahres<br />

die Klimaskeptiker,von der US-Umweltbehörde<br />

bis Harald Martenstein. sowieso schon krank sind. Schweine-<br />

Allewerden krank, soweit sie nicht<br />

Und eigentlich haben sie damitjagar grippe, Vogelgrippe, Katzengrippe,<br />

nichtmalsounrecht. Menschengrippe –eine Seuche nach<br />

Spätestens im März 2014 läuft das deranderengreiftmitlangengrünen<br />

Internetüberundistnichtmehrzugebrauchen.<br />

Dafür arbeitet jeder Zweite und fleucht. Auch der Osterhase wird<br />

Armen nach allem, was dakreucht<br />

nunals analoger Spitzel bei NSAoder krank und der Weihnachtsmann. Beidewerden2014nichtzuunskommen,<br />

BND. Jeder erste wiederum wirdarbeitslos.<br />

Machtaber nichts, denn mit ganz schlomm. By the Wayist 2014<br />

dem Eurokann mansich 2014 allenfalls<br />

noch den Arsch abwischen. Von IndianerauchdasJahrdesWeltunter-<br />

nach einer Weissagung der KarokeederneuenRegierungwerdenwir201gangs.<br />

Und deren Prophezeiungen<br />

nichtmehrregiert,sondernbloßnoch sind bislang noch immer korrekt eingetroffen<br />

(Christi Geburt, Mondlan-<br />

negiert.Negiert,haha.Stattregiert,hahaha.<br />

Auch der Humor wird 2014 dungsowiezahlreicheErgebniswetten<br />

schlechter denn je. Til Schweiger und derdrittenfinnischenLigamitexakter<br />

Matthias Schweighöfer heißen die Tordifferenz).<br />

Stars, über die manauch im neuen Am Ende werden wir allesterben.<br />

Jahrvergeblichversuchtzulachen. Klingtschlomm,istesabernicht,denn<br />

Doch 2014 wirdohnehin viel mehr irgendwannwäredasehpassiert.<br />

geweintals gelacht. Denn das neue<br />

ULI HANNEMANN<br />

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.....................................................................................................................................................................................................<br />

Ja, wir mussten zahlen<br />

EUROKRISEWaresrichtig,dieirischenBankenaufKostendereuropäischen<br />

Steuerzahlerzuretten?Moralischgesehennicht–politischleiderschon<br />

LIEBESERKLÄRUNG<br />

2014: So schlimm wirdesnicht<br />

DASNÄCHSTE JAHR SOLLTEN WIR NICHT EINFACHABSCHREIBEN:<br />

DENN ES GIBTJADIE HÖHLENWASSERASSEL<br />

Natürlich, einerseits: 2014 wird<br />

wieüblichTod,ElendundVerwüstung<br />

bringen –sowill es<br />

die Naturdes Menschen. Und<br />

ausdemselben Grund ebenso sicher<br />

wird2014 Freude, Liebe und Bezauberndes<br />

für uns bereithalten. Für die<br />

meistenjedenfalls.<br />

Aberwäremannichteinübellauniger,<br />

misanthropischer Ork, würde<br />

man nicht Ersteres wider besseren<br />

Wissens beiseiteschieben und Letzterem<br />

mit hoffnungsvoller Vorfreude<br />

entgegenblicken? Oft istja–die zwei<br />

SeitenderMedaille,Yin/Yangundder<br />

ganze spirituelleQuark, Sie kennen<br />

das –beides in einem Themavereint!<br />

Vonder notwendigen Kritik an der<br />

VerelendungganzerLänderdurcheine<br />

enthemmte Wirtschaftspolitik ist es<br />

nureinwinzigerSchrittbiszumfauligen<br />

Eurokritikertum broderschen<br />

Ausmaßes. Also sollten wir uns trotz<br />

allemdarüberfreuen,dassam1.Januar<br />

Lettland der Eurozone beitrittund<br />

uns der Auflösung des ganzen völkischenundnationalenUnfugseinkleinesbisschennäherbringenwird.<br />

Denn die Prüfungen werden hart<br />

sein: 100. Jahrestagdes Beginns des<br />

ErstenWeltkriegs,Fußball-WM,25Jah-<br />

.................................................................................................................................<br />

apple Unser Papst<br />

wie er in Texten von Ulrike Herrmann und<br />

Ambros Waibel ins Gebetgenommen<br />

wurde, war heiß begehrt–auf taz.de<br />

www.taz.de/!129715<br />

re Mauerfall, die elfte Staffel von<br />

„DeutschlandsuchtdenSuperstar“,75.<br />

Jahrestag des Beginns des Zweiten<br />

Weltkriegs –das bedeutet unendlich<br />

vieleGelegenheiten,allemühsamantrainierten<br />

chauvinistischen HemmungenüberBordzuwerfenundsich<br />

im Morast ausschwarz-rot-goldener<br />

SelbstbesoffenheitundherbeihalluziniertemOpfergetuezusuhlen.<br />

DochselbstindergrößtenDunkelheitfindet<br />

sich Trost. Während aller<br />

drohenden Live-Schaltungen zu „Fanmeilen“,<br />

beiAuftrittenvonDieterBohlensamtMiezeKatz<br />

und Übertragungen<br />

bundespräsidialer BesinnungsredenkönnenwirunsdochanErfreulicheshalten.<br />

Wussten Sie, dass das Höhlentier<br />

desJahres2014dieHöhlenwasserassel<br />

ist?Dasbiszu8mmlangeTierchenist<br />

blindundunpigmentiert,lebtsofriedlich<br />

wie unauffällig im Grundwasser<br />

weit unter unseren Füßen glücklich<br />

und still vorsich hin und erteiltuns<br />

damiteine Lektion in Sachen Dezenz<br />

und gutes Benehmen. Wiekönnte ein<br />

Jahr, das der Höhlenwasserassel gewidmet<br />

ist, anders werden als ein<br />

trostreiches und hoffnungsfrohes?<br />

Also:Prosit2014!<br />

HEIKO WERNING<br />

VON ULRIKE HERRMANN<br />

Wohin sind die Rettungsgelder<br />

verschwunden?<br />

DiesesRätselderEurokrise<br />

istnoch immer nicht<br />

gelöst. Attac Österreich hatsich nun<br />

bemüht,zumindestfürIrlandnachzuzeichnen,<br />

wasaus den Hilfskrediten<br />

gewordenist.<br />

Feststeht: Der irische Staathat inzwischen<br />

89,5 Milliarden Euroaufgewandt,<br />

um seine Pleitebanken zu retten.Davonkamen67,5MilliardenEuro<br />

ausdem Ausland –vor allem vomInternationalen<br />

Währungsfonds (IWF)<br />

und aus den Rettungsschirmen der<br />

Eurostaaten. Den Resthaben die Iren<br />

selbstbeigesteuert, indem sie unter<br />

anderem ihre staatliche Pensionskasseplünderten.<br />

Aber werhat vondiesen Geldern<br />

profitiert?DieseFragekannauchAttac<br />

Österreich nichtwirklich klären, was<br />

nicht die Schuld der Aktivisten ist.<br />

DenndieeuropäischenRettungsaktionen<br />

sind von extremer Geheimhaltungumwoben.<br />

Dennoch istdas Attac-Papier interessant,<br />

weil es die zu Irland verfügbaren<br />

Erkenntnisse bündelt–und auch<br />

Fragen aufwirft, die nichtimmer ins<br />

gängige Freund-Feind-Schema passen.<br />

So wird indirekt deutlich: Ein<br />

Hauptprofiteur der Rettungskredite<br />

war ausgerechnet die Europäische<br />

Zentralbank (EZB), denn sie wardie<br />

größteGläubigerinderirischenPleitebanken,<br />

als das Hilfspaket Ende 2010<br />

beschlossen wurde. Dies zeigt eine<br />

Studie des Dubliner Ökonomen Karl<br />

Whelan,dieAttaczitiert.<br />

Die irische Krise lässtsich in drei<br />

Kapiteln erzählen. Die erste Phase<br />

währte von1996 bis 2007.Indieser<br />

Zeit nahmen die irischen Banken<br />

hemmungslosKrediteimAuslandauf<br />

und entfachten einen Bauboom, der<br />

sogardieImmobilienblaseindenUSA<br />

weitübertraf:ProKopfbautendieIren<br />

viermalsovieleHäuserwiedieAmeri-<br />

kaner–unddieImmobilienpreisever-<br />

Zypern führtvor,<br />

wie extrem riskant<br />

es ist, die Gläubiger<br />

vonPleitebanken<br />

heranzuziehen<br />

vierfachten sich in nureinem Jahrzehnt.<br />

Die zweite Phase begann Mitte<br />

2008: Die Finanzkrise in den USA<br />

führte zu einer weltweiten Wirtschaftskrise,<br />

die auch Irland erfasste.<br />

DieHauspreisesanken,dieBauindustriebrachzusammen,unddieZahlder<br />

Arbeitslosenstieg.DieLagewarsodesolat,<br />

dass die ausländischen Banken<br />

nichtmehrbereitwaren,denirischen<br />

Instituten weiter Geld zu leihen. AuslaufendeKreditewurdennichtverlängert,<br />

sondern die ausländischen BankenverlangtendieSummenzurück.<br />

Das nötige Geld liehen sich die irischen<br />

Banken zuerstbei der Europäischen<br />

Zentralbank und später bei der<br />

irischenNotenbank,dieebenfallszum<br />

EZB-System gehört. Um es kurz machen:VonMitte2008bisOktober2010<br />

borgtensichdieirischenPleitebanken<br />

insgesamt109MilliardenEurobeider<br />

EZB und der irischen Notenbank –<br />

währendausländischeGläubigeretwa<br />

50MilliardenEuroausIrlandabzogen.<br />

Die dritte Phase setzte im November<br />

2010 ein, als das europäische Rettungspaket<br />

für Irland beschlossen<br />

wurde. Davon profitierte auch das<br />

EZB-System, das 16,9 Milliarden Euro<br />

erhielt. Trotzdem sind die Notenbankennoch<br />

immer die größten GläubigerinIrland–währendsichausländische<br />

Banken und Fonds inzwischen<br />

fastganzzurückziehenkonnten.<br />

DieRettungsgeschichteIrlandshinterlässteineFrage,diekontroversdiskutiertwird:<br />

Waresrichtig, die irischen<br />

Banken zu retten, indem die<br />

Steuerzahler und das EZB-System<br />

sämtliche Kosten übernahmen? Nur<br />

ein Beispiel: Man hätte die Besitzer<br />

vonungesichertenBankanleihenheranziehen<br />

können, was16Milliarden<br />

Eurogesparthätte.<br />

Attac positioniert sich kämpferisch:<br />

„Gut istlediglich die Lage der<br />

europäischen Finanzeliten. Gerettet<br />

wurdedasWho’sWhodesBankensystems,<br />

nichtdie Menschen in Irland.“<br />

Stimmt.AberMoralalleinreichtnicht.<br />

Dies zeigt Zypern. Dortwurde ausprobiert,<br />

wassich Attac offenbar als<br />

Idealfall vorstellt: In diesem März<br />

mussten alleBankkunden haften, die<br />

mehr als 100.000 Eurobesaßen. Das<br />

spartezwareinpaarMilliardenanRettungskosten,trotzdemistdasErgebnis<br />

unerfreulich. Zypern gehörtfaktisch<br />

nicht mehr zur Eurozone, sondern<br />

wird durch rigide Kapitalkontrollen<br />

abgeschottet,damitnichtdasgesamte<br />

Geld flieht. Ein Ende dieser ZwangsmaßnahmenistnichtinSicht.<br />

Zypern führtvor,wie extrem riskant<br />

es ist, die Gläubiger vonPleitebanken<br />

heranzuziehen. Daher sollte<br />

sich die Debatte verlagern: Wiekann<br />

verhindertwerden,dassBankenüberhaupt<br />

inKonkurs steuern? Es wäre<br />

schön, wenn Attac dazu Vorschläge<br />

präsentieren würde, die gut durchdachtsind.


taz |ARGUMENTE<br />

www.taz.de | TAZ.AMWOCHENENDEapple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 11<br />

WMist …“Schönwirddas,wenn<br />

derersteBallgespieltistinBrasilien.Endlichdürfenwirüberdie<br />

WM-Chancen des neuen belgischenWunderteamsreden,darüber,wievieledeutscheTrainer<br />

irgendwelcheNationalteamszur<br />

WM geführthaben,undunsfragen,warumUruguayschonwieder<br />

so weit kommt. In diesem<br />

Sommer müssen wir nicht jedemSatzübereinvonderFifaorganisiertes<br />

Event eine Portion<br />

MitgefühlfüralldieSklavenbeifügen,dieeinederartigeWMerst<br />

ermöglichen. Und wenn die<br />

deutschendieWMdochnichtgewinnen<br />

sollten, dann haben wir<br />

den Brasilianern wenigstens ein<br />

neues Urlaubsdomizil geschenkt.OderbehältderDFBdas<br />

speziell für ihn entwickelte<br />

Teamcamp und wirddortauch<br />

während der WM 2018 Quartier<br />

nehmen,umvondortauszuden<br />

Spielen in Russland zu fliegen?<br />

DortistdasBöseweiterhinsoböse,dasssichjederRegent,undsei<br />

erselbsteinmieserTyp,einpaar<br />

Moralpunkte holenkann, wenn<br />

er mitdem Finger aufRussland<br />

zeigt. Der kalte Sportkrieg tobt<br />

auch nach den Spielen vonSotschi<br />

weiter. Hauptsache, die<br />

Sportler halten die Klappe. Sie<br />

sollen die Letzten sein, die glaubensollen,dassSportnichtsmit<br />

Politikzutunhat.Freuenwiruns<br />

also aufeine Medaille vonClaudiaPechsteinundaufihregroße<br />

Lebensbeichte am Ende des JahresbeiBeckmann:„Wasichalles<br />

genommen habe.“ Oder doch<br />

eher:„Warumichsotollbinund<br />

warum es mich nichtwundert,<br />

dassmichkeinermag.“DasProblem<br />

kenntauch der FC Bayern,<br />

derdieSpielergehälterweiterhin<br />

so gestalten will, dass sich ein<br />

französischerWeltfußballermit<br />

Die Rehabilitation vonAssad<br />

„Stabilität“istdasZauberwort.SofortistdemWestenderMassenmordinSyriensogutwieegal<br />

Das syrische Regime wirdwieder<br />

salonfähig. Schon in den<br />

vergangenen Wochen streckten<br />

europäische Botschaften<br />

ihreFühlerinRichtungDamaskusaus.<br />

Nunbekundeteauchderhochrangige<br />

US-Diplomat Ryan Crocker,ehemals<br />

BotschafterinSyrien,manmüssemit<br />

demsyrischenPräsidentenBascharal-<br />

Assad ins Gespräch kommen. Wieder<br />

einmalzeigtsich:Eslohntsichfürdas<br />

syrische Regime, einfach abzuwarten<br />

und gleichzeitig unbeirrt exzessive<br />

Gewalteinzusetzen.Nachzweieinhalb<br />

Jahren,indenendieinternationaleGemeinschaft<br />

dem immer hemmungsloserenTötenwortgewaltig,dochweitgehend<br />

tatenlos zugesehen hat, lenkt<br />

sienunlieberein.Niemandredetnoch<br />

davon, den Druck aufAssad zu erhöhen.<br />

Vorwenigen Monaten sah das für<br />

eine kurze Zeitanders aus. Im August<br />

2013gerietendieUSAunterDruck,militärischeingreifenzu<br />

müssen.Ermutigt<br />

dadurch, dass die internationale<br />

Gemeinschaft nach mehreren vorherigen<br />

Einsätzen von Chemiewaffen<br />

stetsabwiegelte,daslassesichjanicht<br />

beweisen, schien das Regime mitseinem<br />

GiftgasbombardementimUmland<br />

vonDamaskus den Bogen überspanntzuhaben:<br />

Der Todvon über<br />

1.000 Zivilisten durch Sarin führte zu<br />

internationalem Unmut. Übrigens<br />

selbstunter den Verbündeten Assads.<br />

AusIran,dasdemRegimesonstunbeirrtdenRückenstärkt,twittertePräsidentHassan<br />

Rohani verschnupft, der<br />

Einsatz vonChemiewaffen sei unbedingt<br />

zu verhindern. Auch wenn es<br />

vielleichtnur darum ging, die Nuklearverandlungen<br />

nichtzugefährden,<br />

waren das ungewohnte Töne ausTeheran.<br />

DochallerscharfenVerurteilungen<br />

ausdemWestenzumTrotz–Assadließ<br />

es gemächlich angehen. Zunächsttat<br />

die syrische Regierung, als sei überhauptnichtspassiert.ErstalsMoskau<br />

über seine Kanäle eilige Schuldzuweisungen<br />

an die Rebellen verbreiten<br />

ließ, griff Assads Medienteam<br />

das Thema auf. Nach weiteren<br />

vier Tagen fortgesetzten konventionellen<br />

Bombardements der<br />

vomGasgetroffenenVororte<br />

erklärte die Regierung sich<br />

bereit, den ohnehin in Damaskus<br />

befindlichen UN-Inspektoren<br />

Zugang zu gewähren.<br />

Als dann tatsächlich eine<br />

internationale Intervention<br />

drohte, lenkte Assad schließlich<br />

einundsichertezu,dieChemiewaffen<br />

abzugeben. Statt das Regime aufgrund<br />

seiner unwägbaren Aktionen<br />

mit Massenvernichtungswaffen zur<br />

Rechenschaft zu ziehen, scheute sich<br />

die internationale Gemeinschaft, die<br />

Urheber des Angriffs auch nurzube-<br />

Foto: Heinrich-Böll-Stiftung<br />

nennen geschweige<br />

denn, die Drohung<br />

einer Intervention<br />

wahrzumachen.<br />

Die Übereinkunft<br />

über die<br />

Chemiewaffen,<br />

verhandelt zwischen<br />

Russland<br />

unddenUSA,ohne<br />

SyrerinnenundSyrer<br />

zu Rate zu zie-<br />

BENTE SCHELLER<br />

hen, wurde welt-<br />

weitalsErfolgverkauft,auchwenndie<br />

UmsetzungindenSternensteht.<br />

Zu erwartende Verluste und das<br />

AusbleibenüberzeugenderErfolgebei<br />

denInterventionenimIrakundinAfghanistan<br />

haben eine allgemeine<br />

Aversion gegen militärisches EngagementinKonfliktenin<br />

der Region verursacht.<br />

Auch die Katerstimmung<br />

über die arabischen Revolutionen<br />

trägtzu dermassivenAbwehrhaltung<br />

bei. Die syrische Opposition verfügt<br />

aufgrund der jahrzehntelangen UnterdrückungundVerfolgungüberkeine<br />

Integrationsfigur.Und sie hates<br />

während des nunfastdrei Jahre andauernden<br />

Aufstands nichtgeschafft,<br />

sich auch nurinprinzipiellen Fragen<br />

über die künftige Staatsform zu einigen.<br />

Für diejenigen, die im Lande unter<br />

immer schwierigeren Bedingungen<br />

arbeiten, hatdie Gründung der Koalition<br />

keine spürbare Verbesserung gebracht:<br />

Die Hoffnung, dass ihre internationaleAnerkennung<br />

als „legitime<br />

Vertretung“ des syrischen Volkes verstärkte<br />

politische und humanitäre<br />

Unterstützung in befreiten Gebieten<br />

ermöglichen würde, wurde enttäuscht.<br />

Bis heute kooperiertdie UN allein<br />

mitder syrischen Regierung –auch<br />

wenn dies bedeutet,dassHilfsgüter<br />

weiteTeileder Bevölkerungnichterreichen.<br />

Selbst bei<br />

einem für die gesamte<br />

Region bedrohlichen<br />

Phänomen,<br />

der Ausbreitung<br />

von Polio,<br />

machte mankeine<br />

Ausnahme. Impfstoff<br />

liefert die<br />

WHO nuranDamaskus und erreicht<br />

also gerade diejenigen nicht, die sowohl<br />

besonders gefährdet sind als<br />

auchindieNachbarstaatenodernach<br />

Europadrängen.<br />

Die Unsicherheitdarüber,obdie<br />

dem Westen genehmen Akteure stark<br />

genugseinwerden,anAssadsStellezu<br />

treten, führtvielfach zu einer stark<br />

vereinfachten Darstellung –ebenjener,diedasRegimevonAnfanganheraufbeschworen<br />

hat: Ohne Assad, so<br />

die Lesart, verfälltdas Land ins Chaos<br />

und wirdzueiner Brutstätte für Salafisten.<br />

Wasdabei ignoriertwird, ist, dass<br />

diesnichttrotz,sonderngeradewegen<br />

Assads Vorgehen in den vergangenen<br />

Jahrengeschieht;nichttrotzinternationalerBemühungen,sondernweilder<br />

WestendieBrutalitätinderAuseinandersetzunginSyrienlangenichtinihrerTragweitewahrnehmenwollteund<br />

versäumthat,zivileAkteure rechtzeitigzuunterstützen.<br />

Assad selbsthat in keinem Punkt<br />

Zugeständnisse gemacht. Ob Streuoder<br />

Brandbomben aufWohnviertel<br />

oder das systematische Aushungern<br />

ganzer Landstriche, in alldem fährt<br />

das Regime auch in Vorbereitung auf<br />

GenfIIfort.<br />

Das machtesetwas schwierig, den<br />

Diktatorsovollständig zu rehabilitieren,wievieleesgerntäten.Wennman<br />

ihn auch nurein bisschen besser aussehen<br />

lassen möchte, istesnötig, die<br />

VerbrechenderIslamisten–vorallem<br />

dienochzuerwartenden–umsograuenhaftererscheinenzulassen.Dochin<br />

denJahrzehntenihrerExistenzhatal-<br />

Qaida eine nichtannähernd so hohe<br />

Zahl vonOpfern zu verantworten<br />

wie Baschar al-Assad in<br />

knapp drei Jahren. Er lässt<br />

eben„nur“im„eigenen“Land<br />

morden. Assad hatdie Furcht<br />

vor Islamisten international<br />

und zu Hause weidlich genutzt.<br />

Schon früh berichteten die Local<br />

CoordinationCommittees –die in<br />

denOrten,ausdenendasRegimesich<br />

zurückgezogenhatte,dieStadtverwaltung<br />

übernommen haben –, dass insbesondere<br />

die radikalsten Islamisten<br />

keine Angriffe des Regimes zu fürchtenhaben.DasRegimeließsiegewähreninderHoffnung,dasssiedieBevöl-<br />

Foto: Andrew Kelly/reuters<br />

kerung wieder in die Arme des Regimestreiben.<br />

Dieses Kalkül istbislang nichtaufgegangen.<br />

Das syrische Regime verdankte<br />

einen Großteil seiner Akzeptanz<br />

stets dem Umstand, dass es als<br />

GarantfürStabilitätundSicherheitgesehenwurdeunddassdiebreiteMasse<br />

nichtgut lebte, aber doch immerhin<br />

über die Runden kam. All dies hates<br />

mitseinem brutalen Vorgehen gegen<br />

die Revolution zunichtegemacht. Fast<br />

die Hälfte aller Syrerinnen und Syrer<br />

sindheuteimLandoderaußerhalbauf<br />

derFlucht.Zweifelsohnehabeninden<br />

vergangenen Monaten vieleden Norden<br />

des Landes ausAngstvor Salafisten<br />

verlassen. Doch deren Zahl ist<br />

klein im Vergleich zu all denjenigen,<br />

dieausDaraa,Homs,denVorortenvon<br />

Damaskus oder den nördlichen Provinzen<br />

wegen der permanenten und<br />

flächendeckendenLuftangriffedesRegimesgeflohensind.<br />

Doch wasversprichtsich die internationaleGemeinschaft<br />

davon, Assad<br />

wieder salonfähig zu machen. StabilitätinderRegion?AnallenGrenzenhat<br />

es Zwischenfälle gegeben –bis hin<br />

zum Abschuss eines türkischen<br />

Kampfjets über dem Mittelmeer<br />

durch das syrische Regime. Während<br />

die Armee verbissen versucht, jede<br />

Provinzhauptstadtzuhalten, hatsie<br />

schon früh die nördliche Grenze aufgegeben<br />

und so das Torfür ausländischeKämpfergeöffnet.<br />

Trotz massiver Unterstützung<br />

durch seine Verbündeten istesAssad<br />

nichtgelungen, sich gegen eine weitgehendaufsichselbstgestellteOpposition<br />

durchzusetzen. Wiealso soll er<br />

wieder zumGaranten regionaler Stabilitätwerden?Undwashättemandavon?KaumeinHerrscherhatsichunempfindlicher<br />

gegenüber externem<br />

Druck, aber auch gegenüber Angeboten<br />

gezeigt. Kein anderes Land hat<br />

nach dem Krieg 2003 so vieleDschihadisten<br />

zumKampf gegen die internationalen<br />

Truppen in den Irak geschicktwieSyrien.Nunsindesausge-<br />

rechnet „Terrorismusbekämpfung<br />

und andere gemeinsame Interessen“,<br />

über die US-Diplomat Ryan Crocker<br />

mitdersyrischenFührungredenwill.<br />

Selbst wenn es Assad mithilfe seiner<br />

Alliierten und der Willfährigkeit<br />

westlicherStaatengelingensollte,sich<br />

durchzusetzen –worüber würde er<br />

herrschen?SchonfrühhatdasRegime<br />

begonnen,dieeigeneInfrastrukturin<br />

Schuttund Asche zu legen. Ob Krankenhäuser<br />

–von denen über 50 Prozentalszerstörtgelten–,Schulen,Gerichte<br />

oder Verwaltung, nichts blieb<br />

verschont.DasWütenderSicherheitskräfteundderSchabiha-Schergenhat<br />

tiefe Gräben in die syrische Gesellschaftgerissen.DasisteinhoherPreis<br />

füreinenSieg,derkeinerist.<br />

DER LOBBYIST DER WOCHE<br />

Der Chefder<br />

Schlapphüte<br />

FrageLichtins Dunkel bringt. Nach<br />

.........................................................................................................................................................................<br />

vielen Telefonaten waren wir aber erfolgreich,<br />

den Beitrag von Raphael<br />

...................................................................................................................................................<br />

Bente Scheller<br />

■ übernahm 2012 das Büroder Heinrich-Böll-StiftunginBeirut.Soebenissen–undkommentieren.Undjenseits<br />

Thelen können Sie auftaz.de nachle-<br />

ihr Buch „The Wisdom of Syria’sWaiting<br />

Game“ erschienen. Sie arbeitete macheresimmernochalsPrivileg,bei<br />

der Mühen verstehen wir Meinungs-<br />

von2002bis 2004 an der Deutschen anstehenden Fragen einfach mal<br />

BotschaftinDamaskus und promovierte<br />

an der Freien Universität Berlin dürfen, aufder Suche nach der Annä-<br />

durch die halbeWelttelefonieren zu<br />

übersyrischeAußenpolitik.Von2008 herungandiegutgeschriebeneWahr-<br />

heit. Wirfreuen uns, wenn Sie uns<br />

bis 2012 leitetesie das Büroder Heinrich-Böll-Stiftung<br />

in Afghanistan. auch im nächsten Jahr bei diesem<br />

Abenteuerbegleiten.Danke–undgutenRutsch!<br />

Foto: dpa<br />

Der Mann ist wie<br />

geschaffenfürden<br />

Job. Wenn Klaus-<br />

DieterFritsche(Foto)<br />

seinen Posten<br />

als Staatssekretär<br />

antritt, dann erfülltsich<br />

aufwundersame<br />

Weise eine<br />

Weisung der Bundeskanzlerin.<br />

KnappzweiWochenistesher,dassAngela<br />

Merkel ankündigte, sie wolledie<br />

GeheimdiensteandieLeinelegenund<br />

habe dazueigens einen neuen Staatssekretär<br />

ins Bundeskanzleramtberufen.<br />

Ausdrücklich wies sie daraufhin:<br />

„DasisteineKonsequenzausderNSA-<br />

Angelegenheit“, und, kurzes Zögern:<br />

„oder-Affäre“.<br />

Affäre hin, Angelegenheither: Mit<br />

ihrerPersonalentscheidungdemonstriertdie<br />

Kanzlerin Entschlossenheit.<br />

Denn der sechzigjährige Fritsche<br />

kenntdenApparat,erkommtausdem<br />

ApparatunderdientdemApparat.<br />

Seine politische Karriere startete<br />

der Jurist ausBamberg, als er vorvielenJahrenvomVerwaltungsgerichtin<br />

Ansbach zur CSU-Landesgruppe des<br />

Bundestages wechselte, deren Referenterwurde.<br />

Innere Sicherheit kennt Fritsche<br />

ausdemEffeff.Von1993bis1996war<br />

er Büroleiter des bayerischen InnenministersGüntherBeckstein.VonOktober<br />

1996 bis November 2005 stand<br />

er als Vizepräsidentander Spitze des<br />

KölnerBundesamtesfürVerfassungsschutz.<br />

Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst<br />

und Militärischer<br />

Abschirmdienstsindihmbestensvertraut.<br />

Schließlich warervom Dezember<br />

2005 bis zumDezember 2009 als<br />

Geheimdienstkoordinator für die<br />

Schlapphüte zuständig. Seitdem ist<br />

Fritsche beamteter Staatsekretär im<br />

InnenministeriuminBerlin.<br />

DerVatervonvierKindergiltalspenibel<br />

und als gewiefter Stratege, der<br />

mitseinenÜberzeugungennichthinter<br />

dem Berg hält.Sobezeichnete er<br />

vorsechs Wochen aufder HerbsttagungdesBKAinWiesbadendieInternetwährungBitcoinunddasTor-Netzwerk<br />

als „Unterschlupffür Kriminelle“.<br />

DerMannverstehtauchVorratsdatenspeicherung:<br />

Um der Kriminalität<br />

im Internet Herr zu werden, brauche<br />

es „nichtnur Verkehrsdaten, sondern<br />

auchInhaltevonE-Mails“.<br />

DiePersonaliehatwas:EinGeheimdienstler<br />

soll die Geheimdienste kontrollieren.Geschickt.<br />

WOLFGANG GAST<br />

MEINUNGSMACHE<br />

Fastebensomühsamwiezuverstehen,<br />

werimLibanon gerade wenwarum<br />

umbringt,gestaltetsichzwischenden<br />

Jahren die Suche nach einem Kommentatorvor<br />

Ort, der eben bei dieser


12 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE | fortschritt@taz.de FORTSCHRITT | taz<br />

einem ukrainischen DurchschnittsoligarchenaufAugenhöheunterhalten<br />

kann. Besser als die Bayern geht es<br />

nicht,stelltmanunisonoaufderDachterrassefestundöffnetsicheinBieraus<br />

Flensburg. Langweilig. Obwohl alle<br />

Welt behauptet, dass sie sich nichtfür<br />

denzweifachenQuintuple-Siegerinteressiert,<br />

schautdoch keiner weg, wenn<br />

der FC Bayern spielt. Wiegut,dass sich<br />

derGuardiola-SeppaufderSuchenach<br />

einer neuen Herausforderung für eine<br />

bemannte Marsmission gemeldet hat.<br />

250TagedauertdieeinfacheFahrtdorthin.<br />

Zeit genug für Borussia Dortmund,<br />

wieder malMeister zu werden.<br />

Friedrich Küppersbusch schautbeim<br />

GedankendarangenHimmel–versonnen.<br />

Und wir anderen auch – versonnen.EswirdwiederZeit,überErnsteszu<br />

nachzudenken.Darüberetwa,wielange<br />

die Finanzmärkte den ganzen Kram<br />

nochaushalten.Aberda,wo mandann<br />

dochmalExpertenbräuchte,fehlensie.<br />

DerzuständigenExpertinisteszukalt<br />

aufdemDach,undalsolesenwirweiter<br />

Marx, Paschukanis und Wallerstein.<br />

Und also müssen wir dann auch schon<br />

zumnächstenGroßthemahüpfen,das<br />

ja dann wohl die NSA wäre. Da aber<br />

müssesichderzuständigeExperteauch<br />

ersteinarbeiten und könne keine klaren<br />

Auskünfte über Ausbauoder Abschaffung<br />

dieser Behörde geben und<br />

will daher also auch nichtzuuns aufs<br />

Dach.Wasbleibt?WirlesenweiterFoucaultundOrwell,undwennunsdaszu<br />

langweiligwird,betrachtenwirdieKamera,<br />

die aufunserem Dach befestigt<br />

wurde,undbildenunsein,dassunsere<br />

WasSie<br />

2014<br />

vermissen<br />

werdenund<br />

wasSie2014<br />

erwartendürfen<br />

Foto: Jörg Lantelme; Montage: Daniela Leupelt


taz |FORTSCHRITT<br />

fortschritt@taz.de | TAZ.AMWOCHENENDEappleSONNABEND/SONNTAG,28./.29.DEZEMBER2013 13<br />

hierentstehenden,schwersubversiven<br />

Gedanken überwachtwerden. All die<br />

schlauenBabos,diedauntendieseZeitung<br />

machen, sind also gerade schwer<br />

beschäftigt, während wir hier oben<br />

langsaminApathieverfallen.Dochwie<br />

es sich für ein ordentliches Drama gehört,<br />

trittimvorletzten Akt, bevorwir<br />

verglühen, ein weiterer Experte durch<br />

die schwere Eisentür.Und siehe da, es<br />

istsogareinrichtigerExperte.Einer,der<br />

die deutsche Sprache beherrscht. Und<br />

er sprichtfloskel- und akzentfrei: „Na<br />

schau maleiner an, hier oben stecken<br />

die Redakteure. Wasdenn, gibt’sgleich<br />

Herzrasen, wenn der Korrektor auftaucht?Rechtso.Obwirwiederwasgefunden<br />

haben? Ja, was dachtet ihr<br />

denn?DasseinTextmalsodurchgeht?<br />

Dakenntihrunsaberschlecht,wirfinden<br />

immer was, dafür werden wir<br />

schließlich bezahlt. Ein bisschen achtsamer<br />

aber solltet ihr schon sein, was<br />

ihr da so schreibt. Wolltihr denn 2014<br />

wirklich so weitermachen wie letztes<br />

Jahr?Woisteigentlichunsertürkischer<br />

Freund? Erstbrüllterdaauf so einer<br />

Veranstaltungrum–ichsagejetztnicht,<br />

wasergesagt hat–,und dann gibt’seinen<br />

Riesenaufriss. Ja,dakonnten wir<br />

auch nichts machen, ging nichtüber<br />

unsern Tisch, da hätte schon jemand<br />

anders aufpassen müssen, wir können<br />

schließlich nichtüberall sein. Es muss<br />

sowieso viel mehr aufgepasst werden,<br />

aber zumGlück haben ja letztens welche<br />

aufgepasst, ging schon wieder um<br />

die …nee,sageichjetztnicht,jedenfalls<br />

konnte da noch das Schlimmste verhindertwerden.SowieletztenSommer<br />

VON FLORIAN ZIMMER-AMRHEIN<br />

AufdenerstenBlickistin<br />

Lassan rein gar nichts<br />

los.KommtmanzudieserJahreszeitindiekleineStadtimnordöstlichenMecklenburg-Vorpommern,<br />

ist man<br />

zuweilen der einzige Touristim<br />

Ort.<br />

Lassan liegt am Ufer des Peenestroms,<br />

direkt gegenüber der<br />

InselUsedom.Vondenknappeine<br />

Million Ostseeurlaubern, die<br />

jährlich nach Usedom pilgern,<br />

verirren sich aber nur wenige<br />

nach Lassan. Die Gemeinde umfasstnebenderbald740Jahrealten<br />

Kleinstadtdie umliegenden<br />

Dörfer Pulow,Papendorf, Klein<br />

JasedowundWaschow.<br />

EndloseÄckerundkleineSeen<br />

prägen die Landschaft. Nach der<br />

Wende herrschten hier zwischenzeitlich<br />

rund 70 Prozent<br />

Arbeitslosigkeit.DiejungenLeute<br />

zogen scharenweise fort,die<br />

Bevölkerung dezimierte sich innerhalb<br />

weniger Jahre um die<br />

Hälfte.DieGegendwarlangeals<br />

„letztes Loch vorder Hölle“ verschrien.<br />

Seit der Jahrtausendwende<br />

zeichnetsichjedocheinebemerkenswerteErfolgsgeschichte<br />

im<br />

Lassaner Winkel ab. Nachhaltig<br />

wirtschaftende Unternehmen<br />

siedeln sich an und schaffen Arbeitsplätze.EinTourismus-Netzwerk<br />

istentstanden. Vielerorts<br />

wirdgebautundrenoviert.<br />

Diese Erfolgsgeschichte wäre<br />

wohlnichtohneMatthiasAndiel<br />

möglich gewesen. Andiel kam<br />

bereits 1982 als junger Mann in<br />

den Lassaner Winkel und gründeteimhalbverfallenenPulower<br />

Gutshof die erste alternative<br />

Wohngemeinschaft des Ortes.<br />

Andielträgtseinelangengrauen<br />

Haare in einem dicken Pferdeschwanz<br />

gebunden. Er istzweifellos<br />

jemand, der in der mecklenburgischenProvinzschonimmer<br />

aufgefallen ist. Ein unangepasster<br />

Künstlertyp, der obendrein<br />

einen breiten vogtländischenDialektspricht.<br />

Von1989bis2004warAndiel<br />

Bürgermeister von Pulow und<br />

brachteindieserZeitvieleStrukturprojekte<br />

auf den Weg. Er<br />

brachtePulow undLassanindie<br />

staatlichenProgrammezurDorferneuerung<br />

und Städtebauförderung.<br />

Zusammen mit engagierten<br />

MitbürgerInnen wurde<br />

ein Kultur- und Naturschutzverein<br />

gegründet und eine Textilwerkstatt<br />

aufgebaut. Auch die<br />

Touristenattraktion „Duft- und<br />

Tastgarten“ inPapendorf entstand<br />

in dieser Zeit. Andiel<br />

schaffte es zudem, überregionaleMedienwiedenSpiegelaufdie<br />

MissständevorOrtaufmerksam<br />

zu machen. So erfuhr auch Johannes<br />

Heimrathvom Lassaner<br />

Winkel.<br />

Johannes Heimrath, Jahrgang<br />

1953,stehtnochjetztimDezem-<br />

Die Pommerländer Kräuterfrauen Fotos: Human Touch Medien<br />

Die Lebensgemeinschaft, links Johannes Heimrath<br />

AUFSCHWUNGEineRegioninVorpommernentwickeltsichzueinemErfolgsmodellfürregionale<br />

WertschöpfungundNetzwerkbildung.Dabeigaltsielangeals„letztesLochvorderHölle“<br />

RaumfürEinsteiger<br />

ber barfuß auf der Straße in<br />

KleinJasedowundwinkt.GenausowieAndielträgterseineHaare<br />

ineinemlangenPferdeschwanz.<br />

Heimrathlebt seit1997inKlein<br />

Jasedow–gemeinsammitseiner<br />

„LebensgemeinschaftKleinJasedow“,einemVerbundvon16Musikern<br />

und Kreativen, die unter<br />

einem Dach leben und wirtschaften.ObwohldieGruppeoffen<br />

istfür Esoterisch-Spirituelles,<br />

istsie alles andere als eine<br />

Sekte,für diemancheEinheimischesieanfangshielten.Siewollenniemanden<br />

bekehren, sind<br />

abermitdemVorsatznachKlein<br />

Jasedow gezogen, ein besseres<br />

Leben für sich und die gesamte<br />

Region aufzubauen. „Wir sind<br />

keine Aussteiger,wir steigen in<br />

etwas ein“, macht Heimrath<br />

deutlich:„Wirwollendieheutige<br />

Gesellschaftverstehenundaktiv<br />

mitgestalten.“<br />

Dieses Vorhaben setzen<br />

Heimrathund Co.mit erstaunlicher<br />

Effizienz und unternehmerischer<br />

Spitzfindigkeitum. Die<br />

GruppehatinKleinJasedowein<br />

Unternehmensnetzwerk praktisch<br />

ausdem Boden gestampft.<br />

Dazu gehört eine Medienproduktionsfirma,<br />

ein Verlag, eine<br />

Bildungs- und Kulturakademie<br />

(www.eaha.org) und eine Instrumentenwerkstatt.<br />

„Wir haben<br />

über 40 neue Arbeitsplätze geschaffen“,<br />

sagt Heimrath und<br />

weisteinschränkenddaraufhin:<br />

„Die Gehälter hier in der Region<br />

sind nach wie vorHungerlöhne.<br />

Wirschaffenesimmerhin,überall<br />

die Mindestlöhne zu bezahlen.“<br />

KleinJasedow,EndederNeunziger<br />

ein Dorfvor dem Aus, ist<br />

heute nicht mehr wiederzuerkennen.<br />

Die Bevölkerung hat<br />

sichdurchdieNeuankömmlinge<br />

mehr als verdoppelt. Neue Gebäudesindentstanden,alteBautenwurdensaniertundumfunktioniert.<br />

Am Eingang des Dorfes<br />

Blick auf Lassan, den Peenestrom und Teile der Insel Usedom Foto: vario images<br />

ANZEIGE<br />

wurdeein„Begegnungshaus“gebaut,indemjungeundalteMenschengemeinschaftlichwohnen<br />

können–inbehindertengerechten<br />

Erdgeschosswohnungen die<br />

Alten, im Stock darüber die Jungen.DergrößteStolzderKleinJasedowerist<br />

ein sich energetisch<br />

selbsterhaltendesTagungs-und<br />

Konzerthaus. Hier werden Konzerte,<br />

Workshops und Fortbildungen<br />

abgehalten, die Menschen<br />

ausder ganzen Bundesrepublik<br />

anlocken. Und auch der<br />

„Holunderblütenmarkt“imJuni,<br />

den die Klein Jasedowerins Lebengerufenhaben,hatsichzueinem<br />

echten Publikumsmagnetenentwickelt.<br />

Trotz allem bleibt man in<br />

Klein Jasedowbescheiden. „Wir<br />

selberhabenunserLebensoeingerichtet,<br />

dass wir nur wenig<br />

Geld benötigen. Wir ernähren<br />

uns zu großen Teilen vonunserem<br />

eigenen Garten und unseren<br />

eigenen Tieren“, sagt Heimrath.<br />

Die gegründeten Firmen,<br />

Genossenschaften und Vereine<br />

sollen vornehmlich dem Gemeinwohl<br />

dienen. Der erwirtschafteteProfitfließtzumGroßteil<br />

in gemeinnützige Projekte.<br />

ImGrundegehtesinKleinJasedow,<br />

wennmanHeimrathsoreden<br />

hört, um eine anthroposophische<br />

Vision: weg von einer<br />

globalen kapitalistischen Geldwirtschaft<br />

hin zu einer regional<br />

organisierten Tausch- und<br />

Schenkökonomie.<br />

Die stillgelegte Schweinemastanlage<br />

in Pulow istnoch so<br />

ein Ort, der sukszessivneu erschlossen<br />

wird. Seit 2004 haben<br />

sichgleichdreiUnternehmenerfolgreichaufdemaltenGewerbehof<br />

angesiedelt, darunter die<br />

Teemanufaktur „Kräutergarten<br />

Pommerland“ –ein genossenschaftlich<br />

organisierter Biobetrieb,<br />

der unmittelbar ausden<br />

Initiativenvon Matthias Andiel<br />

hervorgegangenist.Wasalskleine<br />

ABM-Maßnahme seinen Anfang<br />

nahm, hatsich zu einem<br />

aufstrebenden Unternehmen<br />

mitbreiter Produktpalette entwickelt.<br />

Rund 20 Teesorten werden<br />

hier vorOrt getrocknet, gemischtund<br />

abgepackt. Im Verbund<br />

miteiner Lassaner Mosterei<br />

werden Kräutersirups hergestelltund<br />

vertrieben. Die Belegschaftbestehtfastausschließlich<br />

ausFrauen ausPulow und den<br />

umliegendenDörfern.<br />

Dieses Jahr hat der Betrieb<br />

rund 190.000 Packungen Tee<br />

verkauft. „Unsere Produkte sind<br />

mittlerweileauch in jedem gut<br />

sortierten Bioladen in Berlin erhältlich“,<br />

sagt Geschäftsführerin<br />

ChristianeWilkening.DasUnternehmenhataufSolarstromumgestellt,sollweiterwachsenund<br />

suchtnundringendneueGenossenschaftsmitglieder.<br />

ZumMitmachen wollen auch<br />

die Organisatoren des Tourismus-Netzwerkes„Kräuter,Kunst<br />

undHimmelsaugen“animieren.<br />

DasNetzwerkisteineKooperation<br />

zahlreicher Kulturvereine,<br />

Handwerksbetriebe, Bauernhöfe,<br />

Gaststätten, Kunstgalerien,<br />

therapeutischerPraxen,Kirchen<br />

undMuseen.Dasgemeinsamerarbeitete<br />

VeranstaltungsprogrammsolldenLassanerWinkel<br />

über das ganze Jahr hinwegals<br />

Urlaubsziel attraktivmachen –<br />

besonders für Familien. Eine geführte<br />

Wildkräuterwanderung,<br />

musikalische und kunsthandwerklicheWorkshopsoderPonyreitengehörenzumAngebot.<br />

Langfristig soll der Lassaner<br />

Winkel ein Paradies für Radfahrer<br />

und Landurlauber werden.<br />

Im kommenden Jahr soll dann<br />

auch endlich eine Fähre Lassan<br />

anlaufenundTouristenvonUsedom<br />

herüberbringen. Bis dahin<br />

willmanbereitseinunddenBesuchern<br />

eine echte Alternative<br />

zum Usedomer Massentourismusbieten.<br />

Websites: www.lassan.eu<br />

www.campingplatz-lassan.de<br />

www.paradiesgarten-lassaner-winkel.de,<br />

mirabelleev.de<br />

zukunftswerk-kleinjasedow.de<br />

kraeutergarten-pommerland.de<br />

www.ackerbuergerei.de<br />

Im Aufbau: lassaner-winkel.de<br />

apple Was macht<br />

die Bewegung?<br />

30C3: Diskutieren, hacken und die Rakete<br />

starten lassen<br />

30C3 –der 30.Chaos Communication<br />

Congressvom CCC, dem Chaos Computer<br />

Club,startetwieder zumJahresende<br />

in Hamburg. Das alljährliche Treffender<br />

Hacker und Diginerds findetpassender<br />

WeiseimCCH statt. Der CCC–umbei<br />

den 3Cszubleiben –ist die größte europäische<br />

Hackervereinigung. Der Verein<br />

setzt sich grenzüberschreitend fürInformationsfreiheit<br />

und Datenschutz ein<br />

und wirdvon vielen als „die Kompetenz“<br />

in der digitalen Sphäreangesehen.<br />

Nach den Enthüllungen zu Prism, Temporaund<br />

Co könnte es dieses Jahr spannend<br />

werden: Gibtesein „Weiter so“ in<br />

der digitalen Kommunikation oder muss<br />

das Netz von„scratch“ neu aufgebaut<br />

werden? Neben Vorträgen, Workshops<br />

und Hacker-Contestwirdauch der Spaß<br />

nichtzukurz kommen: Sonntagnacht<br />

startetdie FnordNewsShow. Im Format<br />

einer lockeren Abendshowpräsentieren<br />

Fefe und Frank einen „schonungslosen<br />

Realitätsabgleich mit Birzarrometer-Rekalibrierung“.Das<br />

alljährliche Highlight<br />

auf dem C3 istPopcorn-tauglich und<br />

nichtnur fürNerds geeignet.<br />

■ 30C3, vom 27. bis 30. Dezember im<br />

Congress Center Hamburg, alle weiteren<br />

Infos: events.ccc.de/congress/<br />

2013


14 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE LEIBESÜBUNGEN | taz<br />

bei diesem Pädozeugs, da waren wir<br />

schonaufdemWegzumChef,aberzum<br />

Glück waren voruns schon andere da,<br />

damussmanauchmaleinLobaussprechen,<br />

aber das wäre beinahe schiefgegangen,<br />

das warknapp. Und wenn ihr<br />

euch jetzt wieder irgendwelche schönen<br />

Sachen ausdenkt für die Zukunft,<br />

dann haben wir gar nichts dagegen,<br />

aber dann solltet ihr auch maldaran<br />

denken, wasdaalles passieren kann.<br />

Was, wenn maleiner nicht aufpasst?“<br />

Also sprach der Sprachexperte und<br />

lässtunsratlosaufdemRasenmitRilke.<br />

Nichtmal verraten, wasdas Wort oder<br />

das Unwort des kommenden Jahres<br />

werdenwürde,willer.DieserRilkewird<br />

uns suspekt, und wir werfen ihn über<br />

den Zaun. Wirdenken über Standards,<br />

Formateund Redaktionssysteme nach<br />

undwiediewohlimnächstenJahraussehen<br />

werden.<br />

10<br />

Dabei nicken wir ein.<br />

Und als wir wieder aufwachen, kommt<br />

dieZentralevorbeiundverkündet,dass<br />

ab jetzt alles, aber auch wirklich alles<br />

überihrenSchreibtischzulaufenhabe.<br />

DasfindenwireineprimaIdeeundwollenuns<br />

schon aufmachen, das hohe<br />

RossderDachterrassezuverlassen,um<br />

über den Schreibtisch der Zentralezu<br />

laufen.DochdakommtnocheinExperte<br />

aufs Dach gerannt, der Experte für<br />

Aufregung. Ohne Luft zu holen, sprudeltesaus<br />

ihm heraus: „Empörteuch!<br />

Sängerin Miley Cyrus kommtmit einemschwarzenMannaneinerHundeleineaufdieBühneundhältihreArschbackenanThiloSarrazinsGesicht.Aufschrei!Boykott!Skandal!AliceSchwarzerfordertdieradikaleAbschaffungder<br />

Der Hundling<br />

VON ANDREAS RÜTTENAUER<br />

Was das wieder kos-<br />

tet“,sagtderMüller-<br />

Albert zu seiner<br />

Frau und drehtsich<br />

einmal vordem Spiegel. „Aber<br />

sie schaut doch gut aus“, sagt<br />

Gudrun, seineFrau. „Außerdem<br />

brauchstdueine.“JedesJahrzwischendenJahrengehensiezum<br />

Hirmer in die Innenstadt und<br />

kaufen ein Sakkound eine Hose<br />

fürdasneueJahr.„Diesollenruhig<br />

sehen, dass dir waswertist,<br />

wasduanhast.Daszahltsicham<br />

Ende schon aus.“ Auch wenn er<br />

sich durchaus vorstellen kann,<br />

dass seine Frau recht haben<br />

könnte,gernegehternichtindas<br />

Modehaus. „Schau,der Hoeneß<br />

machtdasauchnichtanders“,hat<br />

seine Frau vorein paar Wochen<br />

gesagt, als sie in der Abendzeitung<br />

über die Wiedereröffnung<br />

vomHirmer in der Kaufingerstraße<br />

gelesen hat. „Schau, da<br />

steht’s“,hat sie zu ihrem Mann<br />

gesagtundihmdasBildgezeigt,<br />

unter dem stand, dass sich der<br />

Hoeneß seine Hosen schon immer<br />

vonseiner Frau beim Hirmer<br />

hat aussuchen lassen.<br />

Glücklich hatHoeneß aufdem<br />

Foto ausgesehen. „Wäre ja noch<br />

schöner“,hat sich der Müller-Albert<br />

seinerzeit gedacht, „wenn<br />

die ihn wegen der paar Steuermillionenfertigmachenwürden,<br />

denHoeneß,denHundling.“<br />

*<br />

„In den Iden des März“,sagtder<br />

Meier-Wolfgang,„dawirdsichalles<br />

entscheiden.“ Er hat schon<br />

immer gerne den Lateiner herausgekehrt.<br />

Der Giesinger Bub<br />

hat esnicht leicht gehabt auf<br />

dem humanistischen Gymnasium<br />

damals nach dem Krieg. Wo<br />

ergewohnthat,habendieKinder<br />

nach der Schuleauf der Straße<br />

gespielt.WoseineMitschülergewohnthaben,<br />

sind nachmittags<br />

die Privatlehrer gekommen.<br />

Heute wohnt der Meier-Wolfgang<br />

selbstinBogenhausen, als<br />

angesehener Notar –nichtweit<br />

entferntvon dem Prominentenanwalt,mitdemersichsogerne<br />

über RichardWagner unterhält.<br />

ErgiltalseingefleischterWagnerianer,der<br />

jedes Jahr nach Bayreuthfährt.Undauchwenneres<br />

zu einem beachtlichen Wohlstandgebrachthat,weißer,dass<br />

er für die wahren Herren Münchens<br />

immer ein Parvenübleibenwird.„Erwieder“,sagtderTabak-Heinz,<br />

dessen Familie sich<br />

mitdemVertriebedlerRaucherwaren<br />

schon vorgut 150 Jahren<br />

in den Patrizierstand hochgehandelt<br />

hatte, „der Lateiner.“<br />

Zwischen den Jahren waresimmer<br />

besonders lustig an ihrem<br />

Stammtisch. Der Tabak-Heinz<br />

hatte gefragt, wann eigentlich<br />

der Prozess gegen den Hoeneß<br />

imnächstenJahrsteigt.„Undwas<br />

willstdudamitsagen? Dass sie<br />

ihnerdolchenwollen?“DerMeier-Wolfgangschautganzernstin<br />

die Runde: „Zuzutrauen wäre es<br />

ihnen,sowiesieihnbisjetztbehandelthaben.“<br />

„Auf den Uli!“,<br />

sagt der Kapuzen-Anderl, der<br />

ehemalige Mönch, der jetzt als<br />

Unternehmensberater so sehr<br />

gefragtist,dass er schon nicht<br />

mehrwegzudenkenistausihrer<br />

MORALImMärz<br />

musssichUli<br />

HoeneßvorGericht<br />

verantworten.<br />

Nichtnurder<br />

PräsidentdesFC<br />

Bayernsiehtindem<br />

Steuerprozesseine<br />

Riesensauerei.Eine<br />

Neujahrsgeschichte<br />

ausderMünchener<br />

Innenstadt<br />

Herrenrunde. „Der Hoeneß, der<br />

Hundling!“,denktsichderTabak-<br />

Heinz, während er sich sein hellesLieblingsbier<br />

in den Magen<br />

laufenlässt.<br />

*<br />

„WobleibteigentlichderUliheute?“,fragtderneueWirtdieNeubichler-Marianne.„Weißtesdoch<br />

sowieso“, sagtdie.„Derwarnicht<br />

mehrsooftda,seitdieSacheaufgekommenist.“Nichteinmalzu<br />

dem schönsten Termin der<br />

Stammtischsaison isteralso gekommen.<br />

Die Neubichler-Marianne,dieschonindemHausbedienthat,alsderVorgängervom<br />

neuen Wirt sich in die Pleite gezockthat,weilersportwagenmäßig<br />

unbedingt mit seinen<br />

Stammgästen mithalten wollte,<br />

vermisstden Uli schon ein bisschen.<br />

Keiner gibt so viel Trinkgeld<br />

wie der Bayern-Präsident.<br />

Außerdem warernichtganz so<br />

fies wie die anderen. Wenn das<br />

Bier und die edlen Obstler vom<br />

BodenseeihreWirkunggetanhaben,dannlandetnichtseltendie<br />

HandeinesderfeinenHerrenan<br />

ihrerBrust.UndweilderRausch<br />

eines Patriziers auch nichtanders<br />

daherkommtals der eines<br />

Plebejers, weiß die Neubichler-<br />

Marianne so manches, wassie<br />

liebernichtwissenmöchte.Dass<br />

der nobleHerr Notar sich auch<br />

schon selbstangezeigt hatzum<br />

Beispiel, um wenigstens einen<br />

TeildesGeldes,dasereinstnach<br />

Luxemburg gebrachthat,zuret-<br />

In den Iden des März wird über ihn entschieden: Uli Hoeneß ist schon gespannt Foto: dpa<br />

ten, würde sicher andere Menschen<br />

mehr interessieren als sie<br />

selbst.ImmerhingibtderMeier-<br />

Wolfgang fast so viel Trinkgeld<br />

wie der Uli, seit eranjenem<br />

Abend seine Hand unter das<br />

Dirndl seiner Lieblingsbedienung<br />

geschoben hat. Dem Uli<br />

wäresoetwasnierausgerutscht,<br />

da istsie sicher.Esmusste zwar<br />

jeder immer wissen, wem er<br />

wann welche Summe gespendet<br />

hat. Und wenn er sich mitdem<br />

Ministerpräsidenten oder der<br />

Kanzlerin getroffen hat, dann<br />

wussten das auch immer alle.<br />

AberüberGeldhaterniegesprochen.<br />

Und dass er an der Börse<br />

spekulierthat,hat auch keiner<br />

mitbekommen.DieNeubichler-<br />

MariannehatschonRespektvor<br />

ihm.„DerUli,derHundling!“<br />

*<br />

„Und,kommtnochwer?“,willder<br />

Geschäftsführer des Gourmettempels<br />

hinter der FußgängerzonevonseinemChefwissen.<br />

Der Hoeneß-Uli sitzt alleine in<br />

seinem Lieblingsseparee. Das<br />

warschon öfter so,seitbekannt<br />

geworden ist, dass er in der<br />

SchweizeinKontohatte,dasihm<br />

der frühere Adidas-Boss aufgefüllthatte,<br />

damiterGeld zum<br />

Spekulierenhat.Schonklar,dass<br />

einer wie der Ministerpräsident<br />

essichindiesenTagennichtleisten<br />

kann, miteinem gesehen zu<br />

werden, der vonden Medien als<br />

Steuersündervorgeführtworden<br />

ist. Er hatden Hoeneß und den<br />

Parteichef oft bedientinjenen<br />

Tagen, als die beiden noch so etwaswieeinGespannwaren.Nach<br />

dem Triple des FC Bayern München<br />

hatder Ministerpräsident<br />

die kickenden Helden empfangen,<br />

sich selbstein Bayern-LeibchenübergestreiftunddenHoeneß-Uli<br />

endlich einmal wieder<br />

herzendürfen.AberzumZwiegesprächimSepareewarerniewiedermitdemUliverabredet.Sein<br />

Chef, der einmal beinahe alles,<br />

wasersicherarbeitethatte,verlorenhätte,nurweiletwasmitseinen<br />

Steuererklärungen nichtin<br />

Ordnungwar,isteinmahnendes<br />

Beispiel. Auch der ausFunk und<br />

Fernsehen bekannte Sternekoch<br />

hatte wichtige Freunde, die er in<br />

seinen Häusern gern, und ohne<br />

etwasdafürzu verlangen,bewirtenhatlassen.Unddochhatman<br />

ihn wegen Steuerhinterziehung<br />

zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.<br />

„Da fragst du dich schon,<br />

warumdudichfürsoSachenwie<br />

das Bundeskanzlerfestaufarbeitest,<br />

denen das beste Essen servierst,<br />

wenn dir in der Notdann<br />

dochkeinerhelfenwill“, hatsein<br />

Chef gesagt, als klar war, dass es<br />

einenProzessgegendenHoeneß<br />

gebenwird.ErhatauseigenerErfahrung<br />

gesprochen. Aus der<br />

weiß er auch, dass es am Ende<br />

scheißegal ist, ob du Geld an der<br />

Steuervorbeimanövrierthast.So<br />

viel Fernsehpräsenz wie in den<br />

Tagen vor dem Jahreswechsel<br />

hatteseinCheflangenichtmehr.<br />

Er verkauft sich gutals bayerischer<br />

Schlawiner,und niemand<br />

hatihnjeaufseineSündenangesprochen.<br />

„Der Uli trifft sich mit<br />

seinem neuen Anwalt“, sagt der<br />

Chef.Dashatteergelesen.Dieser<br />

Mann hatnoch jeden Promi vor<br />

demKnastgerettet,sogardiesen<br />

früheren Postchef. „Der Uli<br />

schafftdasschon“, denktsichder<br />

Geschäftsführer. „Der Uli, der<br />

Hundling!“<br />

*<br />

Die neue Hose wardann doch<br />

nichtsoteuer,wie er befürchtet<br />

hatte. Zwischen den Jahren gibt<br />

esauchineinemTraditionshaus<br />

wiedemHirmerRabatt.Jetztwill<br />

er noch ein Helles in der neuen<br />

Bar des Modehauses trinken.<br />

3,10Eurokostet ein kleines Glas<br />

im edlen Ambiente. So wirdes<br />

wahrscheinlich bald in dem<br />

TeamquartierdesDFBausschauen,<br />

dass die Hirmers gerade in<br />

Brasilienbauenlassen.Waswohl<br />

der Hoeneß hier essen würde,<br />

fragtsich der Müller-Albert. Das<br />

wäredemdochvielzu vornehm<br />

hier,ist er sich sicher.„Lass uns<br />

doch noch ein Packerl Würschtl<br />

beimAldikaufen“, schlägterseiner<br />

Gudrun vor. 2,19Eurokostet<br />

einePackung.„Dasistderwahre<br />

Uli“, denktsichderMüller-Albert<br />

und erinnertsich daran, wie er<br />

aufder Mitgliederversammlung<br />

des FC Bayern mitseinem Präsidenten<br />

zusammen geweinthat:<br />

„Einfach einer von uns, der<br />

Hundling.“


taz |LEIBESÜBUNGEN<br />

SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE 15<br />

Katzenapartheid. Irgendwer fordert<br />

denBoykottisraelischerProdukte,Tierschützer<br />

stürmen den Catwalk, und<br />

Brad Pitt lässtsich vorsorglich einen<br />

Hoden entfernen, weil er ein privilegierterMannist.Birkelweigertsich,einen<br />

Werbefilm mit einem schwulen<br />

Paarzudrehen,AlexanderDobrindträkelt<br />

sich in Unterwäsche auf einem<br />

BMW, der Schlagzeuger der Goldenen<br />

ZitronenziehtwährendeinesKonzerts<br />

seinT-Shirtaus.VorSotschiküssensich<br />

heterosexuelleFrauen aus Protest und<br />

sagenspäterinInterviews,wieseltsam<br />

derKuss war. EineHausfrau veröffentlichteinenRomanmitPeitschen,venezianischen<br />

Masken und gutgebauten<br />

Männern. Lars vonTriers Film „Nymphomanic“lösteineDebatteaus:WobeginntKunstund<br />

wasdarfsie, und wo<br />

hörtPornografieaufundwasistdaran<br />

Kunst? Die große Koalition verbringt<br />

das ganze Jahr aufder neuen AchterbahnWingCoasterimHeide-Park.Lobbyisten,<br />

die im Koalitionsvertrag zu<br />

kurzgekommensind,werfenderRegierung<br />

deswegen Verschwendung der<br />

Steuergelder vor.“Also sprach der Experte<br />

für Aufregung und lässtuns nun<br />

ganzallein.AberbevorsichderHimmel<br />

ganz verdunkelt, trittnoch Christian<br />

Specht aufs Dach. Wieerdahochgekommenist,weißkeiner.Ersagtnichts.<br />

GibtnurseineZeichnungenab.Aufdenen<br />

teilteruns seine Visionen für das<br />

nächste Jahr mit. Die können Sie hier<br />

exklusiv bestaunen. Und wir staunen,<br />

dass wir es gemeinsam bis hierher geschaffthaben,undwünscheneinschönesundaufregendes2014!Cincin!<br />

„Natürlich ist die Talentsuche einer unserer Schwerpunkte“: Kickende Kinder in einem Fußballprojekt in Rio de Janeiro Foto: Anita Back/laif<br />

SOZIALARBEITImVorfeldderMänner-WMinBrasilienbekommtimGastgeberlandauchder<br />

FrauenfußballeinenSchub–vorallemalsAufhängerfürSozialprojekteindenArmenvierteln<br />

Wundergibtesimmerwieder<br />

AUS RIO DE JANEIRO<br />

ANDREAS BEHN<br />

Wunder sind im Fußball<br />

keine Seltenheit.Zumeistfinden<br />

sieaufdenSpielfeld<br />

statt,manchenSpielernwirddas<br />

Wundersame als Wesensmerkmalzugeschrieben.WeitverbreitetistauchderGlaube,dassFußball<br />

in anderen Bereichen Berge<br />

versetztenkann,zumBeispielim<br />

Sozialen, dort, wo die Gesellschaft<br />

nichtsofunktioniert, wie<br />

siesicherträumtwird.Esentstehen<br />

Fußballprojekte, die insbesondere<br />

Kindern und Jugendlichen<br />

helfen soll, einen rechtschaffenen<br />

Weg einzuschlagen.<br />

Und wie oft im Fußball werden<br />

solcheIdeenerstimmaskulinen<br />

Bereich erprobt und erreichen<br />

erstspäterMädchenundFrauen.<br />

„Wir wollen den Kindern in<br />

der Favela zeigen, dass es im Lebenmehrgibt,alssichdemVerbrechenanzuschließen“,<br />

sagtRoxanne<br />

Hehakaija. Die 29-jährige<br />

Holländerin wareinstProfifußballerin,<br />

jetzt hatsie ihr Faible<br />

für Streetfootball entdeckt. Brasilienhatsieschonimmerfasziniert.<br />

Die Fußball-WeltmeisterschaftimkommendenJahrsieht<br />

Hehakaija als große Chance.<br />

„FußballkanndenMädchenhelfen,gemeinsameineSacheanzupacken,besseruntereinanderzu<br />

kommunizierenundVerantwor-<br />

tungsgefühl zu entwickeln“, sagt<br />

Hehakaija. Dazubrauche es nur<br />

ein wenig Geld und die richtige<br />

Struktur.<br />

FavelaStreetGirlsheißteines<br />

der zahlreichen Projekte, die<br />

Mädchen in den Armenvierteln<br />

vonRiodeJaneiromitFußballbegeisterung<br />

vonder Straßen locken<br />

soll. Die Projektleiterin aus<br />

Hollandhofft,schonin2014mit<br />

rund hundertMädchen zusammenzuarbeiten.Vondenälteren<br />

solleneinigegleichzuBeginnzu<br />

Tutorinnen ausgebildet werden.<br />

„Wer über 16 Jahre altist,kann<br />

selbstdie anderen in ihrer Gemeinde<br />

anleiten. Jede Gruppe<br />

wirddannaus20bis25Mädchen<br />

bestehen“, plantHehakaija.<br />

In drei Favelas der zweitgrößten<br />

StadtBrasiliens soll das Projekt<br />

stattfinden, vorerst. Bangu,<br />

VilaCruzeiroundFaveladoLixão<br />

heißendieStadtviertel.Esistdie<br />

Peripherie der Touristenmetropole.RiesigeAnsiedlungenärmlicher<br />

Behausungen, kaum<br />

Transportmittel und Freizeitangebote.<br />

Oft dominiertder DrogenhandeldasöffentlicheLeben,<br />

für vieleKids eine erste, mitunter<br />

tödlich endende Beschäftigungsmöglichkeit.<br />

Favela Street Girls orientiert<br />

sich an einem männlichen Vorbild.FavelaStreet,2010ebenfalls<br />

voneinemHolländergegründet,<br />

istinderselbenGegendtätig.750<br />

Jugendlichen bietet der Fußball<br />

seitdem eine Alternative zum<br />

Drogengeschäft. Für die Jugendlichen<br />

eine willkommene Abwechselung.<br />

Doch das in Brasilien<br />

beliebteste Wunder,nämlich<br />

wie Pelé oder Neymar mitgeschicktenFüßenzuWeltruhmzu<br />

gelangen,istselten.<br />

Aber das Versprechen des sozialen<br />

Aufstiegs darfinkeinem<br />

Fußballsozialprojekt fehlen.<br />

„NatürlichistdieTalentsucheeiner<br />

unserer Schwerpunkte“, sagt<br />

Exprofi Hehakaija. Werbeim Kicken<br />

aufder Straße oder holprigen<br />

Erdplätzen auffällt, wirdgefördertundwomöglichanlokale<br />

Vereinevermittelt.„DasSchönste<br />

wäre, eine neue Marta zu entdecken.SiewarfürmicheingroßesVorbild“,<br />

sagtHehakaija.<br />

DieStürmerinMartaVieirada<br />

Silva die bekannteste FußballerinderWelt.ZueinemWeltmeistertitel<br />

oder Olympiasieg hates<br />

zwar nicht gereicht, aber fünf<br />

Mal wurdedie Brasilianerin zur<br />

weltbestenSpieleringewählt,zuletzt2011.InzwischenspieltMarta<br />

in Schweden, wo sie 2012 mit<br />

demStockholmerTyresöFF den<br />

Meistertitelgewann.<br />

BeiFavelaStreetGirlsgehtder<br />

Traumvom großen Aufstieg direkt<br />

in Richtung Ajax Amsterdam.<br />

Der Traditionsklub sponsertdasProjekt,gemeinsammit<br />

Sportunternehmen wie Adidas.<br />

KeingroßerPlayerderkommerziellen<br />

Kickerweltkommtheute<br />

darumherum,sichmitsozialem<br />

Engagement, gerade auch in der<br />

Wachstumsbranche Frauenfußball,<br />

zu schmücken. Doch Hehakaijaistrealistisch:„Zwarstehen<br />

wir im Kontakt mitder Frauenmannschaft<br />

vonAjax. Doch das<br />

istZukunftsmusik.“ Das Projekt<br />

seinochweitdavonentfernt,Talente<br />

für den internationalen<br />

Transfermarktzusichten.<br />

Kickende Frauen gibt es noch<br />

nichtlangeinBrasilien.Während<br />

in England der Frauenfußball<br />

sich bereits im Ersten Weltkrieg<br />

großerBeliebtheiterfreute,dauerte<br />

es in Südamerikas größter<br />

Fußballnationbis ins Jahr 1958,<br />

dass zumersten Mal überhaupt<br />

zwei Frauen-Teams offiziell gegeneinander<br />

antraten. Damals<br />

plagten Geldprobleme die Schule<br />

in Araguari, einem kleinen<br />

Städtchen tief im Innern des<br />

Bundesstaates Minas Gerais. In<br />

derNotentstanddieIdee,mitErlösen<br />

auseinem Frauen-Match<br />

das kommende Schuljahr zu finanzieren.<br />

Heimlich wurden 22<br />

Jugendliche zwischen 12 und 18<br />

JahrenausgesuchtundvomFußballverein<br />

Araguaritrainiert. Da<br />

der lokale Rivale Fluminense<br />

nichtmitmachte,lostendieMädchenuntereinanderaus,weram<br />

großenTagfürAraguariundwer<br />

fürFluminenseauflief.<br />

Das Spektakel warein voller<br />

Erfolg. Der Medienrummel<br />

reichtebisinandereBundesstaa-<br />

Weil er „mit der<br />

Natur vonFrauen<br />

unvereinbar“ sei,<br />

war der Frauenfußball<br />

auch in<br />

Brasilien bis in die<br />

Siebzigerjahre<br />

hinein verboten<br />

ten, die Mädchen ausAraguari<br />

wurden zu Gastspielen eingeladen.„ÜberallwurdenwirumAutogramme<br />

gebeten“, erinnert<br />

sichDarcideDeusLeandro,heute<br />

70 Jahre alt. „Das ganze Spiel<br />

über schickten uns die Männer<br />

Handküsse, wir wurden umjubeltund<br />

umgarnt. Aber immer<br />

sehrrespektvoll.“<br />

Doch bald wurdedie katholische<br />

Kirche aufdie Frauen im<br />

Fußballdressaufmerksam.EsgelangdenMoralhütern,dieSpiele<br />

verbieten zu lassen. Als 1959 die<br />

erste Einladung zu einem AuslandsspielinMexikokam,schritt<br />

auchderdamalsmächtigeNationaleSportrat<br />

(CND)ein.MitVerweis<br />

auf ein altes Dekret, das<br />

„Sportarten, die mitder Natur<br />

vonFrauenunvereinbar“waren,<br />

untersagte, wurde FrauenfußballinBrasilienverboten–bisin<br />

dieSiebzigerjahrehinein.<br />

Bis heute istdie Geschichte<br />

des brasilianischen Frauenfußballs<br />

nichtannähernd so glorreichwiedieKarrierevonMarta<br />

Vieira, die als 14-Jährige vonZuhausefliehenmusste,umfernab<br />

derFamilieinRiodeJaneiroihre<br />

Karriere aufzubauen. Vorallem<br />

mangeltesanAusbildungundfinanzieller<br />

Unterstützung, erst<br />

seitdenNeunzigerjahrenistder<br />

Frauenfußballeinigermaßenanerkannt.DerWissenschaftlerOsmar<br />

Moreira deSouza Júnior<br />

kommtinseiner kürzlich veröffentlichten<br />

Doktorarbeit zum<br />

dem Schluss, dass kein einziger<br />

VereinimfünftgrößtenLandder<br />

Welt die gesetzlichen VorschriftendesProfifußballsimFrauenbereich<br />

umsetzt. „Die Athletinnen<br />

werden zwar den im sogenannten<br />

Pelé-Gesetz vorgesehenen<br />

arbeitsrechtlichen Pflichten<br />

unterworfen.DochdieimnationalenFußballrechtfestgeschriebenen<br />

Gegenleistungen wie vertragsmäßige<br />

Bezahlung und angemessene<br />

Arbeitsbedingungen<br />

werdenverweigert“,schreibtMoreiradeSouza.<br />

So kommen wundersame<br />

Frauenfußballgeschichtenheute<br />

meistausdeninzwischenunzähligen<br />

Sport-Sozialprojekten.<br />

ZumBeispiel Beatriz. Sie lebt in<br />

Maranhão, Brasiliens ärmsten<br />

BundesstaatimNordosten. Gewalt,Drogen<br />

und Perspektivlosigkeit<br />

prägten ihre Kindheit.<br />

DreiJahreistesjetzther,dassdas<br />

britische Kinderhilfswerk Plan<br />

Internationalinder ländlichen<br />

Gemeinde São José de Ribamar<br />

seineArbeitaufnahm.<br />

Zu Anfang wollte Beatriz nur<br />

eines: Fußball spielen. Aber die<br />

damals 14-Jährige fand durch<br />

den Fußball auch zu sich selbst.<br />

Mitdem Sportlernte sie neue<br />

Freundekennenundwurdesich<br />

ihrerRechtebewusst.Siebegann<br />

Gender-Workshopszuorganisieren<br />

und vertrat ihre Schule,<br />

wenn in der Region über die<br />

RechtevonKindernundJugendlichen<br />

diskutiert wurde. Sie<br />

nahm an einer Nationalen Konferenz<br />

zum Kinderrechtsstatut<br />

in der HauptstadtBrasília teil,<br />

wurdezur Aktivistin in Sachen<br />

Frauenfußball.HeuteistBildung<br />

Beatriz’ Lieblingsthema, und<br />

auchvieleJungenhabenvonihr<br />

gelernt,dassesimFußballnicht<br />

nurumTore gehen muss. Die<br />

Scouts waren vordrei Jahren in<br />

MaranhãoaufderSuchenacheinemFußballtalent,gefundenhaben<br />

sie ein engagiertes Mitglied<br />

derGesellschaft.


16 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE LESERINNENZENTRUM | taz<br />

Endlich mal jemand, der gegen dieses scheinheilige<br />

Weihnachtsgetue Akzente setzt. Friede, Freude, Eierkuchen<br />

und ansonsten weiterhin Volksverarschung im Namen des<br />

Herrn. Unerträglich istdas. Josephines Protestdagegen<br />

ein Lichtblitz in der Finsternis.<br />

RAINER B. ZU „DIE AUF DEN ALTAR SPRANG“, TAZ.DE VOM 26. 12. 13<br />

dietageszeitung|Rudi-Dutschke-Straße23|10969Berlin| briefe@taz.de|www.taz.de/Zeitung<br />

DieRedaktionbehältsichAbdruckundKürzenvonLeserInnenbriefenvor.<br />

DieveröffentlichtenBriefegebennichtunbedingtdieMeinungdertazwieder.<br />

LESERINNENBRIEFE<br />

Der Papstist kein Marxist<br />

WEIHNACHTSKASINO –„DerPapstsagt,unsereWirtschafttötet,undübtdochkeine<br />

Systemkritik“,schreibtUlrikeHerrmannineinemDebattenbeitrag.Dazugabesinder<br />

online-tazzahlreicheKommentareundeinenLeserbriefandietaz<br />

Noch viel Kraft<br />

■ betr.: „Der Papst und das Kapital“,<br />

taz.de vom 25. 12. 13<br />

AusufernderMaterialismusunddie<br />

BergpredigtvonJesusChristus,das<br />

möchtePapstFranziskusgegenüberstellen.DerPapsterhöhtmitseiner<br />

BotschaftdieArmenundbeschämt<br />

dieskrupellosenKapitalisten,Kommunisten,Diktatoren,Politikerund<br />

auchNormalbürger,dienurimeigenenEgoismusihrLebenverbringen.<br />

MitseinereingeleitetenReforminder<br />

katholischenKirchehatPapstFranziskusbegonnen,dassdasWortJesuin<br />

deneigenenReihenmehrGewichterhältundauchmehreigenesHandeln<br />

erfordert!NochvielKraft,daswünscheichPapstFranziskus!<br />

WALTERGLEICHMANN,taz.de<br />

Wohlstand<br />

■ betr.: „Der Papst und das Kapital“,<br />

taz.de vom 25. 12. 13<br />

EslebenvieleMenschenimWohlstand,aberebenaufdemRückender<br />

Armen.EsgabniemehrarmeMenschenalsheute,niehateineClique<br />

denPlanetenmehrausgebeutetfür<br />

denWohlstandvonWenigen.Veränderungensindnichtzwingendnegativ,<br />

aberVeränderungenführtenbislang<br />

immerdazu,dieTaschenWenigerimmerweiterzufüllenundHohnaufdie<br />

Menschenauszuschütten,dieperGeburtebenfallseinAnrechtaufResourcenundGlückhaben.<br />

RICHTIGBISSIG,taz.de<br />

Deutscher Blick<br />

■ betr.: „Der Papst und das Kapital“,<br />

taz vom 20. 12. 13<br />

.................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................<br />

Esisteinsehreuro-undspezifisch<br />

deutscherBlick,mitdemUlrikeHerrmannversucht,das,wassiegelesen<br />

hateinzu-norden.Hättesiedochmal<br />

etwasgenauergelesen.Dannwäreihr<br />

aufgefallen,dassderFranziskusgenau<br />

ihreKritikpunktegenannthat,darauf<br />

hingewiesenhat,dassernichtdergroßeSoziologe,Ökonom,Analysierer<br />

sei.DielokalenGemeindenundKirchenhateraufgerufen,nun„Fleisch<br />

beideFische“zutun.Hiermalnachzufragen,washabtihrausdiesemPapier<br />

gemacht.Wiekonkretisiertihresfür<br />

eureKirche–daswäreundistnötig.<br />

Ich,einevangelischerPfarrerimRuhestand,hoffejedenfalls,dassdieses<br />

PapierauchinderevangelischenKirche,auchhierinBerlinwahrgenommenwirdundmansichdieAnfragen<br />

gefallenlässt,dieFranziskusdastellt–<br />

nichtnurimBlickaufdieWirtschaft.<br />

VonderAnalysezumHandelnzu<br />

kommen,dasistdieAufgabe.Gemeindenzuhaben,dieaufpassen,dassder<br />

Mindestlohnwirklichumgesetztwird<br />

undnichtfürdieArmendieAusnahmeklauselngelten(zumBeispielfür<br />

dierumänischenundbulgarischen<br />

undvielleichtauchbaldukrainischen<br />

Saisonarbeiter).IstesnichteinevangelischerSkandal,dassGottesdiensträumeundGemeindehäuser,diein<br />

guterLageliegen,fürhorrendePreise<br />

anInvestorenverscherbeltwerden,<br />

Nicht Marx, sondern Papst Franziskus in<br />

Brasilien Foto: Luca Zennaro/dpa<br />

umdieKircheamAlexerstrahlenzu<br />

lassen,umeinvonobenimplantiertes<br />

LehrhausamPetri-Platzzuerrichten?<br />

EsgibtnichtnurdieTebartzevonLimburg,sondernauchdieevangelischen<br />

TebartzevonBerlin-Mitte.FrauHerrmannsWunschzettelnacheinemvermutlicheher„altenMarx“hatsichin<br />

Franziskusnichterfüllt.AbermanchmalistvielleichtauchderWunschzettelfalschoderandenfalschenWeihnachtsmanngerichtet.CHRISTIAN<br />

MÜLLER,Berlin<br />

Nächstenliebe<br />

■ betr.: „Der Papst und das Kapital“,<br />

taz.de vom 25. 12. 13<br />

ImZentrumdeschristlichenDenkens<br />

stehtdereinzelneMenschinseiner<br />

Verantwortung.DasshierdasGebot<br />

derNächstenliebeunddieEinforderungdessenKonsequenzenauchaus<br />

Romwiederklarzuhörensind,gehört<br />

zudenerfreulichenEntwicklungen<br />

desJahres2013.DarauseinKonzept<br />

fürdieGesellschaftzuformulieren,ist<br />

einepolitischeAufgabe,dersichein<br />

BischofvonAmtswegennichtstellen<br />

kann.DenninderUmsetzungderGeboteimpolitischenAlltagnimmtdie<br />

KlarheitdieserGebotezwangsläufig<br />

Schaden.HieristdieVerantwortung<br />

desEinzelnenwichtigeralsdieVorgabevonRezepten.<br />

Klarist,dassvonJedemgefordertwird<br />

dasSeinezueinergerechtenGesellschaftbeizutragen.DieWahlderWaffen–Marx,Eucken,wasauchimmer–<br />

istseineVerantwortung.<br />

DELPHINAJORNS,taz.de<br />

Wirkungslos<br />

■ betr.: „Der Papst und das Kapital“,<br />

taz.de vom 25. 12. 13<br />

................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................................<br />

EssindnichtdieSystemeansich<br />

schlecht,sonderndieProblemeliegen<br />

indenMenschen,diedieSystemeausgestalten.GierundRücksichtslosigkeitistkeinProblemdesGeldesoder<br />

Kapitalsansich,diessindAusprägun-<br />

genmenschlichenVerhaltens.Inso-<br />

fernwirddasAbschaffendesKapita-<br />

lismusnichtsbewirken,wieauchdie<br />

ÜberwindungdesFeudalismusnichts<br />

bewirkthatbezogenaufdieAusbeutungdesMenschendurchMenschen.<br />

BERNDSCHUMANN,taz.de<br />

Eine Chance<br />

■ betr.: „Der Papst und das Kapital“,<br />

taz.de vom 25. 12. 13<br />

Seit an Seit<br />

■ betr.: „Der Papst und das Kapital“,<br />

taz.de vom 25. 12. 13<br />

Es wirdgeschmollt<br />

■ betr.: „Der Papst und das Kapital“,<br />

taz.de vom 25. 12. 13<br />

RadikaleVeränderungenmüssen<br />

nichtunbedingtzueinerVerbesserungführen.AuchwennmancheMarxistendaHeilsversprechengeben.LeiderwurdeundwirdauchimNamen<br />

vonMarxgemordet,eingesperrt,ausgenutztusw.InEuropaglaubenimmerwenigerMenschenanHeilsversprechenjeglicherArt<br />

…vielleichtist<br />

dassogareineChanceausaltenIdeologien,Feindschaftenusw.herauszufinden?DieErfahrungenderBefreiungstheologiesindfürmichmanchmalinteressanteralsvonsomanchemAntikapitalistenoderMarxisten.GAST,taz.de<br />

AusnahmslosallechristlichenKirchenundReligionenstehenideologischundpolitischanderSeiteder<br />

herrschendenReichen.Konkret,an<br />

derSeitederherrschendenFinanzundMonopolbourgeoisienin<br />

DeutschlandundderenEuropäischen<br />

Union,derenspätbürgerlichenund<br />

postfaschistischenAdministrationen:<br />

denhistorischenundstaatsmonopolitischenGewalt-,Staatsschutz-,Überwachungs-undBeamtenapparat,alle<br />

spätbürgerlichenundmodifiziertkapital-faschistischenParteien,Wissenschaften,RegierungenundParlamente.WOLFGANG,taz.de<br />

„EswarnichtdieKirche,dievieleMenschenausderArmutherausgeführt<br />

hat–sonderndieIndustrialisierung,<br />

dieab1760inEnglandeinsetzte.Der<br />

WohlstandistalsogenaujenemKapitalismuszuverdanken,dernunvon<br />

Franziskusangeprangertwird.“Die<br />

Kirchewar’ssichernicht,aber„derKapitalismus“auchnicht.EswarenInnovationen,diedasLebenangenehmer<br />

machten,undzwarlangenurfürdie<br />

besitzendeKlasse.DassdasProfitstrebenderKapitalistendieseInnovationenhervorgebrachthätte,istdiezentraleApologetikdesKapitalismus,<br />

undesistbedauerlich,dassdieseauch<br />

indertazverbreitetwird.GroßeinfrastrukturelleVerbesserungendesLebensstandardswieWassernetzewaren<br />

ohnehinstaatlicheProjekte,keineprivaten.Aberichverstehe,dassgeschmolltwird,wennjetztdiekatholischeKirchedenKapitalismusangeht,<br />

währenddaslinkeEstablishmentvollkommensystemkonformist.<br />

JENGRE,taz.de<br />

LESERINNENBRIEFE<br />

Weinen oder sich empören?<br />

■ betr.: „Hilfsbusiness inPalästina“, Beilage 3. Welt Saar, taz vom 20. 12. 13<br />

Ichweißnicht,obichüberdiesePolitikdertaznunweinenodermichempören<br />

soll.DieseFlugschriftkommtaufdererstenSeitesoscheinheiligregierungskritischmitdemFotovonKanzlerinMerkeldaher,wiesieKinderninAfrikadas<br />

Schreibenbeibringt,undsiehinterfragtscheinbarsopolitischkorrektundfortschrittlichZieleundMethodenvonEntwicklungshilfe,wasjaabsolutberechtigt<br />

ist.AberderganzeAufwanddientausschließlichdemZiel,umaufdenfolgendendreiSeitenzueinemRundumschlaggegenalleNGOsundInitiativenauszuholen,diesichinIsrael/PalästinazusammenmitderisraelischenundpalästinensischenZivilgesellschaft,nichtmitHamasoderderpalästinensischenAutonomiebehörde,fürdieMenschenvorOrtundfüreinEndederisraelischenBesatzungundeinengerechtenFriedenfürbeideSeitenengagieren.Einesolche<br />

FlugschriftalsBeilagezuJungleWorld:geschenkt!Aberdassdietazeinerderart<br />

polemischenVerunglimpfungvonAmnestyInternational,IPPNW,PaxChristi<br />

undanderenNGOseinForumbietet,istbodenlos.<br />

INGRIDRUMPF,Pfullingen<br />

.................................................................................................................................<br />

Hessenist ein gutes Modell<br />

■ betr.: „Farbenspiel mit Schwarz“, taz vom 21. 12. 13<br />

GründedasAuslieferungsabkommen<br />

imFallSnowdenauszusetzen.Und<br />

auchsonst:DasTodestrafenlandUSA<br />

kannRusslandlängstnichtmehrdas<br />

WasserderMenschenrechtereichen.<br />

DrohnenmordwirdinderZivilisation<br />

derUSAvomPräsidentenhöchstpersönlichbefohlen.WieimKriegsfall<br />

ohneKriegserklärung,werdendieBetroffenenmitFrauenundKindernauf<br />

ausländischenBodenexekutiert.<br />

OhneGerichtsverfahren,quasialsKillerdienstleistungfüreigeneSpitzelin<br />

derRegion.Wahrlich,FrauGaushat<br />

Recht!Menschenrechtesindunteilbar.Auchwenndie,diesieammeisten<br />

brechen,geradeamlautestenschreien.BERNDGOLDAMMER,taz.de<br />

EinigeKommentareaufderLeserbriefseiteerweckendenEindruck,<br />

Schwarz-GrünwäredieWunschkonstellationgewesen.<br />

Aberistesnichtso,dassSPDundLinke<br />

zumwiederholtenMaleaufgrundunerklärlicherBefindlichkeitenundpolitischemFundamentalismusesnicht<br />

geschaffthaben,auseinerrechnerischenlinkenMehrheitineineKoalitiondersozialenGerechtigkeitzubilden?HabennichtbeideParteienauf<br />

Bundesebeneerneutgezeigt,dasssie<br />

vorderVerantwortungversagen?<br />

DieStärkederCDUistgespeistvorallemdurchdieSchwächederjenigen,<br />

diesieregierenlassen,weilsiesich<br />

nichteinigenkönnen.DasssichGrüne<br />

ausdieserErfahrungherausnunneue<br />

WegeundPartnersuchen,istdabei<br />

Miefdeutscher Juristenlogik<br />

■ betr.: „Menschenrechte sind nicht teilbar“, taz.de vom 22. 12. 13<br />

............................................................................................ ............................................................................<br />

BevormanhierdenMiefdeutscherJuristenlogikaufbläst,stelleichfolgende<br />

Frage:WiesounterhältDeutschland<br />

BeziehungenzueinemStaat,derdie<br />

Menschenrechtenichtbeachtetund<br />

großflächiggegendiedeutschenGesetzeverstößt?Dasistbewiesen!<br />

SnowdenistderAufklärer,derdieVölkerderWeltinformierthat.TäterwarenundsindRegierungsbeamteder<br />

USA,dieganzbewusstauchgegenGesetzeihreseigenenLandesverstoßen<br />

haben.Daswurdekürzlichsogarin<br />

denUSAgerichtlichfestgestellt.InsoferngreifenalldieblödsinnigenFloskelnnicht.ImGegenteil,siestellen<br />

dendeutschenRechtsstaatinFrage.<br />

Deutschlandhättenochvieleandere<br />

nurlogisch.Unddassmanmit11Prozentkeine100ProzentgrünePolitik<br />

bekommt,auch.<br />

HessenisteingutesModell,anhand<br />

dessenmanlernenkann,obdiese<br />

neueOptionträgt.SPDundLinke<br />

müssensichendlichbewegen.Sonst<br />

stehensieüberkurzoderlangeinem<br />

schwarz-grünenBlockgegenüber–<br />

derzwarlangsamervorangeht,alses<br />

Rot-Rot-Grünkönnte–aberimmerhin<br />

vorankommt.<br />

GelingtHessen,wirdSchwarz-Grün<br />

imBundmöglich.UndalsBaden-<br />

Württembergerkannichsagen:die<br />

SPDistkaumwenigerkonservativals<br />

esdieCDUist.ObamEndedas<br />

SchreckgespenstjetztSarrazinoder<br />

Steinbachheißt–austauschbarundirrelevant.JÖRGRUPP,Malsch<br />

.................................................................................................................................<br />

.................................................................................................................................<br />

Pressehysterie<br />

■ betr.: „Menschenrechte sind nicht<br />

teilbar“, taz.de vom 22. 12. 13<br />

........................................................................................................<br />

DerVergleichzwischenChodorkowski<br />

undSnowdenisteineBeleidigungfür<br />

Snowden.Snowdenhatsichnicht<br />

selbstbereichert.ErhatkeineRegierungengeschmiert.Unbestrittenist,<br />

dassdieVerurteilungChodorkowskis<br />

selektiveJustizwar,abermachtihn<br />

daszumVorkämpferfürFreiheitund<br />

Menschenrechte?Fällteseigentlichirgendjemandemauf,dassinderPressehysteriediejenigenvölliguntergehen,dieuntererheblichempersönlichemRisikoderÖlindustriedieStirn<br />

gebotenhaben,dieArctic30?<br />

JOHANNESROHR,taz.de<br />

Verschiedene Fälle<br />

■ betr.: „Menschenrechte sind nicht<br />

teilbar“, taz.de vom 22. 12. 13<br />

Auchwennichgrundsätzlichdafür<br />

binSnowdenAsylanzubieten:DieAutorinhathierdeneklatantenUnterschiedzwischenbeidenFällennicht<br />

erkannt(oder,wahrscheinlicher,bewusstignoriert):SnowdenwirdineinemanderenLand,mitdemeinAuslieferungsabkommengeschlossen<br />

wurde,strafrechtlichverfolgt.Dasist<br />

beiChodorkowskinichtderFall.Auch<br />

wennichtrotzdemdenkemanmüsste<br />

MittelundWegefinden,Snowdenein<br />

BleiberechtinDeutschlandzuverschaffen:BeideFälleliegengrundsätzlichverschieden.HALLO,taz.de


www.taz.de | sonntaz@taz.de apple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 17<br />

applediesonntaz<br />

http://kbhpodhnfxl3clb4.onion/<br />

Hier finden Sie IhrePrivatsphärewieder |Seite 20,21, 22<br />

Inhalte Kultur „Das merkwürdige Kätzchen“: Ein Film von Studenten ist der Geheimtipp des<br />

neuen Jahres |Seite 23 Alltag Im Hotel der Zukunftschlafen Reisende,Künstler und Asylsuchende<br />

|Seite 31 Konsum Drink 2014: Nach Hugo und Moscow Mule kommt der Manhattan |Seite 30<br />

Medien Öffentlich-rechtliches Youtube? Wie ARD und ZDF um die Jugend kämpfen |Seite 39


18 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple www.taz.de | sonntaz@taz.de WÜNSCHE | sonntaz<br />

Weniger Müll kaufen! Kleidung wertschätzen!<br />

Energiewende vorantreiben!<br />

EsisteinParadox.DennistMode<br />

nichtdierasendeLustnachdem<br />

immer Neuen? Obwohlfastjedem<br />

im Augenblick bei dem<br />

Tempoder sich allesechs WochenmitNeuemfüllendenRegaleschwindeligwird.<br />

Überdruss macht sich breit.<br />

Wegwerfmode. Einwegmode. T-<br />

Shirts für 1,99 und im Salefür<br />

59Cents. Sachen, die im Moment,<br />

in dem man sie kauft,<br />

schonMüllsind.WonurderKick<br />

AufEchtheit beim Sexsetzen!<br />

SchimpfenSiemichspießigund<br />

blöde, aber ich finde das Konsumverhalten<br />

der Leute in SexundBeziehungsdingensehrverstörend.<br />

Kürzlich hatmir ein BekanntereineAppgezeigt,aufderman<br />

sich Fotosvon Frauen ansehen<br />

konnte. Gefiel ihm eine, konnte<br />

er sie speichern, gefiel ihm das<br />

Bildnicht,wischteereszurSeite,<br />

undschonkamdieNächste.Am<br />

EndedesAbendshatteer16mögliche<br />

Dates aufdem Bildschirm,<br />

chattetewieeinIrrerundwarfür<br />

uns nichtmehr ansprechbar.Er<br />

benahmsichwieimOnlineshoppingwahn.<br />

Ich kenne Leute, die<br />

funktionieren nur noch über<br />

elektronischen Verkehr.Ich plädiere<br />

für sexuelle Nachhaltigkeit.Lieber<br />

Nähe zulassen üben<br />

als den Umgang mitDildos, das<br />

Ich mussmich ändern!<br />

2014solltesichmalwiedermehr<br />

ändern, als sich ändern wird.<br />

Mein Hund muss sich nichtändern,<br />

der istganz okay. Das gilt<br />

auchfürmeineübrigenBekannten,<br />

die sind ebenfalls in Ordnung.<br />

Die Bundesregierung wird<br />

sich vor2017 nichtändern. Das<br />

istzwarnichtschön, aber so ist<br />

das.Ichselbermüsstemichdringend<br />

ändern, sagen mein Hund,<br />

meine Bekannten und mein<br />

Steuerberater.<br />

DasLandmüsstesichändern,<br />

sage ich. Der Hund meint, das<br />

Land müsse sich nichtändern.<br />

Mein Steuerberater sieht das<br />

ähnlich, weil er daran, wie das<br />

Landist,nichtschlechtverdient.<br />

DasLandändertsichauchso,sagen<br />

meine übrigen Bekannten.<br />

Vielleichtsollteich mich doch<br />

selberändern,denkeich.<br />

Dass es zu wenige Schafe in<br />

Deutschland gäbe, behauptet<br />

desKaufenszähltunddasdunkle<br />

Objekt der Begierde zumStatthalter<br />

für ein leerlaufendes Begehren<br />

wird, das immer rasender<br />

alles zunichte macht. Dessous<br />

zumVernaschen sind zum<br />

Fressensüß.Mitverschiedenem<br />

Geschmack:Erdbeere,Zitrone.<br />

AberdieseKleiderhier,dieim<br />

Preis oft weit unter dem eines<br />

Macarons liegen, sind nichteinmalzum<br />

Vernaschen. Sondern<br />

einfach zum Wegwerfen. 2014<br />

wäreeinAnfang.IchschätzeIntimität<br />

als Erfahrungshorizont,<br />

habe aber das Gefühl, dass sich<br />

viele von Intimität einschüchtern<br />

lassen. Dieses Übermaß an<br />

Oberflächlichkeiten, in denen<br />

wirunsbewegen,kannnichtgesundsein.<br />

Wenn Menschen glücklich<br />

sind,treffensiebessereEntscheidungen.<br />

Darum hoffe ich, dass<br />

dieLeuteindiesemJahrweniger<br />

aufShowsetzen, und mehr auf<br />

Echtheit. Beim Sexdamitanzufangen,<br />

halteich für eine gute<br />

Idee.<br />

■ Paula Lambert,<br />

39, ist Autorin<br />

und Sexcoach.<br />

Ihr Buch „Der<br />

Männerreport“<br />

erscheint imMärz<br />

nurmeinHund.Dasseszu viele<br />

gibt, behaupte ich. Mein Steuerberater<br />

sieht das auch so, hat<br />

aber nichts dagegen. Ich sei zu<br />

kritisch, behaupten meine Bekannten,dasmüssesichändern.<br />

Mein Hund teilt diese Auffassung.<br />

Eigentlich will ich mich nicht<br />

wirklich ändern. Eigentlich will<br />

ichmichdochändern.Eigentlich<br />

müssteichmichändern.Abereigentlich<br />

will ich nicht. Sie habe<br />

2013jedenTagfürmichgebetet,<br />

sagt eine Bekannte. Das muss<br />

sich nichtändern. Aber,insgesamt:2014solltesichmalwieder<br />

mehr ändern, als sich ändern<br />

wird.DerHundsiehtdasauchso.<br />

■ Sebastian Edathy,<br />

44, ist MdB<br />

für die SPD und<br />

leitete den Untersuchungsausschuss<br />

zum NSU<br />

wirdsich dieser rasende Kreislauf,<br />

befeuert von Gewinngier<br />

und Profitmaximierung, hoffentlichverlangsamen.<br />

Ausgetragen wirderauf den<br />

LeibernundKnochenderTextilarbeiter.Dielebenjetztweitweg,<br />

in Pakistan und Bangladesch.<br />

Der feine Staub setzt sich in der<br />

Lungefest.<br />

FürdieTextilarbeitervonheuteistdasimschlimmstenFallein<br />

Todesurteil;injedemFallgehtes<br />

Fotos: Lise Gagne/Getty Images (groß); Kurt Rade, Hans Buttermilch, dpa, Stefan Klüter, reuters, privat<br />

Redaktion der Gastbeiträge: S. Bednarczyk, C. Fleige, S. Kempkens, F. Seyboldt<br />

aufdie Knochen. Slow Fashion<br />

wird kommen. Das Lieblingsstück.DasSicheinwohneninein<br />

Kleid, das Verschleißen aufdem<br />

Körper.DasWertschätzenkunstvollerKunstfertigkeit.<br />

■ BarbaraVinken,<br />

istProfessorin für<br />

Literaturwissenschaft.<br />

2013 erschien<br />

„Das Geheimnis<br />

der Mode“<br />

BESSERGuteVorsätzesindso1994.<br />

SechsForderungen,wasim<br />

nächstenJahranderslaufenmuss<br />

Wasmusssich<br />

2014ändern?<br />

NachdemdieUniongrüneTexte<br />

vorzugsweise nach dem Wort<br />

„müssen“durchsucht,umanihrer<br />

Legende der grünen Bevormundungspartei<br />

weiterzustricken,<br />

beantworte ich die Frage<br />

bayerisch:Esmussgarnix.<br />

Sinnvoll wäre aber schon ein<br />

vernünftigerer Umgang mitunseren<br />

natürlichen Lebensgrundlagen.DaserfordertmutigespolitischesHandeln,wovongerade<br />

wenig zu sehen ist. Eine Große<br />

Koalition, die nicht die CO 2 -<br />

Emissionen,dafüraberdenAusbauerneuerbarer<br />

Energien gesetzlichdeckelt,mussmanschon<br />

kleingeistig nennen. Ändern<br />

sollte sich auch die Diskussion<br />

über die Energiewende. Statt sie<br />

Investoren aufhalten!<br />

Ich habe während der Schulzeit<br />

vielgedrehtundhattekaumZeit,<br />

Berlin so richtig zu entdecken.<br />

Jetzt hole ich das nach. Dabei<br />

muss ich erkennen, dass viele<br />

der Orte, die die Stadtsobesonders<br />

und anziehend machen,<br />

permanentinGefahrsind.<br />

Oft frageich mich dann, ob<br />

Berlin auch in Zukunft lebenswertseinwird.Ichwünschemir,<br />

dasssichetwasbewegtinBerlin.<br />

Wiekann es sein, dass Teileder<br />

Verantwortung übernehmen!<br />

Ich wünsche mir,dass der Sport<br />

sichwiederaufseineStärkenbesinnt.<br />

Sporthat die Kraft, durch<br />

einfriedlichesMiteinanderMenschen<br />

aus unterschiedlichsten<br />

Kulturen und Nationen zu verbinden.Sportsollverbindenund<br />

nichttrennen.<br />

Das vonPierre de Coubertin<br />

vorgeschlagene Motto „Schneller,<br />

höher,stärker“ istvon „Größer,teurer,spektakulärer“abgelöstworden.Dertraurigevorläufige<br />

Höhepunkt dieser Entwicklung<br />

wirdinSotschi oder durch<br />

das Verhalten der FifaimHinblickaufdieunmenschlichenArbeitsbedingungen<br />

der WM-BaustelleninKatarsichtbar.<br />

Ich träume voneiner Sportwelt,<br />

die Leistungssport integriertund<br />

Menschenrechte fördert.<br />

Eswäreschade,wennderSpitzensportall<br />

die positivenMöglichkeiten,<br />

die Idealeund Werte<br />

zugunsten von Gewinnmaximierung<br />

aufgeben würde. Der<br />

organisierteSportmusssichder<br />

alsvielleichtletzteverbleibende<br />

ChancefürdenKlimaschutzvoranzutreiben,wirdsieseitJahren<br />

alsStrompreistreiberdiffamiert.<br />

Die Große Koalition droht die<br />

Pausentaste der Wende zu drücken.<br />

Und für mich? Es hatsich in<br />

diesem Jahr so viel geändert,<br />

dass das nächste Jahr ruhig veränderungsfreibleibendarf.Und<br />

weil die Fragesobeliebt ist: Die<br />

HaareundderBartbleibendran.<br />

■ Anton Hofreiter,<br />

43, geboren<br />

inMünchen,<br />

ist Fraktionschef<br />

der Grünen<br />

im Bundestag<br />

Mauer abgerissen werden, um<br />

Platz zu machen für Luxuswohnungen?<br />

Der kurzsichtige AusverkaufanInvestoren<br />

muss ein<br />

Endehaben,damitBerlinseinen<br />

Charmebehält.<br />

■ Emilia Schüle,<br />

21, ist Schauspielerin.<br />

Bekannt<br />

wurde sie als<br />

Wegwerfmädchen<br />

im „Tatort“<br />

Verantwortung stellen, die seine<br />

Autonomie mit sich bringt. Er<br />

muss glaubhaft die Menschen<br />

und Institutionen unterstützen,<br />

die sich für Transparenz, gegen<br />

Korruption, gegen Doping und<br />

Wettbetrugaussprechen.<br />

Ich möchte auch in Zukunft<br />

Teil dieser Bewegung sein und<br />

dazubeitragen, dass SportMenschenundKulturenverbindet.<br />

In der Olympischen Charta<br />

heißtes: „Jede Form vonDiskriminierungeinesLandesodereiner<br />

Person aufgrund vonRasse,<br />

Religion,Politik,Geschlechtoder<br />

aussonstigen Gründen istmit<br />

der Zugehörigkeit zur olympischen<br />

Bewegung unvereinbar.“<br />

EsistanderZeit,dieolympische<br />

BewegunganihreeigenenWerte<br />

zuerinnern.<br />

■ Imke Duplitzer,<br />

38, ist Degenfechterin<br />

und<br />

trat fünfmal bei<br />

Olympischen<br />

Spielen an


sonntaz |FUSSBALL<br />

www.taz.de | sonntaz@taz.de apple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 19<br />

SchönspielerwareinSchimpfwort<br />

VON PETER UNFRIED<br />

Essei ja schönund gut, was<br />

Joachim Löw soalles erreichthabe,<br />

so lautet die<br />

konventionelleDenkschule.Aber<br />

ihm fehlehaltein Titel.<br />

DermüssenunbeiderWM2014<br />

in Brasilien her.Sonstsei alles<br />

letztlichnichtswert.<br />

Löw, 53, istmittlerweilesiebeneinhalb<br />

Jahre Trainer der<br />

deutschen Fußballnationalmannschaft.LängeralsJuppDerwall<br />

(78–84), Franz Beckenbauer<br />

(84–90), Erich Ribbeck (98–<br />

2000) Rudi Völler (2000–04)<br />

und Jürgen Klinsmann (2004–<br />

06),dessenAssistenterzweiJahre<br />

war. Im Frühsommer2012 erreichte<br />

Löw den Gipfel seines<br />

RuhmsundwarwenigeTagedaraufbeieinemTeilderÖffentlichkeit<br />

abgestürzt –nach der Niederlage<br />

gegen Italien im EM-<br />

Halbfinale. Ein kleiner Teil versuchteeineinteressanteFachdiskussion:<br />

Inwiefern sich Löw<br />

schlichtvercoachthatte oder an<br />

seinen Grenzen angelangt war.<br />

Die Mehrheitsgleichung war<br />

schlicht: Kein Titel, kein Erfolg.<br />

DochfehltLöwwirklicheinTitel<br />

–oder istseine historische Leistung<br />

nichtlängstgrößer als der<br />

vonvielen Unwägbarkeiten abhängendeTurniersieg?Ichargumentiere<br />

für Zweiteres. Der<br />

Grund:LöwhatdiesesLandvom<br />

Wankdorf-Fluchbefreit.<br />

Wille,KampfundRegen<br />

DerWankdorf-Fluchistdieignorierte<br />

Kehrseite des Wankdorf-<br />

Mythos.Jenerbestehtdarin,dass<br />

Deutschland neun Jahre nach<br />

dem verloren Angriffs- und Vernichtungskrieg<br />

gegen die Welt<br />

durch den WM-Sieg 1954 im BewusstseinderDeutschenwieder<br />

zu existieren begann. Als etwas<br />

Positives. Gewonnen wurdedie<br />

WM gegen einen als übermächtig<br />

empfundenen Gegner. Die<br />

Ungarn hatten tatsächlich die<br />

besseren Spieler,ein eingespieltes(Profi-)Team,undsiespielten<br />

denschönerenundmoderneren<br />

Fußball (mit einer falschen<br />

Neun). Aber am Ende gewannen<br />

die Deutschen. Laut Mythos<br />

durchWillen,KampfundRegenwetter.Faktisch<br />

auch, weil Fußball<br />

halt Fußball ist. So waspassiert.<br />

DieFolge:DassinguläreEreigniswurdealsRollenmodellmissverstanden,derFaktorZufallgenauso<br />

extrahiertwie der Faktor,<br />

dassauchSeppHerbergersTeam<br />

an diesem Tag eine moderne<br />

Spielstrategiehatte.Über50Jahre<br />

sperrten sich die Deutschen<br />

danachselbsteinindasGefängnis<br />

der sogenannten deutschen<br />

Tugenden. Tenor: Mögen die anderen<br />

den schöneren Fußball<br />

spielen, am Ende gewinnen wir<br />

mitunseren gnadenlosen Grätschen.<br />

Auch wenn die Helmut-<br />

Schön-Jahre unvergessene Klassiker<br />

enthielten: Nureinmal –<br />

undmehroderwenigerzufällig–<br />

wurde ein Titel ästhetisch gewonnen.<br />

Das war der EM-Sieg<br />

1972mitGünterNetzer.Bisheute<br />

der wichtigste Mythos der progressiven<br />

Fußballanhänger. Allerdingsfalschverstanden:Nicht<br />

der Flugball vonNetzer wardas<br />

moderne Moment, sondern der<br />

ÜberzahlspielerBeckenbauer.JedenfallsgaltderschöneEM-Titel<br />

im Grunde als undeutsch.<br />

„Schönspieler“ warinDeutschland<br />

ein Schimpfwort. Ästhetik<br />

wurdezumTrostpreisfürnotorische<br />

Loser wie die Niederlande<br />

undFrankreichabgewertet.<br />

WaskümmerteunsdiefachlicheEntwicklung?WirhattenTugendenundzudemirgendwieja<br />

|<br />

DIE THESE<br />

JoachimLöwhatdendeutschen<br />

Fußballmodernisiert.Den<br />

.<br />

WM-Titel2014brauchternicht<br />

auch Weltklassespieler. Man<br />

dachtetatsächlich,derErfolgliegeimdeutschenBlutbegründet.<br />

EslagaberamModernitätsschub<br />

Bundesligagründungunddaran,<br />

dass die Strukturen im Westen<br />

undimOstenbisMitteder90er<br />

genügend exzellente Fußballer<br />

mit deutschem Stammbaum<br />

hervorbrachten. Doch ab 1998<br />

warman chancenlos gegen Länder,indenen<br />

modern geschult<br />

und gespieltwurde; gegen Länder,die<br />

Einwanderer ins System<br />

integrierten. Da half die knorrigste<br />

Grätschverteidigung<br />

nichtsmehr,imGegenteil.<br />

Die Veränderung möglich gemachthaben<br />

Erich Ribbeck und<br />

Lothar Matthäus. Der Teamchef<br />

und sein tief hintendrin stehender<br />

Liberowaren dem Weltfußball<br />

derart hilflos ausgeliefert,<br />

dass die Rückständigkeit nicht<br />

mehrzuübersehenwar.AusSorge<br />

um den deutschen Fußball<br />

wurden im Jahr 2000 die verpflichtenden<br />

Nachwuchsleistungszentren<br />

eingeführt. Aber<br />

selbstdabrauchte es noch vier<br />

JahreWeiter-so-Gemurksedurch<br />

RudiVöller,umplötzlichdenHomo<br />

novusKlinsmann als Teamchef<br />

und dazuden ausdrücklich<br />

vonihm gewünschten Assistenten<br />

Löwzubekommen. „Klinsmann<br />

war der Change Agent,<br />

Löwist der Verstetiger“,sagtder<br />

Wirtschaftswissenschaftler SaschaSchmidt,<br />

der an der EBS-<br />

Universität sozioökonomische<br />

Auswirkungen des Sports erforscht.<br />

Im Auftrag vonSportdirektor<br />

OliverBierhoff haterdie<br />

Nationalmannschaft nach Kriterien<br />

erfolgreicher Unternehmensentwicklunguntersucht.<br />

VöllersBankrotterklärungbei<br />

der EM 2004 konnte Klinsmann<br />

angesichts der Heim-WM2006<br />

als Legitimationnehmen für einen<br />

ungewöhnlich großen und<br />

schnellen Veränderungsprozess.<br />

DerkalifornischeGastnahmden<br />

Laden in kürzester Zeit gegen<br />

heftige Widerstände auseinander,setzte<br />

ihn neu zusammen,<br />

überwanddieKriseundetabliertedenDFBwiederaufhöchstem<br />

Niveau.Ein Change Agent, sagt<br />

Schmidt,müsseunpopuläreund<br />

harte Entscheidungen treffen<br />

und sei daher am besten eine<br />

temporäreFigur.Klinsmannwar<br />

ideal dafür.Löw hätte das nicht<br />

gekonnt. Die Rolledes Verstetigers<br />

dagegen liegt ihm. Zudem<br />

harmonierte er vonAnfang an<br />

mitdemFußball,derindenneuen<br />

Nachwuchsleistungszentren<br />

gelehrtwird.<br />

Seit Sommer 2006 haterdas<br />

Team,wasdieErgebnisseangeht,<br />

aufhöchstemNiveaustabilisiert<br />

(EM-Vize2008,WM-Dritter2010,<br />

EM-Halbfinale2012). Kader und<br />

Stil hatLöw in seiner Zeitdeutlich<br />

weiterentwickelt: Noch nie<br />

inderGeschichtediesesFußballverbandshatdieNationalmannschaft<br />

über Jahre hinweg eine<br />

derartige Kombinationvon Erfolg,<br />

Ästhetik und Fußballmodernehinbekommen.<br />

EpochaloderUnfall<br />

Früher wurschtelte man sich<br />

durch Qualifikationen und Turniere.<br />

Heute freutman sich auf<br />

jedesLänderspiel.Undhäufigzu<br />

Recht. Löw hat in den letzten<br />

zweieinhalbJahren reihenweise<br />

große Fußballunterhaltung geliefert.<br />

6:2gegen Österreich, 3:2<br />

gegen Brasilien. 3:0gegen Niederlande.<br />

4:2 gegen Griechenland<br />

und 2:1gegen Niederlande<br />

bei der letzten EM. 6:1inIrland<br />

undzuletztein5:3gegenSchweden.6:1inIrland.Warumgiltdas<br />

3:4 gegen Italien von 1970 als<br />

epochal,das4:4gegenSchweden<br />

vomvergangenen Oktober aber<br />

als größter anzunehmender<br />

Fußballunfall? Hier wie dort<br />

wurdefehlerhaft verteidigt. Das<br />

einewareinWM-Halbfinale,das<br />

andere nur WM-Qualifikation:<br />

Aber beide Spiele haben eine<br />

SpurhinterlasseninderkollektivenErinnerung.Wegenihresau-<br />

ßergewöhnlichen Unterhaltungswertsund<br />

des Bruchs mit<br />

dem Normalen. Welchen Wert<br />

hätte–angesichts vonneunSiegen<br />

in zehn Qualifikationsspielen–ein<br />

dahergestolpertes 1:0<br />

gehabt?SicherbleibenTitelinErinnerung,<br />

aber erstdie ästheti-<br />

scheBegründungimSinneCésar<br />

Luis Menottis machtFußball zu<br />

unvergesslichen Erlebnissen einesMomentsundinderkollektivenErinnerung.<br />

Sonsthat man<br />

zwar gewonnen, aber wozu,wodurchundwofür?<br />

Das alles heißt nicht, dass<br />

Deutschland nicht Weltmeister<br />

werden soll. Falls maneswird,<br />

umso besser.Falls nicht, liegt es<br />

jedenfallsnichtanfehlendenTugenden,<br />

Eiern oder Führungsspielern.<br />

Die entscheidende Fragelautet:<br />

IstLöwsTeam nach Jahren<br />

der behutsamen WeiterentwicklungnochanderSpitzederFußballmoderne?Eswarungewöhnlich<br />

und solitär,dass die Nationalmannschaft<br />

jahrelang Frontrunner<br />

und Lokomotive der<br />

deutschen Fußballmodernisierung<br />

war. WasLöw machte, war<br />

State of the Art. Die Bundesliga<br />

sollte gefälligsthinterher kommen.DochamEndediesesJahres<br />

siehtesaus,alsseiLöwüberholt<br />

worden.<br />

Sichtbar wurdees, als er im<br />

November beim Testspiel in Italien<br />

seinen rechten Verteidiger<br />

PhilippLahminsMittelfeldbeorderte<br />

–wie es zuvorJosep GuardiolabeidenBayerngetanhatte.<br />

LöwwarimmereinAnhängerjenesFußballs,mitdemGuardiola<br />

den FC Barcelonazum Nonplusultragemachthatte.<br />

Doch nun<br />

hatGuardioladen Barça-Stil bei<br />

den Bayern –angesichts der zunehmenden<br />

Modernisierung<br />

derKonkurrenz–deutlicherweitert.<br />

Es gibt neben den klassi-<br />

schenBallstafettenauchFlugbäl-<br />

le(etwaumDortmundsPressing<br />

zuentgehen).Esgibtdiegute,alteFlanke,diederKopfballspezialist<br />

Mandzukic reinwuchtet. Es<br />

gibtvieleVariantenundinvielen<br />

Spielen eine mehrfache Veränderung<br />

der Strategie. Im Momentsiehtesaus,alshabeGuardiolaaufalleseinetaktischeAntwort.<br />

Das kann manvon Löwnicht<br />

sagen.SeinTeamhateinenwunderbarenStil,abereskannnicht<br />

so variieren wie die Bayern, um<br />

unterschiedlicheSpielphasenzu<br />

meisternoderherzustellen.Und<br />

auch wenn die Aufregung überhitzt<br />

ist: Mit einer Defensivarbeit,<br />

wie sie Löws Team liefert,<br />

kann man nicht Weltmeister<br />

werden. Das istkein Vorurteil,<br />

sondernwirddurchZahlenmaterial<br />

belegt. Die Gegentorquote<br />

der Turniersieger seit der WM<br />

2006: Italien 0,8, Spanien 0,5,<br />

Spanien 0,3, Spanien 0,2 Gegentore<br />

proSpiel. Zwar schießtder<br />

DFB so vieleTore wie sonstkein<br />

Topteam, bekommt aber im<br />

SchnittdeutlichmehralseinGegentorproSpiel.Damithatman<br />

bei einem engen Turnier keine<br />

Chance.<br />

Hier sind wir an einem heiklenPunkt:<br />

Das Solitäre an Barça<br />

und der Grund für die Überlegenheitwar<br />

das Spiel gegen den<br />

Ball.DerGrundfürdenChampions-League-SiegderBayern?Das<br />

radikal verbesserte Spiel gegen<br />

denBall.DerGrundfürdenAufstieg<br />

von Borussia Dortmund?<br />

DasSpielgegendenBall.<br />

Dieses Spiel gegen den Ball<br />

muss ein Trainer so überzeugend<br />

und identitär vermitteln<br />

können, dass die Spieler es als<br />

mindestens gleichberechtigten<br />

Grund verstehen und erleben,<br />

warum sie Fußball spielen wollen.<br />

Das Spiel gegen den Ball ist<br />

heute Teil des Spektakels. „Gegenpressing<br />

istder beste Spielmacher“,wie<br />

Jürgen Klopp sagt.<br />

Trainer wie er oder Christian<br />

StreichstrahlendieseszeitgemäßeVerständnisvonÄsthetikaus.<br />

Manchmal machtesden Eindruck,<br />

der ehemalige KreativfußballerLöwseiindieserBeziehungeherTraditionalist.Dasändertnichts<br />

an seiner herausragenden<br />

Stellung, was die Entwicklung<br />

des deutschen Verbandsfußballs<br />

angeht. Da steht<br />

er gleichberechtigt neben Sepp<br />

Herberger–ganzoben.<br />

■ Peter Unfried, 50, begann seine<br />

taz-Karriere inder Sportredaktion.<br />

Heute ist er Chefreporter


20 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple www.taz.de | sonntaz@taz.de NETZ | sonntaz<br />

117.367<br />

Seiten<br />

registriert die Suchmaschine<br />

Torch. Experten halten die genaue<br />

Größe des Darknets fürkaum schätzbar<br />

Quelle: Torch<br />

Nutzer hatten im Augustden<br />

Tor-Browserinstalliert. Seit Februar<br />

hatte sich die Zahl mehr als verdoppelt<br />

1,2Millionen<br />

Quelle: Tor-Netzwerk<br />

UTOPIEEinjungerMannhateineIdee.ErgehtdamitaneinenderdunkelstenOrtedesInternetsundwirddort<br />

fastzumsechsfachenMörder.KannausgerechnetdieserMannunsdenGlaubenaneinfreiesNetzzurückgeben?<br />

DieParallelgesellschaft<br />

AUS DEM DARKNET JOHANNES<br />

GERNERT (TEXT) UND SOPHIA<br />

MARTINECK (ILLUSTRATION)<br />

Am27. Januar 2011 beginntder<br />

Grausame PiratRoberts,<br />

sein Reich<br />

zu errichten. Er wirbt<br />

dafür in mehreren Onlineforen,<br />

auchineinemfürhalluzinogene<br />

Pilze. Als „anonymes Amazon“<br />

beschreibterdieSeiteSilkRoad,<br />

die er gerade geschaffen hat.<br />

Mankönnedortverschiedenstes<br />

„Zeug“kaufen,auchDrogen.Der<br />

Grausame Pirat beschreibt den<br />

WegzuderneuenSeidenstraße.<br />

InseinemReichzählenweder<br />

dieNamen,dieinPässenstehen,<br />

nochdieWährungen,mitdenen<br />

Banken handeln. Es gibt eine eigene<br />

Währung und eigene Namen.<br />

Im Buchklub diskutiert<br />

manlibertäreTheorienundliest<br />

gemeinsam Werkeüber den autoritären<br />

Staateines George W.<br />

Bush, der zumautoritären Staat<br />

eines Barack Obamageworden<br />

ist.EsistderStaat,denderGrausame<br />

Pirat Roberts herausfordernwill.Waswäre,fragtersich,<br />

wennesgelänge,eineSphärezu<br />

schaffen, die frei vonGewaltist,<br />

vorallemvonstaatlicherGewalt?<br />

Das Vertrauen auf der Silk<br />

Road entstehtallein durch den<br />

Handel. Durch prompte Lieferung.UnddurchdieQualitätdes<br />

gelieferten Kokains, des Marihuanas<br />

oderAmphetamins, der<br />

TablettenoderdesHeroins.Etwa<br />

150.000 Akteure treffen sich<br />

zwischenzeitlich auf diesem<br />

Marktplatz.<br />

Der Grausame Pirat nennt<br />

sich auch Captain. Und: Administrator.Ertauchtauf<br />

der Silk<br />

Road als die Silhouette eines<br />

maskierten, schwarzen Mannes<br />

auf, mitgestrecktem Degen. 65<br />

Pixel breit, 42 Pixel hoch. Die Figur<br />

des Piraten hatersich aus<br />

demMärchen„DieBrautprinzessin“entliehen.<br />

Der Pirat meldet sich häufig<br />

zu Wort.Auch als im November<br />

2012 nach einem ZusammenbruchderSeitedasGerüchtkursiert,<br />

er habe sich mitall dem<br />

Geldabgesetzt:„Miristvölligbewusst,<br />

dass dieser ganze Markt<br />

aufdem Vertrauen basiert, das<br />

ihrinmichsetzt.Ichnehmedas<br />

sehr ernst. Es istmir eine Ehre,<br />

euch zu dienen, und obwohlihr<br />

nichtwisst, werich bin, und obwohl<br />

ihr keine Entschädigungsansprüche<br />

habt, wenn ich euch<br />

verraten sollte, hoffe ich trotzdem,<br />

dass ich im Laufe der Zeit<br />

noch häufiger Gelegenheit haben<br />

werde, euch zu beweisen,<br />

dassmeineAbsichtenaufrichtig<br />

sindundkeinGeldderWeltmich<br />

bestechenkann.“<br />

Ein Mitbewohner in der Dreier-WG<br />

des Grausamen Piraten<br />

RobertsinSanFrancisco,derihn<br />

nurals„Josh“kennt,wirdspäter<br />

erzählen, Josh habe immer zu<br />

HauseamComputergesessen.<br />

1,2 Milliarden Dollar Umsatz<br />

hatdie Plattform Silk Road in<br />

knapp zweieinhalb Jahren erwirtschaftet.<br />

Fast 80 Millionen<br />

DollargingenalsKommissionan<br />

denGrausamenPiratenRoberts,<br />

ihren Betreiber.Bezahltwurde<br />

nichtinDollar,sondern in der<br />

rein elektronischen Währung<br />

derBitcoins.<br />

Die Silk Road ist einer der<br />

größten Drogenumschlagplätze<br />

in den Tiefen des Netzes. Im<br />

Darknet, jenem Teil des Internets,<br />

den die Suchmaschine<br />

Googlenichtanzeigt, wo nicht<br />

nurDrogen gehandeltwerden,<br />

sondernauchWaffen.<br />

Ja,schön, können Sie jetzt sagen.Wasesnichtallesgibt.Aber<br />

washatdieserkomischeGrausamePiratbittemitmirzutun?<br />

Der junge Mann, den das FBI<br />

für diesen Grausamen Piraten<br />

hält,heißtRossUlbricht.Erist29<br />

Jahre alt, hat inAustin, Texas,<br />

Physik studiertund danach die<br />

Firma Good Wagon Books gegründet,<br />

die gebrauchte Bücher<br />

sammelteundwiederverkaufte.<br />

Ulbrichthat ein freundliches<br />

Gesicht, in das eine dunkelblonde<br />

Haartolle hineinhängt, ein<br />

bisschenwiebeiElvis.Erscheint<br />

dieseTolleauchindenverschiedenenGefängnissenbehaltenzu<br />

haben, in denen er seitseiner<br />

Festnahme am 1. Oktober 2013<br />

saß.DaszeigteineGerichtszeichnung.<br />

Zurzeitsitzt er im Brooklyn<br />

Detention Center in New<br />

York.<br />

Wochenlang war auf der<br />

HomepagederSilkRoadnureine<br />

Nachrichtzulesen: „Diese verborgeneSeiteistkonfisziertworden.“DarüberLogosdesFBIund<br />

desJustizministeriums.<br />

DieFreilassungRossUlbrichts<br />

gegen eine Million Dollar KautionhateinRichterabgelehnt.<br />

Die Staatsanwaltschaft wirft<br />

ihm vor, sechsMorde in Auftrag<br />

gegebenzuhaben.<br />

DasInternethatinderjüngsten<br />

Zeiteinige Ikonen geschaffen.<br />

Da istder egomane AufklärerJulianAssange,einLuthermit<br />

weißemHaar.BradleyManning,<br />

der kleine US-Soldat, der nicht<br />

mehr schweigen wollte. Edward<br />

Snowden,derSpionmitdemJungengesicht,<br />

der den größten GeheimdienstenderWeltdenKrieg<br />

erklärthat.<br />

Und Ross Ulbricht, der<br />

Schwerkriminelle? Auch so ein<br />

Mann, der jung wirkt, aber doch<br />

schon ein Pate der Halbweltist,<br />

des digitalen Graubereichs. Es<br />

sprichtviel dafür,dass auch er<br />

indieAnnalendesInterneteingeht,<br />

als Grausamer Pirat.Als<br />

KämpferfüreinedigitaleWelt,<br />

indieÜberwachernurschwer<br />

eindringenkönnen.<br />

Im Sommer 2013, als Edward<br />

Snowden die Welt mit<br />

seinen NSA-Erkenntnissen<br />

aufgeschreckt hatte, meinten<br />

66 Prozent der deutschen<br />

Internetnutzer,ihre<br />

Daten seien nicht sicher.<br />

Im November waren es<br />

laut dem Branchenverband<br />

Bitkom schon 80<br />

Prozent. Sie fühlen sich<br />

der Umfragezufolge bedroht–vomStaatmittlerweilenoch<br />

mehr als<br />

vonCyberkriminellen.<br />

Das Darknet<br />

Es leuchtetamEnde<br />

dieses Jahres fast<br />

wie die Milchstraße.<br />

Wie der letzte<br />

verbliebene Schutzraum,<br />

in dem<br />

Anonymität noch<br />

etwas zählt<br />

Wennmanentsetztist,wiedie<br />

562 Schriftsteller, die sich vor<br />

Weihnachten weltweit mit einem<br />

Aufruf gegen die Überwachung<br />

zu Wort gemeldet haben.<br />

Wenn man auf einen anderen<br />

Aufruf stößt, den achtder wichtigsten<br />

Internetkonzerne der<br />

Welt gestartet haben. Und wenn<br />

mandann darüber nachdenkt,<br />

dassdasexaktdieselbenKonzerne<br />

sind, die so viel wie möglich<br />

von ihren Nutzerinnen wissen<br />

wollen, ohne ihnen zu verraten,<br />

wassie schon alles über sie wissen:<br />

Dann scheint esplötzlich<br />

keine völlig absurde Idee mehr,<br />

sich einen ganz anderen Ortzu<br />

suchen.Einen,andemwederdie<br />

Konzerne noch der Staat jede<br />

Spur registrieren können, die<br />

manhinterlässt. Jede Nachricht,<br />

diemanschreibt.JedesBuch,das<br />

mankauft.<br />

Wenn in einer überwachten<br />

Online-Welt jeder ohnehin als<br />

potenzieller Verbrecher gilt,<br />

muss mansich dann vielleicht<br />

einfach verhalten, als wäre man<br />

einDrogenbaron?<br />

Das Darknet, es leuchtet am<br />

Ende dieses Jahres fast wie die<br />

Milchstraße. Wieder letzte verbliebene<br />

Schutzraum, in dem<br />

Anonymitätnochetwaszählt.<br />

Ross Ulbrichts Familie betreibt<br />

eine Webseite für ihn, die<br />

freeross.orgheißtundaufderer<br />

wie ein politischer Gefangener<br />

präsentiertwird. Mitvielen Bildern,<br />

die ihn beim Klettern zeigen,beimRudern,mitFreunden.<br />

Er lächeltmeist. Seine Freunde,<br />

seine Verwandten beschreiben<br />

ihn aufdieser Seiteund in Gerichtsaktenalsfreundlich,gütig,<br />

wohltätig. „Er istein loyalerund<br />

liebevollerFreund,schonseitunserer<br />

Kindheit. Die Geschichte<br />

ergibt für uns einfach keinen<br />

Sinn“, schreibt eine Freundin<br />

überFacebook.<br />

Je länger man den Fall des<br />

Grausamen Piraten Roberts rekonstruiert,jelängermanalldie<br />

Darknet-Seiten sichtet, desto<br />

mehr scheintdarin eine Chance<br />

auf:Dass2014zumJahrderdigitalen<br />

Mündigkeitwerden kann,<br />

desdigitalenUngehorsams.Man<br />

muss sich dafür aufdie Instrumentekonzentrieren,diederPiratgenutzthat.DasTor-Netz,die<br />

Bitcoins.<br />

Tor? Bitcoins? Das kommtIhnen<br />

hier langsam vor, als wären<br />

SieindieInformatik-AGgeraten,<br />

in die sie doch in der Schule<br />

schon nichtwollten? Nie davon<br />

geträumt,ein Pirat zu sein, eine<br />

Piratin?WieJohnnyDepp?<br />

Am Anfang der Geschichte<br />

vom Grausamen Piraten steht<br />

eine seltsame Onlineadresse:<br />

tydgccykixpbu6uz.onion. Die<br />

erste Anschrift der Silk Road.<br />

Darknet-Seiten wie diese lassen<br />

sich nur mit einem speziellen<br />

Browser öffnen, dem Tor-Browser.Torstehtfür:TheOnionRouter.DasProjektsorgtdafür,dass<br />

man imInternet surfen kann,<br />

ohne die eigene Identitätpreiszugeben.<br />

Man muss nurdie Tor-<br />

Software herunterladen. Der<br />

RestläuftwiemitanderenBrowsern,meistnuretwaslangsamer.<br />

Viagra,iPhone–odereine<br />

WalterPPKfür600Euro<br />

Normalerweise wirdeine Seite<br />

wiegoogle.dedirektaufgerufen,<br />

die Anfragevom eigenen Computer<br />

–zeig mir google.de –landet<br />

aufdem Google-Server und<br />

die Webseite mit ihrem Suchschlitz<br />

erscheintauf dem Bildschirm<br />

des Rechners. Ruft man<br />

google.de über den Tor-Browser<br />

auf,werdendieDatenübermehrereRechnerumgeleitet.Google<br />

kannjetztnichtmehrfeststellen,<br />

von welchem Computer die<br />

Suchanfragestammt.<br />

Weil mehrere Schichten von<br />

VerschlüsselungenumdieDaten<br />

gelegt werden, haben die Entwickler<br />

den Namen Onion-Router<br />

gewählt. Onion wie Zwiebel.<br />

So hilft Torauch Menschen in<br />

Chinaoder dem Iran, das Internetunzensiertzunutzen.<br />

DerEingangzurOnline-Parallelweltdes<br />

Darknet istfür viele<br />

das „Hidden Wiki“. Weil Google<br />

das Darknet nichtzeigt, werden<br />

seine Seiten über Adressverzeichnisse<br />

wie dieses weiterempfohlen.<br />

Über das „Hidden<br />

Wiki“kannmananUS-Pässefür<br />

10.000Dollargenausogelangen<br />

wie an Auftragsmörder.Und nie<br />

weiß man genau, was einem<br />

Angsteinjagen muss, wasSpaß<br />

ist oder der Versuch, Möchtegernkriminelle<br />

abzuzocken. Es<br />

gibtGraslädenundElektroläden.<br />

Man kann Viagra kaufen, das<br />

iPhone 5S,Twitter-Follower, die<br />

Dienste vonHackern oder eine<br />

WalterPPKfür600Euro.<br />

Die Seiten wirken oft wie aus<br />

denUrzeitendesInternets.Wenige<br />

Bilder,viel Schrift, die Waren<br />

häufig schummrig selbst fotografiert.Danebenkannmansich<br />

durch Foren klicken, in denen<br />

übers Hacking diskutiert wird,<br />

über ökonomische Theorien<br />

oderdieFrage,obFernsehenverdummt.<br />

EsgibtSeitenwieCode:Green,<br />

einForumfürHacker-Aktivisten,<br />

wo amTagnachderkroatischen<br />

Abstimmung gegen die Homo-<br />

Ehe ein gewisser Vukovinski<br />

sagt, er sei vonder Lesben- und<br />

Schwulenbewegung Kroatiens,<br />

ersuchejemanden,derdieSeite<br />

der Homo-Ehen-Gegner hackt.<br />

Auch in den Foren der Silk Road<br />

wird diskutiert. Neuester Beitrag:„LasstRossUlbrichtfrei,ihr<br />

Nazischweine,euerDrogenkrieg<br />

tötetMenschen.“<br />

Das Reich, das der Grausame<br />

PiratRobertsmitseinerSilkRoad<br />

schafft, ist ein Gegenentwurf<br />

zu den Imperien von<br />

Amazon oder Facebook.<br />

Auf Facebook soll jeder<br />

Mensch ein<br />

Gesichthaben.<br />

Man siehtdas<br />

eigene unter


sonntaz |NETZ<br />

www.taz.de | sonntaz@taz.de apple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 21<br />

fürverschreibungspflichtige<br />

Medikamente und Drogen gab es auf<br />

der Silk Road am 13. September 2013<br />

13.000Angebote<br />

Quelle: Olivia Bolles Criminal Complaint<br />

Nutzer hatte der Darknet-<br />

Schwarzmarkt Silk Road, bevordas<br />

FBI ihn im Oktober schloss<br />

0,9Millionen<br />

Quelle: Reuters<br />

.......................................................................<br />

.....................................................<br />

Drei Schritte ins Darknet<br />

Laden Sie sich am besten den<br />

1Tor-Browserherunter und installieren<br />

ihn: www.torproject.org.<br />

Sie finden auf der Seite<br />

einige Erläuterungen, wie man<br />

surft,ohne Spuren zu hinterlassen.<br />

Natürlich funktioniertder Tor-<br />

Browserauch fürs „Clearnet“,das<br />

sichtbareInternet.<br />

2<br />

Suchen Sie über den Tor-Browserdas<br />

„Hidden Wiki“,eine<br />

Überblicksseite,die viele Darknet-<br />

Websites auflistet. Achten Sie darauf,dassdie<br />

Seite aus wirren<br />

Buchstabenzahlenkombinationen<br />

bestehtund auf .onion endet<br />

und nichtauf .com, .orgoder .de.<br />

Etwa: kpvz7ki2v5agwt35.onion.to/wiki/<br />

3<br />

Wählen Sie Ihreerste Seite an,<br />

vielleichtnichtgerade einen<br />

Waffenladen. Achten Sie darauf,<br />

nichts herunterzuladen und auf IhrerFestplatte<br />

zu speichern und<br />

bleiben Sie auch sonstmisstrauisch.<br />

Bitcoins können Sie über Seiten<br />

wie bitcoin.de oder localbitcoins.com<br />

kaufen. Haben Sie die<br />

erworbenen Münzenineiner digitalen<br />

Geldbörse, einem Wallet,<br />

abgelegt,kann das Geld per Klick<br />

sekundenschnell überwiesen werden.<br />

Bezahlt man etwas, wirdder<br />

Betrag so lange auf einem Konto<br />

des Online-Shops zwischengelagert,<br />

bis die Ware geliefert ist.<br />

Dann gibtder Käufer das Geld für<br />

den Händler frei. Fragen zu Bitcoins:<br />

bitcoin.org<br />

denKommentarenvonanderen,<br />

maninteragiert, produziertDaten,<br />

macht sein Surfverhalten<br />

nachvollziehbar. Verwertbar.<br />

Auch Googlewill jedem Nutzer<br />

überdasNetzwerkGoogle+möglichst<br />

ein Gesicht verleihen.<br />

Amazon zeichnet mitseinen Algorithmen<br />

manchmal noch klarereNutzerbilder.<br />

AufderSilkRoadgibteskeine<br />

Gesichter,sondernBildervonPiraten,vonClownsoderBobMarley.<br />

EsistderVersuch,Vertrauen<br />

andersaufzubauenalsüberPorträtfotosund<br />

Vor- und Nachnamen.<br />

DasDarknetlässtsichnichtin<br />

Schwarz und Weiß zeichnen, es<br />

istgrau,unbestimmt.Esistnicht<br />

dieschwarzeHölle,diesichvom<br />

weißen Rest des Internets abgrenzen<br />

lässt, den Googledominiert.EsbirgteineUnsicherheit,<br />

dieunsvoranbringenkann,weil<br />

sie weniger trügerisch istals die<br />

Google-Idylle,diesohellscheint.<br />

Am23.März2013wendetsich<br />

RossUlbrichtan„redandwhite“–<br />

so nennen sich Mitglieder des<br />

Rockerclubs Hell’sAngels –und<br />

bittet ihn, den Silk-Road-Nutzer<br />

„FriendlyChemist“ umzubringen,<br />

der ihn erpresse. Er schickt<br />

eine kanadische Anschrift.<br />

„Friendly Chemist“ drohe, die<br />

Identität von Tausenden Silk-<br />

Road-Kunden preiszugeben.<br />

„Dieses Verhalten istunverzeihlich.<br />

Vorallem hier,auf der Silk<br />

Road, ist Anonymität sakrosankt.“<br />

„redandwhite“<br />

macht Ulbricht<br />

aufeinenweiterenHändler<br />

aufmerksam, „tony76“, der<br />

auch hinter der Erpressung stecke.DervermeintlicheHell’sAngel<br />

teiltUlbrichtnun mit, dass<br />

„tony76“ mit drei anderen zusammenlebe.<br />

Wenn sie nurihn<br />

töteten, könnten sie weder Geld<br />

noch Drogen sichern. Ulbricht<br />

zahltdaraufhin 500.000 Dollar<br />

für „alle vier“. Am15. April<br />

schreibt „redandwhite“: „Das<br />

Problemisterledigt.“<br />

EsistnichtdasersteMal,dass<br />

der Grausame Pirat Roberts jemandenbeauftragthat,zutöten.<br />

Schon im Januar 2013 wendet<br />

er sich an einen anderen Nutzer<br />

der Silk Road. Ein Angestellter<br />

habe 350.000 Dollar gestohlen.<br />

Erbittet,ihnzusammenzuschlagen<br />

und das Geld zurückzuholen.AlsUlbrichterfährt,derAngestellteseifestgenommenworden,<br />

und fürchtet, er verpfeife<br />

ihn, wandelterden Auftrag um:<br />

„lieberExekutionstattFolter“.Er<br />

zahlt80.000Dollar–underhält<br />

FotosvomErmordeten.<br />

„Eskotztmichan,dassichihn<br />

umbringenmusste“, schreibtUlbrichtimprivaten<br />

Chat.„Aber<br />

wasseinmuss,musssein.“<br />

AlsFBI-AgentenRossUlbricht<br />

am 1. Oktober 2013 festnehmen,<br />

sitzteramLaptopineineröffent-<br />

lichenBibliothekinSanFrancis-<br />

co.Ein blasser Typ in Jeans und<br />

T-Shirt. Bevor die FBI-Männer<br />

ihn ans Fenster pressen und<br />

dann mitnehmen, verwaltet er<br />

die Silk-Road-Seite, verfolgt<br />

Geldströme und chattet. Das allesergibtsichausGerichtsakten<br />

undZeugenaussagen.<br />

AmEndestelltsichheraus:Es<br />

istniemandgetötetworden.Der<br />

vermeintliche Auftragsmörder<br />

war ein Undercover-Agent, die<br />

Fotossindgestellt.AuchinKanada,<br />

stelltdas FBI fest, wurde<br />

keineLeichegefunden.<br />

Wasdie Ermittler jedoch auf<br />

Ulbrichts Laptop finden, istein<br />

Tagebuch.Alseinesderwichtigsten<br />

Ereignisse des Jahres 2010<br />

hältUlbrichtdarinfest:„Ichfing<br />

an,aneinemProjektzuarbeiten,<br />

dasichmehralseinJahrlangim<br />

Kopfgehabthatte.Ichnanntees<br />

zuerst Underground Brokers,<br />

später Silk Road. Ich wollte eine<br />

Webseite schaffen, aufder Menschen<br />

anonym einkaufen können,<br />

ohne eine einzige Spur zu<br />

hinterlassen, die zu ihnen zurückführenkönnte.“<br />

UmdieUntergrund-Plattform<br />

zumLaufenzu kriegen,bieteter<br />

etwas an, das man woanders<br />

nicht bekommt. Er züchtet in<br />

einer Hütte Magic Mushrooms,<br />

halluzinogenePilze.<br />

RossUlbrichtwilleineOnline-<br />

Weltschaffen,diefreiistvonGewalt,und<br />

übersiehtdabei offenbar<br />

lange, dass der Handel mit<br />

Drogen Menschen anzieht, derenGeschäftdieGewaltist.<br />

Es muss ihm irgendwann<br />

schwerfallen, von seinem WG-<br />

ZimmerausdenBezugzurRealitätdadraußen<br />

zu bewahren. Er<br />

kenneselbstseineengstenBerater<br />

nichtpersönlich, schreibt er<br />

einem Journalisten. Ob seine<br />

Freundinwisse,dasserderGrausame<br />

Pirat Roberts sei, fragtihn<br />

jemand im Chat.Sie werdedas<br />

unter garkeinen Umständen erfahren,antwortetUlbricht.„Vielleichtnie.“Eristgutdaringeworden,<br />

Dinge zu verbergen. Und<br />

scheintvergessenzuhaben,dass<br />

erkeinComputerspielspielt.<br />

Fortsetzung auf Seite 22


22 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple www.taz.de | sonntaz@taz.de NETZ | sonntaz<br />

haben die Nutzer der<br />

neuen Silk Road seit Oktober im<br />

Forum ungefähr geschrieben<br />

164.000Einträge<br />

Quelle: Silk Road Forum<br />

1Bitcoin warimJuni 78,95 Euro wert,<br />

der Kurs stieg bis November auf 731 Euro<br />

und istzuletzt wieder stark gefallen<br />

Quelle: Bitcoin.de<br />

Recherche: Sebastian Kempkens<br />

Fortsetzung von Seite 21<br />

In einem anderen Tagebucheintrag<br />

vom28. März 2013 steht<br />

eineArtTo-do-Liste:„BeidenAngels<br />

die Ermordung des ErpressersinAuftraggegeben“.Undwenige<br />

Tage später: Erpresser exekutiert.<br />

730.000 Dollar habe Ulbricht<br />

ausgegeben,umsechsMenschen<br />

umbringen zu lassen, stelltein<br />

RichterineinemSchreibenvom<br />

20.Novemberfest.ErkönnedeshalbnichtaufKautionfreikommen.<br />

Allescheinen überlebt zu haben.<br />

Der Verdacht liegt nahe,<br />

dass Ulbrichtmehrfach genarrt<br />

worden ist. Voneinem Undercover-Ermittler–undvon„redandwhite“,dermitdenHell’sAngels<br />

vielleichtgarnichtszutunhatte.<br />

Aber Ulbrichtwolltedie Morde.AusGier?AusParanoia?<br />

ErgehtdenWegeinesGesetzlosen.<br />

Und als er begreift, dass<br />

auf manchen Schwarzmärkten<br />

nichtnur die Firmen liquidiert<br />

werden, sondern auch Menschen,<br />

geht erweiter. Er<br />

machtmit.<br />

Dass das FBI zwei Jahre<br />

brauchte, um Ulbricht zu<br />

finden, liegt auch an der<br />

Währung, die den anonymen<br />

Handel erst ermöglicht.<br />

Jetzt also die letzte Informatiklektion:<br />

Bitcoins<br />

sind im Jahr 2009 entstanden.<br />

Ausgedachthat<br />

sie sich ein Japaner namens<br />

Satoshi Nakamoto,vondemwederklar<br />

ist, ob er Japaner ist,<br />

noch ob er Satoshi<br />

Nakamotoheißt.<br />

Im Gegensatz<br />

zu klassischen<br />

Währungen<br />

wie Euro oder Dollar, die von<br />

Banken herausgegeben werden,<br />

entstehen Bitcoins, indem extrem<br />

leistungsfähige Computer<br />

Rechenprobleme lösen –mit ei-<br />

nemProgrammnamensBitcoin-<br />

Miner. AmEnde der gelösten<br />

Rechnung stehen neue digitale<br />

Münzen.Siewerdenmitkomplizierten<br />

Verschlüsselungen also<br />

gewissermaßendigitalgedruckt.<br />

Die Bitcoins wiederum kann<br />

dann jeder für Eurooder Dollar<br />

kaufen.Manmusssichdafürnur<br />

eine Online-Geldbörse anlegen,<br />

ein Wallet. Mitdieser Geldbörse<br />

kannmanShoppengehen.Alles<br />

völlig ohne Banken –und ohne<br />

AngabeseinesechtenNamens.<br />

Bitcoins sind vorallem eine<br />

politischeIdee:EsgehtohneBanken,ohneStaat.<br />

Die einzige zentrale Instanz<br />

der Bitcoin-Währung istein Verzeichnis,<br />

in dem jede Transaktion<br />

festgehalten wird. Es heißt<br />

Blockchain. Über dieses Verzeichnis<br />

konnten die Ermittler<br />

nachweisen, dass ein „redandwhite“<br />

die Summe überwiesen<br />

bekam, die er mitRoss Ulbricht<br />

vereinbarthatte.<br />

Zentralbanker und<br />

Unternehmenschefs<br />

haben Bitcoins lange<br />

ignoriert. In jüngster Zeitallerdings<br />

sprechen sich einige von<br />

ihnen für die Währung aus. Zuletzt<br />

etwader Chef des Bezahl-<br />

Dienstleisters Paypal. Bitcoins<br />

funktionieren ohne aufwendige<br />

Überweisungen. Der Kurs<br />

schwankt allerdings stark. Im<br />

Frühjahrlagernochumdie100<br />

Dollar, imHerbst erreichte er<br />

1.000 Dollar –umdann wieder<br />

zufallen.<br />

Das Darknet, das Tor-Netzwerk,<br />

die Bitcoins scheinen wie<br />

dieBestandteileeinerUtopie,die<br />

trotz aller NSA-Aktivitätweiterbesteht:<br />

Dass es immer noch<br />

möglich ist, sich unerkanntim<br />

Netz zu bewegen,<br />

sich<br />

Ich habe nichts zu verbergen!<br />

Sind Sie da völlig sicher?<br />

Sollen wir mal die Liste aller<br />

Webseiten veröffentlichen,<br />

die Sie 2013 besucht haben?<br />

auszutauschen,<br />

zu handeln.<br />

Natürlich<br />

interessiert<br />

sich auch die<br />

NSA für das<br />

Tor-Netz.<br />

Auch ihr<br />

istesschongelungen,Spionage-<br />

Software durch Sicherheitslücken<br />

hindurch aufRechner zu<br />

schleusen,dieTornutzen.Trotzdem<br />

schließen die Spione in einem<br />

vonEdwardSnowden geleaktenBericht:„Wirwerdenniemals<br />

alleTor-Nutzer identifizierenkönnen.“<br />

Im Sommer dann fielen Teile<br />

des Darknets aus, weil einer der<br />

größten Server-Betreiber, der<br />

Kinderpornoringegeförderthatte,inIrlandfestgenommenwurde.EsisteinwesentlicherTeildes<br />

Darknets. Der Teil, der einen an<br />

allemzweifelnlässt.<br />

„Kriminelle“,sagtder US-AutorDan<br />

Suarez, der als einer der<br />

IT-kundigsten Schriftsteller gilt,<br />

seien die „early Adopter“ des<br />

Darknets.Siekönntennichtüber<br />

dieMainstream-Kanälekommunizieren.<br />

Genauso wie Dissidenten.Grundsätzlichaberseiensolche<br />

Netzwerkewie Feuer: „Man<br />

kannsiefürguteoderböseZweckeverwenden.“<br />

Je autoritärereinStaatwerde,<br />

sagt Suarez, desto froher könntendieMenschensein,übersolche<br />

Kanäle zu verfügen. Die<br />

meisten seien ja glücklicherweisekeineKriminellen.<br />

Das Tor-Netzwerk wächst,<br />

es wirdstabiler,schneller.<br />

Gerade hat es250.000<br />

Dollar vonder niederländischen<br />

Organisation<br />

Digital DefendersPartnershiperhalten,mitdemes<br />

seine Server weiterausbaut.<br />

Jetzt können<br />

Sie natürlich<br />

immer noch sagen:<br />

Wieso soll<br />

ich mich zwischen<br />

all diesen<br />

irren Typen verstecken?<br />

Ich habe<br />

dochnichtszuverbergen!<br />

Sind Sie da völlig<br />

sicher?Sollenwirmal<br />

die Liste aller Webseiten<br />

veröffentlichen,<br />

die Sie 2013 besuchthaben?<br />

Vielleichtwissen Sie nur<br />

nochnicht,wasIhneneinmal<br />

vorgeworfen werden könnte. Es<br />

kanndurchaussein,dassSiemit<br />

jemandenzutunhatten,fürden<br />

sich irgendwann die Geheimdiensteinteressieren.Unddamit<br />

dannwomöglichauchfürSie.<br />

Gesetze können sich ändern.<br />

DassiehtmanambestenanFacebook.<br />

Plötzlich gelten<br />

neue Regeln, und die Fotos,<br />

die Nachrichten, die<br />

Witze, die manunter ganz<br />

anderen Voraussetzungen<br />

hinterlassen hat, werden neu<br />

bewertet,neugenutzt.<br />

Man machtsoviel im Netz<br />

und vergisstsovieles so schnell<br />

wieder.<br />

RossUlbrichthatsichvermutlich<br />

irgendwann auch nicht<br />

mehr daran erinnert, wie er als<br />

„altoid“indem Forum mitden<br />

halluzinogenen Pilzen auf die<br />

Silk Road aufmerksam machte.<br />

Wieerdasselbe in diesem anderen<br />

Forum tat. Und wie er dort<br />

danneinmalProgrammiererfür<br />

sein „Start-up“ anwerben wollte.<br />

E-Mails bitte an: rossulbricht@gmail.com.<br />

So kamdas FBI an seinen Namen.AlserdannimDarknetgefälschte<br />

Pässe bestellte, standen<br />

sie bei ihm vorder Tür. Sie gingen<br />

wieder,sie mussten ihn auf<br />

frischerTatertappen.Undwenig<br />

späternahmensieihninderBibliothekinSanFranciscofest.Er<br />

soll in der Science-Fiction-Ecke<br />

gesessenhaben.<br />

Der Grausame Pirat Roberts.<br />

Im Englischen klingt der Name<br />

etwas eingängiger: Dread Pirate<br />

Roberts. DPR. Er istnichtimmer<br />

einunddieselbePerson.<br />

In dem Märchen „Die Brautprinzessin“können<br />

verschiedene<br />

Kapitäne diese Rolleannehmen.Wenneinervonihnensich<br />

zurRuhesetzt,fährteinanderer<br />

mitneuer Crewund altem Namenweiter.<br />

Glaubensiealleandie<br />

UtopiedesPiraten?<br />

AnfangNovember,RossUlbricht<br />

sitzt da schon im Gefängnis,<br />

tauchtein neuer Grausamer PiratRobertsauf.Undmitihmdie<br />

SilkRoad2.0.<br />

Zunächsteinmalistdanureine<br />

graueSeite. Man muss den<br />

Nutzernamen eingeben, ein<br />

Passwort, dann öffnet sich die<br />

neueSilkRoad.<br />

„Mitgroßer Freude kündige<br />

icheinneuesKapitelaufunserer<br />

Reise an. Silk Road istaus der<br />

Asche auferstanden, und erwartet<br />

euch nun alle wieder“,<br />

schreibt der Grausame Pirat Roberts.<br />

„Willkommen zurück in<br />

derFreiheit.“<br />

DieSeitesiehtauswiederkleinehässlicheBrudervoneBay.Ein<br />

grünes Kamel ziert die linke<br />

Ecke. Drogen sind in Listen sortiert.<br />

Stimulierend, psychedelisch,<br />

verschreibungspflichtig,<br />

andere. Heroin, Ecstasy,Cannabis.<br />

Da sind dann die Blüten abgebildet:<br />

3,5 Gramm Stinky Bud.<br />

Oder ein Gramm Dutch Super<br />

Lemon Haze. 0,03222 Bitcoins.<br />

Etwa20Euro.<br />

Wersind die Menschen, die<br />

sich hinter Namen wie AliceIn-<br />

Wonderland, WalterWhite oder<br />

AmericaOnDrugs verbergen?<br />

Glauben sie an die Utopie des<br />

Ross Ulbricht? An eine Utopie,<br />

die unsere gemeinsame werden<br />

könnte?<br />

Es istnichteinfach, sich mit<br />

ihnenzuunterhalten.„HörenSie<br />

bitte auf, Geschichten über das<br />

Darknet in den Medien zu verbreiten“,<br />

schreibt etwa Albanski88.„Danke“.<br />

Spätestens der Fall Ross Ulbrichthatallenklargemacht,wie<br />

sehr sie unter Beobachtung stehen.<br />

Ulbricht wird von einem<br />

Anwaltverteidigt,dermutmaßlicheAl-Qaida-TerroristenundTalibanverteidigthat.Staatsfeinde.<br />

EskönnteeinInteressegeben,<br />

auch Ross Ulbricht wie einen<br />

darzustellen, mutmaßen mancheindenForen.<br />

JeklarerderStaatdasDarknet<br />

diskreditiert, desto eher zögern<br />

seine Bürger womöglich, es sich<br />

anzusehen. Die letzten Freiräume<br />

des Internets blieben so unbewohnt.<br />

DerneueDreadPirateRoberts<br />

antwortet, er habe unglücklicherweise<br />

keine Zeitfür Interviews.DieSeitewirdangegriffen,<br />

fälltaus.ErmussdieCommunity<br />

beiLaunehalten.<br />

Ross UlbrichtmachtimGefängnisYoga,bestreitetalles,fordert<br />

28Millionen Dollar beschlagnahmte<br />

Bitcoins zurück<br />

und lässtseinen Anwalt mitder<br />

Staatsanwaltschaftverhandeln.<br />

Ein europäischer Studentist<br />

bereitzureden.Erschreibt,ersei<br />

zwischen20und25,denNutzernamen<br />

solleman bitte nichterwähnen.<br />

Eristmalhäufiger,malweniger<br />

häufig im Silk-Road-Forum<br />

unterwegs.Eskannvorkommen,<br />

dass er achtStunden am Stück<br />

hier verbringt. Zurzeitkaufe er<br />

vorallem Speed. „Das Darknet<br />

machtdie Welt aufjeden Fall sicherer“,findet<br />

er,„es reduziert<br />

die Kriminalitätauf der Straße,<br />

und es ermöglicht den Menschen,<br />

Geheimnisse zu verbreiten,<br />

die die Welt kennen sollte,<br />

bevordie Verbreitung im Keim<br />

ersticktwird.“Außerdemgehees<br />

den Silk-Road-Betreibern darum,<br />

sicherere Drogen anbieten.<br />

Es gibt dortÄrzte, die online beraten.<br />

Werschlechten Stoff verkauft,wirddiskreditiert.<br />

AlskurzvorWeihnachtendrei<br />

Silk-Road-Mitarbeiter in den<br />

USA, in Australien und Irland<br />

festgenommenwerdenundsich<br />

der Grausame Pirat kurz darauf<br />

nichtmehr im Forum zu Wort<br />

meldet, vermutet sein Stellvertreter,erseiin„schwererGefahr“.<br />

EinNachfolgerdesPiratenseiallerdings<br />

benannt. Allediskutieren,<br />

wemman jetzt noch trauen<br />

kannundobdieSilkRoad2.0das<br />

überlebt.<br />

Man wird unsicherer, wenn<br />

man das Online-Gegenüber<br />

nichtalsPorträtfotosiehtwieauf<br />

Facebook. Vielleichtist das besserso.VielleichtisteseineUnsicherheit,<br />

die maninZeiten der<br />

NSA-Erkenntnisse gut gebrauchenkann.<br />

Man fühltsich während solcherLektionenimOnline-UntergrundmanchmalwieimMaschinenraum<br />

des Netzes. Kaum<br />

Licht, es riecht, es wummert,<br />

aberjelängermanhinsieht,destomehrbegreiftman.<br />

„Was das Vertrauen in Silk<br />

Road 2.0 angeht, möchten wir<br />

natürlich für niemanden die<br />

HandinsFeuerlegen“,stellt„Germanshop“nüchternfest,dermit<br />

einer Gruppe vonDealern Amphetaminvertreibt.AufeineranderenPlattformhabensiegerade<br />

„einiges an Geld verloren“, weil<br />

sie dem Administrator „leider<br />

vertrauthaben“.<br />

Manchmal klingt er wie der<br />

CEO eines Start-ups: „Zum wirtschaftlichen<br />

Aspekt vonUntergrundMärktenkannmansagen,<br />

dass manjenach Angebot und<br />

QualitätdurchausMillionärwerdenkann.<br />

Betrachtet er die Silk Road<br />

nichtnur als Alternativezuden<br />

Kartellkriegen,sondernauchals<br />

FrontimKampf um die Freiheit<br />

desInternets?WieRossUlbricht?<br />

IhrZielseiklar:Gewinne.<br />

Aberdasmussjanichtfüralle<br />

SurferimDarknetgelten.<br />

Vielleichtsehen Sie sich die<br />

Sacheeinmalan?<br />

■ Johannes Gernert, 33, ist sonntaz-Redakteur.<br />

Wie er auf der Silk<br />

Road einkaufte, lesen Sie unter:<br />

taz.de/untergrundgras<br />

■ Sophia Martineck, 32, ist freie<br />

Illustratorin in Berlin. Sie hat weder<br />

Facebook- noch Google-Account


sonntaz |KULTUR<br />

www.taz.de | kultur@taz.de apple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 23<br />

KOMÖDIEErstaunlich,wiederFilmstudentRamonZürchermiteinerSeminararbeitdieKinoweltbegeistert<br />

EinspielendesKätzchenmachtKarriere<br />

VON EKKEHARD KNÖRER<br />

Plötzlich sprachen alle<br />

vomKätzchen. Es warim<br />

Forum der Berlinaleaufgetaucht,<br />

den Namen des<br />

Regisseurs kannte kaum einer,<br />

aberüberNachtwarRamonZürchers<br />

kleiner Film „Das merkwürdigeKätzchen“dergroßeGeheimtipp<br />

des Festivals. Und<br />

nichtnur bei den deutschen Besuchern,Kritikerausderganzen<br />

Welt waren erstauf Twitter und<br />

dann in ihren Festivalberichten<br />

begeistert. Eine erstaunliche Sache,dennZürcherstudiertnoch,<br />

ein Schweizer an der Berliner<br />

FilmhochschuleDFFB.<br />

Meistens erlebt manihn gemeinsam<br />

mitseinem Zwillingsbruder<br />

Silvan, der auch an der<br />

DFFBstudiert,allerdingsProduktion.<br />

Sie arbeiten stets zusammen,<br />

Schweizer Zwillinge, die<br />

miteinem Studentenfilm reüssieren,<br />

erst inBerlin, dann in<br />

CannesundimRestderWelt.Inzwischen<br />

sind sie fast ein Jahr<br />

langvoneinemFestivalzumanderenunterwegsundräumeneinen<br />

Preis nach dem anderen ab.<br />

Kätzchenkommtrum,Kätzchen<br />

machtKarriere, als „The Strange<br />

LittleCat“, „L’étrange petitchat“<br />

undsoweiter.<br />

Es ist nicht einmal der Abschlussfilm,sondernProdukteines<br />

Seminars, das der ungarische<br />

Regisseur Béla Tarr an der<br />

DFFBgab.Tarr,eineigensinniger<br />

Mensch und faszinierender Regisseur<br />

(„Sátántángo“, „Das Turiner<br />

Pferd“), hatte sich vor ein<br />

paar Jahren sogar als Direktor<br />

der Berliner Hochschulebeworben;<br />

das wurdeaber nichts, der<br />

Senat hat lieber den ziemlich<br />

langweiligenFilmförderkünstler<br />

Jan Schütte installiert. Tarr<br />

machtinzwischen sein eigenes<br />

Ding, seine eigene Hochschule,<br />

die film.factory in Sarajewo. Das<br />

istdann aber doch eine andere,<br />

wenngleicheinefürdiedeutsche<br />

Filmkultur sehr typische Geschichte.InTarrsSeminarander<br />

DFFB jedenfalls ging es um die<br />

Inspiration durch Kafka-Erzählungen.Mindestenseinweiterer<br />

sehr schöner Film istdabei entstanden,<br />

der mittellange „Hochzeitsvorbereitungen<br />

auf dem<br />

Lande“vonYoudidKahveci.<br />

SpielaufengemRaum<br />

Ramon Zürchers „Kätzchen“beziehtsich<br />

aufKafkas „Verwandlung“.NungibtesbeiKafkakein<br />

KätzchenundbeiZürcherkeinen<br />

ineinenKäferverwandeltenGregor<br />

Samsa. Es handeltsich auch<br />

nichtimErnstumeine VerfilmungderErzählung.Eherwaren<br />

es die Raumentwürfe der Geschichte,fürdiesichZürcherinteressierte.<br />

„Das merkwürdige<br />

Kätzchen“spieltwie die Kafka-<br />

ErzählungaufsehrengemRaum.<br />

Eine Berliner Altbauwohnung;<br />

zentraler Schauplatz istdie Küche,<br />

aber das Badezimmer,ein<br />

kleines Schlafzimmer und beim<br />

Abendessen das Wohnzimmer<br />

spielen ebenfalls mit. Ein Kammerspiel,auchwenneseinpaar<br />

Mal nach draußen geht, auch<br />

wenn einmal ein Ball durchs<br />

FensterindieWohnungfliegt.<br />

IndieserWohnung:eineFamilie,<br />

Vater, Mutter, drei Kinder.<br />

Aber auch die Großmutter,ein<br />

Schwager,eine Tanteund deren<br />

Tochter,einHund–unddasKätzchen.<br />

Man kriegt die Beteiligten<br />

nichtsoeinfach sortiert, es passiertzwischenihnenauchwenig<br />

Spektakuläres.ImWesentlichen:<br />

Abendessenvorbereitungen in<br />

der Stadt. Ein Falter flatterther-<br />

Ein Experimentalfilm, der als Spielfilm funktioniert. Die Spannung, die es gibt, und der Humor, der nicht fehlt, ergeben sich aus der eigenwilligen Form.<br />

Und er ist noch nicht einmal die Abschlussarbeit von Ramon Zürcher! Stills aus „Das merkwürdige Kätzchen“ Fotos: Peripher Film<br />

Ramon Zürcher Foto: Yann Houlberg<br />

um, die jüngere Tochter schreit<br />

undschneidetsichindenFinger,<br />

eine Waschmaschine wirdrepariert,<br />

der Hund beobachtet das<br />

schlafendeKätzchen,einKorken<br />

fliegt aus einer Flasche und<br />

machtdieBirneinderLampekaputt,dieMutter(JenniferSchily)<br />

stehtherumundmachthinund<br />

wieder ziemlich giftige Bemerkungen,erzähltaberauchvoneinem<br />

Kinobesuch, die größere<br />

Tochter schälteine Orange und<br />

erzähltdabei,wiesieeinmaleine<br />

Orangegeschälthatunddassdabei<br />

die Stückeder Schaleimmer<br />

aufdieAußenseitegefallensind.<br />

Für die Kino- und die Orangenerzählung<br />

verlässtder Film<br />

dieGegenwartunddieWohnung<br />

alsSchauplatz.Erblendetzurück,<br />

gehtmit der Erinnerung der Figuren<br />

nach draußen, ins Kino,<br />

ins Freie. Nötig wäre das ausinhaltlichenGründennicht,esgibt<br />

dabei nichts Besonderes zu sehen.<br />

Wichtig daran istvielmehr<br />

die Entscheidung selbst, der<br />

Sprung, der gezielte Ausbruch<br />

ausdemeinenineinenanderen<br />

filmischenRaum.<br />

Überhaupt muss man jetzt<br />

malmit der Wahrheitherausrücken:FürInhaltistenundFreunde<br />

simpler Spannungsbögen<br />

oder schlichten Humors istdieser<br />

Film eher nichts. Die Spannung,dieesgibt,undderHumor,<br />

dernichtfehlt,ergebensichviel<br />

eher ausder höchsteigenwilligen<br />

Form, die Zürcher für seine<br />

Erzählunggewählthat.Wernicht<br />

aufFormachtenwill,siehtindiesemFilmvermutlichnichtmehr<br />

als ein verschrobenes Familienbeziehungsgefüge<br />

mitsehr geschriebenen<br />

Dialogen und mitunter<br />

etwas rätselhaft agierendenCharakteren.<br />

AuseinerGrundentscheidung<br />

ergibt sich hier vieles: Ramon<br />

Zürcher und sein Kameramann<br />

Alexander Haßkerl bewegen die<br />

Kameranicht.Jedederdurchaus<br />

zahlreichen Einstellungen ist<br />

starr, wenngleich selten sehr<br />

lang.ManhatimmerwiederBilder,dieandieder„BerlinerSchule“<br />

erinnern: Figur im Gegenlicht,<br />

gemäldehaft schön. Aber<br />

diese Bilder stehen nichtlang.<br />

Undetwasbringtspätestensmit<br />

dem nächsten Schnitt schnell<br />

Unruhe rein, der Tonaus dem<br />

Off, ein Geräusch, eine das Bild<br />

kreuzende andere Figur,etwas,<br />

dasmannurhalbhörtoderhalb<br />

sieht. Ständig tutsich was, und<br />

sehroftistdas,wassichtut,nicht<br />

oder nicht ganz im Bild. Was<br />

fehlt, istÜberblick. Es istnicht<br />

nurso, dass mannichts als Ausschnitte<br />

sieht(das istimKino<br />

schließlich nie anders), sondern<br />

diese Ausschnitte machen ohne<br />

Unterlass darauf aufmerksam,<br />

dasssieAusschnittesind.Sielassen<br />

den Betrachter spüren, dass<br />

gleich nebenan, im Raum, den<br />

mannichtsieht, etwas passiert,<br />

undseiesnur,dassClaraschreit.<br />

OftgehtdasnächsteBilddann<br />

dahin,woetwaspassiert.DieKamera,sostarrsieauchist,zwingt<br />

einennichtindieUnwissenheit.<br />

Die Bewegung der Montage holt<br />

die Information aus dem Off<br />

meistein.Esergibtsichdadurch<br />

aber ein sehr eigener,verzögerter,synkopierter<br />

Rhythmus. Ein<br />

Bild setzt sich zusammen, ohne<br />

dass sich die einzelnen Teile<br />

puzzlegleich fügen. Stattdessen:<br />

Überlappungen, Auslassungen,<br />

Dopplungen, so etwas wie eine<br />

kubistische Raumimpression.<br />

Dazwischen,alsAtempausenmit<br />

Musik, Rekapitulationen, in denen<br />

die Kamera inschneller<br />

Montage die Objekte, die eine<br />

Rollegespielthaben, noch einmaljedes<br />

für sich ins Bild rückt<br />

und so das Ganze wie in einer<br />

Wiederholungsübung memoriert:Hund,Katze,Falter.<br />

FamiliemitPointen<br />

Es ist, als hätte Zürcher die<br />

Grundelemente des Films –die<br />

Einstellung,dieBewegungderFiguren<br />

darin, den Rahmen, den<br />

die Kamerasetzt, die Montage,<br />

denSound–nocheinmalgrundsätzlich<br />

durchdachtund anders<br />

zusammengesetzt, als es die<br />

Filmsprache fast immer tut. Eigentlich<br />

ein typischer Experimentalfilm-Move.WobeiRamon<br />

Zürcher das spielerisch tut, wie<br />

eineKatze,die–wenngleichsehr<br />

systematisch –ein Wollknäuel<br />

Komödie der Form<br />

Ramon Zürcher<br />

durchdenkt<br />

die Filmsprache<br />

so spielerisch<br />

noch einmal neu<br />

wie eine Katze,<br />

die –wenngleich<br />

sehr systematisch –<br />

ein Wollknäuel<br />

erstabrollt<br />

und dann auf<br />

merkwürdige Weise<br />

wieder aufrollt<br />

erstabrollt und dann aufmerkwürdige<br />

Weise wieder aufrollt.<br />

Wasdabei herauskommt, isterstaunlich:einExperimentalfilm,<br />

deralsSpielfilmfunktioniert.<br />

EsergibtsicheinFamilienporträt<br />

mitPointen. Komischen Effekt<br />

machtder Widerstand des<br />

Objekts: die spritzende Wurst,<br />

die im Wasserbad kreisende Flasche,derindieLampespringende<br />

Korken. Aber Widerstand des<br />

Objekts istauch der Grundzug<br />

der Form: Das Geschehen entziehtsichstörrischdemKamerablick.<br />

Weil „Das merkwürdige<br />

Kätzchen“ aber eine Komödie<br />

undkeineTragödiederFormist,<br />

kriegen sie sich dann doch:<br />

Handlung und Bild, Inhaltund<br />

Form.<br />

Wieschön, dass auch die Rezeption<br />

da nunmitmacht. Nach<br />

denausgedehntenFestivalreisen<br />

undungezähltenFestivalpreisen<br />

kehrtdas Kätzchen wieder nach<br />

Deutschlandzurück.EinStudentenfilm<br />

kommt ins Kino und<br />

zeigt dem oft so starren und<br />

dummen Fördersystem, wie<br />

manesauchmachenkann.Zwei<br />

Zürchers und ein merkwürdige<br />

Kätzchen haben wir nun. Wir<br />

brauchenmehrdavon.


24 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple www.taz.de | kultur@taz.de KULTUR | sonntaz<br />

DAS KOMMT<br />

■ 18. 1., Schauspielhaus Hamburg<br />

Neueröffnung Schauspielhaus<br />

Karin Beier,neue Intendantin am Hamburger Schauspielhaus,hat sich für<br />

die Wiedereröffnung der großen Bühne einen Antikenzyklus vorgenommen,<br />

mit Texten vonEuripides,Aischylos und Sartre. Dabei liegt ihr Augenmerk<br />

auf dem Verhältnis vonReligion und Politik und der Instrumentalisierung<br />

des Glaubens.Nehmen die Götter ihr das übel? Jedenfalls musstedie<br />

Eröffnung wegen schwerwiegender technischer Pannen in den Januar verschoben<br />

werden.<br />

■ 24. 1.bis 2. 2. in Berlin<br />

Club Transmediale<br />

Das CTM-Festival istinzwischen eines der bestkuratiertenElektronikfestivals<br />

weltweit. Und 2014 macht<br />

es unterdem Motto„Dis Continuity“die Fluchtlinien<br />

zwischen Talentenund Veteranen sichtbar.Mit<br />

dabei sind unteranderem die Hamburger DJ Helena<br />

Hauff (Foto), Cyclobe aus London, Veronica Vasicka<br />

aus NewYork und der libanesische Künstler Rabih<br />

Beaini.<br />

Keine Angst vor den Großen, lässig und mit einer gesunden Portion Selbstironie: Die Heiterkeit Foto: Alina Simmelbauer<br />

POPImFebruarerscheint„Monterey“,dastolleneueAlbumvonDie<br />

Heiterkeit.IhrSoundhatsichentwickelt,inklusiveNo-Nonsense-Attitüde<br />

■ 6. 2. bis 16. 2.2014 inBerlin<br />

Berlinale<br />

Zum64. Mal finden die Internationalen Filmfestspiele<br />

vonBerlin statt. AufzweiDinge kann man sich schon jetzt<br />

freuen: Den Eröffnungsabend bestreitet WesAndersons<br />

neue Tragikomödie „The Grand BudapestHotel“,und<br />

der französische AltmeisterAlain Resnais istmit „Aimer,<br />

boireetchanter“ vertreten.<br />

Fotos (v. o. n. u.): Hammerl; Europeana Collections; Berlinale<br />

FastschonKalifornien<br />

VON CARLA BAUM<br />

Das heiß erwartete zweite<br />

AlbumvonTalenten,das<br />

beweisenvieleBeispiele,<br />

gehtleichtdaneben.Mal<br />

wirdversucht,exaktdenerprobten<br />

Sound des Debütsbeizubehalten.Dannistesschlichtlangweilig.OdereswerdenkrudeExperimente<br />

gewagt, die nurnach<br />

erzwungenermusikalischerEntwicklung<br />

klingen. Dann kann es<br />

richtig böse werden. Es erleichtert,dassDieHeiterkeitesbesser<br />

wissen, und zugleich verwundertesauchkeinbisschen.<br />

ZurErinnerung: Im Sommer<br />

2012 hatten die drei Musikerinnen<br />

Die Heiterkeitihr Debütalbum„Herz<br />

ausGold“ veröffentlichtund<br />

es durch wohlplatziertesSchweigengeschafft,dassihre<br />

Musik allseits hibbelig erwartetwurde.<br />

Ganz schön mutig für eine<br />

junge Band, die biertrinkend in<br />

Hamburger Kneipen Freundschaften<br />

zu anderen Musikern<br />

knüpfte.AberdieStrategiefunktionierte.<br />

„Herz ausGold“ und<br />

Die Heiterkeitwurden zu Kritikerlieblingen.<br />

Unter den HörerInnen<br />

dagegen fielen die Reaktionen<br />

polarisierter aus. „Die<br />

kann ja garnichtsingen“, „Das<br />

Schlagzeug istnichtzum Streicheln<br />

da“, solche Sätze mussten<br />

sich die drei Hamburgerinnen<br />

zunächstgefallenlassen.<br />

Wirklich gejuckt hatdas die<br />

Band nicht. Bereits die ersten<br />

Liveauftrittefandeninwichtigen<br />

Clubs statt. Aufder Bühne sah<br />

mandrei durchauszugewandte,<br />

aberunaufgeregtejungeFrauen,<br />

die aussahen, als wäre das alles<br />

einpieceofcake.Vergeblichhätte<br />

manauf überschwänglichen<br />

DankoderhastiggesäuselteAufforderungen,<br />

doch bitte das Albumzukaufen,gewartet.<br />

Nunsind sie zurück in veränderterBesetzung:StellaSommer<br />

undRabeaErradi,Gesang,Gitarre<br />

und Bass, sind geblieben.<br />

Schlagzeugerin Stefanie Hochmuth<br />

verließ Die Heiterkeitim<br />

Mai, kurz vorder Aufnahme des<br />

neuenAlbums.AnihreStelleist<br />

Anna-LeenaLutz, eine Freundin<br />

Erradis und Sommers und vor-<br />

Die Heiterkeit<br />

über Liebe<br />

„Du liebst mich<br />

immer noch /<br />

Wie am ersten Tag/<br />

Und wenn ich will /<br />

Lässt es niemals<br />

nach“<br />

■ ab Ende Januar im Netz<br />

Europeana Collections 1914–1918<br />

Zehn Nationalbibliotheken etwa aus Frankreich, Österreich,<br />

Italien oder Belgien sowie weiterePartner aus acht<br />

Ländern verknüpfen rund 425.000 Dokumente mit Bezug<br />

zumErstenWeltkrieg zu einer substanziell digitalen Datensammlung.<br />

Dazugehören Kriegstagebücher,Fotos,<br />

Filme,Flugblätter,Schützengrabenzeitungen und Ratgeber<br />

fürden Alltag: pro.europeana.eu/web/europeanacollections-1914-1918<br />

herSchlagzeugerinbeiderBerlinerIndie-PopBandHalfGirl,getreten.<br />

Eine Lokalband wollten<br />

DieHeiterkeitniesein.Undnun<br />

sind sie auch endgültig keine<br />

HamburgerBandmehr:Diedrei<br />

lebenmittlerweileaufHamburg,<br />

Berlin und Leipzig verteiltund<br />

treffen sich zumProben in der<br />

Hauptstadt.<br />

Bewusstübertreiben<br />

Den Hamburger-Schule-Sound<br />

wirdmandennochweiterassoziieren,wennimFebruardasneue<br />

Album „Monterey“ erscheint.<br />

DieHeiterkeithabensichfürdie<br />

Produktion Moses Schneider ins<br />

Bootgeholt,dervorallemfürseine<br />

Zusammenarbeit mit Tocotronicbekanntist.Mitihnenwerden<br />

Die Heiterkeitauch oft verglichen.<br />

„Monterey“ bewahrt<br />

sichdieseNähe,bewegtsichaber<br />

auch davonweg. Schneider sei<br />

mitdem dezidierten Anspruch<br />

indiefünftägigeAufnahmephasegegangen,„essoundmäßigso<br />

richtigzuübertreiben“, wieSommersagt.<br />

Sogeselltsichauf„Monterey“<br />

einvomTouchherschneidender<br />

NewWavezum vomDebüt her<br />

bekanntenSignatursoundvonE-<br />

Gitarre, Schlagzeug und Bass. Es<br />

klingt konzeptueller als bei<br />

„Herz ausGold“.Die zehn Songs<br />

halten mitOverdubs, Hall und<br />

melodischen Basslines weitaus<br />

mehr musikalische Brüche bereit.TrotzdemwurdeaufSubtilität<br />

geachtet, sodass die neuen<br />

Stückenichtoverthe topklingen.ImmernochistdaSommers<br />

unkonventioneller Gesang, einenTicktieferalseigentlichnötig.<br />

Immer noch sind da ihre<br />

schwergreifbaren Texte, denen<br />

inhaltlichzufolgenProblemebereitet.<br />

DurchdasAlbumziehtsicheineÄsthetikdesUngefähren,musikalisch<br />

wie textlich.Mal klingt<br />

ein Lied fast melancholisch, fast<br />

kitschig, dann schlägt es plötzlich<br />

um in Frohsinn. „Pauken<br />

und Trompeten“könnte fast als<br />

Liebeslied durchgehen. „Du<br />

liebstmichimmernoch/Wieam<br />

ersten Tag/Und wenn ich will /<br />

Lässt esniemals nach.“ Aber<br />

nein, so rechtglücklich magdas<br />

dann doch nichtrüberkommen.<br />

VonFern fühltman sich im Refrain<br />

von„Wässere mich“gar an<br />

einen Schlager erinnert: „Du<br />

siehst vertrocknet aus /Und<br />

kommst, weil ich dich brauch /<br />

Kommwässeremich/Mit einer<br />

Tränevondir.“Wäredanichtdas<br />

hinterlistigeWörtchen„vertrocknet“undvorallemSommersunaufgeregteStimme,diesobetont<br />

unbeteiligtsingt.<br />

„Ichfindeesinteressant,Dinge<br />

ausihrem Kontext zu reißen<br />

undsieneuzukombinieren“, erklärtdie<br />

Sängerin und Gitarristin.DahinterstecktaucheineAbsage<br />

an Authentizitätund den<br />

Gedanken, dass Texte im stillen<br />

KämmerleinalsAusgeburteneines<br />

vermeintlich geniehaften<br />

Geistes entstehen. „Monterey“<br />

verschleiertseineZitathaftigkeit<br />

nicht, beziehtseine Originalität<br />

aus der Neuzusammensetzung<br />

vonInspirationsquellen.<br />

Der Song „Die ganzen müden<br />

Pferde“etwaist eine Hommage<br />

an Bob Dylans „All the tired<br />

horses“,aber nichtimehrfürchtig-bewunderndenSinn:„Ichfinde<br />

Dylans Song überraschend<br />

schwach“, sagt Sommer, „und<br />

dachte, das kann ich besser machen.“<br />

Keine Angstvor den Großen,<br />

LässigkeitundeinegesundePortion<br />

Selbstironie –diese KombinationhatsichfürDieHeiterkeit<br />

schonbeiihremDebüt bewährt.<br />

Da streuten sie ebenso konsequentwienebenbeidiekalifornischeBandPavementalsEinflussgrößeein,biswirklichjedervon<br />

Sommeralsweiblicheunddeutsche<br />

Version vonStephen Malkmusschrieb.<br />

Doch große Würfemuss man<br />

sichleistenkönnen,sonstwirdes<br />

schnell lächerlich. Ihr Album<br />

„Monterey“, benannt nach der<br />

StadtinKalifornien,diesichDie<br />

Heiterkeit von der Landkarte<br />

pickten,kannessichleisten.2014<br />

jedenfalls würde ein gutes Jahr<br />

werden,wennallessoist,wieauf<br />

„Monterey“: Das Gute bewahrend,dasNeueundErweiternde<br />

umarmend.<br />

■ Die Heiterkeit: „Monterey“<br />

(Staatsakt/Rough Trade)


sonntaz |KULTUR<br />

www.taz.de | kultur@taz.de apple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 25<br />

KULTURPOLITIKFaiblefürpreußischeMalerinnen–dieneueKulturstaatsministerinMonikaGrütters<br />

BetonungderGegensätze<br />

VON KATRIN BETTINA MÜLLER<br />

Esbrauchtschon eine besondereLiebezurKunstgeschichte<br />

im Allgemeinen<br />

und zu marginalisierten<br />

Künstlerinnen im Besondern,<br />

um die Malerin AnnaDorothea<br />

Therbusch (1721–1782) zu kennen.SiewareinefeinfühligePorträtistin,<br />

malteimAuftrag von<br />

Friedrich dem Großen und KatharinaII.,<br />

wurdeals erste Ausländerin<br />

Mitglied in der Akademie<br />

der Künste in Parisund war<br />

inPreußendieersteFrau,dieAnerkennungalsKünstlerinerlangte.<br />

Nichtzuletzt warTherbusch<br />

erfolgreich im Aushandeln der<br />

PreisefürihreBilder.<br />

MonikaGrütters suchte sich<br />

diese malende Preußin aus, als<br />

sieAnfangdesJahresvonderFAZ<br />

eingeladen war, einen „alten<br />

Meister“ ausder zweiten Reihe<br />

derBerlinerGemäldegalerievorzustellen.Daskennzeichnetganz<br />

gut den bildungsbürgerlichen<br />

Impetus der Frau,die im neuen<br />

Kabinett vonAngela Merkel die<br />

Staatsministerin für Kultur ist.<br />

Und auch ihr stetes Augenmerk<br />

für die Wahrnehmung beziehungsweise<br />

Zurücksetzung von<br />

Frauen.„Manchmalreichtesfür<br />

eine Frau also nicht, nursogut<br />

seinzuwollenwieeinMann.Eine<br />

gehörige Portion zusätzlicher<br />

Grütterstratbislang<br />

dafürein,dieKultur<br />

ausdemFreihandelsabkommenmitden<br />

USAherauszunehmen<br />

EhrgeizhatAnnaDorotheaTherbusch<br />

so weit gebracht, dass sie<br />

unvergesslich wurde“, schrieb<br />

GrütterszuderMalerin.<br />

Weil solcheine PortionEhrgeizabernichtjederFrauzurVerfügung<br />

steht, gehört Monika<br />

Grütters in der CDU zu denen,<br />

dieeineFrauenquotevon30Prozentfür<br />

das Gremium der Aufsichtsrätefordern,wenigstensab<br />

2020. Denn sie glaubt nichtdaran,<br />

dass in den Führungsetagen<br />

der Wirtschaft der Frauenanteil<br />

sonstfreiwilligerhöhtwird.Und<br />

das beruhtauch aufihren eigenen<br />

Erfahrungen als Politikerin<br />

inderCDU.<br />

KunstundBanken<br />

Sie selbstbrauchte für den AnfangihrerKarriereindenneunziger<br />

Jahren in Berlin einen Förderer,den<br />

damaligen CDU-Fraktionsvorsitzenden<br />

Klaus Landowsky.Dessen<br />

Verwicklung in<br />

den Immobilienskandal der<br />

Bankgesellschaft Berlin, bei der<br />

Grütters auch selbstals Kulturmanagerinarbeiteteundfürdie<br />

sie aufregende, zeitgenössische<br />

Kunsterwarb, überstand sie unbeschadet.Daslagschondamals<br />

daran, dass sie sich als wissenschaftliche<br />

und kulturpolitische<br />

SprecherinderCDUdurchKompetenz<br />

und Sachlichkeit Ansehenverschaffthatte.<br />

GemessenanderKunstszene,<br />

durchdiesiesichsosouveränbewegt,<br />

ist das Erscheinungsbild<br />

vonMonikaGrütters –oft mit<br />

Perlenkette, fast immer im Rock<br />

–beinaheauffallendkonservativ,<br />

so dass maneinen Momentdarüber<br />

stutzt. Es hatetwas vonBetonung<br />

der Gegensätze –das<br />

konservative Element demonstriertseine<br />

Aufgeschlossenheit.<br />

Doch wo andere CDU-PolitikerinnenauchmitPrivatlebenund<br />

Familie am Bild ihres Wertekos-<br />

Wilhelmine Enke, Geliebte von Friedrich Wilhelm II. –Ölgemälde von Anna Dorothea Therbusch (1721–1782), Schloss Sanssouci, Potsdam Foto: Bridgemanart<br />

mos arbeiten, findet man bei<br />

Grütters stets nur die Leidenschaft<br />

für den Gegenstand Kultur.<br />

DasspieltsichereineRollebei<br />

derZustimmung,dieihreErnennungzurKulturstaatsministerin<br />

im Kanzleramterfahren hat. Es<br />

sind nichtnur Institutionen mit<br />

Sitz in Berlin wie die Akademie<br />

der Künste oder die Stiftung<br />

Preußischer Kulturbesitz, die<br />

sich erfreutzeigen, weil sie wissen,wieoftsichGrüttersfürKultur<br />

inder Hauptstadt bisher<br />

schon in unterschiedlichsten<br />

Funktionenstarkgemachthat.Es<br />

istauch der Deutsche Bühnenverein,<br />

der von ihr und dem<br />

BundUnterstützungbeimErhalt<br />

der vielen Theater in den deutschen<br />

Städten erhofft, die von<br />

Ländern und Kommunen in ihrerFinanzierungoftimmerweiter<br />

eingeengt werden. Oder der<br />

Börsenverein des Deutschen<br />

Monika Grütters Foto: Amélie Losier<br />

Buchhandels,demesumdenErhaltderBuchpreisbindunggeht.<br />

Die könnte zumBeispiel Gegenstand<br />

des Freihandelsabkommen<br />

von Europa mit den<br />

USAsein.Grüttersgehörtzuden<br />

Kulturpolitikern, die bisher dafür<br />

eintraten,die Kultur ausdiesem<br />

Abkommen herauszunehmen,<br />

weil nursoder Schutzder<br />

Vielfalt der kulturellen Landschaftzugewährleistenist.Wenn<br />

Grütters leicht enthusiastisch<br />

über die Theaterdichte Deutschlandsredet,diehöchstederWelt,<br />

oder die Museen, die „zehnmal<br />

mehr Besucher als alleBundesligaspiele“<br />

anziehen, dann<br />

kommtsie vondortauch ganz<br />

schnellzurdeutschenGeschichte.DiehatdieseVielfaltnichtnur<br />

hervorgebracht,sondernderGesellschaft<br />

in ihren Augen eben<br />

auch eine besondere Verpflichtung<br />

zumErhaltauferlegt: „Unsere<br />

Kulturförderung hat auch<br />

mit unserer bitteren jüngeren<br />

Geschichtezu tun.Sieziehteine<br />

Lehre auszweiDiktaturen, die<br />

lautet: Kritik und MeinungsfreiheitsindkonstitutivfüreineDemokratie.“<br />

AberesgibtaucheineKehrseite<br />

dieser engen Verbindung von<br />

Geschichtsbewusstsein und<br />

SchutzderKultur.Diezeigtsich,<br />

wennausBewahrenundGedenkenrepräsentative<br />

Gesten werden,<br />

die Deutungshoheit über<br />

die Geschichtsschreibung beanspruchen.<br />

Eine solche Geste ist<br />

zumBeispieldasStadtschlossin<br />

Berlins Mitte, das nach einem<br />

Entwurfdes Architekten Franco<br />

StellaandieStelledesinderDDR<br />

abgerissenen barocken Schlosses<br />

errichtet werden soll. Grütters<br />

gehörtzuden langjährigen<br />

Befürwortern des Projekts und<br />

hat das „Humboldtforum“, das<br />

dieRäumebespielenundinhaltlich<br />

füllen soll, unter die dringlichsten<br />

Aufgaben für ihr neues<br />

Amtgesetzt. SeitfastzweiJahrzehnten<br />

istdas Schloss eine ideologisch<br />

umkämpfte Baustelle,<br />

vieleSchlossgegner sahen geradeimOffenhaltendiesesPlatzes<br />

eine Chance, die Brüche der Geschichte<br />

auszuhalten, statt sie<br />

symbolischzubesetzen.<br />

DieListedersechsdringlichstenAufgaben,dieinGrütterserster<br />

Pressemitteilung als BeauftragtefürKulturundMedienstehen,lehntsichengandieVereinbarungen<br />

im Koalitionsvertrag<br />

an. Dazugehörtdie dauerhafte<br />

Stabilisierung der Künstlersozialkasse,<br />

einer Kranken- und<br />

RentenversicherungfürKünstler<br />

und Publizisten. Deren Einnahmenkranktenbisherauchdaran,<br />

dass es keine Kontrolledarüber<br />

gab, wie viel die Verwerter der<br />

künstlerischen und publizistischenProdukteeinzuzahlenhatten.<br />

Der Gesetzgeber müsste die<br />

Versicherer verpflichten, diese<br />

Kontrolledurchzuführen.<br />

Sich für solche Veränderungeneinzusetzen,hatzweifelsohne<br />

nichtden gleichen Charme<br />

wieeineAusstellungderFotografin<br />

BarbaraKlemm zu eröffnen.<br />

AberGrüttershatebennichtnur<br />

aufbeiden Bühnen langjährige<br />

Erfahrung und Kontakte, sondernsiehtauchdeninhaltlichen<br />

und strukturellen Zusammenhang.<br />

Im Ausschuss für Kultur<br />

und Medien im Bundestag, dem<br />

sieinderletztenLegislaturperiode<br />

vorsaß, erreichte sie mitUnterstützungderSPD,dassdieFotokunstauch<br />

für das Finanzamt<br />

alsKunstgiltundihrUmsatzdeshalbnichtmit19,sondern7Prozentbesteuertwird.Auchdasgehörtzuden<br />

besonderen Instrumentenderdeutschen<br />

Künstlerförderung.<br />

Aufdem Arbeitsplan der Kulturstaatsministerin<br />

stehen auch<br />

die Reform des Urheberrechts<br />

und die Digitalisierung des kulturellen<br />

Erbes, beides arbeitsintensive<br />

und nichtzuletzt juristischkniffligeVorhaben,dieunter<br />

Grütters’ Vorgänger Bernd<br />

Neumann eine offene Baustelle<br />

blieben.DassseineBilanzamEnde<br />

positivaussah, auch dank einer<br />

kontinuierlichen Erhöhung<br />

des Bundesetats für Kultur,war<br />

anderen Schwerpunkten zu verdanken.DassGrüttersaufdiesen<br />

Gebieten neue Stärken entwickelnkann,istdieHoffnungvielerInstitutionen.<br />

Es wirdnicht<br />

zuletzt davonabhängen, welche<br />

Bündnisseihrgelingen.<br />

www.schaubuehne.de<br />

Homophobie<br />

der Politik<br />

oder Politik<br />

der Homophobie<br />

Boris Dittrich und<br />

GulyaSultanova im<br />

Gespräch mit Carolin Emcke<br />

Tickets: 2,50 €|Tel. 030.890023<br />

Ermäßigungsberechtigte frei<br />

So 5.1. >12Uhr<br />

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26 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple www.taz.de | literatur@taz.de LITERATUR | sonntaz<br />

HalbTaubehalbPfau<br />

VON MAREN KAMES<br />

Dassestaut,dassesrauscht<br />

Ichhöre<br />

daskleineGeräusch<br />

das deine Zunge beim Aufwachen in der Mundhöhlemacht<br />

deine Hand wie sie sich neben mir aufdem Kopfkissenbewegt<br />

ich höre die Straße unter uns lauter werden ich höre den<br />

FlusslaufvordemHausunsererEltern<br />

DenFlusslauf vordemHaus unsererEltern andem wir standen<br />

sechsundachtzig und einhundertzwölf Zentimeter groß<br />

an dem ich uns stehen sehe wie du in die Hocke gehst und<br />

KieselmiteinemStöckchenzusammenschiebstundmitbeiden<br />

Händen ins Wasser greifst und murmelst und ich<br />

in Richtung des Wassers sehe wie es über die Steine geht<br />

undnachderBiegunginsTalhinunter<br />

Ich höre Tau von den Simsen in unserem Rücken<br />

tropfenwiesichderNebelsammeltineinemTalweithinteruns<br />

ichhöreRaben<br />

Ich höre den Richtungswechsel der Züge bei den Bahntrassen<br />

im Talkessel höredich weinen dubistvier undballstdie Hände<br />

in den Hosentaschen ich höre die Kälte inden Wänden<br />

herumgehen in einem Haus am Hang irgendwo weit<br />

vordemunserGroßvateraufeinerBanksitztundmitdemStock<br />

Linien in die Erde kratzt wie er spricht zum Tal hin<br />

oder in den Nebel über dem Hang an dem unser Vater steht<br />

und Bäume fällt den Nachhall der Schläge überm Tal<br />

den Stock unseres Großvaters im Takt auf die Erde tippen<br />

wie er den Kopf schräg legt wie er nickt zum Tal hin<br />

oderindenNebelhinein<br />

Ich höre Steine übers Wasser flippen an einem Stausee im Tal<br />

an dem wir stehen und lachen und ich suche flache weiche<br />

Steine und unser Vater flippt Steine und du flippst Steine<br />

undsiekommennichtweit<br />

Ich höre die Hände unseres Vaters im Gesichtunserer Mutter<br />

wie sie nickt und sich abwendet gegen die Fenster<br />

vor denen der Tau vom Sims tropft unter dem ich sitze<br />

unter dem unser Großvater auf der Bank sitzt<br />

und den Kopf hebt zu den Krähen und den Kopf schräg legt<br />

und zum Fluss sieht andem du hockst an dem du dich<br />

vornüber beugst und er sagt Obacht zum Tal hin<br />

wodieSchnellzügewechseln<br />

Ich höre unseren Vater die Treppe herunter kommen<br />

durch den Flur über die Straße zum Fluss und<br />

nach der Biegung ins Tal hinunter ich höre<br />

unsere Mutter über die Dielen laufen im Stockwerk über uns<br />

das Gebiss unseres Großvaters malmen vonweither ich höre<br />

kleineSteineindeinenTaschenknirschendubistvierundjetzt<br />

richtest du deinen Oberkörper neben mir auf<br />

und siehst aus dem Fenster über uns und siehst<br />

aufdas Hausdach gegenüber aufdem du zwei Krähen siehst<br />

die auf den Antennen sitzen und die Köpfe schräg legen<br />

und mit den Köpfen nicken und picken in die Erde vor<br />

einem Haus am Hang vor dem unsere Mutter<br />

Holzspäne zusammenkehrt und die Vögel aufscheucht<br />

und die Vögel über den Hang fliegen an dem unser Großvater<br />

steht auf seinen Stock gestützt und er sagt Obacht ins Tal<br />

in dem unser Vater bei den Bahntrassen steht und<br />

mitdenSchaffnernsprichtundlacht<br />

Ich höre Wasser ins Tal gehen unter der Schnellstraße<br />

hindurch schießen deine Hände durchs Wasser fahren<br />

am Flusslauf vor dem Haus unseren Vater das Tal hinauf<br />

lachen höre eine Perlenkette reißen die Perlen<br />

über die Dielen prasseln durch das Haus über die Straße<br />

biszudenBahntrassenunten<br />

Ich höre unsere Mutter unseren Großvater füttern<br />

er ist vier und ballt die Hände in den Hosentaschen<br />

ich höre unseren Vater das Haus verlassen<br />

dieStraßedieStadt<br />

Ich höre einen Wasserfall an einem Ort vor langer Zeit<br />

wie er ins Tal stürzt in den Schlaf stürzt in meinen Rücken<br />

in meinem Rücken die Simse von denen es tropft im Takt<br />

in dem der Stock meines Großvaters auf die Erde tippt<br />

vor einem Haus am Hang vor dem mein Großvater sitzt<br />

und mitdem Stock Linien in die Erde ziehtund leise spricht<br />

zum Tal hin oder in den Nebel über dem Hang ich höre<br />

unsereMutterdieBahntrassenentlanglaufen<br />

Perlensuchen<br />

Ich habe gehörtKrähen picken PerlenKrähenschnippen Späne<br />

flippen Steine weg von den Simsen in unserem Rücken<br />

ineinemTalweithinteruns<br />

Ich habe gehört esrauscht auf der Straße unter uns<br />

aneinemFlusslaufirgendwoweit<br />

Ichhabegehörtestaut<br />

Nimm meinen Schädel in die Hand je eine Schläfe &justier meinen Schlaf Richtung Süden wo die Pole<br />

längst schmelzen an den Kappen schon Schollen und das Land längs meiner weißen Angst heißt<br />

Antarktika(heiß wa?) und du hängstmir unter der Kopfhautzuden Sohlen raus bis zu den Antipoden<br />

wo zu meinen Füßen liegt mein Schädel und sonntsich in seiner geographischen Breite90°0‘0‘‘S.Steck<br />

mir ein Senklot südlich ins Hirn nimm den Klotz in die Hand wie ein bauchiges Glas schwenk auslass<br />

tropfen schenk reines Eis nach den Schmelz bringenwir schon ins Lot noch mitder Rotation der Achsen.<br />

Kalthier?Lassschlafen.<br />

ImSiel<br />

Findestdich Sonntagmorgen um achtbei den Haubentauchern an den Gestaden stierstindie Schlieren<br />

säufstdie Aussichtbis blindlings stehstknietief im Siel rings schluckst Wasser vomRand ab haustschlaff<br />

aufdiePlankenliegstausdawiePfandgut–gestrandetaufdeinerhalbtaubenHaut<br />

gelandetimhalbgarenLichthier<br />

genadeltgerendertdirty<br />

verplempertimTauund<br />

halbTaubehalbPfau<br />

haltdasmalausso<br />

ste(h)ts<br />

(Luftbild) Am Horizont platzen die Abschiedssalven fallen hinten überm Tag zusammen<br />

und ein aufgeregter Schwarm Vögel zieht blauschattig durch einen violetten Streifen Himmel undwir<br />

lächeln fürs Mannschaftsbild und heben die Gläser zumGruß in die Höhe und werfen unsere Arme<br />

in großen Bögen zumAhoi durch die Luft und die Brause schäumt in den Gläsern hinten am Himmel<br />

brautsich die Vogelmeute zusammen und wieder auseinander und der Funkmann ruft Der Präsident<br />

lässt melden: Achtet die Details des Krieges auch nachdem er längst versiegt ist; es handelt sich<br />

um kniffliges Spezialwissen die Zukunft des Landes betreffend und der Käptn ruft Achso! AlleMann rauf<br />

alleMann in die Höhe zurHälfte nach rechts oder linkswärts so wenig wie möglich zurück wir müssen<br />

die Besatzung zusammenhalten es handeltsich immerhin um Pioniere denen künftig immense Manöver<br />

was sag ich massive Attacken bevor stehn und soeben eine Parade Vögel um die Köpfe saust<br />

hierimlilafarbenenSiel<br />

scheintallesvertaut<br />

bisderHimmelaufgrautundwirsehen:<br />

DieTruppehatsichzerstreut<br />

offenbarsindinderZwischenzeitallenachHausegegangen<br />

siehabendieLuftschlangenmitgenommen<br />

undjeglichenBefehlvondenSimsenundBalkonenentferntes<br />

liegennurnoch<br />

GlasstieleamSiel<br />

undvereinzelt<br />

zerplatztePatronen<br />

ShutterIsland<br />

Zigmal schwitzt du bis sich nichts<br />

bewegt.Undx-maldrückstdudichdu<br />

duckst dich rückwärts wegvon dem<br />

waszähltvon dem wasgeht4/4 über<br />

den Zenit und zigmal wippst du.<br />

Zigmal flippstduSteine übern See<br />

der wettert. Schippst Schrot in<br />

Schaufeln übern First bis‘ flattert<br />

bis nix mehr stehtund alles zittert.<br />

Und du grinst bis Halleluja.<br />

Stellstsperrangel alleFenster denn<br />

zigmal stinkts dir weil du nix putzt<br />

guckstdublindlingsstehndieSpiegel.<br />

Und du kotzt x-mal im Trapez.<br />

Kappst Strippen über Land kippst<br />

Brücken. Klappstdich rittlings zum<br />

Quadratbis‘knittert.Passtdichzittrig<br />

ins<br />

Format<br />

kickstStart klickstja<br />

undsagmal<br />

spinnstdu?<br />

WirhabeneinerrassistischenBürgerbewegungaufdenFalklandinselndasHandwerkgelegt.<br />

Dannwolltenwirunsküssen,abereineSchafherdekamdazwischen.<br />

AchtunganBahnsteig3 geratendieGleiseinBewegung<br />

an den Überlandleitungen wirddie Zukunft ausgerufen<br />

siemeldetsichauchdaraufhinnicht.<br />

das überleiten würde zu etwas Freundlicherem<br />

alsdemödenKommenundGehenderEilmeldungen<br />

dieverkehrteLagebetreffend.<br />

DieVermisstenmeldungenhäufensich<br />

indenBahnhofsvorhallenentlangderKüstenstechen<br />

die Suchtrupps in See inden Küchen des Landes<br />

riechen die Köche den Teer der klebt in den Töpfen<br />

der schwelt und verdirbt und die Schuppen der<br />

FischediezappelnamHerddenn<br />

auchdaistkeinLandinSicht


sonntaz |LITERATUR<br />

www.taz.de | literatur@taz.de apple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 27<br />

AndemBergkammdahintenistdasLandzusammengenäht,hierwirdesreißen.<br />

THEREISABURNINGBALLOFFIREINOUTERSPACE(*kidsandexplosions)<br />

HELLO?!<br />

()Finde mich, aufder Oberfläche des Planeten liegen; die Knie angewinkeltund der Wind fährtmir<br />

unterdenRücken,indenMundundzwischendieBeineundderWindsagtmir,womeinKörperaufhört<br />

und die Luft anfängt, die ganze Luft und unter mir das submarine Schimmern, der Himmel ist<br />

eine relativweitläufige Angelegenheit, er muss hier gleich in der Nähe sein, aber eine Verbindung<br />

kommtmomentannichtzustande.IchbineinSystemausRohren,vielleicht,dieaneinanderbeginnen<br />

undineinanderenden,durchdiederWindgeht,sonstnichts.<br />

IchsetzmicheinfachindieseTonnehier,haltemeinoffenesGesichtgegendenHimmel<br />

undtrinkediesenRegen.<br />

Und eigentlich sitzen wir doch nur auf den Stufen 24/7 und schauen uns an was vorbei kommt<br />

und ab und zu stellen wir uns vorwie jemand gehtweil einer gehen muss und ab und zu reißen wir<br />

unsdieHaareausundestutnichtwehundnichtstutwehundabundzuträumenwirvondenrichtigen<br />

GesichternunddanngehenwirindieDisko,kommtihrmit.<br />

HaltehierReden<br />

-<br />

Unddetonierst.<br />

DudetonierstzueinerPräposition<br />

fürundwidernichts<br />

undwiedernichtsimHaus<br />

außerChips.<br />

vomGrasüberdenDingen<br />

überdieZärtlichkeitindirunddasTier<br />

denräudigenZustandund<br />

dashieristRegen<br />

dasdieLähmung<br />

unddasderRegen<br />

undwoderSchirmderHerrdieWege<br />

dassallesklebt<br />

währendderRegeninBewegung<br />

überdemGrasüberdenDingen<br />

beidenTraufenwodieRehe<br />

(jajadieRehe)und<br />

duweißtnichtwohinrasen<br />

duerrätstnichtwohinatmen<br />

unddieDingekleben<br />

unddieRedeklebtandenDingen<br />

undratemalrichtig<br />

Marenistmehr<br />

einFragewort<br />

esgehtinSchleifen<br />

esgehtnicht<br />

esbricht<br />

ab<br />

hierwoandershin.<br />

LYRIKMarenKames<br />

überzeugtedie<br />

taz-Publikumsjury<br />

beimOpenMike2013<br />

Schwitzt,<br />

kippst, kickst<br />

EsistlängstTradition.Beim<br />

Open Mike–dem Vorlesewettbewerb<br />

für den<br />

deutschsprachigen literarischen<br />

Nachwuchs in Berlin –<br />

betreutdie taz eine Publikumsjury:<br />

fünf im Idealfall interessierte,<br />

mitdem Literaturbetrieb<br />

jetzt nichtgroßverbandelte LeserinnenundLeser,diesichzwei<br />

Tage lang alle teilnehmenden<br />

Autorinnen und Autoren anhören<br />

und sich dann daraufeinigen,welcherTextihnenambesten<br />

gefallen hat. Dem geben sie<br />

denPublikumspreis.Eristdamit<br />

verbunden,dassdietazdenText<br />

abdruckt. Voilà. Aufdiesen SeitenkönnenSiesichaufabenteuerliche<br />

Lesereise durch den Publikumspreistext2013begeben.<br />

Es ist indiesem Jahr dabei<br />

gleichdoppeltetwasBesonderes<br />

geschehen. Erstens hatdie diesjährige<br />

Publikumsjury zumersten<br />

Mal überhaupt einen lyrischenTextausgezeichnet.Texte,<br />

die gerade Prosapfade vermeiden,warendurchausdabei–der<br />

Vortragspieltbeim Open Mike<br />

selbstverständlichinsUrteilhinein;<br />

wasTexte, die vomPerformativenleben,<br />

etwas begünstigen<br />

mag. Aber tatsächlich Lyrik<br />

war beim Publikumspreis bislang<br />

noch nichtdarunter.ZweitenshatMarenKamesnichtnur<br />

den Publikumspreis, sondern<br />

aucheinenderdreiHauptpreise<br />

des Open Mikebekommen. PublikumsjuryundHauptjury–sie<br />

warmit den SchriftstellerInnen<br />

JennyErpenbeck, Ulrich Peltzer<br />

und Raphael Urweider besetzt –<br />

warensichüberdieQualitätdieses<br />

Textes also einig. Wieheißt<br />

das immer: VonMaren Kames<br />

wirdmannocheinigeshören.<br />

Die Autorin wurde 1984 in<br />

Überlingen am Bodensee geboren,<br />

studierte Kulturwissenschaften,<br />

Philosophie und Theaterwissenschaft<br />

in Leipzig und<br />

Tübingen, Kreatives Schreiben<br />

und Kulturjournalismus in Hildesheim.<br />

2011/2012 warsie Mitherausgeberin<br />

der Literaturzeitschrift<br />

Bella triste. Seit 2013 lebt<br />

siealsfreieAutorininLeipzig.<br />

Kindheitserinnerungen, darin<br />

eingeschlossen eine Trennung<br />

(„ich höre unseren Vater<br />

das Haus verlassen“); überraschende<br />

Lautverknüpfungen<br />

(„schwitzt“, „kippst“, „kickst“ in<br />

„ShutterIsland“); Miniaturen, in<br />

denen sich „nichts“ auf„Chips“<br />

reimt; sowie dramatische Momente(„Ichsetzmicheinfachin<br />

diese Tonne hier, halte mein<br />

offenes Gesichtgegen den Himmel/undtrinkediesenRegen“).<br />

Breitorchestriert, dabei stets offen<br />

und nachvollziehbar sind<br />

diese Texte. Wirhaben sie auf<br />

dieser Doppelseite getreulich<br />

nach dem Manuskriptabgebildet.<br />

Einzüge, Leerstellen, Abstände,<br />

das alles ist von der<br />

Autorinsovorgesehen. DRK<br />

Maren Kames Foto: gezett.de


28 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple www.taz.de | sonntaz@taz.de GELD | sonntaz<br />

WÄHRUNGDerEuroistumstritten.WiedieAlternativenaussehenkönnten,zeigteinSchweizerDesignbüro<br />

NeueScheinebrauchtdasLand<br />

VON HEINRICH DUBEL<br />

Ein jeder kratzt und scharrt<br />

und sammelt, und unsre<br />

Kassen bleiben leer.“ Goethekanntesichaus.Neben<br />

demSchreiben,seinennaturwissenschaftlichenArbeitenundetlichen<br />

anderen Tätigkeiten war<br />

erimLaufeseinerKarriereauch<br />

Finanzminister im damaligen<br />

Weimarer Pleitestaat, dem er eine<br />

strikte Sparpolitik verordnete.DabeiwarGoethe,geborenin<br />

der späteren Bankenmetropole<br />

und europäischen Geldhauptstadt<br />

Frankfurt amMain, ein<br />

schwerreicher Mann. Sein Vermögen<br />

lagbei umgerechnet siebenbis17MillionenEuro,wiedie<br />

Literaturwissenschaftlerin SigridLöfflerineinemVortragüber<br />

„Goethe und das Geld“spekulierte.<br />

Das warkein Papiergeld, sondernechtesBares,140.000Taler,<br />

Gold-undSilbermünzen,kistenweise.<br />

Geld warfür Goethe göttlich<br />

und teuflisch zugleich. Das<br />

zeigt sich auch in seinem wohl<br />

bekanntesten Werk. Im „Faust“<br />

erfindet Mephisto das Papiergeld.<br />

Als Vorbild diente Goethe<br />

der schottische Bankier und Finanzjongleur<br />

John Law, der 1720<br />

den französischen Staatmit ungedecktemPapiergeldineineFinanzkrise<br />

stürzte. Trotz der<br />

schlechten Erfahrungen versuchtemanesinFrankreichweiter<br />

mit bedruckten Scheinen<br />

stattgoldenenMünzen:DieAssignaten,dasPapiergeld,daswährendderFranzösischenRevolution<br />

benutzt wurde, waren letztlichkaumetwaswert.Obwohlsie<br />

eigentlich durch den Grundbesitz<br />

des entmachteten Adels gedeckt<br />

sein sollten. Das führte zu<br />

neuen Problemen. Am Ende des<br />

18. Jahrhunderts warFrankreich<br />

insolvent.<br />

EinereligiöseDimension<br />

Wer Geld herstellen kann,<br />

braucht nicht zukratzen, zu<br />

scharren und zu sammeln. Der<br />

moderne Alchimistmachtnicht<br />

mehr Blei zu Gold, sondern Papier<br />

zu Geld. Und mitdiesem<br />

Geldmachen kann man auch<br />

nochGeldverdienen.DasistMagie.<br />

Zumindestaber sei PapiergeldeineIllusion,diemagisches<br />

Denken voraussetze, sagt Sigrid<br />

Löffler.Eine Banknote sei letztlich<br />

eine Creatioexnihilo, eine<br />

Schöpfung ausnichts, weil das<br />

Papiergeld seinen Wert auseinem<br />

offenen Zahlungsversprechen<br />

beziehe. Während Goldmünzen<br />

dem Materialwert entsprachen,<br />

istein Geldschein im<br />

Zweifel nichtmal mehr das Papierwert,aufdasergedrucktist.<br />

Dakommtzweifelloseinereligiöse<br />

Dimension zumVorschein:<br />

Wenn wir nichtdaran glauben,<br />

dass unser Geld einen Wert darstellt,<br />

dann haben wir ein Problem.<br />

An Geld muss manglauben,<br />

wie mananGott glauben muss,<br />

damiterexistentist.Esgibtjene<br />

PolitikerundWirtschaftswissenschaftler,<br />

die auf die Stabilität<br />

desEurounddenalternativlosen<br />

Fortbestand der Eurozone setzen.<br />

Deren Reden gleichen Beschwörungen.<br />

Für ein Ende der<br />

Währungsunion werden –wie<br />

bei einer Naturkatastrophe –<br />

„verheerende Folgen“vorhergesagt,<br />

neben den erwartbaren<br />

auch noch zahlreiche nichtzu<br />

kalkulierende. „Das Risikoeines<br />

solchen Experiments ist gar<br />

nicht abzuschätzen“, sagt etwa<br />

Jens Boysen-HogrefevomKieler<br />

Institutfür Weltwirtschaft. Auf<br />

Nach dem Euro-<br />

Albtraum besinnt<br />

sich Griechenland<br />

auf eine<br />

seiner Stärken:<br />

die Schifffahrt<br />

In Belgien wird<br />

es kulinarisch.<br />

Besonders gut:<br />

Miesmuscheln<br />

(10) mit Pommes<br />

frites (20)<br />

Frankreich steht<br />

für Stil, auch<br />

beim Geld: Models<br />

mit großen<br />

Schritten und<br />

kleinem Appetit<br />

Deutschland,<br />

deine Hunde –<br />

melancholische<br />

Köter in Herrchens<br />

Portemonnaie<br />

Die Fantasiewährung<br />

der Italiener<br />

huldigt den großen<br />

Designern:<br />

Sottsass, Colombo,<br />

Castiglioni<br />

derGegenseitestehendieSkeptiker,diedenGlaubenandasGute<br />

im Euroverloren haben, die aus<br />

dem Währungsverbund raus<br />

und die „gute alte D-Mark“ wiederhaben<br />

wollen. Und sie werdenimmermehr.<br />

In diesemGlaubensstreitverwischendiepolitischenFronten.<br />

BefürworterundGegnerdesEuros,<br />

der Eurozone und der Währungsunionfindensichinsämtlichen<br />

Lagern von rechts bis<br />

links. Man magsich das Chaos,<br />

das entstehen wird, wenn die<br />

Währungsunion aufgelöstwird,<br />

garnichtvorstellen. Kann so etwasüberhauptklappen?Esistja<br />

nichtso,alswollemaneinenverhedderten<br />

Fadenknäuel entwirren,sonderneher,alswolleman,<br />

nachdem manein Glas Tinte in<br />

einen Eimer mitWasser gekippt<br />

hat,diebeidenFlüssigkeitenwiedertrennen.Wosollmandabloß<br />

anfangen?<br />

In dem Augenblick, da verkündetwird,manwolledenEuro<br />

abschaffen, verliert dieser augenblicklichanWert.Wastrittan<br />

seine Stelle? Neue Gelder müssten<br />

direkt verfügbar sein. Das<br />

heißtauch,dassneueGeldnoten<br />

bereits entworfen und produziertwordenseinmüssen,bevor<br />

überhaupt die Abschaffung der<br />

gemeinsamen Währung kommuniziertwird.<br />

SchweizerGeldistKunst<br />

Ein Vorschlag, wie die neuen<br />

Scheine aussehen könnten,<br />

kommt aus der Schweiz. Aus<br />

eben jenem Land, das schon immer<br />

ein besonderes Verhältnis<br />

zumeigenen Geld wie zu dem<br />

anderer Länder hatte. Schweizer<br />

Banknoten –zumindestdie der<br />

aktuellenSerie–gehenalsKunstwerkedurch.<br />

Nichtverwunderlichalso,dassnuneinSchweizer<br />

Designbüroein „Lösungsmodell<br />

für den Ernstfall“der AbschaffungdesEurosvorgelegthat.Die<br />

AgenturWeicher Umbruch hat<br />

dasBuch„NeuesGeld“herausgebracht,<br />

das die neuen Währungender(fiktivehemaligen)17Euroländer<br />

als heraustrennbare<br />

Banknoten enthält: die Neue<br />

Maltesische Liraebenso wie die<br />

Neue Griechische Drachme, der<br />

NeueFranzösischeundderNeue<br />

BelgischeFranc.Einebensocharmantes<br />

wie ironisches Buch.<br />

Aber vielleicht hätten die<br />

Schweizernochwartensollen.<br />

Denn die Europäische Währungsunion<br />

wächst immer<br />

weiter.Am1.Januar 2014 wird<br />

Lettland(nachBelgien,Deutschland,<br />

Estland, Finnland, Frankreich,<br />

Griechenland, Irland,<br />

Italien, Luxemburg, Malta, den<br />

Niederlanden,Österreich,Portugal,<br />

der Slowakei, Slowenien,<br />

SpanienundZypern)als18.Land<br />

der Eurozone beitreten. Weitere<br />

drei Länder, die nicht der<br />

EuropäischenUnionangehören,<br />

sind mit eigenen Euromünzen<br />

und -banknoten der Eurozone<br />

assoziiert: Monaco,San Marino,<br />

der Vatikanstaat. Dazu kommt<br />

Andorra,das–obwohleszurEurozonegehörtundderEurooffi-<br />

zielles Zahlungsmittel ist–kein<br />

eigenes Geld ausgibt. In Kosovo<br />

und Montenegro ist der Euro<br />

zwar nicht die offizielle Währung,<br />

de factowirderaber als<br />

Hauptzahlungsmittelgenutzt.<br />

Waffeln,Fritten,Schoko<br />

TrotzbreitaufgestellterEurogegnerschaft<br />

schreitet das Projekt<br />

einer gemeinsamen Währungszonealsoweitervoran.DerGlaube<br />

an den Nutzen einer solchen<br />

gemeinsamenWährungiststark.<br />

Und–abgesehenvomsogenanntenwirtschaftlichenNutzen–ist<br />

das gemeinsame europäische<br />

Geld nurein weiterer Ausdruck<br />

derVereinheitlichung,derinanderen<br />

Bereichen längst vollzogenist:ÜberallinEuropafahren<br />

die Menschen dieselben Autos,<br />

tragen dieselben Klamotten, die<br />

ihnen von derselben Werbung<br />

angepriesen werden. Sie benutzen<br />

dieselben Telefone, um sich<br />

dieselben Kurznachrichten zu<br />

schicken, trinken dabei denselben<br />

Latte Macchiato,essen dieselben<br />

Fastfoodmenüs. Warum<br />

sollen sie dafür nichtmit demselbenGeldbezahlen?<br />

Das Buch „Neues Geld“versuchtsich<br />

an einer Antwort: Nationale<br />

Identitäten sind spannend,mituntersogarlustig.Zentral<br />

istdie Identitätsfrage: Wer<br />

sind wir? Wersind die anderen?<br />

WasbetrachtenItaliener,Spanier<br />

oder Slowaken als identitätsstiftend?DieSchweizerDesignerhaben<br />

diese Fragen stellvertretend<br />

zu beantworten versucht. Herausgekommen<br />

istein Spiel mit<br />

Klischees.Das„NeueGeld“zeigt<br />

Eigenheiten, Traditionen und<br />

Wahrzeichen der einzelnen Länder.Nichtallesistganzernstgemeint.<br />

Aufden belgischen Geldscheinen<br />

sind Waffeln, Fritten<br />

und Schokolade abgebildet. Die<br />

Neue D-Mark zeigt Kühlergrills<br />

deutscher Autobauer. Auf den<br />

Rückseiten der Neuen Deutschen<br />

Mark sind die in Deutschland<br />

beliebtesten Hunderassen<br />

zusehen.<br />

Das Design zeigt die jeweiligen<br />

Nationalfarben. Das Layout,<br />

obwohlnach Land verschieden,<br />

istsoangelegt,dassderEindruck<br />

einer europäischen Restzusammengehörigkeit<br />

erweckt wird.<br />

Versammeltsindkluge,teilweise<br />

aber auch ironische Texte zu<br />

dem, wasGeld (uns) bedeutet.<br />

BesondersschönsinddieErinnerungen<br />

der einzigen Autorinim<br />

Buch: Sie schreibt über ihre<br />

Sammlung ausländischen Geldes,diesiealsKindangelegthatteundwiesiealsTeenagerdiegeheimnisvollen<br />

Scheine und<br />

Münzen umtauschte, um „ZigarettenoderDrogen“zukaufen.<br />

DasBuch„NeuesGeld“istübrigenseinesolideKapitalanlage.<br />

Es kostet nur37Euro. Der Wert<br />

der enthaltenen Geldscheine<br />

entsprichtdagegen–Standheute–20.145Euro.<br />

■ Markus Läubli und Andrea<br />

Münch, „Neues Geld –die<br />

Währungen nach dem Euro“,<br />

Weicher Umbruch, 37 Euro<br />

Wenn wir nichtdaran<br />

glauben, dass unser Geld<br />

einen Wert hat, dann<br />

haben wir ein Problem


sonntaz |MUSIK<br />

www.taz.de | sonntaz@taz.de apple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 29<br />

KARRIERESharaWordenkönntenächstesJahralsSängeringroßrauskommen–vorausgesetzt,Eigensinnisterlaubt<br />

Poesie,diekippt<br />

VON WALTRAUD SCHWAB (TEXT)<br />

UND MIGUEL LOPES (FOTO)<br />

Wichtigsein?Unwich-<br />

tigsein?Dassindso<br />

Fragen, die Shara<br />

Worden auffreundlicheWeiseverneint.Wassollsie<br />

darauf auch antworten? Wenn<br />

sie ihre Zukunft vorausgesagt<br />

haben will, geht sie zu einer<br />

Wahrsagerinundredetnichtmit<br />

Journalisten.SharaWorden,Sängerin,<br />

Musikerin, Komponistin,<br />

Enkelin eines Wanderpredigers,<br />

TochtereinesAkkordeonspielers<br />

und Evangelisten, die das Wort<br />

„Wort“ in ihrem Namen hat, findet,<br />

dass die Zukunft in der Gegenwart<br />

gestaltet werden muss.<br />

Damithatsiegenugzutun.Denn<br />

dieGegenwartistroh.<br />

„There’sarat in my kitchen<br />

andhe’seatingmycheese“, singt<br />

Worden, sie singt es aufeine so<br />

zarte Weise, dass das Problem<br />

nochlösbarscheint.Nurdassdie<br />

RatteeinErist,passtnicht.„There<br />

is asnake in the cellar and he’s<br />

drinking my wine“–auch das<br />

geht, denn es istunwahrscheinlich.<br />

Wer hat schon mal eine<br />

Schlange Wein trinken sehen?<br />

Obwohl, auch diese Schlange ist<br />

männlich.„There’samothinmy<br />

closett and he is eating my clothes“,ja,<br />

Motten sind schlimm,<br />

aber kein Weltuntergang. Nur<br />

maskulin sind sie eigentlich<br />

nicht. Und dass im Dach ein Vogelist,derihrdasLiedstiehlt,das<br />

istPoesie –eine die kippt. Denn<br />

ab der nächsten Zeileist nichts<br />

mehr wie vorher: Da nämlich<br />

steht ein Mann vor ihrer Tür.<br />

„There is aman at the door and<br />

his motive is wrong.“ Es istder<br />

Gerichtsvollzieher, der ihr das<br />

Haus wegnehmen will, wie es in<br />

derHypothekenkriseindenUSA<br />

tausendfachpassierte.DassBanker,Rechtsanwälte,PolitikerDiebe<br />

seien, sagt sie nicht, aber sie<br />

packtsiealleineineAufzählung.<br />

Auch die anderen Lieder auf<br />

ihrer letzten CD „All Things Will<br />

Unwind“ sind von ungeheurer<br />

PoesieundeinemradikalenBlick<br />

aufdieGesellschaft.Gleichzeitig<br />

werden sie von musikalischen<br />

Kompositionen gehalten und<br />

aufgefangen, in denen ein<br />

Streichquartett miteiner Rockband<br />

verschmilzt, problemlos.<br />

Kammerpop mache sie –ein<br />

schönes Wort. Aber in ihrem<br />

nächstenAlbum,dasimMaiherauskommen<br />

wird, müsste es<br />

wohl Blasmusikpop heißen.<br />

Denn sie experimentiertweiter<br />

mitalljenenmusikalischenAusdrucksformen,<br />

die den einfachen<br />

Leuten auf den Leib geschneidertsind.<br />

Wasbei ihren<br />

Experimenten herauskommt,<br />

heißtnichtAvantgarde, sondern<br />

„Avantpop“.<br />

„An manchen Tagen<br />

fühlt du dich wie ein<br />

Hase, an anderen<br />

wie ein Tiger, an<br />

wieder anderen wie<br />

eine Schildkröte.<br />

Und dann gibt es<br />

Tage,andenen<br />

fühlstdugar nichts,<br />

wärstaber gerne<br />

ein Einhorn“<br />

SHARA WORDEN<br />

derwiederumversichertsiedem<br />

Kind,dass sie ihm,selbsttot, als<br />

MohnblumeoderalsRegennoch<br />

sagen wird, dass es okay ist, so<br />

wieesist.<br />

Nichts,wassiesingt,istbanal.<br />

Es wird von einem musikalischen<br />

Gerüstgehalten, das mal<br />

poppig, mal rockig, mal sanft,<br />

malhartwirkt.IhrGesangistdas<br />

EchoihrerTexte.IhreTexteaber<br />

sind Poesie, da passtes, dass sie<br />

aufEnglisch„lyrics“heißen.<br />

Anfang Dezember warsie in<br />

Berlin,saßaufeinemgeschwungenen<br />

alten Sofainder Lounge<br />

des Hotels Michelberger, das<br />

sehr „in“ist bei Berlintouristen,<br />

weilesdasImprovisierte,dasZusammengeschusterte,<br />

Vintage<br />

und Paletten-Chic gemischtmit<br />

Berlinsehnsucht, aufdie Spitze<br />

treibt. Selbst die alten aufeinandergestapelten<br />

Koffer in der Rezeption<br />

sind nurInszenierung,<br />

die aber doch aufdie schlimme<br />

deutscheGeschichteverweist.<br />

Auf dem Sofa die zierliche<br />

Frau mitschwarzen Haaren, die<br />

obenzusammengesteckt,hinten<br />

aber lang gelassen sind, es sieht<br />

aus, als hätte sie ein Krone aus<br />

HaarimHaar.UmdenHalsträgt<br />

sie eine Kette mitsilbernem Vogel.<br />

Es soll eine Taube sein, aber<br />

für sie sei es ein Phönix. Sie<br />

brauchtdenPhönix,weilsiesich<br />

gerade neu erfindet, nach der<br />

Trennung von ihrem Mann.<br />

„Wenn du traurigbist, kannstdu<br />

Traurigkeit auch besser zum<br />

Ausdruckbringen“, sagtsie.<br />

AufihrerblauenStrumpfhose<br />

wiederumrennteineHerdeEinhörnerüberdieBeine.„AnmanchenTagenfühlstdudichwieein<br />

Hase, an anderen wie ein Tiger,<br />

an wieder anderen wie eine<br />

Schildkröte.UnddanngibtesTage,andenenfühlstdugarnichts,<br />

wärstaber gerne ein Einhorn.“<br />

Shara Worden hat indianische<br />

Vorfahren. Und deutsche. Und<br />

irische.Wennsieessagt,klingtes<br />

echter:„AbitofIrish,abitofGermanandCherokeefrombothsides.“DannzeigtsieihreNase,die<br />

indianisch sei. Und dass sie, obwohl<br />

bald vierzig, kein graues<br />

Haarhabe.DieHaarevonCherokeeswürdennichtgrau.<br />

Worden komponiert, sie entwickeltSingopern,<br />

arbeitet mit<br />

vielenMusikernzusammen,den<br />

BlindBoysofAlabama,demRapperVinniePaz,mitdemKomponisten<br />

David Lang, anderen, sie<br />

schreibt Lieder und Texte, sie<br />

singt Kurt-Weill-Songs und<br />

Opernrollen. Das, sagt sie, gereiche<br />

Künstlerinnen –aus der<br />

Sicht,derer,dieKunstbeurteilen<br />

–zumNachteil,wennsievielseitigsind.Umgekehrtwerdesiefür<br />

Künstlerkollegen interessant,<br />

weil sie ein Jokersei, weil sie jedes<br />

Projekt, bei dem sie mitmacht,<br />

ins emotional Extreme<br />

führenkannaufeineganzeigene<br />

Art. Sie will bei allem zumKern<br />

kommen.<br />

Wind<br />

Auch mit der experimentellen<br />

Musikperformancekünstlerin<br />

Laurie Anderson hatShara Wordenzusammengearbeitet,sowie<br />

mit Meredith Monk, einer Extremvokalistin,<br />

Komponistin,<br />

Choreographin–beidesindeine<br />

GenerationälteralsWorden.MeredithMonkerklärteeinmal,was<br />

esbedeute,inallemnachderEssenz<br />

zu suchen. Sie nahm eine<br />

Tasse in die Hand, zeigte darauf<br />

und sagte, es gehe „umdie Tassenheitder<br />

Tasse“. Das will Worden<br />

auch: das Wesen vonjedem<br />

Ding erkunden mitMusik. Aber<br />

andersalsMonk,diekeineWorte,<br />

nurnoch Laute, verwendet, um<br />

die allem innewohnende Kraft<br />

zu besingen, will SharaWorden<br />

nichtauf Sprache verzichten. „I<br />

am not prepared to let goof<br />

words“,sagtsie.<br />

NachBerlinistsiegekommen,<br />

weil sie bei einer Veranstaltung<br />

mitmachte, die radiale Vokalnachtheißt–dortteilte<br />

sie ihre<br />

Liedermitanderen.Inschwarzen<br />

Schnürstiefeln, enger Hose,<br />

schwarz-weißem Jackett stürmt<br />

sieaufdieBühne,ihrGangnach<br />

vornegebeugt,siegreiftnachder<br />

E-Gitarre,stimmtsieein,beginnt<br />

zu singen. Wieschweretwas ist,<br />

das am Ende leichtwirken wird,<br />

weiß nursie. Statt Streichquartett<br />

hatsie nuneinen Chor und<br />

einen Drummer, der sie hält,<br />

aberesbräuchtesieniemandzu<br />

halten, ihre operngeschulte<br />

Stimmewürdenochheiseralleinetragen–einwenigistsieauch<br />

Predigerin wie ihr Großvater.<br />

Oder Hohepriesterin – „My<br />

brightestDiamond“eben.SolautetihrKünstlername.ImFebruar<br />

wirdsie schon wieder in Berlin<br />

sein bei einem Projekt in der<br />

Volksbühne. Im Mai beim SchumannfestinDüsseldorf.<br />

Aber,unddasisteinernstgemeinter<br />

Einwand, wie kann etwasimmer<br />

noch intensivsein,<br />

wenn man esständig wiederholt?Nein,<br />

sie wiederhole nicht,<br />

antwortetsie.Dannversuchtsie,<br />

esananderenzuerklären,anJamesBrownoderMichelJackson.<br />

Wenn diese Konzerte gegeben<br />

haben,dannmagdasamAnfang<br />

Showgewesen sein, bis zu dem<br />

Moment, wo es aussich heraus<br />

zuetwaseigenem,nurimAugenblick<br />

Existierenden wurde, also<br />

Wirklichkeit. „In artthe blood is<br />

real“, zitiert sie die Künstlerin<br />

MarinaAbramovic. In der Kunst<br />

istBlutecht.<br />

VordreiJahrenistWordenvon<br />

NewYork nach Detroitgezogen.<br />

IneineBauernkommune.Detroit,<br />

ehemals Automobilstadt, in<br />

derkeineAutosmehrproduziert<br />

werden, isteine Blaupause für<br />

Kapitalismus, der am Ende ist.<br />

Wenn Worden von Detroit erzählt,<br />

sprichtsie über Armut.Es<br />

sei unglaublich, wie arm vorallem<br />

die schwarze Bevölkerung<br />

sei.Jeder,derdortlebt,bauesein<br />

Gemüse an –als suchten die<br />

MenschennichtnurnachessbarenWurzeln,sondernauchnach<br />

denWurzelnderZivilisation.<br />

UndSturm<br />

New York sei perfekt und die<br />

Kunstszene dortsehr produktiv,<br />

abersiewollteKontaktzuechten<br />

Menschen –„real people“. Sie<br />

brauche deren Einfachheit, deren<br />

unverstellten Blick aufdie<br />

Wirklichkeit. Deshalb Detroit,<br />

auchweilsieihremdreiJahrealten<br />

Sohn Zugang zurSchönheit<br />

und Unbeschwertheitder Natur<br />

gebenwollte,sowiesieselbstihn<br />

früherhatte,alssieaufderFarm<br />

ihres Großvaters aufwuchs. Es<br />

gibt Filme aufYouTube, aufdenen<br />

Gärten in Detroit gezeigt<br />

werden, die auf Industriebrachen<br />

neu entstehen. Eine ihrer<br />

FreundinnensammeltRosenauf<br />

verlassenen Grundstücken und<br />

pflanzt sie in ihren Garten, der<br />

nuneinRosenfriedhofist.<br />

AmTag,andemSharaWorden<br />

im Hotel in Berlin aufdem Sofa<br />

sitzt und erzählt, wirdauf den<br />

Sturm Xavergewartet. Die Stadt<br />

hält den Atem an, um das Haus<br />

pfeiftderWind.<br />

Regen<br />

Ihr seien diese Zuschreibungen<br />

egal. Sie will nicht mit Musik<br />

schockieren, wohl aber aufwecken.<br />

In einem ihrer schönsten<br />

Liebeslieder fordertsie, dass die<br />

Fluchtwege versperrt werden,<br />

damitsienichtvorderLiebewegrennen<br />

kann. Eins ihrer schönstensozialkritischenLiederspielt<br />

mit den drei Wörtern „hoch“,<br />

„tief“und „dazwischen“, „high,<br />

low,middle“–esgehtdarum,wie<br />

Menschen sich nach der Decke<br />

strecken,umeinAuskommenzu<br />

haben. „Be low, but not too<br />

low“singtsieamEndedesLiedes<br />

unddasheißtsehrviel:Seinicht<br />

anmaßend, sei bescheiden, aber<br />

lass dich nichtzertreten vondenen,<br />

die über dir stehen. In einem<br />

ihrer schönsten Wiegenlie-<br />

Ein wenig ist Shara Worden auch Predigerin wie ihr Großvater. Oder Hohepriesterin –„My brightest Diamond“ eben. So lautet ihr Künstlername


30 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple www.taz.de | sonntaz@taz.de KONSUM | sonntaz<br />

TROCKENDasIn-Getränk2014?MixologeHelmutAdamschwörtaufAltbewährtes–undempfiehltdenManhattan<br />

„SchnellbetrunkenmachenistnichtdasZiel“<br />

INTERVIEW JÖRN KABISCH<br />

sonntaz: Herr Adam, das Casino,woJames<br />

Bond sich seinen<br />

Dry Martini servieren ließ, ist<br />

den Spielhallen gewichen, in<br />

Hotelbars gibt es Automaten-<br />

Kaffee. Doch der Cocktail ist<br />

nichtmituntergegangen.<br />

Helmut Adam: Ganz im Gegenteil,<br />

zwar istauch der Cocktail<br />

kein Luxusprodukt mehr, aber<br />

der Qualitättut die Demokratisierung<br />

gut. Man kann BargängernichtmehranAlterundAussehen<br />

erkennen. Das angestammte<br />

Publikum der Erfolgreichen<br />

um die 40, 50 gibt es<br />

zwarnoch.Aberichtreffeander<br />

Bar auch Leute um die zwanzig<br />

mit einigem Wissen und Geschmack.<br />

Was hat sich verändert? Was<br />

warder Cocktail vorzehn Jahren?<br />

Ein weitgehend unverstandenes<br />

Getränk. Das warerlange. Das<br />

lässtsicheigentlichbiszurProhibition<br />

in den USAinden 20er<br />

Jahren zurückverfolgen. Davor<br />

hatte die Bar ihre Blütezeit, Bartenderwareinsehrangesehener<br />

Beruf, es gabrichtige Stars, die<br />

sogar um die Welt tourten –mit<br />

ShakernundToolsausSilber.Mit<br />

demAlkoholverbotistdannaber<br />

sehrvielWissenindieIllegalität<br />

gezwungenworden,auchWissen<br />

über die Destillation verschwand.<br />

Davon hat man sich<br />

lange nicht erholt. Der zweite<br />

Weltkrieg wardann ein weiterer<br />

NackenschlagfürdieBars,dadie<br />

Handelsroutennichtmehroffen<br />

waren und mitihnen wichtige<br />

Produkte über Nacht wegbrachen.<br />

EineKulturrevolution?<br />

Es brauchte Jahrzehnte, um das<br />

Know-howwieder auszugraben.<br />

Eigentlich sind wir immer noch<br />

dabei. Heute muss mansagen:<br />

Früher wurde jahrzehntelang<br />

mehrgepanscht.<br />

Washat dieRenaissanceausgelöst?<br />

Mitte der Neunziger gabesein<br />

paar Entrepreneurs, die wieder<br />

diealtenBarbücheraufschlugen.<br />

Die sagten: Wirgehen jetzt wiederzurückzudenKlassikern.Mit<br />

den Originalrezepten. Das war<br />

der Neuanfang. Und dann kam<br />

dasInternet.Damitkonntensich<br />

dieBarsrundumGlobusaustauschen:<br />

Bücher,Rezepturen. DarausisteineCommunityentstanden,<br />

ein neues Selbstbewusstsein.<br />

Das dazuführte, dass auch<br />

die Produzenten einen neuen<br />

Weg einschlugen, ihre Herstellung<br />

hinterfragten und historische<br />

Rezepte entdeckten. Es ist<br />

ein Prozess, der über Jahre dau-<br />

ert. Bedenkt man, dass eine Spirituose<br />

auch noch einige Zeitlagern<br />

muss, um Aromazuentwickeln,<br />

wie zum Beispiel Rye<br />

Whisky,beginntdieinteressante<br />

Zeitgeradeerst.<br />

All das hatwieder seinen AusgangspunktindenUSA.<br />

Die USAwaren immer die Treiber<br />

der Kultur des gemischten<br />

Kaltgetränks,damalsundheute.<br />

Wohin geht die Entwicklung?<br />

NachdemHugo2012,demMoscowMule2013:Was<br />

wirdder<br />

DrinkdeskommendenJahres?<br />

Es sprichtviel für den Manhattan.<br />

AuchsoeinKlassiker?<br />

Ja,ein Shortdrink ausRye Whisky,rotem<br />

Wermut und ein paar<br />

SpritzernBitter.<br />

Klingt nach einer sehr trockenenSache.<br />

Aber ich glaube, das Publikum<br />

istbereitdafür.Der Manhattan<br />

vereintaußerdemeinigeTrends<br />

der letzten Zeit. Fangen wir mit<br />

demWhiskyan?<br />

Gerne.<br />

Welchen Whisky man verwendet,<br />

das warbis voreinigen Jahren<br />

auch bei Bartendern noch<br />

garkein Thema. Heute wirddas<br />

viel diskutiert, ob Bourbon, ob<br />

Ryeund welche Sorten. Und der<br />

OriginalManhattanwirdmitmit<br />

Ryegemacht …<br />

…alsoRoggen-Whisky.<br />

Hauptsächlich. Bourbon besteht<br />

zu mindestens 51 Prozent aus<br />

Mais, und bei Ryeist es Roggen.<br />

Der Whisky muss noch ein paar<br />

Jahre im Fass liegen, bis er<br />

schmeckt, sechs oder vier, je<br />

nachdem,wenmanfragt.Inzwischen<br />

sind die Kapazitäten wieder<br />

da. Es gibt da unglaublich<br />

spannendeSorten,vorallemvon<br />

kleinerenundmittelgroßenDestillerien.<br />

Da beobachten wir geradeeinestarkeEntwicklung.<br />

Waskommtinden Manhattan<br />

dannnoch?<br />

Wermut.Undderistnochstärker<br />

im Kommen. Absolut: Das wird<br />

das Next Big Thing. Wirhatten<br />

Anfang der Nullerjahre ersteinen<br />

Wodka-Trend, dann kam<br />

Gin, dann hatte Tequila ein kleines<br />

Hoch, und nunkommtWermut.<br />

Es gibt da unzählige junge<br />

Start-ups, die Wermut machen,<br />

ausItalien, ausÖsterreich, aus<br />

Deutschland, ausGroßbritannien,USA,Australien.<br />

Ich kenne Wermut eigentlich<br />

nur aus der Martini-Flasche.<br />

Oder zum Kochen, als Noilly<br />

Prat.ErwarlangeausderMode.<br />

Es gablange nurdiese großen<br />

Marken,unddiehabendieKategorie<br />

auch nie weiterentwickelt,<br />

ganz nach dem Motto: Never<br />

change awinning team. Voral-<br />

lemhabensiezumTeildenAlko-<br />

holgehaltgedrückt,weilallesun-<br />

ter 15 VolumenprozentAlkohol<br />

nicht unter die Spirituosengesetzgebung<br />

fällt, sondern als<br />

weinhaltiges Getränk gilt–mit<br />

einer anderen Steuerklasse. Die<br />

FolgewareineVerwässerungdes<br />

Profils. Denn Alkohol istein Geschmacksträger.Jetzt<br />

sehen wir<br />

den Gegentrend. Es werden wieder<br />

klassische Wermuts hergestelltmit<br />

mehr Alkohol,oft im<br />

Fassgereift–undwasdieZusammensetzung<br />

anbelangt, auch<br />

sehrexperimentierfreudig.<br />

Wermut ist ein mit Kräutern<br />

und Gewürzen aromatisierter<br />

Süßwein.<br />

Grundlage istbitteres Wermutkraut.<br />

Aber es gibt die unterschiedlichsten<br />

Versionen, sogar<br />

Wermuts,dieeinfastweihnachtliches<br />

Aromahaben. ZumBeispieldervonSacred,dasisteine<br />

Mikrodestillerie in Norden von<br />

London.<br />

DiedritteZutatisteinBitter.<br />

Auch ein Trend, der Mitte der<br />

Nullerjahre angefangen hat. Damals<br />

hatten die Bars nurAngostura<br />

im Regal und heute haben<br />

sie eine Batterie von kleinen<br />

Fläschchenstehen.<br />

Also drei Entwicklungen, die<br />

jetzt gemeinsam zu einem Höhepunktkommen.<br />

Genau:AlledreiZutatensindeigentlich<br />

aufdem Wegnach vorne.<br />

Und warum soll das Publikum<br />

dafürzuhabensein?<br />

Ein klassisches gemischtes<br />

Kaltgetränk aus Whisky, Wermut<br />

und Bitter: der Manhattan<br />

Foto: Ocean/Corbis<br />

Weil es sich auch für die alten<br />

Klassiker interessiert. Wenn wir<br />

einJahrzehntzurücksehen,dann<br />

standendamalsMaiTaisundPina<br />

Coladas aufden Tresen, alles<br />

große Gläser. Typisch deutsch<br />

eben, großes Schnitzel, großes<br />

Bier und eben auch ein großer<br />

Cocktail.Daswarallesvolumengetrieben.<br />

Und das hatsich verändertwie<br />

die ganze Kulinarik.<br />

Berlin istdas beste Beispiel für<br />

unheimliche Dynamik, auch in<br />

der Bar.Die Leute akzeptieren<br />

kleine Gläser.Weil sie verstanden<br />

haben, sie bieten mehr Geschmack.MankanndieseKlassikeraußerdem<br />

sehr variabel mixen,<br />

eine persönliche Note geben,jenachdem,wasfüreinProduktmanverwendet.Dasmacht<br />

dieDrinksfürdieBartender<br />

attraktiv.<br />

Was muss man denn verstanden<br />

haben, um Cocktails<br />

trinkenzukönnen?<br />

DassmanbeieinemCocktaildie<br />

Basiszutat schmecken sollte. Sie<br />

sollte ein bestimmendes Merkmalbleiben.<br />

Wenn Du nurAlkoholalsStärkeschmeckst<br />

oderirgendeinAroma,dasnichtdieBasis<br />

bildet, dann ist der Drink<br />

falsch komponiert. Süß-fruchtig<br />

und stark, wie es in den Neunzigern<br />

lange Mode war: das istim<br />

Grunde eine Perversion des<br />

Cocktails. Eigentlich nur eine<br />

Methode, sich miteiner Kombination<br />

ausAlkohol und Zucker<br />

schnell betrunken zu machen.<br />

Das istnichtdas Ziel des Cocktails.DasZielistGenuss.<br />

EskommtalsovielaufdenBartender<br />

an. Könnte mansagen,<br />

er ist Koch und Kellner zugleich?<br />

Aufjeden Fall gehtesauch um<br />

das Persönliche. Die Bar istein<br />

sozialer Ort. Für den Bartender<br />

istdie Kommunikationdas eigentliche<br />

Element, das Pflichtprogramm.<br />

Er muss ein guter<br />

GastgeberseinundjedenAbend<br />

eine Bühne bieten, aufder die<br />

Gästeperformen,aufdersiefrei<br />

sein sollen, frei vomAlltag. Der<br />

CocktailistdieKür, dasinspirierendeGetränk.<br />

Washat Sie hinter die Bar getrieben?<br />

DaswareigentlichZufall.Ichwar<br />

Quereinsteiger,wievieleindem<br />

Beruf. Die Bar erschien mir<br />

schnell als der kreativste Ortin<br />

der Gastronomie. Ich habe als<br />

Kellner begonnen, VIPs bedient,<br />

imSmokingundauchinweißen<br />

Handschuhen im österreichischen<br />

Bundeskanzleramt serviert.<br />

Aber die Bar warfür mich<br />

der Ort, der am kreativsten aussah.<br />

Es sind nichtnur die vielen<br />

Flaschen,ausdenenmanSachen<br />

kreierenkann.HinterderBarzu<br />

stehen,dasverschafftSouveränität,<br />

weil man imFokus steht.<br />

Gleichzeitig kann mansich hinter<br />

dem Tresen auch malsagen:<br />

Wenn du magst, dann hast du<br />

deineRuhe.<br />

Wie lernt man denn Cocktail<br />

trinken?<br />

Indem mansich voneinem guten<br />

Barmann einführen lässt,<br />

ersteinmal in einfache Sachen.<br />

Naja, washeißteinfach? Einfach<br />

istgutbeiCocktails.<br />

AlsozumBeispielSours?<br />

Das warmein erster Lieblings-<br />

Cocktail: Whisky Sour,ganz genauBourbonSour.Dakannstdu<br />

gut spielen. Mit einem Schuss<br />

Grapefruit-Saft,frischemEiweiß<br />

odervielleichteinpaarSpritzern<br />

Bitter.ImGrundeistderSourdie<br />

Basis für 60 Prozentaller Cocktails,<br />

wenn nichtmehr,denn es<br />

istdie KombinationSweet und<br />

Sour,auf der mangemeinsam<br />

mitdemAlkoholeinAromahaus<br />

aufbaut.<br />

Unddann?<br />

Dann tastet mansich eben weiter.ImVerlauf<br />

meiner TrinkerkarrierehabeicheineSpirituose<br />

nach der anderen entdeckt. IrgendwannwaresGin.Wennman<br />

vom Sour kommt, dann fängt<br />

manmit Cocktails an wie Gin<br />

Fizz oder Gin Collins und geht<br />

dann zurnächsten Stufe über,<br />

zumBeispieleinPeguClubCocktail.<br />

Das istein Shortdrink auf<br />

Gin-Basis mitBitter.Und dann<br />

entdeckst du die nächste Stufe,<br />

und landestbei Drinks, die BartenderalsKönigsklasseansehen.<br />

SoetwaswieSazeracoderOldFashioned.<br />

WarumKönigsklasse?<br />

Es sind ganz alte und einfache<br />

Drinks.Undsieentsprechender<br />

Ur-Definition des Cocktails.<br />

Denn er warursprünglich nur<br />

ein Segmentder Mischgetränke,<br />

istdann aber Überbegriff für allesgeworden.Ursprünglichhandelte<br />

es sich um die Spirituose,<br />

Wasser,Zucker und Bitter.Das<br />

wardieersteniedergeschriebene<br />

DefinitiondesCocktails.<br />

.....................................................................................<br />

...............................................................<br />

Helmut Adam<br />

■ 40,arbeitete<br />

zehn Jahreals<br />

Bartenderund<br />

Barmanager<br />

inCocktailbars<br />

in Wien, London,<br />

Zürich und<br />

Berlin. Seit<br />

Foto: privat<br />

2002 isterHerausgeber von Mixology,<br />

einem Magazin fürBarkultur.<br />

Den Shaker hat er immer noch im<br />

Einsatz, allerdings nur im privaten<br />

Rahmen.<br />

PRODUKTTESTDieParrotAR.Drone2.0machtFliegenverführerischeinfach<br />

ZurSonne,zur Freiheit?<br />

runter. Sie bewegt sich viel<br />

schnittiger als in der Wohnung,<br />

vielleichtein wenig unstet, als<br />

hätte sie ein gewisses Eigenleben.Ichfangean,siezumögen.<br />

Nachtsträumeichmanchmal<br />

davon,dassichfliegenkann.Ein<br />

Schweben in angenehm flottem<br />

Tempo, aufrecht stehend und<br />

maximalaufderHöhevonÜberlandleitungen.FliegenimTraum<br />

klappt nur, wenn mir niemand<br />

zusieht, es ist schön und so<br />

selbstverständlich wie Radfahren.<br />

Die AR.Drone zu steuern hat<br />

etwasBerauschendes.Wasistdas<br />

für ein Gefühl? Macht, Leichtigkeit,Höhenrausch?InKopfhöhe,<br />

EinSpielzeugaus„Kriegge-<br />

gen den Terror“, diese<br />

Drohne. Oder ein Objekt<br />

auseinemRomanvonWilliam<br />

Gibson. Der schrieb früher<br />

Science-Fiction und machtjetzt<br />

Gegenwartsliteratur, weil die<br />

technische Entwicklung seine<br />

Zukunftsfantasieneingeholthat.<br />

Brummeldibrumm, flappritsch,<br />

krawach! Warder Riss im<br />

Vorhang schon da, bevor die<br />

Drohne damitkollidiertund abgestürzt<br />

ist? Meine Wohnung ist<br />

eindeutig zu klein, und mein<br />

Smartphone, mit dem ich die<br />

Drohne steuern soll, zu alt. Das<br />

Videobild des Flugobjekts wird<br />

aufdem Handybildschirm nur<br />

ruckelig dargestellt, und ständig<br />

stehtetwas im Weg. Ein Glück,<br />

dass sich die Rotoren vonselbst<br />

abschalten, sobald sie auf ein<br />

Hindernis stoßen, und dass das<br />

Ding stabil konstruiertist.Aber<br />

Spaßkommtsonichtauf.<br />

Neuer Versuch. Strahlende<br />

SonneundnurleichterWindauf<br />

der taz-Terrasse im fünften<br />

Stock.PerfektfüreinenTestflug.<br />

Flugs istdie Innenhüllemit den<br />

Rotorschützern gegen die Hülle<br />

für Außenflüge ausgetauscht,<br />

einKollegeleihtmirseinSmartphone,<br />

die entsprechenden EinstellungeninderAppangewählt<br />

und der grüne Button zumStarten<br />

gedrückt. Vor, zurück, hoch,<br />

in Überkopfhöhe,<br />

deutlich<br />

über Gebäudehöhe<br />

–von<br />

derTerrasseblicktmanüberdie<br />

Häuser. Windig da oben, und<br />

schon schwebt die Drohne über<br />

derStraße.<br />

Scheiße,Ikarus,scheiße!Hektisches<br />

Rumgefummel an der<br />

Steuerung. Die Batterie istauch<br />

bald leer. Drohnenabsturz aus<br />

Dachhöhe aufdie Rudi-Dutschke-Straße?Dannbesserlangsam<br />

runter.Nichtauf die Fahrbahn,<br />

bloß nicht auf die Fahrbahn!<br />

Kontakt miteinem Rückspiegel,<br />

BruchlandungnurhalbamGeh-<br />

steig,<br />

und ich atemlosdieTreppenrunter.<br />

Unten warten Polizisten. Sie<br />

lassen sich beim Warten nur<br />

ungern stören. Ein Auto abzuschleppenisteineernsthafteAngelegenheit,<br />

und ein Kerl, der<br />

was von einer abgestürzten<br />

Drohne erzählt, hatoffenbar einen<br />

Vogel. Oder eben keinen<br />

mehr.Gesehenhabensienichts.<br />

Ichauchnicht.DasletzteBildam<br />

Handybildschirm stehtauf dem<br />

Foto:<br />

Fred Kopf, eine<br />

Simon Gehsteigkante<br />

und zwischen<br />

zwei Reifen im<br />

Vordergrund freier<br />

Blick aufeine giftgrüne<br />

LitfaßsäuleinderFerne.<br />

Der CIA wurde auch schon<br />

maleine Drohne geklaut.Eine<br />

deutlich größere und teurere.<br />

DieistimIranabgestürzt.Dasist<br />

allerdings auch kein tröstlicher<br />

Gedanke,inkeinsterWeise.<br />

ANDREAS KIENER<br />

■ Parrot AR.Drone 2.0 Elite<br />

Edition, 300 Euro, über<br />

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www.taz.de | sonntaz@taz.de apple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 31<br />

DASEINIm<br />

Grandhotel<br />

Cosmopolis,<br />

mittenin<br />

Augsburg,leben<br />

seitEndeOktober<br />

2013Flüchtlinge,<br />

Künstlerund<br />

Hotelgäste<br />

zusammen.<br />

DasProjektzeigt:<br />

Asylsuchende<br />

gehörendazu,<br />

wennman<br />

nurwill<br />

Zimmer im Grandhotel Cosmopolis in Augsburg Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa<br />

UrlaubimAsylbewerberheim<br />

AUS AUGSBURG LENA SCHNABL<br />

Die schlechte Nachricht<br />

kommt per E-Mail ins<br />

Grandhotel Cosmopolis.<br />

Der 60er-Jahre-Bau im<br />

AugsburgerDomviertel,dermal<br />

Altersheim war, istjetzt Kunstprojekt,<br />

Flüchtlingsheim und<br />

hippes Vintage-Designhotel mit<br />

bester Aussichtauf die Stadt. In<br />

der E-Mail schreibt die Flüchtlingsanwältin,<br />

dass eine tschetschenische<br />

Familie, die hier<br />

wohnt,abgeschobenwird.<br />

Wolfgang, StatusHaustechniker,<br />

hatkeine Zeit, sich mitder<br />

schlechten Nachrichtaufzuhalten,<br />

er muss erstmal Getränke<br />

holenimKeller.Erhat auch den<br />

ollen Plattenspieler für heute<br />

Abend fitgemacht. Gäste sollen<br />

wie jeden Mittwochabend ihre<br />

eigenenScheibenmitbringen.<br />

Jutta, Status Kommunikationsdesignerin<br />

mit Atelier im<br />

Haus, fällt auch erst einmal<br />

nichts ein. Sie stehthinter dem<br />

geschwungenen Tresen im Café<br />

undschenkteinemGastRotwein<br />

ein, der „einfach so reingestolpert“ist.SiehatauchdieSchilder<br />

entworfen, die über der Theke<br />

hängen: „Pay as much as you<br />

can“ –zahl so viel du kannst.<br />

„Hoffe,dieSchilderbringenwas.<br />

1Euro50für ’n Wein isteinfach<br />

zuwenig“,sagtsie.<br />

Das ehemalige Seniorenheim<br />

derDiakoniestandgutdreiJahre<br />

leer, Flüchtlingsunterkünfte<br />

aberwarenknappundAugsburgerKünstlerhatteneineIdee:EinenOrtschaffen,andemalleeine<br />

Heimat aufZeitfinden können.<br />

Hotelgäste, Kulturschaffende,<br />

Asylsuchende. „Es gehthier<br />

um Menschlichkeit. Darum, zu<br />

beweisen, dass ein anderer UmgangmitdemFlüchtlingenmöglich<br />

ist“,sagtein Mitbegründer<br />

des Projekts. „Integration!“,sagt<br />

einanderer.<br />

Ein Jahr Konzept erarbeiten,<br />

einJahrBaustelle.EndeJulidann<br />

die Genehmigung vom Ordnungsamt,<br />

drei Tage später der<br />

erste Bus mitFlüchtlingen, eine<br />

Woche später der erste Abschiebebescheid.<br />

Seit Oktober sind auch die<br />

zwölfGrandhotelzimmerinden<br />

oberen Stockwerken bezugsfertig.<br />

In den Dutzend Ateliers im<br />

Haus arbeiten die Künstler.Regelmäßig<br />

finden Veranstaltungenstatt,jedenMittwoch„Bring<br />

your ownvinyl“mit Wolfgang<br />

und Jutta. „Damit sich hier<br />

Flüchtlinge wohlfühlen, mussten<br />

wir es hinkriegen, dass auch<br />

Leute gerne kommen, die nicht<br />

dazuverpflichtetsind.“<br />

GleichgehtdieFeierlos.<br />

Hiersein<br />

WieinanderenHotellobbyshängen<br />

über der ThekeUhren aus<br />

verschiedenen Zeitzonen, unter<br />

ihnen die Namen der Orte: Statt<br />

Tokio steht hier jedoch Gaza,<br />

stattSydneyLampedusa.Nurdie<br />

Uhr, unter der „Manila“ steht,<br />

tickt. Die Zeiger vonLampedusa<br />

und Gaza stehen still, auffünf<br />

vorzwölf. Hier istdie Kunstimmer<br />

auch politisch. „Das istZufall“,<br />

sagt Wolfgang, grinst, „aber<br />

passtjaganzgut.“<br />

„Hi Andrea“, unterbrichtihn<br />

Jutta,„howareyou?“<br />

Andrea, Status spanischer<br />

Wirtschaftsflüchtling und Hostelgast.SiesuchtseitzweiMonaten<br />

in Deutschland die Arbeit,<br />

die es in Spanien nichtgibt. Sie<br />

istauchsoreingestolpertaufder<br />

Suche nach einer Unterkunft<br />

undgeblieben,hilftmitimHaus,<br />

putztdieKlos.DasCaféfülltsich,<br />

Leute setzten sich aufs goldene<br />

Sofa,überdemrotePagenuniformen<br />

hängen, auf FlohmarktstühleundaufgespendeteSchulbänke.<br />

Die Möbel sind ausdem<br />

Sozialkaufhaus, die Stimmung<br />

bewegtsichzwischenStudentenheimparty<br />

und Antifaabendessen.IkeaesqueDuzkultur.<br />

In seinem Zimmer im ersten<br />

Stock isstOliver, StatusFlüchtling<br />

ausMazedonien, mitseiner<br />

Frau und seinen zwei Töchtern<br />

zu Abend. Es läuft das Champions-League-Achtelfinale,<br />

MarseillegegenDortmund,dieStadt,<br />

in der sie vorsechs Monaten in<br />

Deutschland ankamen. In der<br />

Heimat hatte jemand Oliverzuerstbewusstlos<br />

und dann zum<br />

Invaliden geschlagen. „Mafia.“<br />

Mehr will er dazunichtsagen.<br />

KnappzweiJahreistdasher,seit<br />

AugustwohnensieimGrandhotel.<br />

Das Knie istkaputt, Krücken<br />

steheninderEcke.„Hieristesso<br />

schön.DieLeutesindsogutund<br />

ichkannhelfenimHaus.“<br />

ANZEIGE<br />

Er hatmitgemachtbei einer<br />

Performance im Theater Augsburg.VoneinemBauzaunumgeben<br />

aß er zusammen mitanderenFlüchtlingenunddenKünstlerninderPausederOper„Intoleranza“.<br />

VordemZaunakademische<br />

Theaterbesucher mitAperol<br />

Spritz. Die Oper haterauch<br />

gesehen, allerdings in zwei Anläufen.„IchhabeAngstgekriegt,<br />

zu viele Erinnerungen sind<br />

hochgekommen.“<br />

ImZimmerhängenBilder,die<br />

seine Frau zusammen mitden<br />

Künstlern gemalt hat: kräftige<br />

Farben,MariamitJesusimArm,<br />

„Mazedonien“ in kyrillischer<br />

Schrift. Dortmund gewinnt, die<br />

KindermüsseninsBett,schließlichistmorgenSchule.<br />

Gutsechzig Flüchtlinge wohnen<br />

im ersten bis dritten Stock;<br />

aufjederEtagearbeitenauchdie<br />

Künstler in ihren Werkstätten.<br />

DieGemeindezahltdieMietefür<br />

dieAsylsuchendenandieDiakonie<br />

und liefertihnen Essenspakete,<br />

aber oft kochen und essen<br />

sie auch mitden Künstlern und<br />

Künstlerinnen. Im vierten und<br />

fünftenStocksinddieHotelzimmer;<br />

im Erdgeschoss vier MehrbettzimmerunddieLobby.<br />

Als auch die Manila-Uhr dort<br />

fünf vor zwölf anzeigt, verabschiedensichdieGäste.Juttaund<br />

Wolfgang putzen die Kaffeemaschine.<br />

Diezweiarbeiten,ohnedafür<br />

Geldzubekommen.Wieallehier.<br />

„Wirmüssenaufpassen,dasssich<br />

dieFreiwilligennichtüberarbeiten“,<br />

sagteinInitiator.Vielesind<br />

täglich da. „Wir müssen vonder<br />

Ehrenamtlichkeitweg, wir können<br />

unser Leben sonst nicht<br />

mehr finanzieren.“ Die Realität.<br />

Dasistauch:Mietezahlen,Essen<br />

kaufen.<br />

Nächster Tag. Im Café läuft<br />

„Love meorleaveme“vonBillie<br />

Holiday. Sascha,Statusjugendliche<br />

Utopistin mit Russischkenntnissen,<br />

sitzt auf dem<br />

Schanktisch im Hinterzimmer,<br />

die Hände vordas Mädchengesichtgeschlagen.<br />

Sie hatgerade<br />

vonderAbschiebungderFamilie<br />

nächste Woche erfahren. Sie<br />

übersetzt für sie und ist ihre<br />

Freundingeworden.<br />

Die Familie unterliegt dem<br />

Dublin-II-Abkommen: Das Asylverfahren<br />

muss in dem Land<br />

stattfinden,indemsiedieEUbetreten<br />

haben. Bei den Tschetschenen<br />

istdas meistPolen. „Da<br />

kommen sie in Abschiebegefängnisse!<br />

Kein Zutrittvon außen,Stacheldraht,Wachen.Polen<br />

ist kein sicheres Drittland für<br />

die!“ Saschawirddiejenige sein,<br />

die der Familie die Nachricht<br />

überbringenmuss.<br />

Im Vorderzimmer checkt<br />

währenddessen Hotelgast Regina<br />

ein. Sie istevangelische PfarrerininNürnbergundmachteine<br />

Fortbildung in Augsburg. Sie<br />

hatimInternet vondem Hotel<br />

gelesen:BlicküberdenDom,stylih,vorallem:sozial.<br />

Die Zimmer sind eigenwillig<br />

gestaltet. „Leuchtturm“heißteinesimfünftenStock.EineLichtkünstlerinhatesentworfen.VerwaschenesBlaugrau,dieDeckenleuchte<br />

wirft Formen an die<br />

Wand. Der Notrufknopf neben<br />

dem Lichtschalter erinnert an<br />

dieAlten,diehierfrühergepflegt<br />

wurden und eine runde Lampe<br />

an ein Bullauge aufSee. Vonder<br />

DeckebaumelnKleiderbügel.Jedes<br />

Zimmer hat ein Waschbecken,KloundDuschegibtesauf<br />

demGang.<br />

AmAnfanggabeskeinefesten<br />

Preise für die Zimmer.„Zahl soviel<br />

du kannst“,hieß es wie bei<br />

den Getränken im Café. Mittlerweilemussten<br />

die VerantwortlicheneinenMindestpreiseinführen.<br />

40 Eurofür ein Einzelzimmer,16Eurofür<br />

ein Hostelbett.<br />

Esseider„minimaleRichtpreis“,<br />

damit das Projekt überhaupt<br />

funktionierenkönne.<br />

Während Regina eincheckt,<br />

skizziertAdiimCaféeinenFrauenkörper.<br />

Der Kopf zurückgeworfen,<br />

Brüste in den Himmel<br />

gereckt. Adi, Status Vorzeige-<br />

Flüchtling,sagt:„DaswäreinAfghanistan<br />

nichtmöglich.“ Es sei<br />

„Ich wünsche mir, dass<br />

irgendwann die ganze Welt<br />

so istwie das Grandhotel<br />

Cosmopolis“<br />

DER AFGHANISCHE KÜNSTLER ADI<br />

kompliziertmit Aktmodellen in<br />

einem muslimischen Land. Er<br />

hat mittlerweile eine Aufenthaltsgenehmigung<br />

für ein Jahr<br />

bekommen.„IchwillmaleineFamilie<br />

und dazubrauche ich Sicherheit.“ErziehtdieWörterwie<br />

weiches Karamell, das an den<br />

Zähnenhaftet.<br />

Dortsein<br />

Adikam als Flüchtling und ist<br />

nunKünstler,erhatteimletzten<br />

Jahr drei Ausstellungen in<br />

Deutschland. Seine Holzschnitzerei<br />

und die afghanische Kalligrafie<br />

kommen an. „Aber hier<br />

hatkeiner eine feste Rolle, wir<br />

sindalle:Menschen.IchkanngenausoToilettenputzen.“<br />

Adigestaltetderzeiteinesder<br />

Hostelzimmer.Statt Stockwerkbetten<br />

gibt es hier OrientteppichezumSchlafen.DieeineWand<br />

istrauundroh,darüberbefindet<br />

sich goldene Kalligrafie. „Ich<br />

wünsche mir“,sagter, „dass irgendwann<br />

die ganze Welt so ist<br />

wie das Grandhotel Cosmopolis.“<br />

Es istder Satz, den er allen<br />

Reporternsagt,diekommen,um<br />

etwas über diese gelebte Zukunftsfantasie<br />

in der bayerischenProvinzzuerfahren.<br />

DasInteresseistgroß,auchin<br />

anderen Städten gibt es Leerstand<br />

und Flüchtlinge, die eine<br />

Heimat aufZeitsuchen. In der<br />

LobbybringteineNachbarinmit<br />

grauerDauerwellegeradeLebkuchen<br />

vorbei, ein anderer Nachbar<br />

kommtmit Chips. Um Adi<br />

herum tollen die Kinder der<br />

Flüchtlinge, trommeln auf einem<br />

Schellenkranz, schalten die<br />

Stehlampe im Takt an und aus.<br />

„Und die Utopie funktioniert“,<br />

sagt eine Künstlerin. „Aber mit<br />

deranderenRealitätmüssenwir<br />

jetztauchfertigwerden.“<br />

Die tschetschenische Familie<br />

hatzusammen mitihrer Anwältin<br />

eine „freiwillige“ Rückreise<br />

durchgesetzt, ihre Abschiebung<br />

nach Polen wurde verhindert.<br />

WohindieReisegehensoll,istjedochungewiss.


32 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple www.taz.de | sonntaz@taz.de FERNSEHEN | sonntaz<br />

DREHFabianHinrichskommtauseinerFamilievollerPolizisten,<br />

wollteabernieeinersein.JetztwirderKommissarimFranken-<br />

„Tatort“.EinGesprächüberden„Hobbit“-Film,Eitelkeitund<br />

roteAmpelnnachtsumdrei<br />

„IchbrauchePartner,<br />

keineChefs“<br />

„Ich bin nicht Schauspieler geworden, um auf der Straße erkannt zu werden. George Clooney wird nirgends ein Bier trinken können. Das wäre nichts für mich.“ Fabian Hinrichs, fotografiert in Berlin-Kreuzberg


sonntaz |FERNSEHEN<br />

www.taz.de | sonntaz@taz.de apple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 33<br />

GESPRÄCH DOMINIK<br />

DRUTSCHMANN<br />

FOTO WOLFGANG BORRS<br />

Fabian Hinrichs mag nicht<br />

gerne fotografiert werden,<br />

abererlässtesübersichergehen.<br />

Es blitzt, die Leute<br />

drehen sich um. Ein Mädchen<br />

bleibt vor dem Café Goldberg in<br />

Berlin-Neukölln stehen:<br />

„Kommst du ins Fernsehen?“<br />

Hinrichs: „Manchmal.“ Mädchen:<br />

„Ich will auch ins Fernsehen.“<br />

Hinrichs: „Das würde ich<br />

mir noch mal überlegen.“ Am<br />

Vorabend lief der Polizeiruf<br />

„Wolfsland“ mit Hinrichs in der<br />

Rolle des Aussteigers. Die Kritiken<br />

waren durchwachsen. Hinrichsselbsthatihnnichtgesehen.<br />

FabianHinrichs:Wennmanam<br />

AbendvorherimFernsehenwar,<br />

dannguckendieLeuteimmerso<br />

komisch.<br />

sonntaz:Siehabennichtgerade<br />

einAllerweltsgesicht.<br />

Das sagen Sie, aber ich weiß<br />

nicht, ob der durchschnittliche<br />

ZDF-Zuschauer mich erkennen<br />

würde. Das Gesicht vielleicht,<br />

den Namen eher nicht. Ich habe<br />

malgehört, dass Thomas Gottschalk<br />

aufeinem Flughafen zur<br />

Toilettemusste,weilerDurchfall<br />

hatte. Das hatnatürlich Geräusche<br />

gemacht. Und irgendeiner<br />

hat durch die Tür gerufen:<br />

„Mensch Tommy, da hast du<br />

wohlwasFalschesgegessen.“Das<br />

stelleich mir furchtbar vor. In<br />

Deutschland sind die Gagen<br />

nicht sohoch, dass man sich<br />

komplett abschotten könnte.<br />

Durch abgeschiedene Anwesen<br />

mithohen Mauern. Jeder kennt<br />

einen, aber man kommt nicht<br />

weg. Das kann unangenehm<br />

werden.<br />

Würden Sie denn gerne hinter<br />

Mauernleben?<br />

Nein. Aber ich bin nichtSchauspieler<br />

geworden, um auf der<br />

Straße erkanntzuwerden. Jammere<br />

aber auch nicht, wenn es<br />

passiert. George Clooney wird<br />

nirgends ein Bier trinken können.Daswärenichtsfürmich.<br />

Sind Sie bewusst in eine Stadt<br />

wie Berlin gezogen, damitSie<br />

wenigerauffallen?<br />

Als ich nach Berlin kam, kannte<br />

mich ja kein Schwein. Ich war<br />

Schauspielstudentundhabedas<br />

Stück„PaulundPaula“mitLeanderHaußmannanderVolksbühnegemacht.Ichhabemirdamals<br />

nichtklar die Fragegestellt, was<br />

ich werden will. Vorder Schauspielerei<br />

habe ich Jura studiert,<br />

aber das hatmich irgendwann<br />

nicht mehr befriedigt. Schauspielerzuwerdenwarwohleher<br />

der Versuch der Vermeidung einer<br />

Berufswahl. Berufe an sich<br />

findeichabsurd.<br />

Warumdas?<br />

Es istjameistens Erwerbsarbeit<br />

oder Selbstverwirklichung. Wobei<br />

auch die penetrante Selbstverwirklichung<br />

eine Sklaverei<br />

ist. Als Drittes gibt es das große<br />

Glück, dass man seinen Beruf<br />

mit Leidenschaft ausübt, nicht<br />

nurausInteresse.<br />

Als Schauspieler müssen Sie<br />

sich nichtfestlegen. Letzte WochespieltenSieim„Polizeiruf“<br />

einen Tierschützer, nächstes<br />

Jahr werden Sie „Tatort“-Kommissar.<br />

Das stimmt. Ich habe eine einigermaßen<br />

große Freiheit erreicht.<br />

Doch jede Freiheithat eine<br />

Kehrseite: Wenn ich einen<br />

Film drehe, bin ich vielleicht<br />

sechsWochenunterwegs.IndieserZeitistmannahezuversklavt.<br />

ManlebtnurfürdenFilm.Auch<br />

das kann schön sein, aber nicht,<br />

wennmannachHausewill.Und<br />

ichwillmehrZeitmitderFamilie<br />

verbringen, nächstes Jahr werde<br />

ich Vater.Das Reisen erlebe ich<br />

mittlerweile als Schattenseite<br />

meines Berufs. Früher wardas<br />

anders. Heute genieße ich es,<br />

monatelang zu Hause zu sein,<br />

ohne zu arbeiten, höchstens ein<br />

wenigzustudierenvielleicht.<br />

Siestudieren?<br />

Bis vorKurzem habe ich Politik<br />

studiert,mussteaberabbrechen,<br />

weil das ein Präsenzstudium ist.<br />

Das ging einfach nicht mehr.<br />

Jetzt bin ich für Kulturwissenschaften<br />

mit Schwerpunkt Geschichte<br />

und Philosophie eingeschrieben.<br />

Der Kellner, runder Hut zu rundem<br />

Bauch, klimpert mit Tassen<br />

undTellern.Hinrichsstocktkurz,<br />

schautzuihmrüber.<br />

Der Kellner kammir gleich so<br />

grobvor.SindSieHutträger?<br />

Nein,ichtragenurMützen.<br />

IchfindeHutträgerkomisch.<br />

Warum?<br />

Wenn man nicht irgendeine<br />

Kopfverletzunghat,sindMützen<br />

und Hüte so ein Modeding, ein<br />

Accessoire. Hutträger haben<br />

heutzutagemeistens etwas Prätentiöses.<br />

Ich habmir auch mal<br />

einen gekauft, als ich ganz jung<br />

war.Denhabeichaberniegetragen.<br />

Einen Panamahutaus Mittelamerika–völligbescheuert.<br />

Der Hutträger kommt und<br />

räumt das alkoholfreie Bier ab.<br />

Hinrichs bestellt ein Wasser, das<br />

er etwa eineinhalb Stunden später<br />

bekommt. Er sei schüchtern,<br />

sagter.GegendieSchüchternheit<br />

redeteran.<br />

WissenSieschonetwasüberIhreFigurimneuenFranken-„Tatort“?<br />

Die wirdgerade entwickelt. Viel<br />

kann ich darüber nicht sagen.<br />

Das wäre zu früh. Ich wurde<br />

schon ein paarmal gefragt, ob<br />

Konrad Wagner –falls das wirklich<br />

der Rollenname sein wird–<br />

brutal oder lustig sein wird. Es<br />

gibt offenbar nurdiese beiden<br />

Seiten. Aber die Schauspielerei<br />

hatmeiner Ansichtnach nicht<br />

unbedingt etwas mitder Arbeit<br />

eines Kochs zu tun. Man kann<br />

nichteinfach ein paar Zutaten<br />

zusammenrührenwiebeieinem<br />

Rezept –und am Ende kommt<br />

ein Charakter raus. Davonhalte<br />

ichnichtviel.<br />

VieleZuschauerassoziierenSie<br />

mitderRolledesGisbertEngelhardt<br />

im München-„Tatort“<br />

„Der tiefe Schlaf“. Ein nervignerdigerCharakter,dernacheinerStundestirbt.ImAnschluss<br />

formiertesicheineArtdigitaler<br />

Widerstand bei Facebookund<br />

Twitter.Glauben Sie, dass IhnenderInternet-HypedieRolle<br />

im„Tatort“verschaffthat?<br />

Nein. Ich habe ja nunschon ein<br />

paar Filme gemacht. Ich freue<br />

michsehrdarüber,abermeinLebenwäreauchohneden„Tatort“<br />

weitergegangen.<br />

Haben Sie sich wenigstens gebauchpinseltgefühlt?<br />

Ichhabemichgefreut.Esgibtdie<br />

Möglichkeit, über eine längere<br />

ZeiteineRollezuentwickeln.Der<br />

„Tatort“ ist hier die einzige<br />

grundsätzlich anspruchsvolle<br />

Reihe, die ich kenne, in der das<br />

möglich ist. Natürlich istdie Erzählstruktur<br />

eher konservativ<br />

undnichtwieindenamerikanischen<br />

HBO-Serien avantgardistisch.<br />

Das wirdinDeutschland<br />

nochdauern.Wobeiichdasauch<br />

kaumnochhörenkann,dassdie<br />

amerikanischen Serien so toll<br />

seien. Wenn jedes dritte Wort<br />

„fuck“ ist, magdas in Detroitin<br />

Ordnung sein. In Wuppertal<br />

mussmansichwasandereseinfallen<br />

lassen, sonstwirkt es bemüht.Dastelltsich<br />

die Frage:<br />

Wasist die deutsche Identität?<br />

Oder die süddeutsche, die norddeutsche.<br />

Sie sind gebürtiger Hamburger<br />

und leben in Berlin. Jetzt werden<br />

Sie „Tatort“-Kommissar in<br />

Nürnberg.Lokalkoloritbringen<br />

Sienichtmit.<br />

Ausfamiliären Gründen kenne<br />

ichmichmitderPolizeiganzgut<br />

aus.Unddaistessowieinvielen<br />

Berufen:Wenneineinteressante<br />

Positionwinkt,wechseltmandie<br />

Stadt.Esistzwarnochnichtklar,<br />

wohermeinKommissarstammt,<br />

einen Franken werde ich aber<br />

nichtspielen. Für den Film wird<br />

es vonVorteil sein, denkeich.<br />

MankanndieEigenartenderRegion<br />

durch meine Fremdheit<br />

deutlicherzeigen.Frank-Markus<br />

Barwasser–meinKollegeim Ermittlerteam–istFrankeundder<br />

Kontrast wirdgrößer,wenn ich<br />

vonaußerhalbkomme.<br />

Sie kommen auseiner Polizisten-Dynastie:<br />

Großvater,Vater,<br />

Bruder –alles Polizisten. SprechenSieinderFamilieüberIhre<br />

Rolle?<br />

Ehrlichgesagtredeichmitihnen<br />

überhaupt nicht darüber. Vielleichtmacheichdasmal.Ichfinde<br />

es pikantund nichtunlustig,<br />

dass ich jetzt auch Polizistbin.<br />

Mittlerweilebin ich ja der Meinung,<br />

dass es die Polizei geben<br />

muss. Wenn meine Frau ermordet<br />

werden würde, würde ich<br />

auch wollen, dass der Täter gefasstwird.<br />

Mittlerweile?WiehabenSiedie<br />

Polizeifrühergesehen?<br />

Naja,esgabundgibtFragen,die<br />

ichmirgestellthabeunddieich<br />

mir stelle. Wasist der Staatund<br />

warum muss es ihn geben. Und<br />

wiedarfderSchutzeinesStaates<br />

aussehen. Ein Beispiel, das jeder<br />

kennt: Es gibt Menschen, die<br />

nachts um drei an einer roten<br />

Fußgängerampelstehenbleiben,<br />

obwohlkeinAuto weitundbreit<br />

zu sehen ist. Werdortstehtund<br />

aufGrün wartet, hatmeisteine<br />

komische Vorstellung vomStaat<br />

alsOrdnungsmacht.<br />

Sie wollten die Familientraditionalsonichtfortführen.<br />

Nein. Im richtigen Leben wollte<br />

ich nie Polizist werden. Umso<br />

mehrfreueichmichjetzt,esmachenzukönnen,ohneeswirklich<br />

machenzumüssen.<br />

GibtesRollen,dieSienichtspielenwürden?<br />

Darübermüssteichnachdenken.<br />

Ich habe kürzlich ein Interview<br />

mit einer Schauspielerin aus<br />

dem Film „Blauist eine warme<br />

Farbe“gelesen. Das warfurchtbar.Die<br />

vertritt eine Auffassung<br />

vomSchauspielberuf, die ich fatal<br />

finde. Ich will das Interview<br />

einscannen und ein paar befreundeten<br />

Schauspielern und<br />

Regisseurenschicken.<br />

WashatsieSchlimmesgesagt?<br />

EsgehtindemFilmanscheinend<br />

um ein lesbisches Paar.Und es<br />

gibt wohl eine zehnminütige<br />

Sexszene, in der die beiden Latexschamlippen<br />

über ihren echten<br />

hatten, damitdie dann da<br />

rumleckenkönnen.Dasfindeich<br />

schonsobizarr,dassichdasniemals<br />

machen würde. Der große<br />

PeterO’TooleistvoreinpaarWochen<br />

verstorben, „a decentman<br />

in adecentjob“. Ich kann mir<br />

nichtvorstellen,dassderjeanLatexschamlippenrumgeleckthat.<br />

Jedenfalls haben die zehn Tage<br />

an dieser zehnminütigen Sexszene<br />

gedreht. Der Regisseur<br />

kannnureinSchweinsein,auch<br />

wenn ich den garnichtkenne.<br />

Das istsomanipulativund bescheuert.<br />

Ich würde ihm sofort<br />

eine knallen. Wasglaubt der eigentlich,<br />

wer erist? Erist ein<br />

Filmregisseur.Mittlerweilegibt<br />

die Schauspielerin auch Interviews,indenensiesagt,wiepeinlichihrdasimNachhineinist.<br />

Dannhättesievielleichtvorher<br />

darübernachdenkensollen.<br />

Wenn sich Extrovertiertheitmit<br />

Dummheitpaart, entstehteine<br />

übleMischung.AberwennMenschen<br />

das gerne gucken und die<br />

Leute es gerne herstellen –meinetwegen.<br />

Nur besser ohne<br />

mich. Ich brauche immer Partner,keineChefs.<br />

WeristeinguterPartnerfürSie?<br />

AmTheaterbinichmitRenéPollesch<br />

sehr produktiv, der größte<br />

Theaterautor,denwirhaben.Als<br />

nächsteswollenwirdie„WestSide<br />

Story“ umschreiben. Grundsätzlich<br />

magich es nicht, wenn<br />

mireinriesenhaftesEgogegenübersteht,dasmirzubrüllt:„Mehr<br />

Schmerz!“ Das sollte ein Schauspielerselberwissen.Wenneseine<br />

gute Zusammenarbeit ist,<br />

dann gibt es keine Kämpfe. Ich<br />

habe dieses Gesicht, diese StimmeunddieseBewegung.Dageht<br />

dann noch plus/minus 20 Prozent.Mehrnicht.Beijedem.<br />

SindSieeitel?<br />

Das wirdüber Schauspieler und<br />

vonSchauspielerngernbehauptet,<br />

aber istmir zu allgemein. Es<br />

gibt wohl verschiedene Formen<br />

der Eitelkeit. Wasmein Äußeres<br />

betrifft, bin ich weniger eitel als<br />

früher.Wennichaberetwasmache,wasmirwirklichamHerzen<br />

liegt,treffenmichschlechteKritiken.Sogesehenbinicheitel.Ich<br />

müsstemalüberdenBegriff„Eitelkeit“<br />

nachdenken. Ich gehe ja<br />

in die Öffentlichkeit. Es gehtdabeiaberwohleherdarum,überhaupt<br />

jemanden zu erreichen.<br />

Und diesen Versuch würde ich<br />

mitdem Begriff „Eitelkeit“ belegen.<br />

ImTheaterspielenSieverstärkt<br />

Solostücke. Haben Sie dort<br />

mehr Kontrolle als beispielsweiseim„Tatort“?<br />

Das sind unterschiedliche Berufe.IndemTheater,wieichesbetreibe,<br />

wird keine kontingente<br />

Geschichte erzählt. Es gibt also<br />

keine Erzählung in Form eines<br />

konventionellen Drehbuchs wie<br />

beim Film. Im „Tatort“ zumBeispielmussderFallgelöstwerden,<br />

jedenSonntagabend.Unddasist<br />

aucheineGewissheitfürdenZuschauer,der<br />

vordem Fernseher<br />

sitzt.Egal,wieunsichermeineeigenen<br />

Verhältnisse sind, egal,<br />

wie es um meinen Arbeitsplatz<br />

steht, um meine Gesundheit,<br />

meineEhe–derFallwirdgelöst.<br />

Mittlerweilegibt es 21 „Tatort“-<br />

Teams. Die „Süddeutsche Zeitung“<br />

fragte vor einem Jahr:<br />

„Soll also die deutsche Gegenwarttagein,tagausdurchKommissareerzähltwerden,dieauf<br />

eine jeweils regionaleWasserleichestarren?“<br />

Natürlich: Gäbe es nichtsoviele<br />

KrimisimdeutschenFernsehen,<br />

danngäbeesauchnichtdieLust,<br />

diese Sendungen medial zu zerfleischen.VieleTatortesindtolle<br />

Filme, viele nicht. Redaktion,<br />

Drehbuch,RegieundSchauspiel<br />

sind sehr unterschiedlich. Und<br />

mit unserem Team und dem<br />

Sender bin ich sehr glücklich.Es<br />

gehtalsoeherdarum,obeinFilm<br />

innerhalbderGenregrenzengut<br />

oderschlechtist.Esistbillig,sich<br />

als Filmverständigen zu markieren,<br />

indem mansagt: Ich liebe<br />

FrancoisTruffaut,ichliebeJean-<br />

Aufdie Bühne<br />

„Schauspieler zu werden war<br />

der Versuch der Vermeidung<br />

einer Berufswahl. Berufe<br />

an sich finde ich absurd“<br />

LucGodard. Ich bedauere solche<br />

Leute.<br />

WelcheFilmemögenSie?<br />

Ich bewundere beispielsweise<br />

Ingmar Bergmann, ich kenne<br />

vieleseiner Filme, und dennoch<br />

ist„DieNackteKanone“einerder<br />

größtenFilme,dieichjemalsgesehen<br />

habe. Ich wargerade gestern<br />

im Kino,in„Hobbit2“. Das<br />

ist, etwas provokant formuliert,<br />

wagnerische Überwältigungskunst,alsomitdemganzdicken<br />

Pinselgezeichnet,Zwischentöne<br />

wirdman da vergeblich suchen.<br />

Der „Hobbit“ isteher wie Heavy<br />

Metal.UndichmagHeavyMetal.<br />

Hinrichs wird lauter, seine Wangen<br />

bekommen dieses Heidi-<br />

Alm-Rot,dasmanausdemFernsehen<br />

kennt. Die Leute an den<br />

Nachbartischenschauenkurzrüber.<br />

Ihm ist das unangenehm.<br />

FabianHinrichsflüstertjetzt.<br />

So etwas wie den „Hobbit“ kann<br />

in Deutschland keiner machen.<br />

Undnichtnur,weilwirnichtdas<br />

Gelddafürhabenundkeineninternationalen<br />

Markt für die<br />

meisten unserer Filme. Ich würde<br />

behaupten, dass hier keiner<br />

weiß, wie so etwas geht. Und es<br />

gibt Serien und Filme ausSkandinavien,<br />

mit denen sich die<br />

meisten heimischen Produktionen<br />

nicht messen können. Da<br />

kann mandann mitHölderlin<br />

kommen: „Handwerker siehst<br />

du,aber keine Menschen.“ Wir<br />

Deutsche machen tolle Waschmaschinen<br />

und Autos. Aber wir<br />

haben keine ausdifferenzierte<br />

Populärkunst. Das heißt nicht,<br />

dasshiernurIdiotenrumlaufen.<br />

Aber wenn manamSamstagabendFernsehenschaut,dannist<br />

daskrassundbeklemmend.Und<br />

dann kommt Barbara Schönebergerundsagt,siefindetVolksmusiksendungen<br />

voll okay,weil<br />

die Leute das sehen wollen. Das<br />

istzynisch.<br />

■ Dominik Drutschmann, 29, liebt<br />

den „Tatort“ nicht<br />

■ Wolfgang Borrs, 52, guckt den<br />

„Tatort“ immer<br />

........................................................................................................................................................................................................<br />

........................................................................................................................................................................................................<br />

Fabian Hinrichs<br />

■ Der Mensch: Fabian Hinrichs<br />

wurde 1974 in Hamburggeboren.<br />

In seiner Familie werden die Männer<br />

häufig Polizisten, er studierte<br />

zunächstJurainHamburgund<br />

wurde anschließend in Bochum an<br />

der Westfälischen Schauspielschule<br />

ausgebildet. Hinrichs wohntin<br />

Berlin.<br />

■ Der Schauspieler: Von2000 bis<br />

2005 gehörte Hinrichs zumEnsemble<br />

der Berliner Volksbühne<br />

und tritt seither an allen großen<br />

deutschen Bühnen auf.ImSpielfilm<br />

„Sophie Scholl –Die letzten<br />

Tage“ spielteer2005 den Hans<br />

Scholl. 2010 zeichnete ihn die Zeitschrift„Theater<br />

heute“ fürseine<br />

Rolle in René Polleschs Solostück<br />

„Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher<br />

Verblendungszusammenhang!“<br />

als „Schauspieler des<br />

Jahres“ aus.Seine Karrierebeim<br />

„Tatort“begann2012alsAssistent<br />

Gisbertdes Münchner Ermittlerteams,2014wirderselbstChef–<br />

beim Franken-„Tatort“.


Ausder taz<br />

34 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple www.taz.de | ausdertaz@taz.de UNSERE COMMUNITY | sonntaz<br />

Aus der taz<br />

DasMedienhausanderRudi-Dutschke-Straße:Analysen,<br />

Lob,Renovierungen–undeinBlickaufAusbildungslagen<br />

ONLINEDietazsuchtefüreinVolontariatimOnline-BereichBewerberInnen–<br />

undbekamsehr,sehrvielPostvonallerhöchstgeeignetenKandidatInnen<br />

MITARBEITER DER WOCHE: JOCHEN RONIG<br />

Der Graswurzelmeister der taz<br />

EineAusbildungfürdieZukunft<br />

Journalismus ist wie die Sichtung von Bewerbungen auch ein –Auswahlprozess Foto: Boris Geilert/Gaff<br />

VON FRAUKE BÖGER<br />

Die Zukunft des Journalismus<br />

soll ja in Gefahr sein, hörtman.<br />

DasscheintdieZukunftdesJournalismusabernichtzujucken.Jedenfallssinddadraußenhaufenweise<br />

junge Menschen, die sich<br />

nichts anderes wünschen, als<br />

denBerufdesJournalistenzuergreifen.<br />

Nichteinfach als Selbstbehauptung,<br />

sondern so richtig<br />

mitAusbildungundso.<br />

AufunsereAusschreibungfür<br />

einVolontariatmitSchwerpunkt<br />

Online haben sich gut150 Menschen<br />

beworben. Mindestens<br />

zweiDrittelvonihnenhättenwir<br />

sofortnehmenkönnen.Wasman<br />

mitMitte 20 schon alles hinter<br />

sich gebracht haben kann, ist<br />

durchaus beachtlich: Drei<br />

Fremdsprachensindmittlerweilenormal(undSpanischistkeine<br />

besondereSprachemehr),Studium<br />

istkeine Frage(die klassischen<br />

Laberfächer), gutorganisierte<br />

Auslandsaufenthalte auch<br />

nicht–und dann natürlich ein<br />

Praktikumnachdemnächsten.<br />

Vielleicht kratzt es die Zukunft<br />

auch nicht, dass niemand<br />

ERFRISCHTES TAZ CAFÉ<br />

Warme Küche<br />

Die KollegInnen des taz Cafés<br />

hatten ihre Feiertag-und-zwischen-den-Jahren-Ferien<br />

ja verdient–wer<br />

so gutserviertund<br />

kocht, soll auch tüchtig urlauben.<br />

Donnerstag ist der Laden<br />

wieder offen –dann öffnet der<br />

Gastrotempel im taz-Haus wieder.<br />

Die Pause war nötig, weil<br />

nachJahrendasstylisheRestaurantcaférenoviertwerdenmusste<br />

–als Akt der Erfrischung. Was<br />

mittags gekocht werden wird?<br />

Küchenchef Christoph überlegt<br />

noch:SollesFischgebenoderVegetarisches?<br />

Kuchen, Tapas und<br />

Keksegibt es aufjeden Fall. Und<br />

dieKollegInnen,dieausihrenFerienzurücksind!<br />

■ Endlich wieder speisen im taz-<br />

Haus? Hier die Karte fürden 2. und<br />

3. Januar: www.taz.de/tazcafe<br />

Neulich habe er den neuen Film<br />

der Coen-Brüder gesehen, „InsideLlewynDavis“.Ihmleuchten<br />

ein wenig die Augen, als er dies<br />

aufdemWeginstazCaféerwähnte:DieGeschichtederLiedermacherei<br />

im VillageNew Yorksvor<br />

der Entdeckung des Folks als<br />

marktgängig, hat<br />

ihm gefallen. Das<br />

musste bei diesem<br />

Film wohl auch so<br />

sein: Für Jochen Ronig<br />

istesauch eine<br />

Story der eigenen<br />

Generation beziehungsweise<br />

jener,<br />

die sich in dieser<br />

Kultur gern wiedererkennenwollten.<br />

Geboren 1957 in<br />

Duisburg, drei Geschwister,Gymnasium<br />

mit Lieblingsfach<br />

Mathe, Ausbildung<br />

im Kaufhaus,<br />

Bundeswehr, Fahnenflucht–und<br />

ab<br />

ins damals noch insulare und<br />

nichtvon Bundeswehrpflichten<br />

eingenommene Westberlin. Typisch<br />

für einen wie ihn, der von<br />

einer besseren Welt schon<br />

träumte, als er noch im Ruhrgebiet<br />

lebte und hoffte, dass der<br />

hippieske,derfriedlicheWegder<br />

Illustration: Christian Specht<br />

........................................................................................................................................................................................................<br />

weiß,wielangesichechterJournalismus<br />

nach klassischem Pa-<br />

einem sofortrausrutscht, wenn richtigeseinwürde.<br />

vertrauten,etwassteifenTon,der<br />

........................................................................................................................................................................................................<br />

Qualifiziertinder taz<br />

■ Nur in individuell geeigneten<br />

Ausnahmefällen bietetdie taz<br />

AusbildungsplätzeinLehrberufen<br />

wie fürVerlagskaufleute oder Mediengestalter<br />

an. Dassesklappen<br />

kann, davonkönnen in 35 Betriebsjahren<br />

eine Handvoll Mitarbeitende<br />

piermuster noch finanzieren<br />

lässt,weilsiesonstkeineIdeehat,<br />

wassie machen will? Könnte ja<br />

sein.InallenanderenBereichen,<br />

in denen Geisteswissenschaftler<br />

wirken könnten, siehtesjaauch<br />

nichtsosuper ausmit unbefris-<br />

mandas Wort Bewerbung auch<br />

nurdenkt.Dahatsichalsonichts<br />

geändertundwirdeswohlnie.<br />

Dass es sich um ein Online-<br />

Volontariathandelt,hattenallerdings<br />

die wenigsten so richtig<br />

aufdemSchirm.WaszweiGrün-<br />

Mitte der achtziger Jahre begannereinStudiumanderheutigen<br />

Universität der Künste,<br />

Fachbereich Gesellschafts- und<br />

Wirtschaftskommunikation.<br />

Wasauchimmererdortlernte–<br />

das Graswurzelige, das Lieder-<br />

berichten. tetenStellenundAltersvorsorge. de haben kann: Sie haben darüpiermuster<br />

■ Anders in der Redaktion. Gut 20 Denndasistihrbestimmtwichtig,<br />

ber nicht weiter nachgedacht,<br />

PraktikantInnenbevölkerntäglich<br />

dieser Zukunft. Sie machtes weil es für sie nicht überraber<br />

die verschiedenen Ressorts.Für ordentlich: kaum Brüche im Lebenslauf,<br />

schendist.Oderesistihnenegal,<br />

mindestens zwei Monate,denn<br />

geradeaus aufdas Vo-<br />

HauptsacheeineAusbildung.<br />

darunter lohnte sich der Aufwand lontariatzuundschondieFrage Die Entscheidung, werdenn<br />

fürdie Betreuung nicht. Werdabei aufdenLippen,obmandenndanachauchübernommenwird.<br />

nundas Volontariatbekommen<br />

das geforderte und förderliche<br />

soll,istunsjedenfallsnichtleicht<br />

Selbstbewusstsein mitbringt, Man würde dieser Zukunft gefallen. Und nunzusagen, um<br />

kann sich sehr schnell als Mitglied gerne sagen: Mach dich locker, all diese Menschen müsse man<br />

eines journalistischen Netzwerks fahrdochmalraus,verfahrdich sich aber keine Sorgen machen,<br />

fühlen. Entsprechend lang istdie und schau, wie du zurückkommst–wenn<br />

würdevermutlichEmpörungbei<br />

Liste der Bewerbungen.<br />

du dann noch eben diesen auslösen: Denn nur<br />

■ Darüber hinaus werden durch zurück willst. Aber das wäre weil jemand bisher alles so ge-<br />

die taz-Redaktion systematisch furchtbar altklug, und die jungen<br />

machthat,wieeseinBerufsbera-<br />

drei bis vier VolontärInnen ausgebildet,<br />

Leute würden es wohl nicht tervorschlagenwürde,heißtdas<br />

einige stammen aus den annehmen, sie sind viel zu entschieden.Oderzuunsicher?Das<br />

nochlangenicht,dasserodersie<br />

Journalistikfachbereichen der<br />

selbstbewusst wäre. Wie auch?<br />

Universitäten Leipzig und Dortmund.<br />

lässtsich nichtsorichtig rausle-<br />

Die Zukunft des Journalismus<br />

Anderebewerben sich aus senausdenhübschenLebensläu-<br />

solljainGefahrsein,hörtman.<br />

Journalistenschulen oder auch fen. Diese sehen übrigens noch<br />

über Ausschreibungen der taz immer sehr klassisch aus, auch ■ Frauke Böger, 31, leitet –mit Julia<br />

Panter Stiftung ins Haus. (abu) die Anschreiben haben diesen<br />

Niemann –taz.de<br />

macherische haterwahrscheinlich<br />

schon immer draufgehabt.<br />

Kommunikationauf die direkte<br />

Weise,ohnevielinstrumentelles<br />

Gewese, betreibt er seitJahren<br />

auch in der taz. Jochen Ronig ist<br />

in der Marketingabteilung für<br />

den wöchentlichen Newsletter<br />

der taz, der Le Monde<br />

diplomatique,<br />

für Briefaktionen<br />

und Briefe an die<br />

AbonnentInnen zuständig.<br />

Seine Spracheistdirekt,unverblümtund<br />

freundlich<br />

–KundInnen<br />

von Medien aus<br />

demtaz-Hausschätzen<br />

seine Rundbriefe.<br />

Immer in seinen<br />

Jahren seit der<br />

Fluchtvor den Feldjägern<br />

hat erin<br />

Kreuzberg gelebt –<br />

traditionell so eine<br />

Art Village Berlin.<br />

Mal in eheänlichen Verhältnissen,malinMini-WGs,malallein.<br />

Und vorwenigen Wochen hat<br />

Jochen Ronig mitdem Gitarre<br />

spielen angefangen. Er sagt:<br />

„Nach35JahrenPause.Alsersten<br />

Song habe ich mir ‚Buffalo<br />

Springfield‘ vonNeil Young vorgenommen.<br />

Klingt auch nach<br />

zwei Wochen Überei noch<br />

schräg.“ Als ob es aufPerfektion<br />

ankäme!<br />

JAF<br />

■ Fragen zu taz-MitarbeiterInnen<br />

der Woche? Mailen Sie uns:<br />

ausdertaz@taz.de<br />

Springer in Transformation<br />

DIGIZUKUNFTDenangeschlagenenRufzubessern,ist<br />

vielschwierigeralsjederKampfumMarktanteile<br />

NachdenInsolvenzenderFrankfurter<br />

Rundschau, der Financial<br />

Times Deutschland und der<br />

Nachrichtenagenturdapdvoreinem<br />

Jahr fuhr ein Schrecken<br />

durch die Zeitungsredaktionen.<br />

WardasnunderAnfangvomUntergangvonGewerbeundBeruf?<br />

Inzwischen weiß man, es waren<br />

Fälleverfehlter Unternehmensstrategien,<br />

bei denen nach langem<br />

Hinhalten die Reißleinen<br />

gezogen wurden. Der<br />

Satz vom Schuss,<br />

den man gehört<br />

habe, gehört<br />

aber seither<br />

zumVokabular<br />

der Veränderung<br />

in jedem<br />

Verlag, so viel<br />

Bewegung wie<br />

heutewarnie.<br />

Einen Verlag<br />

gibt es jedoch,<br />

der einem das<br />

Foto: Anja Weber<br />

telschonverlassenundsitztjetzt<br />

irgendwoamKu’damm.<br />

EinDezemberabendimDeutschen<br />

Architekturzentrum. Präsentiertwerden<br />

drei vorläufige<br />

GewinnereinesWettbewerbsfür<br />

einen Springer-Campus neben<br />

dem Axel-Springer Haus. Vorstandsvorsitzender<br />

Mathias<br />

Döpfner beschreibt seltsam<br />

nachdenklich, fast zurückhaltenddieIdeedesProjekts,Räume<br />

für die neuen digitalen<br />

Unternehmungen<br />

des Konzerns mit<br />

Beziehungen zur<br />

altenZentralezu<br />

schaffen.Diedigitale<br />

Zukunft<br />

istkeinesichere<br />

Bank. Ganz und<br />

garnichtzurückhaltend<br />

sind die<br />

Gefühl gibt, es<br />

hätte dieses Schusses nichtbedurft.<br />

Axel Springer istpermanentinBewegungundVorreiter<br />

der Transformation, weg von<br />

Print,hinzumDigitalen,wasangesichts<br />

der Auflagen-Fallhöhe<br />

der Kernmarke Bild nurzuverständlichist.ÜberBezahlmodelle<br />

im Internet redet mannicht<br />

lange,sondernprobiertsieinder<br />

Realität des Internets aus. Ein<br />

PrintpaketausregionalenTageszeitungen<br />

und sämtlichen Zeitschriften<br />

wirdgleich im Milliardenumfang<br />

geschnürtund zum<br />

Verkaufgestellt. Die traditionsreiche<br />

Berliner Morgenpost hat<br />

ihrenSitzimaltenZeitungsvier-<br />

vorgestellten<br />

Entwürfe. So<br />

wie einst der<br />

Bau des Springer-Hochhauses<br />

direkt an der<br />

Mauer senden sie vorallem ein<br />

Signal der Überlegenheit aus.<br />

Aberanwen?<br />

InkeinerOrganisation,keiner<br />

Partei, keiner Redaktion sitzen<br />

heutesovielealteAchtundsech-<br />

zigerzusammenwieinderAxel-<br />

Springer-Straße, beschäftigt mit<br />

demeinenProjekt,derTransformation<br />

des Images des Verlags.<br />

Das istein noch schwierigeres<br />

VorhabenalsdieDigitalisierung.<br />

DasAltewilleinfachnichtweg.<br />

■ Karl-Heinz Ruch, 59, taz-<br />

Geschäftsführer, liest gern auf<br />

Papier, längst auch auf eFlächen


sonntaz |WIESE<br />

fax: 030 25 902 444 | telefon: 030 25 902 222 | 9-15 uhr<br />

www.taz.de | anzeigen@taz.de apple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 35<br />

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EineReisedurchNordafrikaimJahr1835.<br />

InAlgerienbeganndiemehrjährigeReise<br />

PücklersrundumdasMittelmeer.Durchseine<br />

HerkunftstandendemFürstenTürenoffen,die<br />

kaumeinandererReisenderungestraftdurchschreitenkonnte.Ebensofachkundigwiedie<br />

politischeSituationbereitetdergroße,ironische<br />

StilistdievieltausendjährigeBesiedlungsgeschichteNordafrikasfürunsauf.<br />

»Pücklervertrittwieneben<br />

ihmnurnochGoethedie<br />

kosmopolitischeTendenzdeutscherKulturundLiteratur.«<br />

(HeinzOhff,Pückler-Biograph)<br />

ISBN9783941924031,<br />

736Seiten,Leinenim<br />

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36 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple www.taz.de | reise@taz.de REISE | sonntaz<br />

SCHOLLE 2014 HatsichdasReisenüberholt?VisionenfürdenAusstiegausdemRattenrennenderVielfliegerei<br />

Endlichdaheim!<br />

VON CHRISTEL BURGHOFF<br />

UND EDITH KRESTA<br />

Die„BigVisioniers“treten<br />

in Aktion: Eine findige,<br />

erfolgsorientierte Szene<br />

vontouristischen Großveranstaltern<br />

will den Tourismusumgestalten<br />

–mit Unterstützung<br />

der Welttourismusorganisation<br />

(WTO) und unter<br />

recht verhaltenem Beifall der<br />

Kirchen und NGOs. Corporate<br />

Social Responsibility (CSR),<br />

Nachhaltigkeitund die RenaissancederNähesindihreLeitworte.<br />

Das globaleNetzwerk der Big<br />

Visioners,aufDeutschGroßvisionäre,<br />

hatkonkrete Vorstellungen<br />

für diesen Strukturwandel<br />

entwickelt: Zurück zur Scholle,<br />

backtotheroots,lautetdieParole<br />

der Unternehmen: „Scholle<br />

2014“.<br />

Undalswärendiegutenalten<br />

Sozialtugenden in die jungen<br />

Manager von heute gefahren,<br />

kümmernsiesichjetztum„wahreWerte“.Siewollennichtlänger<br />

Surrogate liefern, sondern Ursprünglichkeit,<br />

Authentizität,<br />

Nähe, Region, Land. Die I-Worte:<br />

Intimität, Introvertiertheit, IntensitätundInteraktionstattder<br />

E-Worte: Extroversionen, Extrem,EklektienundExotiken.<br />

Gründe gibt es viele: Die zunehmend<br />

unsichere Weltlage<br />

und der weltumspannende Terrorismushabendiewirtschaftliche<br />

Zuversicht der Unternehmen<br />

irritiert, ihre Geschäfte<br />

an fernen Gestaden gefährdet.DieunsicherenReisewege<br />

des Mittelalters grüßen<br />

die Reisezukunft.<br />

Die zunehmende<br />

Kritik<br />

an Umweltverschmutzung,<br />

unfairen Arbeitsbedingungen,anderZweckentfremdung<br />

fruchtbaren Landes<br />

für schickeClubs, des raren<br />

GutesWasserfürGolfplätze,<br />

die Zerstörung der Küsten,<br />

taten das Ihrige.<br />

UnddieKlimabilanz<br />

des Tourismus ist<br />

katastrophal.<br />

Werrund um<br />

die Welt<br />

fliegt für<br />

sein Vergnügen,<br />

verpulvert<br />

Ressourcen<br />

und hinterlässt<br />

Spuren,<br />

die durch<br />

nichts zu kompensie-<br />

rensind.AuchnichtvonAtmos-<br />

SiewollendasLand<br />

alsdenwahren<br />

Gefühlsraumerschließenundverkaufen<br />

fair. Nach Expertenmeinung<br />

trägt der weltweite Tourismus<br />

rundneunProzentzudenglobalen<br />

Emissionen bei. Ist esdas<br />

wert,dasReisenindieFerne?<br />

Das touristische Universum<br />

vongestern warein modernes<br />

Haus: gemütlich und bequem<br />

ausgestaltet, von der Kellerbar<br />

überdieSaunabiszurbegrünten<br />

undverglastenTerrasse.Aufden<br />

Frühstückstischen fehlte nirgends<br />

das Nutella-Döschen –ob<br />

in Surinam, am Nordkap oder<br />

aufTrinidad.KosmischeGemütlichkeit.<br />

Langweile. Überall dieselben<br />

Standards, dasselbe Lebensgefühl,<br />

derselbe Lebensstil.<br />

EinZustand,indemdieWeltund<br />

dieReiselustzunehmendvordie<br />

Hundegehen.<br />

DieErotiksowieso.DerTourismus<br />

betreibe Raubbau ander<br />

wichtigsten Ressource unseres<br />

Lebens,derErotik,sagtbeispielsweise<br />

der Kulturwissenschaftler<br />

Bruno August Krümpelmann.<br />

Organisierter Tourismus kanalisiere<br />

Verführungen und Normabweichungen,<br />

indem er Eigenbewegungverhindert.Ertilgedie<br />

freien Räume über die<br />

schnelle Anreise und<br />

Illustrationen: Christian Barthold<br />

die Besetzung<br />

des Urlaubsraumes mitorganisierten,<br />

verdichteten Aktivitäten.<br />

Die Traumreisen der VeranstalterseieneinvirtuellerErsatz<br />

für unsere konkreten Triebziele.<br />

Zeit ist Geld. Im organisierten<br />

Tourismus gehen so die freien<br />

Gestaltungsoptionen verloren.<br />

AbergenaudasliebtErosbesonders.<br />

Eros, das istfür Krümpelmann<br />

der Flow,die schöpferische<br />

Kraft, die Herausforderung,<br />

die Zeit<br />

braucht, um sich voll<br />

zu entfalten. Die<br />

Lust schlechthin.<br />

Diese suchendieUrlauber<br />

aber<br />

vergeblich.<br />

Verständlich,<br />

dass sie<br />

nur noch<br />

lustlos buchen.<br />

Das<br />

Umdenken<br />

der Manager<br />

trifft also aufdiese<br />

harteRealität.Aufdie<br />

Bedürfnisse der Touristen<br />

selbst. Dem wachsenden<br />

Bedürfnis nach<br />

mehrHeimeligkeit,nach<br />

Sinn, Ruhe, Entspannung,<br />

Entschleunigung,<br />

Familie, nach dem Ausstieg<br />

aus dem rasenden<br />

Stillstand. Die Antwort ist<br />

Landlust. Der Trend der<br />

Trendsetter. Jene<br />

sagenumwobenen<br />

Großstädter miteinem Hang zu<br />

einemnatürlichenundnachhaltigen<br />

Lebensstil –und dickem<br />

Portemonnaie. Diese Hoffnungsträger<br />

des grünen Konsums,diefastschonvergessenen<br />

Lohas (Lifestyle of Health and<br />

Sustainability),dieerlebnis-und<br />

welthungrigen Vielflieger,diese<br />

Protagonisten vonLifestyle,Gesundheit<br />

und Nachhaltigkeit,<br />

stehenlängstaufLandlust.<br />

MitVollgas in den Hobbykeller.GrassierendeNaturlust.Obst<br />

und KüchengerätezuStillleben.<br />

VerwunscheneWeiher zurDämmerstunde.<br />

Filigrane Gräser im<br />

Frostmäntelchen. Sternehäkeln<br />

zum Wohlfühlen. Stille. Alles<br />

ruht.Kräutersegen.LichtfürsLeben.<br />

Blumenparadies für Balkonien<br />

oder ich mache euch eine<br />

Kerze. Singen macht glücklich.<br />

Der Einödhof mitdrei GenerationenindergutenStubealsIdeal.<br />

DieMagiedesGartens.„Anlauen<br />

Abenden sollen in Tontöpfen<br />

Kerzen brennen, in den BaumkronenbunteLampionshängen.<br />

Ein Glas Rosensekt lässig in der<br />

Hand, sollten alle dem Zauber<br />

des Gartens erliegen. Buffets<br />

wollte ich erstellen, Sehnsüchte<br />

wecken, mitallen Sinnen sollte<br />

der Garten genossen und dabei<br />

der Alltag vergessen werden“,<br />

schreibt beispielsweise Marina<br />

UhlimLandlust-Magazin.Natur-<br />

liebe,modesteKleidung,<br />

Skepsis gegenüber falschem Luxus,<br />

postmaterielle Besinnlichkeit<br />

und die Liebe zum„Do it<br />

yourself“ –all das verspricht<br />

Notausgänge auseinem RattenrennenderVielfliegerei.<br />

Das schlichte Naturerlebnis<br />

warder Aufhänger des touristischen<br />

Leitbildes der Unterneh-<br />

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men: „Scholle 2014“. Wer aber<br />

glaubt, dass Wandern und Radfahren<br />

schon alles sind, der hat<br />

die Fantasie der Macher unterschätzt.<br />

Die Big Visioniers, die<br />

unterdemLabelderNachhaltigkeit<br />

agieren und Qualität und<br />

VerantwortungimneuenTourismuspropagieren,wetteifernmit<br />

weltweiten Thinktankszur Rettung<br />

des Globus. Sie wollen das<br />

Land als den wahren Gefühlsraum<br />

erschließen und verkaufen.<br />

Kein Krümel Scholle, der<br />

jetzt nichtumgedrehtwird, um<br />

ein findiges Angebot zu entwickeln,keinlandaffinesBedürfnis<br />

dertrendigenLohas,dasnichtals<br />

Konsumprodukt aufden Markt<br />

geworfen werden könnte.<br />

DievisionäreAngebotswelle<br />

derweltweitvernetztenTouristiker<br />

will dem Engagementfür<br />

Naturund Umwelt,<br />

regionalen Projekten, Burnout,<br />

Sinnsuche und Nähebedürfnissen<br />

gerechtwerden.<br />

Die Provinz soll sich zu neuen<br />

Gastlandschaften wandeln,<br />

die die touristischen<br />

Heimkehrer mit offenen Armen<br />

und vorallem mitganz<br />

neuen Versprechen empfängt.<br />

Man munkelt: Deutschlands<br />

größter Reiseveranstalter<br />

habesichgeradedieOptionfür<br />

die meisten der 2.000 herrschaftlichen<br />

Wohnsitze in<br />

Mecklenburggesichert.Erplane<br />

dortintime Kontakträume: vom<br />

Swinger-, Swing- bis Singclub.<br />

Manmunkeltauch,dassKoreain<br />

deutsche Klöster investiert, um<br />

Wellness und Sinnfindung zu<br />

professionalisieren. IndustriebrachenwerdenzuKräutergärten<br />

für Gottes Apothekeaus der Natur.<br />

Abgehängte Regionen von<br />

ChemnitzüberBochumbiszum<br />

SaarlandsollenzuWildbeobachtungsstätten<br />

in ZusammenarbeitmitdenNaturschutzverbändenwerden,einDritteldavonals<br />

Jagdrevier,umechtesTötenund<br />

Überleben in der Wildnis zu lernen.<br />

In abgehängten Landstrichen<br />

wie Mecklenburg oder<br />

BrandenburgblühendieIdeen.<br />

UndneueStandardssollengesetztwerden,auchfürSchweine.<br />

Beispielsweise in Brandenburg.<br />

DennaufderAgendadertouristischen<br />

Unternehmen: „Scholle<br />

2014“stehtjetztauchderSchutz<br />

unserer Mitwelt, das EngagementfürgesunderegionaleProdukte<br />

und selbstverständlich<br />

auch für das stressfreie Züchten<br />

und Schlachten vonSchweinen.<br />

Die ersten großen Schweinemaststättenmusstenschonnach<br />

Polenausweichen.<br />

Kuschelige Welt,die die lange<br />

vernachlässigten Bedürfnisse<br />

der modernen Menschen nach<br />

echterHeimaternstnimmt,aufgreift,umsetzt?DramadesEros?<br />

Die ganze Geschichte nur ein<br />

Fake?<br />

Wirwartenab.


sonntaz |REISE<br />

www.taz.de | reise@taz.de apple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 37<br />

GESCHICHTEDieErfindungderPauschalreisen,KraftdurchFreude,FDGB-Ferien,TUI–einkurzer<br />

Abrissdesorganisierten,modernenTourismusundseinerEntwicklunginDeutschland<br />

Tourismus–vomPrivilegzumLebensstil<br />

Währendder<br />

WeimarerRepublik<br />

stiegdieZahlvon<br />

Urlaubstagen<br />

auchbeiArbeitern<br />

aufachtbis<br />

zwölfTage<br />

lungzumerstenMaldiekulturelle<br />

Bedeutung der Freizeitinden<br />

Mittelpunkt. Am 8. 1. 1963 tritt<br />

ein einheitliches Urlaubsgesetz<br />

inDeutschlandinKraft.Allehatten<br />

erstmalig Anspruch aufbezahlten<br />

Urlaub. Die DemokratisierungdesReisensbegann.<br />

DDR: Hauptsächlich<br />

Betriebeundstaatliche<br />

Institutionen<br />

organisierten Reisen,<br />

nach Rügen,<br />

Usedom oder in<br />

den Thüringer<br />

Wald. Der größte<br />

Reiseveranstalter<br />

war<br />

der Feriendienstdes<br />

Freien Deutschen Gewerkschaftsbunds<br />

(FDGB) mit eigenen<br />

FDGB-Ferienheimen. ZweitgrößterAnbieterwarendiestaatlichen<br />

Campingplätze. Daneben<br />

gabesals Volkseigenen Betrieb<br />

(VEB)dasReisebüroderDDRund<br />

ab 1975 Jugendtourist, das Jugendreisebüroder<br />

Freien DeutschenJugend(FDJ).<br />

Massentourismus:1963stiegJosefNeckermanninsFlugreisegeschäftein.Erperfektioniertedie<br />

industriellen Methoden für den<br />

Reiseverkehr.Neckermann wurdezumSynonymfürMassentourismus.DerPreiswurdezumwe-<br />

sentlichen Marketinginstrument.MitderLiberalisierungdes<br />

Binnenmarktes in Europa verschärften<br />

sich für Reisebüros,<br />

Hotels und Fluggesellschaften<br />

die Wettbewerbsbedingungen.<br />

EsentstandenGroßkonzernewie<br />

TUI/HapagLloyd mitdem amerikanischen<br />

Reisekonzern Carlson<br />

und dem britischen Reiseund<br />

Finanzkonzern Thomas<br />

Cook.Wer jetzt reistund bucht,<br />

landet fast zwangsläufig irgendwo<br />

weltweit bei einem TUI-Produkt.<br />

ED<br />

...............................................................<br />

EDITH KRESTA<br />

AUFGESCHRECKTE<br />

COUCHPOTATOES<br />

EswarLiebe,<br />

Sexauch<br />

Die Pauschalreise: 1841 organisierte<br />

Thomas Cook –Tischler,<br />

Wanderprediger,Alkoholgegner<br />

–eine Bahnreise für 570<br />

Temperenzler von Leicester<br />

ins zehn Meilen entfernte<br />

Loughborough. Im Preis inbegriffen<br />

waren Musikkapelle, Tee<br />

und Schinkenbrote. Schon bald<br />

schickte der Tourismuspionier<br />

die ersten Pauschalreisenden<br />

vonLondon nach Paris, in die<br />

Schweiz und nach Italien. Diese<br />

neue Form des Reisens war<br />

dank organisierter Planung<br />

bequemer, dank Mengenrabatt<br />

billiger –und damitauch<br />

für das wachsende Bürgertum<br />

erschwinglich.AusdemReisenden,<br />

der einmal im Jahr individuell<br />

in die Sommerfrische<br />

fuhr,wurdederTourist.<br />

Zögerliche Demokratisierung:<br />

Bis weit ins 20.<br />

Jahrhundertblieb das Reisen<br />

ein Vergnügen für Angehörige<br />

der privilegierten<br />

Stände,desAdels,Besitzbürgertums<br />

und später Beamten.<br />

Für die Mehrzahl der<br />

Angestellten und fast alle<br />

Beamten war der Anspruch<br />

auf Jahresurlaub<br />

bis 1914 durchgesetzt.<br />

WährendderWeimarerRepublik<br />

stieg die durchschnittliche<br />

Zahl vonUrlaubstagen auch<br />

bei Arbeitern aufachtbis zwölf<br />

Tage;fastalleArbeiterhattenAnspruch<br />

aufbezahlten Jahresurlaub.<br />

Jedochbekamen meistnur<br />

ältereBetriebsangehörigesoviel<br />

Urlaub, dass sie tatsächlich eine<br />

längere Reise hätten antreten<br />

können.<br />

Kraft durch Freude: Die Nationalsozialisten<br />

verlängerten den<br />

UrlaubaufzweibisdreiWochen<br />

proJahr.Am14. November 1933<br />

genehmigte Hitler die Pläne für<br />

ein Freizeitwerk. Ein „nervenstarkes<br />

Volk“ und die „Veredelung<br />

des deutschen Menschen“<br />

wollte man erreichen, indem<br />

man der arbeitenden Bevölkerung<br />

eine bemessene, durchstrukturierte<br />

Freizeitanbot. Die<br />

Arbeitsleistung und Produktivitätsolltengesteigertwerden,die<br />

Volksgesundheitsolltesich verbessern.<br />

Nichtlasterhaftes, verweichlichendes<br />

„Vergnügen“,<br />

sonderngesunde„Freude“sollte<br />

demArbeiter„Kraft“geben.<br />

Bundesrepublik:1956stellteder<br />

MetallerOttoBrennerbeimKongress<br />

des Deutschen Gewerkschaftsbunds<br />

neben dem gesundheitlichenAspektderErho-<br />

SeitMonikaden Film „Paradies/Liebe“vonUlrichSteidl<br />

gesehen hat, glaubt sie gar<br />

nichtmehr an die Liebe an fernenStränden.Zweimalhatsiees<br />

versucht. In Ägypten. Enttäuschend.<br />

Der Film habe ihr den<br />

Restgegeben. „Völlig deprimierenddiesegegenseitigeAusbeutungundfalschenErwartungen<br />

zwischen älterer, alleinstehenderEuropäerinundknackigem,<br />

aber armem Einheimischen“,<br />

sagt sie. Sie habe wieder auf<br />

Hausmannskostumgestellt, gestehtsiebeimdrittenGinTonic<br />

undtristerJahresendstimmung.<br />

Markus sah gutaus. „Groß,<br />

breitschultrig, grüne Augen,<br />

dichtes, blond gelocktes Haar“,<br />

schwärmtsie.EinCharmeurund<br />

Abenteurer.Einer,dereigentlich<br />

alleinreist,denKilimandscharo<br />

besteigt,nichtsanbrennenlässt.<br />

InihrerPortugal-Radgruppewar<br />

er der Reiseleiter.Von allen Damengeliebtundbegehrt.<br />

SiekuscheltenbeiSonnenuntergang,<br />

warfen Steinchen ins<br />

Meer, tranken Rotwein beim<br />

Kerzenschein,wenndieanderen<br />

schliefen.DieZeitschienunendlich,<br />

der Himmel so blau, der<br />

Mann großzügig, einfühlsam,<br />

stark, klug. Unbeschwertheit,<br />

Romantik, Leidenschaft. Beim<br />

SexhabesieindenzweiWochen<br />

nachgeholt,wassiedenRestdes<br />

Jahres vernachlässigt habe,<br />

strahltMonika.<br />

Immerhin. Dass auch der<br />

braun gebrannte Traumprinz<br />

zumFrosch wurde, lagamRegen.EinBuchungsfehlersozusagen.MitfehlenderSonne–kein<br />

WunderMitteOktober–erlosch<br />

auch sein Glanz. „Als nichts<br />

mehr so klappte wie geplant,<br />

wurdeernervös“,seufztMonika.<br />

„Unfreundlich, unangenehm.“<br />

Undalssieauchnochvölligunschuldig<br />

die Schönheit eines<br />

portugiesischen Kellners lobte,<br />

andessenBarsiedenverregneten<br />

Nachmittag abgehangen<br />

hatten, zogersie ununterbrochenbeleidigtmitihrem„elGuapo“<br />

auf. Immer wieder.Bis sie<br />

genervt die Lust verlor aufihn,<br />

anihmundvorallemanseiner<br />

kleinlichenGekränktheit.<br />

Männer,besonders Platzhirsche,könnenKomplimenteoder<br />

Blickefür einen anderen nicht<br />

ab“, trösteich.UndLiebeaufReisenseisowiesoseltenzukunftsfähig.<br />

„Liebe zu Hause auch<br />

nicht“, seufzt Monika und bestelltdenviertenGinTonic.<br />

REISEN<br />

ANDERS REISEN<br />

■ WILDNISWANDERN - Touren, Seminare und<br />

Ausbildungen in freier Natur: in Deutschland,<br />

Europa und weltweit. ☎07071/256730 /<br />

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FRANKREICH<br />

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☎ 0221/5102484, www.pariswohnung.de<br />

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gerne unter ☎+33468747992 und<br />

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■ Abenteuercamp in den Bergen für Eltern und<br />

Jugendliche, Pyrenäen oder Korsika,<br />

www.engels-wandern.de, ☎0241/99120815<br />

■ Wandern in der Sonne: Pyrenäen, Korsika, Toskana;<br />

kleine Gruppen, meist Alleinreisende;<br />

www.engels-wandern.de, ☎ 0241/99120815<br />

GRIECHENLAND<br />

■ Schneefrei überwintern im "Garten der Musen"<br />

am Meer am Golf v. Korinth, Unterkunft zum Nebenkostenpreis.<br />

Inkl. Konzertflügel, freies Pflücken<br />

jeder Art v. Früchten/Gemüsen. Info:<br />

www.idyllion.eu ☎ 00 30 /2691072488<br />

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GROßBRITANNIEN<br />

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Nächte. Bahnanreise ab 54€.<br />

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NORD-/OSTSEE<br />

■ Rügen, Nähe Kap Arkona: Liebevoll renoviertes<br />

altes Reetdach-Bauernhaus mit 7gemütlichen Fewos(2-7P.4Sterne),<br />

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15min. Fußweg zum Naturstrand. ☎ 0641/<br />

8773730, www.Ferien-unter-dem-Reetdach.com<br />

POLEN<br />

■ Masuren und mehr erleben: Rad-, Kanu-, Wander-und<br />

Naturreisen in Polen und im Baltikum. Der<br />

KATALOG 2014 ist da! in naTOURa Reisen, ☎ 0551 -<br />

504 65 71, www.innatoura-polen.de<br />

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strohgedeckter Bauernhof mit Kamin- und Gruppenräumen,<br />

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in schönster Natur in Nordseenähe/ Wattenmeer<br />

und mehreren Seen in der Umgebung. Baden, Surfen,<br />

Kanufahren, Kutschfahrten und diversen Reitmöglichkeiten.<br />

Kostenlosen Prospekt anfordern:<br />

☎ 04756-851032 Fax 04756-851033<br />

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14.05.-05.06.14 und 02.-25.09.14.<br />

helga.tib@web.de, ☎030/32608699<br />

TÜRKEI<br />

■ Individuell reisen: Türkei, traumhafter Strand,<br />

schöne Buchten, Thermalquellen, antike Stätten.<br />

Familiär,erholsam www.linus-apart.de


38 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple www.taz.de | medien@taz.de TV-PROGRAMM | sonntaz<br />

TAGESTIPP<br />

SONNABEND:<br />

WIR ERINNERN AN DIE TOTEN DES JAHRES: „EIN FALL FÜR ZWEI“ (1981–2013), „HARBURGER ANZEIGEN<br />

UND NACHRICHTEN“ (1844–2013), „FORSTHAUS FALKENAU“ (1989–2013), DAPD (2010–2013) …<br />

Fotos: MDR; ZDF (rechts)<br />

Jaja, die Zeit. Mal rast sie,„schon wieder ein Jahr<br />

rum!“,malschleichtsie,„nochdreiTage!“.Bevor<br />

wir uns in jahresendzeitlicher Küchenphilosophie<br />

verlieren: Fernsehen gucken. Angenehm<br />

unsentimentaler Rückblick auf die 2013 Verschiedenen:<br />

Carmen-Maja Antoni (Foto) etwa.<br />

■ „Abschied istein leises Wort“, 20.15Uhr,MDR<br />

ARD<br />

8.00 Checker Can<br />

8.25 neuneinhalb<br />

8.35 Die Pfefferkörner<br />

9.05 Die Pfefferkörner<br />

9.35 Olympische Winterspiele Sotschi<br />

2014<br />

20.00 Tagesschau<br />

20.15 Klein gegen Groß –Das unglaubliche<br />

Duell<br />

23.15 Tagesthemen<br />

23.40 Iron Man. Comicverfilmung,<br />

USA 2008.Regie: Jon Favreau.<br />

Mit RobertDowneyjr.,Terrence<br />

Howard<br />

1.40 Killshot –GnadenloseJagd.<br />

Thriller,USA 2008.Regie: John<br />

Madden. Mit Diane Lane,Mickey<br />

Rourke<br />

3.10 Iron Man. Comicverfilmung,<br />

USA 2008.Regie: Jon Favreau.<br />

Mit RobertDowneyjr.<br />

ZDF<br />

8.10 1, 2oder 3<br />

8.35 Bibi Blocksberg<br />

9.25 Peter Pan–Neue Abenteuer<br />

9.50 Bibi und Tina<br />

10.40 Mako–Einfach Meerjungfrau<br />

11.30 Eine Familie namens Beethoven.<br />

Tierkomödie,USA 1993.<br />

Regie: RodDaniel<br />

12.50 König Drosselbart. Märchenfilm,CS/D1984.Regie:Miloslav<br />

Luther.Mit Adriana Tarábková,<br />

Lukás Vaculík<br />

14.25 Rosamunde Pilcher: Das Haus<br />

an der Küste<br />

16.05 Lafer!Lichter!Lecker!<br />

16.50 Downton Abbey<br />

19.00 heute<br />

19.25 Herzensbrecher –Vater vonvier<br />

Söhnen<br />

20.15 Der Kommissar und das Meer:<br />

Der böseMann. D2013<br />

21.45 Ein starkes Team: Geschlechterkrieg.<br />

D2009<br />

23.10 heute-journal<br />

23.25 Ronin. Actionthriller,USA/GB<br />

1998.Regie: John Frankenheimer.Mit<br />

RobertDeNiro, Jean<br />

Reno<br />

1.20 Der Fluch vonHellestad. Mysterythriller,S2004.<br />

Regie: Mikael<br />

Håfström. Mit RebeckaHemse,<br />

Jesper Salén<br />

2.55 Downton Abbey<br />

RTL<br />

13.20 Die ultimativeChartShow–50<br />

JahreKassette<br />

16.55 Kung Fu Panda 2–Doppelt Bärenstark<br />

18.45 RTL Aktuell<br />

19.05 Explosiv –Weekend<br />

20.15 Alle auf den Kleinen<br />

22.50 Willkommen bei Mario Barth<br />

23.50 Der große BöseMädchen –Promi-Check<br />

0.40 Alle auf den Kleinen<br />

3.00 Willkommen bei Mario Barth<br />

SAT.1<br />

12.00 Richter Alexander Hold<br />

14.00 Im Namen der Gerechtigkeit –<br />

Wir kämpfen fürSie!<br />

16.00 Anwälte im Einsatz<br />

17.00 Mein dunkles Geheimnis<br />

18.00 K11–KommissareimEinsatz<br />

19.55 SAT.1Nachrichten<br />

20.15 Wickie und die starken Männer.<br />

Abenteuerfilm, D2009.Regie:<br />

Michael Herbig. Mit Jonas Hämmerle,Waldemar<br />

Kobus<br />

22.00 Siegfried. Komödie,D2005.<br />

Regie: Sven Unterwaldt Jr.. Mit<br />

TomGerhardt,Dorkas Kiefer<br />

23.40 11/2 Ritter.Komödie,D2008.<br />

Regie: Til Schweiger.Mit Til<br />

Schweiger,Rick Kavanian<br />

1.55 Siegfried. Komödie,D2005.<br />

Regie: Sven Unterwaldt Jr.. Mit<br />

TomGerhardt,Dorkas Kiefer<br />

3.20 TwoFunny–Die Sketch Comedy<br />

3.40 TwoFunny–Die Sketch Comedy<br />

PRO7<br />

12.05 Family Guy<br />

12.30 Futurama<br />

13.00 Die Simpsons<br />

13.30 Malcolm mittendrin<br />

14.25 Scrubs –Die Anfänger<br />

15.20 Twoand aHalf Men<br />

16.10 The Big Bang Theory<br />

17.05 HowIMetYour Mother<br />

18.00 Newstime<br />

18.10 Die Simpsons<br />

19.05 Galileo<br />

20.15 Galileo Big Pictures –Die Bilder<br />

des Jahres 2013<br />

23.30 Shooter.Actionthriller,USA<br />

2007.Regie: Antoine Fuqua.<br />

Mit Mark Wahlberg, Kate Mara<br />

1.55 Haunted Hill –Die Rückkehr in<br />

das Haus des Schreckens.Horrorfilm,<br />

USA 2007.Regie: Victor<br />

Garcia. Mit Amanda Righetti,<br />

Cerina Vincent<br />

3.15 The Descent –Abgrund des<br />

Grauens.GB2005<br />

KI.KA<br />

7.45 Nouky&seine Freunde<br />

8.00 Elmo –das Musical<br />

8.25 Huhu Uhu –Abenteuer im<br />

Kreuzkrötenkraut<br />

8.40 Au Schwarte! –Die Abenteuer<br />

vonRingel, Entje und Hörnchen<br />

9.00 Tauch, Timmy, Tauch!<br />

9.20 Feuerwehrmann Sam<br />

9.45 ENE MENE BU –und dran bistdu<br />

9.55 Ich kenne ein Tier<br />

10.05 OLI's Wilde Welt<br />

10.20 TANZALARM!<br />

10.45 Tigerenten Club<br />

11.45 Schmecksplosion<br />

12.00 Pound Puppies –Der Pfotenclub<br />

12.20 Pat&Stan<br />

12.30 Marsupilami –ImDschungel ist<br />

waslos<br />

13.20 "Marvi Hämmer präsentiert<br />

NATIONAL GEOGRAPHIC<br />

WORLD"<br />

13.45 motzgurke.tv –Die Tigerenten-<br />

Reporter zeigen's euch!<br />

14.10 SchlossEinstein –Erfurt<br />

15.00 Yankee Irving –Kleiner Held<br />

ganzgroß!<br />

16.15 Garfield<br />

16.50 Der kleine Eisbär –NanouksRettung<br />

18.00 Shaun das Schaf<br />

18.15 Coco,der neugierige Affe<br />

18.40 Lauras Stern<br />

18.50 Unser Sandmännchen<br />

19.00 Das Dschungelbuch<br />

19.25 Checker Tobi<br />

19.50 logo! Die Welt und ich.<br />

20.00 Erde an Zukunft<br />

20.10 Durch die Wildnis –Das Abenteuer<br />

Deines Lebens<br />

ARTE<br />

8.05 GEOlino<br />

8.20 Wie die Erde rund wurde<br />

9.20 Prinzund Bottel<br />

9.45 360° –Geo Reportage<br />

10.30 Faszinierende Wildnis<br />

13.30 Frauen, die Geschichte machten<br />

(1/6)<br />

14.20 Frauen, die Geschichte machten<br />

(5/6)<br />

15.10 Die Welt des Christoph Kolumbus<br />

16.05 Den Heiligen Drei Königen auf<br />

der Spur<br />

17.00 X:enius<br />

17.35 RoyalDinner<br />

18.00 RoyalDinner<br />

18.30 Zu Tisch auf ...<br />

18.55 Mit offenen Karten<br />

19.15 ARTE Journal<br />

19.30 360° –Geo Reportage<br />

20.15 Werhat Angstvor dem Weißen<br />

Hai?<br />

21.45 Ball im Savoy<br />

0.45 Tracks<br />

1.40 Pink Floyd –Behind the Wall<br />

3SAT<br />

18.25 Olaf TV<br />

18.55 Sebastian Pufpaff: PufpaffsUrnengang<br />

19.25 Christoph Sieber: Alles istnie<br />

genug<br />

20.15 Urban Priol: Tilt! –Tschüssikowski<br />

2013<br />

21.45 Hader spielt Hader (1/2)<br />

22.55 Hader spielt Hader (2/2)<br />

0.15 Nuhr 2013 –Der Jahresrückblick<br />

1.15 LukasResetarits: Osterreich –<br />

ein Warietee<br />

BAYERN<br />

18.00 traumpfade<br />

18.45 Rundschau<br />

19.00 Bayern! (4/4)<br />

19.45 Alle Jahrewieder<br />

20.15 Donna Leon –Schöner Schein<br />

21.45 Rundschau-Magazin<br />

22.00 Donna Leon –Das Mädchen seiner<br />

Träume<br />

23.25 Kein Koks fürSherlock Holmes.<br />

Krimiparodie,GB1976.Regie:<br />

HerbertRoss. Mit Nicol Williamson,<br />

RobertDuvall<br />

1.15 Einmal eine Dame sein. Musikkomödie,USA<br />

1950.Regie: Roy<br />

Rowland. Mit Jane Powell, Ricardo<br />

Montalban<br />

SWR<br />

18.05 Alle Wetter 2013<br />

18.35 Hierzuland<br />

18.45 Viertel vorSieben<br />

19.15 Das Quiz mit Jens Hübschen<br />

19.45 SWR Landesschau aktuell<br />

20.00 Tagesschau<br />

20.15 Utta Danella –Das Familiengeheimnis<br />

(1/2)<br />

21.50 Utta Danella –Das Familiengeheimnis<br />

(2/2)<br />

23.20 Der kalte Himmel<br />

2.20 AufAchse<br />

HESSEN<br />

18.00 Entdeckungen in der Rhön<br />

19.30 hessenschau<br />

20.00 Tagesschau<br />

20.15 Liebe am Fjord–Zwei Sommer<br />

21.45 Tatort: Der Schrei. D2010<br />

23.15 Großstadtrevier: Motorrad-Gottesdienst.<br />

D2003<br />

0.05 Der Fahnder: Radio.D1994<br />

0.55 Graf Yoster gibtsich die Ehre:<br />

Vier Herren spielen Poker. D/F<br />

1974<br />

1.45 Polizeiruf 110: Das Ende einer<br />

Mondscheinfahrt. DDR 1972<br />

WDR<br />

18.20 hier und heute: Tanzen fürimmer<br />

18.50 Aktuelle Stunde<br />

19.30 Lokalzeit<br />

20.00 Tagesschau<br />

20.15 Tatort: Trautes Heim. D2013<br />

21.40 Jürgen Becker: Baustelle<br />

Deutschland<br />

22.40 Nuhr 2013 –Der Jahresrückblick<br />

23.40 Mitternachtsspitzen<br />

0.40 Cannonball! Actionfilm, USA/<br />

HK 1976.Regie: Paul Bartel. Mit<br />

David Carradine,Bill McKinney<br />

NDR<br />

18.00 Nordtour<br />

18.45 DAS!<br />

19.30 Ländermagazine<br />

20.00 Tagesschau<br />

20.15 Tatort: Borowski und der brennende<br />

Mann. D2013<br />

21.40 Tatort: Schichtwechsel. D2004<br />

23.10 Die Nordkommissare–Eine Tatort-Chronologie<br />

23.55 Stahlnetz: PSI. D2002<br />

1.25 NDR Comedy Contest<br />

RBB<br />

18.00 Weniger arbeiten –mehr leben<br />

18.32 Die rbb Reporter –Karpfen Blau<br />

19.00 Heimatjournal<br />

19.30 Abendschau<br />

20.00 Tagesschau<br />

20.15 Liebling Kreuzberg<br />

21.00 Liebling Kreuzberg<br />

21.45 rbb aktuell<br />

22.15 Micmacs –Uns gehörtParis! Komödie,F2009.Regie:<br />

Jean-PierreJeunet.<br />

Mit DanyBoon, AndréDussollier<br />

23.55 Ein perfekter Platz. Komödie,F<br />

2006.Regie: Danièle Thompson.<br />

Mit Cécile De France, Laura<br />

Morante<br />

MDR<br />

18.15 Unterwegs in Sachsen-Anhalt<br />

19.00 MDR Regional<br />

19.30 MDR aktuell<br />

19.50 Quickie<br />

20.15 Abschied istein leises Wort<br />

21.45 MDR aktuell<br />

22.00 Jan Smit –Ich bin da<br />

23.30 Der tote Taucher im Wald. Krimikomödie,D2000.Regie:<br />

Markus Rosenmüller.Mit Dieter<br />

Pfaff,Niki Finger<br />

1.05 Der Fluch der BetsyBell. Horrorthriller,GB/CDN/RUM/USA<br />

2005.Regie: CourtneySolomon.<br />

Mit Donald Sutherland,<br />

Sissy Spacek<br />

PHOENIX<br />

12.00 Marilyn Monroe<br />

12.30 Theophanu<br />

13.15 Kaiserin Adelheid<br />

14.00 Liebe im Mittelalter<br />

14.45 Katharina vonBora<br />

15.30 Die vergiftete Mätresse<br />

16.15 Die eiskalte Zarin<br />

17.00 Liebe an der Macht<br />

17.45 Liebe an der Macht<br />

18.30 Zwei Brüder –Eine Krone<br />

19.15 Geheimnisse des Dritten Reichs<br />

20.00 Tagesschau<br />

20.15 Mätressen–Die geheime<br />

Machtder Frauen<br />

21.00 Mätressen–Die geheime<br />

Machtder Frauen<br />

21.45 Mätressen–Die geheime<br />

Machtder Frauen<br />

22.30 Intim mit dem Feind<br />

23.15 Zwei Brüder –Eine Krone<br />

0.00 Liebe an der Macht<br />

0.45 Mätressen–Die geheime<br />

Machtder Frauen<br />

1.30 Mätressen–Die geheime<br />

Machtder Frauen<br />

3.00 ZDF-History<br />

........................................................................................................................................................................................................<br />

pflegerinSabrinaDobisch(wunderbarrehäugig:LaviniaWilson)<br />

ANNE HAEMING<br />

DER WOCHENENDKRIMI<br />

in ihrem eigenen TunverstolpertundallezuDarstellernihrer<br />

eigenen Seifenoper degradiert,<br />

istdiereineWonne.<br />

Schwarzer Ihr Tonfall istimmer liebevoll,immerfürsorglichundempathisch.<br />

„Ja, Herr Kellermann,<br />

Engel<br />

ichbingleichda!“,flötetsiedem<br />

Gleich vorweg: Das ist ein Pflegefall im Nebenzimmer zu.<br />

„Tatort“,beidemSievonAn-<br />

Und dreht den Schwarz-Weißfanganwissen,werderTäter<br />

Filmlauter,wodieLiebesogroß<br />

ist. Verzeihung: die Täterin.<br />

AberkeineSorge,dieKnaller,die<br />

in der Folge„Borowski und der<br />

Engel“stecken,machendiefehlende<br />

Spannung locker wieder<br />

wett. Denn wie sich die Altenundsoeinfachundsoeindeutig<br />

ist.UndderAlte?Derstirbtderweilnebenan.DerEngelruftordnungsgemäß<br />

den Notarzt, und<br />

alssiespäter,nachderSchicht,in<br />

hollywoodreifemKleidausdem Hölzern as usual: Sibel Kekilli als Kommissarin Sarah Brandt Foto: ARD<br />

Friseurladenstolziert,istsieeine<br />

andere.<br />

Wosiehinkommt,gibtesTote,<br />

dieGrenzezwischenUnfallund<br />

Mordverwischt.KommissarBorowski(AxelMilberg)undAssistentinSarahBrandt(SibelKekilli,hölzernasusual)checkeneinfachnicht,wiederEngel,dieverschuldete<br />

Immobilienmaklerin<br />

(Leslie Malton) und der Toddes<br />

Jungpianisten, Sohn eines Bankiers(HorstJanson),zusammenhängen.<br />

Die Tonlagen zwischen dem<br />

bräsig-unterkühlten Borowski-<br />

StilunddemslapstickhaftenInferno,<br />

das der Engel mit sich<br />

bringt,sindsoverschieden,dass<br />

esquietscht.Abernursofunktioniert’s:MansiehtdasKawumms<br />

nichtkommen, das DrehbuchautorSaschaArango<br />

und Regisseur<br />

Andreas Kleinertdauernd<br />

mittenreinschmeißen.UndverschlucktsichamSchock-Lachen.<br />

Nur Janson ist natürlich eine<br />

komplette Fehlbesetzung: Rollstuhl?Gehstock?Mensch,Horst,<br />

den Geronten kauft dir keiner,<br />

äh, keine ab! Ehrlich, selbstmit<br />

78bistduderartsexy,dasssogar<br />

GeorgeClooneydagegenwieein<br />

Knilchwirkt.DuLässigsteraller<br />

Sunnyboys.<br />

■ Kiel-„Tatort“: „Borowski und<br />

der Engel“; So., 20.15Uhr, ARD<br />

TAGESTIPP<br />

SONNTAG:<br />

… „WHO WANTSTOBEAMILLIONAIRE?“ (1998–2013), „PUNKT 6“ (1997–2013), „DER LANDARZT“(1987–<br />

2013), „BRITT“ (2001–2013), „DER LANDSER“ (1957–2013), 90ELF (2008–2013), „INKA!“ (2013–2013). RIP<br />

Fotos: Arte France; Sebastian Kahnert/dpa (rechts)<br />

Chaplin-Dokus gibtesnie genug, hier eine Weitere:<br />

Serge Brombergund Eric Lange haben in<br />

Archiven gewühlt und zeichnen die Anfänge<br />

des „Tramps“ und „Großen Diktators“ nach. Im<br />

Anschluss: Chaplins „The Kid“ und „Der Graf“.<br />

■ „Charlie Chaplin, wie alles begann“,<br />

21.40 Uhr,Arte<br />

ARD<br />

8.35 Tierebis unters Dach<br />

9.00 Tierebis unters Dach<br />

9.30 Die Sendung mit der Maus<br />

10.05 Ski-Weltcup<br />

19.15 Drama am Gipfel (1/2)<br />

20.00 Tagesschau<br />

20.15 Tatort: Borowski und der Engel.<br />

D2013<br />

21.45 Iron Man 2. Comicverfilmung,<br />

USA 2010.Regie: Jon Favreau.<br />

Mit RobertDowneyjr.,Gwyneth<br />

Paltrow<br />

23.40 Tagesthemen<br />

23.55 The WayBack –Der lange Weg.<br />

Abenteuerfilm, USA/PL/VAE<br />

2010.Regie: Peter Weir.Mit Colin<br />

Farrell, Ed Harris<br />

2.00 Iron Man 2. USA 2010<br />

ZDF<br />

8.10 Löwenzahn<br />

8.35 Löwenzahn Classics<br />

9.00 sonntags<br />

9.30 Evangelischer Gottesdienst<br />

10.20 Weißblaue Wintergeschichten<br />

11.25 Die Helene Fischer-Show<br />

14.20 Rosamunde Pilcher: Vier Jahreszeiten<br />

15.55 Rosamunde Pilcher: Vier Jahreszeiten<br />

17.25 Downton Abbey<br />

19.00 heute<br />

19.10 Berlin direkt<br />

19.30 TerraX:ExpeditionDeutschland<br />

(2)<br />

20.15 Inga Lindström: Feuer unterm<br />

Dach<br />

21.45 heute-journal<br />

22.00 Inspector Barnaby: Geisterwanderung.<br />

GB 2010<br />

23.30 ZDF-History<br />

0.20 Beginners.Drama, USA 2010.<br />

Regie: MikeMills.Mit Ewan Mc-<br />

Gregor,Christopher Plummer<br />

1.55 Frag den Lesch<br />

RTL<br />

12.00 sonntags.live<br />

13.40 Familien Duell Prominenten-<br />

Special<br />

14.40 Bauer suchtFrau–Wasist auf<br />

den Höfen los?<br />

15.40 Der V.I.P.Bus –Promis auf Pauschalreise<br />

17.45 Exclusiv –Weekend<br />

18.45 RTL Aktuell<br />

19.05 Die erfolgreichsten Disneyfilme<br />

aller Zeiten (1/1)<br />

20.15 Küss den Frosch<br />

22.05 Spiegel TV Magazin<br />

22.50 Death Race.Actionfilm, USA/D/<br />

GB 2008.Regie: Paul W.S. Anderson.<br />

Mit Jason Statham, Joan<br />

Allen<br />

0.45 Faculty –Traukeinem Lehrer.<br />

Horrorthriller,USA1998.Regie:<br />

RobertRodriguez. Mit Jordana<br />

Brewster,Clea DuVall<br />

SAT.1<br />

13.50 Asterix bei den Olympischen<br />

Spielen. Komödie,F/D/E/I/B<br />

2008.Regie: Frédéric Forestier,<br />

Thomas Langmann. Mit Clovis<br />

Cornillac,GérardDepardieu<br />

16.15 Bedtime Stories.Familienkomödie,USA<br />

2008.Regie: Adam<br />

Shankman. Mit Adam Sandler,<br />

Keri Russell<br />

18.15 Wickie und die starken Männer.<br />

Abenteuerfilm, D2009.Regie:<br />

Michael Herbig<br />

19.55 SAT.1Nachrichten<br />

20.15 Navy CIS: Ghostrunners.USA<br />

2012<br />

21.15 Navy CIS: L.A.: Der Meisterdieb.<br />

USA 2011<br />

22.15 Hawaii Five-0<br />

23.10 HouseofCards<br />

0.10 HouseofCards<br />

PRO7<br />

13.00 Big Fish. Fantasyfilm, USA<br />

2003.Regie: Tim Burton. Mit<br />

Ewan McGregor,AlbertFinney<br />

15.25 The Da Vinci Code –Sakrileg.<br />

Mysterythriller,USA 2006.Regie:<br />

RonHoward. Mit Tom<br />

Hanks, Audrey Tautou<br />

18.00 Newstime<br />

18.10 Die Simpsons<br />

19.05 Galileo<br />

20.15 Hangover. Komödie,USA2009.<br />

Regie:ToddPhillips.MitBradley<br />

Cooper,EdHelms<br />

22.25 Gesetzder Rache.Thriller,USA<br />

2009.Regie: F. GaryGray. Mit<br />

GerardButler,Jamie Foxx<br />

0.30 Shooter.Actionthriller,USA<br />

2007.Regie: Antoine Fuqua<br />

KI.KA<br />

8.05 Ein Engel füralle!<br />

8.35 stark!<br />

8.50 neuneinhalb –Deine Reporter<br />

9.00 Checker Can<br />

9.25 Paula und die wilden Tiere<br />

9.50 Zoés Zauberschrank<br />

10.15 Kleine Prinzessin<br />

10.25 TOMund das Erdbeermarmeladebrot<br />

mit Honig<br />

10.35 Siebenstein<br />

11.05 Löwenzahn<br />

11.30 Die Sendung mit der Maus<br />

12.00 Die Schneekönigin. Märchenfilm,<br />

SU 1966.Regie: Gennadi<br />

Kazansky. Mit Lena Proklova,<br />

Slawa Zjupa<br />

13.20 Sweethearts<br />

13.30 Schau in meine Welt!<br />

13.55 kurz+klick<br />

14.10 Really Me –Der Star bin ich!<br />

14.30 Sturmfrei<br />

15.00 Krimi.de/Jena –Katzenauge<br />

15.45 Trickboxx<br />

16.00 Willi wills wissen<br />

16.25 Hexe Lilli<br />

17.35 1, 2oder 3<br />

18.00 Shaun das Schaf<br />

18.15 Die Biene Maja<br />

18.40 Lauras Stern<br />

18.50 Unser Sandmännchen<br />

19.00 Das Dschungelbuch<br />

19.25 pur+<br />

19.50 logo! Die Welt und ich.<br />

20.00 OccupySchool –Comedians besetzendie<br />

Schule<br />

20.25 Prank Patrol –Die Streichpatrouille<br />

ARTE<br />

8.00 Ein Tagmit ...<br />

8.10 GEOlino<br />

8.25 Kleckse,Kunst, Künstler<br />

8.45 Es wareinmal ... unsereErde<br />

9.10 Prinzund Bottel<br />

9.50 X:enius<br />

10.20 Werhat Angstvor dem Weißen<br />

Hai?<br />

11.45 Meeresströmungen –Tanzder<br />

Ozeane<br />

12.45 Die Südsee<br />

13.30 Die Südsee (2/6)<br />

14.15 Die Südsee (4/6)<br />

15.00 Die geheime Welt der Termiten<br />

16.00 Schwanensee,ein getanztes<br />

Märchen<br />

16.50 Schwanensee<br />

19.15 ARTE Journal<br />

19.35 Karambolage<br />

19.45 Zu Tisch in ...<br />

20.15 ModerneZeiten.Tragikomödie,<br />

USA 1936.Regie: Charles Chaplin.<br />

Mit Charles Chaplin, Paulette<br />

Goddard<br />

21.40 Charlie Chaplin, wie alles begann<br />

22.40 The Kid. Stummfilmkomödie,<br />

USA 1921. Regie: Charles Chaplin.<br />

Mit Charles Chaplin, Jackie<br />

Coogan<br />

23.30 Der Graf<br />

23.55 Rossini: Petite Messe Solennelle<br />

1.30 Arthur –Die Erfindung eines Königs<br />

3SAT<br />

18.45 Der Äquator –Breitengrad der<br />

Extreme (1 +2+3+4+5/5)<br />

22.20 Tiger &Dragon. Martial-Arts-<br />

Drama, TWN/HK/USA/CHN<br />

2000.Regie: Ang Lee. Mit Yun-<br />

FatChow, Michelle Yeoh<br />

0.15 Blind Side –Straße in den Tod<br />

1.50 Bis aufsBlut. Western, USA/E<br />

1962. Regie: Michael Carreras.<br />

Mit RichardBasehart, Paquita<br />

Rico<br />

BAYERN<br />

19.45 Wirtshausmusikanten beim<br />

Hirzinger<br />

21.15 freizeit<br />

21.45 Rundschau-Magazin<br />

22.00 Django Asül: Rückspiegel 2013<br />

–Ein satirischer Jahresrückblick<br />

22.45 Bayerischer Kabarettpreis 2013<br />

0.25 Gardenia –Eine Frau will vergessen.<br />

Psychokrimi, USA 1953.<br />

Regie: Fritz Lang. Mit Anne Baxter,RichardConte<br />

1.50 Dschungel im Sturm. Liebesdrama,<br />

USA 1932.Regie: Victor Fleming.<br />

Mit Clark Gable,Jean Harlow<br />

MAGAZIN<br />

SWR<br />

20.15 Die schönsten Naturparadiese<br />

im Südwesten<br />

21.45 SWR Landesschau aktuell<br />

23.15 Spätschicht–Die SWR Comedy<br />

Bühne<br />

0.00 Meine Lachgeschichte: Dr.Eckartvon<br />

Hirschhausen<br />

0.45 GrafYostergibtsichdieEhre:Ein<br />

brillanter Plan /Strahlendes<br />

Wasser. D/F1970<br />

HESSEN<br />

20.15 Erlebnis Mühle<br />

21.45 Das große Hessenquiz<br />

22.30 Dings vomDach<br />

23.15 strassenstars<br />

23.45 Werweisses?<br />

0.30 Ich trage einen großen Namen<br />

1.00 In Flammen –Die mit dem Feuer<br />

spielen<br />

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TESTEN!<br />

WDR<br />

20.15 Wunderschön! Wintersonne in<br />

NRW<br />

21.45 Schmitz' Mama<br />

22.45 Ein Herz und eine Seele<br />

0.15 Rockpalast: Fettes Brot<br />

NDR<br />

20.15 Das große Wunschkonzert<br />

21.45 50 JahreDinner forOne<br />

23.30 Die beliebtesten Komiker des<br />

Nordens<br />

0.15 Tatort: Feuerkämpfer.D2006<br />

RBB<br />

20.15 Andrea Berg–Die 20 Jahre<br />

Show<br />

23.05 Playgirl. Milieustudie,D1966.<br />

Regie: Will Tremper.Mit Eva<br />

Renzi, Harald Leipnitz<br />

0.30 Der Profi 2. Actionfilm, F1987.<br />

Regie: Jacques Deray.Mit Jean-<br />

Paul Belmondo,Michel Creton<br />

MDR<br />

19.50 Kripo live<br />

20.15 Damals war's<br />

21.45 MDR aktuell<br />

22.00 Wie der Kudamm nach Karl-<br />

Marx-Stadt kam<br />

22.45 Eolomea. Science-Fiction-Film,<br />

DDR/BUL/SU 1972.Regie: Herrmann<br />

Zschoche.Mit CoxHabbema,<br />

Iwan Andonow<br />

0.10 Die lange Biwak-Nacht<br />

PHOENIX<br />

13.00 Glaubenswege<br />

17.30 Ashoka–Der indische Krieger<br />

Buddhas<br />

18.15 Islam heißt Hingabe<br />

18.30 Werwar Jesus?<br />

19.15 Werwar Jesus?<br />

20.00 Tagesschau<br />

20.15 Werwar Jesus?<br />

21.00 Gefährlicher Glaube<br />

21.45 Bis aufsBlut<br />

22.45 Schöpfungsmythen<br />

0.15 Amen!<br />

1.10 Teufels Werk und Gottes Beitrag<br />

2.40 Glaubenswege


sonntaz |FLIMMERN +RAUSCHEN<br />

www.taz.de | medien@taz.de apple SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 39<br />

ABGESANGDieJugendholtsichihreBewegtbilderimNetz.IstdasklassischeFernsehennochzuretten?<br />

Hashmichdoch!<br />

MehrAnspruch<br />

VON JULIA NEUMANN<br />

DerschnelleKlicktötetdas<br />

lineare Fernsehen. Im<br />

Internet gibt es alles on<br />

demand, auf Knopfdruck,<br />

ein Klick genügt. Für das<br />

Fernsehenheißtdas:DieJugend,<br />

die begehrte Zielgruppe der 14-<br />

bis29-Jährigen,hautabinsNetz.<br />

Wastun, um sie wieder einzufangen?<br />

Ein Jugendkanal muss her,<br />

dachte mansich bei ARD und<br />

ZDF.Crossmedial sollte er sein,<br />

alleKanälebespielend: Fernsehen,RadioInternet.Rund45Millionen<br />

Euroveranschlagte man<br />

für das Projekt –und scheiterte<br />

damitimHerbstvorerstamVeto<br />

der Ministerpräsidenten der<br />

Länder.ZukostspieligdasGanze,<br />

dasinhaltlicheKonzeptüberzeugenicht.<br />

Tatsächlich istdie crossmedialeIdee<br />

nichtgerade neu –und<br />

bisherauchnochnichtüberzeugenderfolgreich,wennesdarum<br />

geht,dieJugendausdemNetzzu<br />

fischen. Die „Tageswebschau“<br />

zumBeispiel,dieabJuni2012gut<br />

einJahrlangaufdenDigitalkanälenEins<br />

Plus, Eins Festivalund<br />

tagesschau24 ausgestrahltwurde<br />

und in der Mediathek abrufbar<br />

war. Das Konzept: Junges<br />

Team, junge Protagonisten als<br />

Moderatoren, Themen ausdem<br />

Internet. Eine Mischung aus<br />

„Tagesschau“ und den jungen<br />

ARD-Hörfunkwellen.<br />

„Wir haben versucht, unsere<br />

QuellenausdemInternetzu beziehen,ausSozialenNetzwerken.<br />

Wirhaben geschaut, wasTrending-Topic<br />

bei Twitter ist“,sagt<br />

Redaktionsleiter Marcello Bonventre.<br />

Die Zielgruppe ging ihm<br />

trotzdemdurchdieMaschen:Im<br />

Mai 2013 kappte die ARD die Finanzierung<br />

wegen ungenügend<br />

hoherAbrufzahleninderMediathek.<br />

Bonventremachtetrotzdemweiter,mit<br />

der „Wochenwebschau“,<br />

einem Wochenmagazin mitwenigerBudget,dasnunalleineaus<br />

dem schmalen Topf der kleinsten<br />

ARD-Anstalt, dem chronisch<br />

defizitärenRadioBremen,finanziertwird.<br />

„Es istmagaziniger,<br />

mitjungen Protagonisten“, sagt<br />

Bonventre.IneinerAusgabegeht<br />

es um Online-Adventskalender,<br />

eine Comic-App und einen Blog<br />

miteinem Hund, der komische<br />

Die Jugend. Immer im Netz Foto: Vincent van Dam/Flickr/Getty Images<br />

Sachen aufdem Kopf hat. Funktioniertnur<br />

leichte Kost?Nein,<br />

sagtBonventre.Bisherammeisten<br />

geklickt worden sei ein Beitrag<br />

über die Diskriminierung<br />

vonHomosexuelleninRussland.<br />

Es sollejaauch ein journalistisches<br />

Produkt sein, etwas Verlässliches.<br />

Aber: „Wir brauchen<br />

mehrKlicks.“<br />

AmBerlinerOstbahnhofsteht<br />

eine alte Fabrik aus Backstein,<br />

derbraunePutzbröckeltvonden<br />

Wänden im Treppenhaus. Ein<br />

mit schwarzer Farbe gemalter<br />

PfeilweistdenWegnachoben:in<br />

die Zukunft, die hier ein großer<br />

Raumist,hellweißbeleuchtet,in<br />

demjungeMenschengeschäftig<br />

wuseln.VonhiersendetJoiz.Der<br />

private schweizerische Jugendkanalstartete<br />

im Augustund ist<br />

via Kabel und Satellit auch in<br />

Deutschlandzuempfangen.Das<br />

Motto:DieJugendbestimmt,was<br />

imFernsehenpassiert.SocialTV,<br />

die Couch-Kartoffel wirdaktiver<br />

Nutzer.JugendlichesollenInhalte<br />

mitgestalten, per Chat,Skype<br />

undindenSozialenNetzwerken.<br />

Für die Macher istdas Internet<br />

Primärquelle. Mittzwanziger<br />

quatschen in Talks über den<br />

Syrienkrieg, den Internetminister,einen<br />

Pornodarsteller oder<br />

gutenSex.<br />

OliverPocher,Casper und SelenaGomezsaßenschonaufder<br />

Couch. Dauergast: das Internet.<br />

Ein Bildschirm im Hintergrund<br />

zeigt die Chatkommentare. Wer<br />

dabei sein will, wirdnach kurzem<br />

Vorgespräch per VideotelefonieindieSendunggeschaltet–<br />

und hinterher fürs interaktive<br />

DabeiseinmitWerbegeschenken<br />

belohnt.<br />

Geschäftsführer Carsten Kollmusglaubt<br />

an das Medium. Der<br />

Sender trägt sich zwar noch<br />

nicht,inderSchweizwareraber<br />

bereits nach zwei Jahren rentabel.„WirholendieLeuteinsFernsehenzurück.Esisteherso,dass<br />

der Trend zum Second Screen<br />

geht.“ Kollmus istsicher: „Fernsehenwirdnietotsein.“ZurNot<br />

erhalten eben kleine Geschenke<br />

dieFreundschaft.<br />

„SocialTVistkeinRettungsanker“,<br />

sagt dagegen Christopher<br />

Buschowvom Institutfür Journalistik<br />

in Hannover. Er forscht<br />

seitzweiJahren zu dem Phänomen<br />

Social TV.„Es wirdBewegtbildgeben–aberobsoetwaswie<br />

Fernsehen mit linearen Programmabläufen<br />

überhaupt<br />

noch eine Rollespielen wird, da<br />

bin ich mir nicht sicher.“ Das<br />

Fernsehen sei kein relevantes<br />

Medium mehr für Jugendliche.<br />

„Die würden aufeine einsame<br />

Insel nichtden Fernsehen mitnehmen,<br />

sondern ihr Smartphone.“<br />

FünfterStockineinerDachgeschosswohnung<br />

in Berlin. Im<br />

Wohnzimmer stehen große Sessel,aufeinemgoldenenSchwein<br />

reitet eine Spiderman-Puppe.<br />

Hier entsteht„Wasgehtab“,ein<br />

Youtube-Kanal mitNachrichten<br />

fürJugendliche.Seriössollendie<br />

sein,aberdabeinichtsosteifrüberkommen.<br />

Florian, Frodo,StevenundRickredeninihrenprivaten<br />

Kanälenüber Onlinespiele,Vaginapilze<br />

und Schlussmachen.Für„Wasgehtab“sprechen<br />

sie Nachrichten ein. Ihre Zielgruppe:<br />

13- bis 21-jährige Youtube-User.Vier<br />

bis fünf Videos<br />

werdenamTaggedreht,mindestens<br />

18 in der Woche. Ohne das<br />

UnternehmenMediakraftwürde<br />

das nichtgehen. Das Netzwerk<br />

nimmtYoutuber unter Vertrag,<br />

übernimmt die Vermarktung,<br />

akquiriert Werbepartner. Ähnlich<br />

wie eine Plattenfirma bekommtMediakraft<br />

dafür einen<br />

AnteilderEinnahmen.DieFirma<br />

machtnochkeinenGewinn,sondern<br />

wird von Gesellschaftern<br />

undInvestorenfinanziert.<br />

Redaktionsleiter Alex Moebius<br />

sprichtvon „früher Bildung“<br />

als Konzept. Ganz schön ambitioniert,<br />

denn die Youtuber klicken<br />

am liebsten Schabernack.<br />

„DukriegstebenmehrKlicksmit<br />

lustigenSketchen,wennduüber<br />

Celebrities herziehst oder aus<br />

deinemAlltagerzählst.“180.000<br />

Abonnenten hatder Kanal. Um<br />

die 40.000 Klicks haben die<br />

„Flash-News“, knappdreiminütige<br />

Videos im wilden Themenmix,vonAngelaMerkelsneuem<br />

Kabinett, über Nelson Mandelas<br />

TodbiszurDebatteumdieLegalisierungvonMarihuana.<br />

MehrKlicks<br />

„Umuns zu finanzieren bräuchten<br />

wir das zehn- bis zwanzigfacheanKlicks.“DerNachrichtenkanalprofitiertvon<br />

den Youtubern<br />

als bekannte Marke. Die<br />

Fanswollenwissen,obSteveneineneueBrillehat.Undvielleicht<br />

tatsächlich etwas über Merkels<br />

neuesKabinetterfahren.<br />

Soll das öffentlich-rechtliche<br />

Fernsehen sich also einfach ein<br />

Beispiel an Youtube nehmen?<br />

Nicht Fernsehen mit ein bisschen<br />

Internet, sondern Internet<br />

mit Fernsehen? Da wäre dann<br />

der Rundfunkstaatsvertrag im<br />

Weg: ein Angebot, das ausschließlich<br />

oder primär im Web<br />

existiert,istnichtvorgesehen.<br />

Doch im Prinzipwäre ein öffentlich-rechtliches<br />

Youtube die<br />

Zukunft, sagt Markus Hündgen,<br />

VeranstalterdesDeutschenWebvideo-Preises.<br />

Bewegtbild ohne<br />

Fernseher,ohnedenStaubdesLinearen.<br />

Er sagt: „Journalismus<br />

und Bildung sind weiße Flecken<br />

auf der deutschen Webvideo-<br />

Landkarte.“ Es fehleanVideos<br />

mitjournalistischen,edukativen<br />

Inhalten. Die hätten dann auch<br />

nichtszutunmitYoutubern,die<br />

„vermeintlich hippe Fließbandware<br />

über die Kanäle schieben“.<br />

Da gebe es für die Öffentlich-<br />

Rechtlichen eine Lücke–wenn<br />

siesiedennutzendürften.<br />

Visionen<br />

Ein öffentlich-rechtliches<br />

Youtube, das wäre doch<br />

eigentlich die Zukunft, sagt<br />

Blogger Markus Hündgen


40 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple www.taz.de | wahrheit@taz.de DIE WAHRHEIT | sonntaz<br />

DER BUNDESGEDÄCHTNISTRAINER EMPFIEHLT: ARSCH AUF EIMER<br />

DAS WETTER: AUFGEPASST!<br />

Gabrielfoto: reuters<br />

Wasesalles gibt! Sogar einen<br />

BundesverbandGedächtnistraining.<br />

Um die Merkfähigkeitzu<br />

steigern,empfehlendieBundesgedächtnistrainer<br />

Alten und<br />

Vergesslichen, „zehn Minuten<br />

Gedächtnistraining am Tag“ zu<br />

betreiben:„LesenSiedieZeitung<br />

und versuchen Sie anschließend,<br />

sich an die wichtigsten<br />

Themen zu erinnern. Dasselbe<br />

können Sie bei den Fernsehnachrichten<br />

ausprobieren. MachenSiesichfürsEinkaufeneine<br />

ListeundlernenSiesieauswendig.DabeihilfteinTrick:Ordnen<br />

SiejedesProdukteinemKörperteilzu.“GehtdasmitdenKörperteilen<br />

auch bei den Fernsehnachrichten?<br />

Dann versuchen<br />

wirdasmal:Inder„Tagesschau“<br />

tauchtSigmar Gabriel auf. Jetzt<br />

müssen wir uns ein passendes<br />

Körperteil denken … Moment<br />

mal! Das isteinfach. Zu Sigmar<br />

Gabrielpasstdiesesdicke,breite<br />

DinghintenuntermRücken.Wie<br />

heißtdasnochmal?Genau!Ein<br />

Arsch. Tatsächlich!DasfunktioniertwieArschaufEimer!Sovergessen<br />

wir Sigmar Gabriel nie<br />

mehr.WasfüreintollerTrickfür<br />

unserGedächtnis.Danke,werter<br />

BundesverbandGedächtnistraining.DaswerdenwirjetztmitallenFernsehnasenprobieren<br />

…<br />

Es warimmer dasselbe, es war<br />

unausweichlich,eswarzumKotzen.<br />

Dem 1. Januar stand es bis<br />

hier.364,manchmal365Tagekamennochnachihm,dochChinaböller,<br />

Knallfrösche, römische<br />

Lichter,Raketen, Bombenrohre<br />

undwasalles:Kaumhatteder1.<br />

Januarum0Uhr0seinenDienst<br />

angetreten, brach die Höllelos.<br />

Da knallte, knatterte, krachte,<br />

platzte, explodierte es wie ver-<br />

rückt, nirgends gabesein ruhigesPlätzchen.DazuderGestank,<br />

derNebel!Aberdiesmalsollteallesanders<br />

werden, der 1. Januar<br />

hattemiteinemanderenTaggetauscht.<br />

Mitwelchem, warsein<br />

großes Geheimnis. Nursoviel:<br />

Wer diesmal Pyrotechnik abbrennenwürde,würdedaswahreNeujahrgarnichtmitkriegen!<br />

InschadenfroherVorfreuderieb<br />

sichder1.JanuardieHände.<br />

TanteLola lebt<br />

NACHBARLÄDENDerkleineSexshopvonnebenanfeierteinComeback<br />

Alles wirkt so vertraut:<br />

Die Türglockebimmelt,<br />

bunte Plastikstreifen<br />

wehen mir entgegen.<br />

Schummriges Rotlichtfälltauf<br />

den schmuddeligen Tresen mit<br />

derWaage,anderder62-jährige<br />

HeinzP.geradegebrauchteVHS-<br />

Cassetten zum Kilopreis abwiegt.<br />

Alles weistauf einen guten<br />

alten Sexshop hin, wie ihn<br />

diemeistenvonunsnochausJugendtagenkennen,dochderEindruck<br />

täuscht: Keine zwei Wochen<br />

istesher,dass der Verein<br />

„Tante Lola e.V.“sein Ladenlokal<br />

eröffnet hat, um eine Tradition<br />

wiederzubeleben, die andernortslängstverlorengegangenist.<br />

GewisseinDutzendNeugieriger<br />

schiebt sich an mir vorbei,<br />

mithochgeschlagenem Mantelkragen<br />

und ausgebeulter Hose.<br />

Schon jetzt übertrifft der Erfolg<br />

desungewöhnlichenProjektsalle<br />

Erwartungen. Die Registrierkasse<br />

klingeltimFünfminutentakt,<br />

während Videos, Strapse<br />

undasiatischeLustkugelnindiskret<br />

unbeschriftete Packpapiertütenwandern.<br />

„WirhabendenLadenalsNon-<br />

Profit-Organisation gegründet,<br />

wollten eigentlich nur Bürgersinnzeigen“,<br />

freutsichFrührentnerHeinzP.,dergemeinsammit<br />

Spätaussiedlerin Bianca Z. die<br />

Vielevermisstenden<br />

gepflegtenPlausch<br />

imLadenzwischen<br />

StrapsenundDildos<br />

Geschäftsleitung übernommen<br />

hat. „Gerade hier aufdem Land<br />

haben doch vielenur einen Videorecorder,aber<br />

nichts mehr,<br />

wassiereinsteckenkönnen.“<br />

Mit Hingabe kümmern sich<br />

die beiden Ehrenamtlichen um<br />

die Spezialwünsche ihrer Kundschaft.<br />

Wasnichtdaist,wirdbestellt:Hi-HeelsinGröße49,eine<br />

Eskimo-Gummipuppe, Kondome,<br />

die wie früher noch richtig<br />

nachKondomschmecken.<br />

Trotz des Andrangs lassen es<br />

sich die zwei nichtnehmen, jeden<br />

Neuankömmling namentlich<br />

zu begrüßen: „Gott zum<br />

Gruß,FrauDr.Pötter!“,ruftBianca<br />

Z. soeben. „Wie istdas Befinden<br />

der werten Geschlechtsteile?“<br />

Die Kunden danken es mit<br />

glutvollem Erröten und bedingungsloser<br />

Treue. Es scheint, als<br />

ob die kleine niedersächsische<br />

GemeindeihresozialeMittewiedergefundenhat.<br />

Früher nämlich gabessoeinenkleinenTante-Lola-Ladenan<br />

jeder Ecke. Für vieleältere MenschenwarerdieeinzigeMöglichkeit,sich<br />

mitdem täglichen Bedarfzuversorgen<br />

und malmit<br />

anderen ins Gespräch zu kommen<br />

–ein Ort, an dem mananschreiben<br />

lassen konnte, wenn<br />

der Druck am Monatsende zu<br />

groß wurde. In den letzten Jahrenjedochverschwandendieinhabergeführten<br />

Läden, wurden<br />

durch anonyme Kaufhallen mit<br />

steriler Beleuchtung und unfreundlichem<br />

Personal ersetzt.<br />

InScharenwandertendieKonsumenten<br />

erst zuden ErotikversandhäusernunddanninsInternetab,ganzeLandstrichehatten<br />

plötzlich keine funktionierende<br />

Pornoinfrastrukturmehr.<br />

Junge Leute verließen solche<br />

Gegenden, um ihr Glück woanders<br />

zu suchen. Zurück blieben<br />

die Alten, die Armen und die<br />

Technikverweigerer. Doch immermehrvonihnenvermissten<br />

denpersönlichenSchnackander<br />

Ausleihtheke, den gepflegten<br />

PlauschandenVitrinenmitden<br />

Handschellen, Gleitcremes und<br />

Muschikitzlern, das SchwätzchenüberGottunddieWelt.<br />

So ging es auch Heinz P. und<br />

Bianca Z. Voretwaeinem Jahr<br />

aberhattensieanderThekedes<br />

Dorfkrugs die rettende Idee<br />

gegenVereinzelungundEinsam-<br />

Im kleinen Sexshop nebenan kann man Nachbarschaft spüren Foto: imago<br />

keit:„WarumnehmenwirdieSache<br />

nicht selber in die Hand?<br />

Zum Beispiel den Superdildo<br />

‚Goliath‘ für 74,95 Euro?“ Statt<br />

endlos weiterzulamentieren,<br />

machten sich die beiden aufdie<br />

Suche nach toleranten Gleichgesinnten<br />

mit viel Tagesfreizeit.<br />

NachVereinsgründungwurdein<br />

Eigenleistung eine leerstehende<br />

Reinigungrenoviert,derKontakt<br />

zuchinesischenLieferantenaufgenommen,<br />

und als endlich die<br />

bürokratischen Hürden genom-<br />

menwaren,konntediegroßeEr-<br />

öffnunggefeiertwerden.<br />

„DerLadenschlugeinwieeine<br />

Bombe, eine Sexbombe gewissermaßen“,<br />

grinst Heinz P.<br />

schmierig. „Das halbeDorfkam<br />

angeschlichen, viele zwar mit<br />

hochgeschlagenemKragen,aber<br />

hier kenntjanun wirklich jeder<br />

jeden –nichtwahr,Herr Pfarrer?“Widerstrebendlöstsichder<br />

OrtsgeistlichevonderKlinkeder<br />

Videokabine und schmunzelt<br />

uns mitverstellter Stimme zu:<br />

„AlsderHeinzunddieBiancajedem<br />

vonuns ein Gläschen Sekt<br />

spendierthaben –Natursekt natürlich<br />

–, das hatunsere Nachbarschaft<br />

zusammengebracht.“<br />

SeithervergehtkeinTag,andem<br />

der Pfarrer die beiden nichtin<br />

seine einhändiges Nachtgebet<br />

einschließt.<br />

Und auch Heinz P. versteht<br />

langsam, welch unschätzbaren<br />

Diensterseinem Dorferwiesen<br />

hat. „Wenn die Tabusfallen, steigen<br />

Herzlichkeit und Wir-Gefühl“,<br />

brummterzufrieden und<br />

nimmtdie Hand ausder Hose<br />

des Geistlichen. Seine Beobachtung:<br />

Insbesondere das gemeinsame<br />

Granteln über die ständig<br />

steigenden Buttplug-Preise<br />

schweißeeineGemeinschaftzusammen.<br />

„Angeblich sind die<br />

erdölexportierenden Länder<br />

schuld –ja, ja, wer’s glaubt!“,<br />

schimpft er in die Menge, und<br />

derPfarrerwieauchalleanderen<br />

Anwesenden stimmen lautstark<br />

ein,ehesieunterderLadentheke<br />

verschwinden.<br />

Die ermutigenden Geräusche<br />

bürgerschaftlichen Engagements<br />

begleiten mich noch, als<br />

ichdenkleinenLadenlängstverlassen<br />

habe. MitSicherheitwird<br />

er anderswo bald Nachahmer<br />

finden –vielleichtsogar bei uns<br />

untenimHaus? MARK-STEFAN TIETZE<br />

WAHRES RÄTSEL 068<br />

VON RU<br />

GURKE DES TAGES<br />

Die Ziffern hinter den Fragen zeigen<br />

die Buchstabenanzahl.<br />

1 Kellners Dachkammer? Grauzellenzelle.<br />

(13); Viehischer Nachzügler wie Suppenwürzer.(13)<br />

2 Kopfschutz fürKaltes.(8)<br />

3 Wenn es bricht, kann ein Blutrettschal<br />

nichtschaden. (13)<br />

4 Verhalten in Vogelschwärmen. (13)<br />

5 Gefühlige Hardcoreunterabteilung. (3)<br />

6 Haarverlustgradangabe.(13)<br />

7 Warendie Zehn Gebotewirklich in Stein<br />

gemeißelt oder nichteher doch in das Material<br />

der Bundeslade geritzt? (9)<br />

8 Bevorergilt,gefragter Stand. (3)<br />

9 Nochkleiderschrank für2.(13)<br />

10BemuttertziemlichgroßeEllipsoide.(3)<br />

11 Überraschend noch zu vernehmendes<br />

Echo des Nikolausrufes.(3)<br />

12 Körbchenbefehl. (5)<br />

13Etwasleiser,s’ilvousplaît,Madame!(3)<br />

14 In drei Tagen nichtzuüberhören, der gesteigerte<br />

Heinrich. (7)<br />

15 So gehtder rohe Grobian lateinisch eine<br />

Sache an. (5)<br />

16 Mussdie zwei Cent Gebührenerhöhung<br />

nächste Woche nichtfürchten. (5)<br />

17 Sind in dessenGeltungsbereich Linkseigentlich<br />

erlaubt? (5)<br />

18 Auch dieser papierene Untergrund verdankt<br />

sich womöglich einem solchen. (3)<br />

19 Gemüsekommtdoppelt vomBeet. (4)<br />

20 Dertauchtundrührtin1senkrechtsflüssigem<br />

Ambiente.(13)<br />

21 Hallo,Robert! Wie geht’sinIndien? (5)<br />

22 So sind derzeit die Nächte.(3)<br />

23 Buchstabe vomStockwerk drüber oder<br />

drunter. (3)<br />

24 Dramatische Wasserstandsmeldung<br />

aus deutscher Literaturpersonalie.(4)<br />

25 Hottehü im Land des 10.(5)<br />

26 Hallo,Dienstmann! Der Franzmussgeschwind<br />

ins SchwarzeRössl! (5)<br />

27 Der sprechende Löwe?Eher nachgesagt.<br />

(3)<br />

28Dasgibtsvom10nurimXXL-Format.(2)<br />

29 Hellwegstation nichtnur fürEsel. (4)<br />

30 Ohne Fleiß kein Preis,ohne das kein<br />

Bloggen. (6)<br />

31 Die vorige Tätigkeit istauf jeden Fall so<br />

eine.(7)<br />

32Musserstsosein,wenn’sbesserwerden<br />

soll. (3)<br />

33 MedienverwaltungsgehilfeimTaschenformat.<br />

(5)<br />

34 FerienanschriftimInternet? (3)<br />

35 Einmal wär schon oft. (3)<br />

36 Rille fern des 38.(3)<br />

37WenndieReiheeineArtReiseantritt.(5)<br />

38 Vorne Essbares,hintenauf dem Tisch,<br />

zusammen wasfür die Ohren. (13)<br />

Die Buchstaben in den eingekreistenZahlenfeldern<br />

ergeben in geänderterReihenfolge<br />

das Lösungswort:Wallensteins bekannteste<br />

Bekannte warenKlomänner in<br />

Nürnberg.<br />

Auflösung vom21. 12. 2013<br />

RUPRECHT<br />

1ZWEISTROMLAND,ZWIEBELKUCHEN; 2<br />

WACH; 3ER; 4ISS; 5SCHEINRIESE; 6THE;<br />

7RAEUBERSCHACH; 8OUTLAW; 9ASSIAC;<br />

10DEMONSTRATION;11WARSCHAU;12IC;<br />

13 SHEETS; 14 EHE; 15 UL; 16 BIBO,BRENN-<br />

PUNKT; 17 BIH; 18 PI, PEENE; 19 BAHRAIN;<br />

20 HA; 21 EIGENGEWAECHS; 22 GAEREN;<br />

23GAG;24AERAR;25KOENIGSKINDER;26<br />

KONG; 27 ILSE; 28 DOCS; 29 REE; 30 COL-<br />

PO; 31 CIE; 32 IATA;33SEHNSUCHT; 34<br />

HANSE; 35 SAH; 36 AGENS; 37 ET; 38<br />

NACHSCHWATZEN<br />

Gewinner: Oliver Glindemann, Darmstadt;<br />

GabyRohr,Oebisfelde-Weferlingen;<br />

Frank Liepold, Rheinstetten.<br />

Zu gewinnen gibtesjeein Buch eines taz-<br />

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das Lösungswort bittebis zumEinsendeschlussam2.<br />

1. 2014 (Datum des Poststempels)<br />

per Postkartean: taz, Rudi-<br />

Dutschke-Straße 23,10969 BERLIN, oder<br />

per E-Mail an: raetsel@taz.de.Der Rechtswegist<br />

wie immer ausgeschlossen.<br />

Pferde,ihrfaulenSocken!„TrabrenntagamSonntaginMönchengladbachfälltaus“,meldete<br />

dpa. Nach Veranstalterangaben<br />

wurden „nicht genügend<br />

Pferde“gemeldet. Ja,habt ihr<br />

nochalleandenHufen,ihrGäule!DahängtihrüberWeihnachtenvollgefressenaufderCouch,<br />

glotzt Actionfilme und schiebt<br />

euch zwischen den sowieso<br />

schon fetten Mahlzeiten einen<br />

Dominosteinnachdemanderen<br />

zwischen die Zähne –und dann<br />

das! Jetzt flott die Pfunde wiederruntertraben,aberhottehü!<br />

apple taz.die tageszeitung erscheinttägl.MontagbisSamstag,Herausgeb.:<br />

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2/&732#308;+6/V69-32863/:V#2/;74+4/6:


KONTEXT:<br />

WOCHENZEITUNG<br />

Die Internetzeitung<br />

aus Stuttgart<br />

www.kontext-wochenzeitung.de<br />

143. Ausgabe |52. Woche Samstag |Sonntag, 28. |29. Dezember 2013 redaktion@kontextwochenzeitung.de<br />

1<br />

Zum Jahresende wollen alle an Ihren Geldbeutel.<br />

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Bundesrat beschließt zweites<br />

Scheitern in Karlsruhe“, höhnte<br />

die NPD,nachdem der Bundesrat<br />

im Dezember 2012 einen<br />

neuen Verbotsantrag gegen die Partei beschlossen<br />

hatte.Ein Jahr später,am3.Dezember<br />

2013, erreichte die Klageschrift<br />

der Länder das Bundesverfassungsgericht:<br />

„Die NPD steht außerhalb der Verfassung,<br />

sie bekämpft sie, und deshalb ist sie<br />

zu verbieten“, erklärte der Vorsitzende<br />

der Landesinnenminister-Konferenz, der<br />

niedersächsische SPD-Politiker Boris Pistorius.<br />

„Wir wollen dazu beitragen, dass<br />

die NPD nicht länger von Parteienprivilegien<br />

wie der staatlichen Parteienfinanzierung<br />

und somit von Steuergeldern profitiert.“<br />

Konkret: Den höchsten Betrag kassierte<br />

die Partei im Jahr 2008 in einer Höhe<br />

von 1,5 Millionen Euro, was 48,2 Prozent<br />

ihrer Gesamteinnahmen entsprach. 2009<br />

waren es 1,19 Millionen (37,3 Prozent),<br />

2010 gingen 1,17 Millionen (39 Prozent)<br />

ein, 2011 nochmals 1,3 Millionen (41,9<br />

Prozent), und 2012 waren es 1,44 Millionen.<br />

Nachdem die Partei einen fehlerhaften<br />

Rechenschaftsbericht abgegeben hat,<br />

werden ihr 2013 die zustehenden Mittel<br />

mit einem Bußgeld in Höhe von 1,27 Millionen<br />

Euro verrechnet. Zusammen mit<br />

den Fraktionsgeldern aus Sachsen und<br />

Mecklenburg-Vorpommern, wo die NPD<br />

in den Landtagen sitzt, hat der Steuerzahler<br />

von 2004 bis 2012 mehr als 20 Millionen<br />

Euro in Ausländerhass, Antisemitismus<br />

und Co. investiert.<br />

VomSteuergeld, das der NPD zugutekommt,<br />

profitiert die gesamte Nazibewegung.<br />

Denn die NPD spielt eine wesentliche<br />

Rolle, was die Nachwuchsrekrutierung<br />

für das gesamte rechtsextremistische<br />

Lager betrifft. Sie nutzt ihren Parteistatus,<br />

um werbewirksame Events zu veranstalten,<br />

die keine Freie Kameradschaft genehmigt<br />

bekäme. Darunter sind Großveranstaltungen<br />

wie der „Rock für Deutschland“<br />

in Gera. Dieses Konzert, mit NPD-<br />

Rednern als Pausenprogramm, hat im Jahr<br />

2009 mehr als 5.000 Leute angelockt. Unzählige<br />

Nazis zeigten unter den Augen der<br />

Polizei den verbotenen Hitlergruß.<br />

Die NPD bietet also Rahmenbedingungen,<br />

unter denen Nazis regelmäßig Straftaten<br />

verüben. Denn bei Rechtsrock-Konzerten<br />

gehören Propaganda- und Volksverhetzungsdelikte<br />

zum guten Ton. Meist<br />

werden sie von der Polizei aber weder sofort<br />

geahndet noch im Nachhinein verfolgt<br />

–soauch im Fall des „Rock für Deutschland“<br />

in Gera. Folglich stehen diese Straftaten<br />

in keiner Straftatenstatistik. Dementsprechend<br />

unvollständig und daher<br />

mangelhaft ist der NPD-Verbotsantrag.<br />

Die Länder,welche die Klageschrift eingereicht<br />

haben, sind für diese Mängel verantwortlich.<br />

Denn im deutschen Föderalismus<br />

ist die jeweilige Landespolizei für die<br />

Strafverfolgung zuständig.<br />

Gerade die Musik ist das mit Abstand<br />

bedeutendste Propagandainstrument der<br />

Neonazis. Konzerte ziehen massenhaft<br />

junge Leute an. Das haben sogar manche<br />

Sicherheitsbehörden erkannt. Nachdem<br />

„Hitler,steig hernieder“<br />

Reiner Rocker und Thomas Kuban<br />

Wieder einmal soll die NPD verboten werden. Diesmal<br />

versuchen es die Landesinnenminister mit „öffentlichen<br />

Beweisen“, also ohne Informationen von V-Leuten. Viel<br />

erfolgversprechender wäre es, wenn sie nur genau hinhören<br />

würden –zum Beispiel auf die hasserfüllte Musik,<br />

mit der die staatlich subventionierte Partei auf Stimmenfang<br />

geht<br />

Wir lieben unser Land, wir hassen diesen Staat“: Michael Regener, Sänger der<br />

Band „Die Lunikoff Verschwörung“ in Gera Foto: Kuban<br />

die Polizei in Baden-Württemberg anno<br />

2006 massiv gegen die rechtsextreme Musikszene<br />

vorgegangen war,indem sie Konzerte<br />

gestürmt hatte, stellte das Landesamt<br />

für Verfassungsschutz in seinem Jahresbericht<br />

fest, dass in der Folge das<br />

rechtsextreme Personenpotenzial zurückgegangen<br />

sei.<br />

Ian Stuart Donaldson, der als Gründer<br />

des internationalen Neonazi-Netzwerks<br />

„Blood &Honour“ gilt, hat bereits in den<br />

1980er-Jahren erkannt, dass ein Flugblatt<br />

höchstens einmal gelesen wird, ehe es im<br />

Mülleimer landet. Lieder werden hingegen<br />

auswendig gelernt und mitgesungen,<br />

so dass sich die Inhalte im Kopf festsetzen.<br />

Die NPD hat die Strategie von „Blood<br />

&Honour“ perfektioniert. Sie hat wiederholt<br />

sogenannte Schulhof-CDs herausgebracht.<br />

Das sind Tonträger mit Musik von<br />

rechtsextremen Bands, die kostenlos an<br />

Jugendliche verteilt werden. Außerdem<br />

werden die Lieder zum kostenlosen<br />

Download ins Internet gestellt. Darunter<br />

sind Songs wie „Fuck the USA“ der Band<br />

„Noie Werte“ aus Baden-Württemberg<br />

mit dem singenden Rechtsanwalt Steffen<br />

Hammer aus Reutlingen. „Fuck the USA“<br />

richtet sich gegen den Irakkrieg der USA<br />

und weist keinen rechtsextremen Charakter<br />

auf.Das kann für Überraschungseffekte<br />

sorgen. Denn es dürften mehr junge<br />

Leute einen derartigen Krieg ablehnen als<br />

mit der NPD sympathisieren. Mit einem<br />

solchen Lied im Ohr mag mancher Jugendliche<br />

ins Grübeln geraten: „Sind die<br />

Nazis vielleicht gar nicht so schlimm, wie<br />

es meine Geschichtslehrer immer behauptet<br />

haben?“<br />

„Die Dämme werden brechen,<br />

der deutsche Sturm bricht los“<br />

Die NPD nutzt Szenestars wie den ehemaligen<br />

„Landser“-Sänger Michael Regener<br />

und seine „Lunikoff Verschwörung“, um<br />

massenhaft Publikum anzulocken. Seine<br />

Botschaft beim „Rock für Deutschland“ in<br />

Gera: „Wir lieben unser Land, aber wir<br />

hassen diesen Staat. Ihr werdet sie noch<br />

aufgehen sehn, unsre Saat. Und dann gibt<br />

es keine Gnade,unser Hass ist viel zu groß.<br />

Ihre Dämme werden brechen, und der<br />

deutsche Sturm bricht los!“<br />

An Informationsständen von einschlägigen<br />

Gruppen und Organisationen können<br />

bei NPD-Veranstaltungen vielfältige<br />

Kontakte in die Bewegung hinein geknüpft<br />

werden. Und wenn zwischen den<br />

Bands führende Parteipolitiker wie Udo<br />

Pastörs oder Udo Voigt reden, welche den<br />

Mangel an Arbeitsplätzen beziehungsweise<br />

den Mangel an fair bezahlter Arbeit anprangern,<br />

dann kommt auch das bei jungen<br />

Leuten an –obwohl sie wegen der<br />

Redner vermutlich nie zu einer NPD-Veranstaltung<br />

gegangen wären.<br />

Udo Pastörs,der NPD-Fraktionsvorsitzende<br />

im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern,<br />

sagte am 27. Juni 2009 beim<br />

NPD-Sommerfest in Sachsen: „Wir erleben<br />

zurzeit einen wirtschaftlichen und damit<br />

auch sozialen Niedergang,wie er nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg nie stattgefunden<br />

hat, liebe Freunde. Und daraus wird die<br />

nationalistische Opposition den Nektar<br />

saugen, den sie als Kraftstoff braucht.“<br />

Pastörs,der inzwischen Vizechef der NPD<br />

ist, stellte die Frage,obes„nicht doch sein<br />

könnte, dass wir in einer Art judendominierten<br />

Republik leben“. Abgeordnete<br />

außerhalb der NPD diffamierte er als „rote,<br />

bolschewistische, demokratisch angemalte<br />

Affen“. Und er appellierte an das<br />

Publikum, in dem vom Kleinkind bis zum<br />

Rentner alle Generationen vertreten waren:<br />

„Wir sollten alles andere tun, als dieses<br />

Schiff wieder seetüchtig machen zu<br />

wollen. Wirsollten das Gegenteil tun: Wir<br />

sollten das ein oder andere Loch noch in<br />

den Kiel bohren, damit dieser Parteienstaat<br />

hinabsinkt.“<br />

Liedermacher Rennicke: Von<br />

66 Nasen wirddie Welt regiert<br />

Im Unterhaltungsprogramm hetzte der<br />

NPD-Bundespräsidentenkandidat und<br />

Liedermacher Frank Rennicke,der jahrelang<br />

in Ehningen bei Böblingen wohnte,<br />

gegen die damalige Vorsitzende des Zentralrats<br />

der Juden in Deutschland, Charlotte<br />

Knobloch, und sang: „Für Zins und<br />

Zinseszinsen halten sie die Hände auf,<br />

pressen für ihr bisschen Geld das Zehnfache<br />

heraus. Von 66 Nasen wird diese Welt<br />

regiert. […] 66Nasen singen ,History ist<br />

toll‘. Drüber quatschen, labern, stänkern,<br />

macht schnell die Kasse voll.“<br />

Am Abend der Veranstaltung mit<br />

Volksfestcharakter und mehr als eintausend<br />

Besuchern trat die Baden-Württemberger<br />

Band „Carpe Diem“auf: „Schwarz<br />

ist die Nacht, in der wir euch kriegen. Weiß<br />

sind die Männer, die für Deutschland siegen.<br />

Rot ist das Blut auf dem Asphalt.“<br />

Am Schlagzeug saß ein besonders geschäftstüchtiger<br />

Skinhead: Sascha Deuerling<br />

betrieb jahrelang das Szene-Label<br />

„RACords“ und versuchte ein nationales<br />

Auktionshaus analog zu ebay zu etablieren.<br />

Ein anderer Versandhändler, der aus<br />

Baden-Württemberg stammt, war bei der<br />

NPD mit seinem Verkaufsstand willkommen:<br />

Hartwin Kalmus. Ergalt vor dem<br />

Verbot der deutschen „Blood &Honour“-<br />

Division als Vizeführer der Sektion Baden.<br />

Das Landgericht Karlsruhe hat den<br />

CD-Dealer und Konzertveranstalter am<br />

23. März 2011 als „Rädelsführer“ einer<br />

„Blood &Honour“-Nachfolgeorganisation<br />

verurteilt.<br />

Ihre Landtags-Wahlerfolge in Sachsen<br />

(2004) und Mecklenburg-Vorpommern<br />

(2006) feierte die Partei nach dem Scheitern<br />

des ersten Verbotsverfahrens im Jahr<br />

2003. Das Bundesverfassungsgericht hatte<br />

das Verfahren abgebrochen –nicht weil<br />

die NPD so überzeugend demokratisch<br />

gewesen wäre, sondern weil der Verfassungsschutz<br />

zahlreiche Führungskräfte<br />

der NPD auf seiner Mitarbeiterliste stehen<br />

hatte: „Im Schnitt etwa ein bis zwei V-Leute<br />

in den einzelnen Vorständen“, wie das<br />

Bundesverfassungsgericht erfahren hat.<br />

„Ausnahmsweise könnten einem Vorstand<br />

aber auch drei V-Leute angehören.“<br />

Vertrauensleute, kurz V-Leute, sind<br />

keine Verfassungsschützer, welche die<br />

NPD unterwandern, sondern vom Staat<br />

bezahlte Rechtsextremisten. Die Verfassungsschutzämter<br />

wollen bis heute den<br />

Schutz der Verfassung sicherstellen, indem<br />

sie Nazis von Nazis beobachten lassen.<br />

Die staatlichen Vertreter betonten gegenüber<br />

dem Bundesverfassungsgericht,<br />

dass es nicht verboten sei, V-Leute „auf<br />

der Ebene der Vorstände anzuwerben“.<br />

Der NPD-Funktionär und Verfassungsschutz-V-Mann<br />

Udo Holtmann soll immerhin<br />

„während seiner Tätigkeit als<br />

kommissarischer Bundesvorsitzender als<br />

Quelle ,abgeschaltet‘ worden“ sein –von<br />

November 1995 bis März 1996.<br />

Parteichef Voigt sieht in Berlin<br />

schon die neue Reichskanzlei<br />

Dann übernahm Udo Voigt (1996–2011)<br />

die Führung. Mit ihrem neuen Selbstvertrauen,<br />

eine rechtsstaatlich nicht zu verbietende<br />

Partei zu sein, mietete die NPD<br />

für ihre wachsende Anhängerschaft im<br />

bayerischen Grenzgebiet zu Baden-<br />

Württemberg städtische Räume an –in<br />

Senden. Die NPD traf auf eine Gemeindeverwaltung,die<br />

sie in aller Selbstverständlichkeit<br />

wie jede andere Partei behandelte:<br />

als Mieter. In der örtlichen Stadthalle<br />

sprach am 3. April 2004, also ein Jahr nach<br />

dem Scheitern des Verbotsverfahrens, jener<br />

Udo Voigt. Er erklärte vor ein paar<br />

hundert Leuten, warum Bundesregierung,<br />

Bundestag und Bundesrat so viel Angst<br />

vor der NPD hätten. Schließlich erinnere<br />

sich mancher daran, „dass es in Deutschland<br />

schon mal eine Zeit gab, woessechs<br />

Millionen Arbeitslose gab“, und dass es<br />

„nach der Amtsübernahme der NSDAP –<br />

der sogenannten Nazis, wie dieses politische<br />

System sagt –gerade mal zwei Jahre<br />

dauerte,dann gab es in Deutschland keine<br />

Arbeitslosen mehr“. Volksvertreter<br />

demokratischer Parteien diffamierte<br />

er als „Volksverräter“. Was in


2 KONTEXT:<br />

WOCHENZEITUNG<br />

Samstag |Sonntag, 28. |29. Dezember 2013<br />

Der neue Bundesverkehrsminister<br />

Alexander Dobrindt<br />

hat eines mit seinem Vorgänger<br />

Peter Ramsauer (beide<br />

CSU) gemein, beide hatten bei Amtsantritt<br />

noch nie etwas mit Verkehrspolitik zu<br />

tun. Dennoch lobte Dobrindt in der Zeitung<br />

Die Welt das Milliardenprojekt S21<br />

im Februar als „eine Weiterentwicklung<br />

Stuttgarts“.<br />

Bei Eisenbahn nur Bahnhof zu verstehen<br />

ist allerdings keine Besonderheit von<br />

Verkehrsministern; die Bahnchefs Heinz<br />

Dürr, Hartmut Mehdorn und Rüdiger<br />

Grube traten ihren Job imvergleichbaren<br />

Zustand der Wissens-Jungfräulichkeit an.<br />

Und sie haben sich auch ohne Börsengang<br />

das gegönnt, was sie persönlich mit Privatisierung<br />

vor allem verbinden. Viel Geld<br />

auf dem eigenen Konto.Sohaben sich die<br />

Bezüge der Bahnchefs seit Anfang der<br />

90er-Jahre verzwanzigfacht, die Zahlungen<br />

an Vorstände und Aufsichtsräte verzehnfacht.<br />

Drei Ziele sollten mit der Bahnreform<br />

von 1993/94 verfolgt werden: Erstens sollte<br />

der Anteil der Schiene im Verkehrsmarkt<br />

erhöht werden. Zweitens sollten die<br />

öffentlichen Mittel für die Schiene reduziert<br />

werden. Drittens sollte aus einer angeblich<br />

fahrgastfeindlichen „Behördenbahn“<br />

ein kundenorientiertes Serviceunternehmen<br />

werden.<br />

Das einzige der drei Ziele, bei dem es<br />

neben viel Schatten auch etwas Licht gibt,<br />

ist das erste. Die Zahl der Fahrgäste stieg<br />

im 20-Jahres-Zeitraum an; offiziell um<br />

knapp 35 Prozent, real um wesentlich weniger.<br />

Die DB AG hatte –wie auch vom<br />

Bundesrechnungshof moniert –mehrmals<br />

die Fahrgaststatistik so verändert, dass es<br />

zu deutlich geschönten Ergebnissen kam.<br />

So wurden die Fahrgäste der Berliner S-<br />

Bahn in die Statistik neu aufgenommen,<br />

ohne den dadurch entstandenen Wachstumseffekt<br />

rückwirkend zu korrigieren.<br />

Auffallend ist, dass der Fahrgastanstieg<br />

ausschließlich im Nahverkehr stattfand;<br />

im Fernverkehr -und damit ausgerechnet<br />

dort, wo die Masse der Investitionen, vor<br />

allem in neue ICE-Strecken, getätigt wurde<br />

-gab es 20 Jahre lang Stagnation.<br />

Ausnahme<br />

Schienennahverkehr<br />

Das erklärte Ziel „höherer Anteil im Verkehrsmarkt“<br />

wurde nicht erreicht. Da der<br />

Verkehrsmarkt insgesamt wuchs,blieb der<br />

Anteil der Schiene trotz eines Wachstums<br />

der Fahrgastzahlen und der Leistung (Personenkilometer)<br />

nahezu konstant<br />

(6,6 Prozent 1994 und 7,5 Prozent 2012).<br />

Dass es anders geht, zeigt ausgerechnet<br />

der Binnenflugverkehr. Dessen Anteil erhöhte<br />

sich im gleichen Zeitraum von 3auf<br />

5Prozent.<br />

Die Fahrgastzahl wuchs im Nahverkehr<br />

aus zwei Gründen: Erstens weil seit 1996<br />

Nahverkehr Ländersache ist und die Länder<br />

damit „fahrgastnäher“ planen. Zweitens<br />

weil die Nahverkehrsmittel mit der<br />

Bahnreform deutlich aufgestockt wurden.<br />

Die DB Regio und die anderen Schienenverkehrsunternehmen<br />

beziehen daraus<br />

gut 60 Prozent ihrer Einnahmen.<br />

Der Zuwachs im Nahverkehr hat übrigens<br />

nichts mit „Wettbewerb“ und den<br />

„Erfolgen der Privaten“ zu tun. Es gibt real<br />

nur Wettbewerb bei den Ausschreibungen<br />

und dann, nach der Vergabe, langjährige<br />

regionale Monopole.ImÜbrigen gibt<br />

es unter den oft äußerst erfolgreichen Eisenbahnunternehmen,<br />

die mit DB Regio<br />

Der DB-Kunde als Feind<br />

von Winfried Wolf<br />

Die Bilanz zwanzig Jahre<br />

nach der Bahnreform ist<br />

katastrophal: Obwohl die<br />

Aktiengesellschaft zig Milliarden<br />

an Steuergeldern<br />

kassiert hat, wurde fast keines<br />

der ursprünglichen Ziele<br />

erreicht. Und die Kunden<br />

sind so unzufrieden wie<br />

noch nie<br />

konkurrieren, sowohl private als auch solche,<br />

die sich in öffentlichem Eigentum,<br />

teilweise im Eigentum ausländischer<br />

Staatsbahnen, befinden. Privat oder öffentlich<br />

ist in dieser Hinsicht kein relevantes<br />

Unterscheidungsmerkmal. Die wohl<br />

erfolgreichste regionale Bahn, die seit<br />

1994 mehr als eine Verzehnfachung der<br />

Fahrgastzahlen erreichen konnte, ist die<br />

Usedomer Bäderbahn (UBB), eine hundertprozentige<br />

Tochter der Deutschen<br />

Bahn AG.<br />

Das zweite Ziel, die Reduktion von<br />

Staatsknete im Schienenverkehrssektor,<br />

wurde grandios verfehlt. Die staatlichen<br />

Gelder, die pro Jahr in den Schienenver-<br />

Vorsicht, Kundschaft! Foto: Martin Storz<br />

kehrssektor fließen, haben sich gegenüber<br />

der Zeit vor der Bahnreform (und abzüglich<br />

der Sonderaufwendungen für die<br />

DDR-Reichsbahn) deutlich erhöht –von<br />

(umgerechnet) gut 10 auf rund 17 Milliarden<br />

Euro pro Jahr. Eshandelt sich dabei<br />

um folgende Positionen: Gut 4Milliarden<br />

Euro für Erhalt und Ausbau der Infrastruktur,7,1<br />

Milliarden für die Länder,die<br />

damit den Regionalverkehr bezahlen, sowie<br />

5,2 Milliarden für die Bundesbahn-<br />

Altlasten, Pensionen sowie für die noch<br />

rund 40.000 Bahnbeamten, deren Gehalt<br />

der Bund teilweise bezahlt. Dazu kommen<br />

0,6 Milliarden Euro an sonstigen öffentlichen<br />

Geldern. Sie werden unter anderem<br />

von Länder und Kommunen für Bahnhofsinstandhaltung-<br />

und -renovierung<br />

aufgebracht.<br />

Um nicht missverstanden zu werden: Es<br />

gibt gute Gründe für staatliche Unterstützung.<br />

Auch werden die Luftfahrt und der<br />

Autoverkehr deutlich stärker subventioniert.<br />

Dennoch ist festzuhalten: Auch das<br />

zweite Ziel wurde verfehlt; der Schienenverkehr<br />

hat sich für die Steuerzahlenden<br />

verteuert.<br />

Das könnte sinnvoll sein, wenn das dritte<br />

Ziel, die Schaffung eines kundenfreundlichen<br />

und serviceorientierten Unternehmens,<br />

erreicht worden wäre. Doch auch<br />

und gerade dabei: Fehlanzeige. Es<br />

herrscht eine strukturelle Kundenfeindlichkeit:<br />

So wurden seit 1994 weitere 7.000<br />

Kilometer des Streckennetzes abgebaut,<br />

gut 3.000 oder die Hälfte der Bahnhöfe<br />

aufgegeben, Tausende Schalter geschlossen,<br />

und die Pünktlichkeit verschlechterte<br />

sich deutlich. Die Abschaffung der Zuggattung<br />

Interregio hat ganze Regionen<br />

vom Schienenfernverkehr abgehängt.<br />

Zwei Höhepunkte des Serviceabbaus waren<br />

im Sommer 2010 der massenhafte Ausfall<br />

von ICE-Klimaanlagen und ein halbes<br />

Jahr später mit dem „Winterchaos“. Bundesweit<br />

bekannt wurde auch die Dauerkrise<br />

der S-Bahn in Berlin und Brandenburg<br />

seit 2009.<br />

Gleichzeitig werden die Fahrgäste in<br />

immer engere Sitze gezwängt. Der Sitzabstand<br />

des ICE-1, der aus der Zeit vor der<br />

Bahnreform stammt, war in der zweiten<br />

Klasse noch 1.025 Millimeter groß. Im<br />

überarbeiteten ICE-1 schrumpft er auf 920<br />

Millimeter.Und in den ICx-Fernverkehrszügen,<br />

die 2015 in Betrieb genommen werden,<br />

gibt es mit 856 Millimetern das Billigairline-Niveau.<br />

Damit erleben wir in rund<br />

25 Jahren eine Reduktion des Sitzabstands<br />

um 17 Prozent.<br />

Nur in Kriegs- und Krisenzeiten<br />

gab es mehr Ausfälle<br />

Neben den immer unerträglicher werdenden<br />

Verspätungen fallen auch immer mehr<br />

Züge ganz aus: inzwischen pro Woche 200.<br />

Das gab es –Kriege und Zeiten mit extremen<br />

Krisen ausgenommen –inknapp 180<br />

Jahren deutscher Eisenbahngeschichte<br />

noch nie.<br />

Werhäufig Zug fährt, kennt die bedrü-<br />

ckende Situation beispielsweise an einem<br />

Freitagnachmittag, wenn in der 2. Klasse<br />

alle Sitzplätze belegt sind und Hunderte<br />

Fahrgäste zum Stehen gezwungen sind<br />

oder sich einen Sitzplatz in den Wagendurchgängen,<br />

vor den Ausgängen oder auf<br />

dem Boden vor den Toiletten nehmen<br />

müssen. Grund: Die Zahl aller Sitzplätze<br />

im Nah- und Fernverkehr ist heute deutlich<br />

geringer als 1991 oder als 2002 –trotz<br />

höherer Fahrgastzahlen.<br />

Soweit die Symptome.Untersucht man<br />

das System Schiene genauer, soerkennt<br />

man: Es gab in den vergangenen Jahren einen<br />

weitreichenden Abbau von Kapazitäten.<br />

Zur Verkleinerung des Streckennetzes<br />

um 7.000 km (19 Prozent) kommen der<br />

Abbau von Ausweichgleisen und die Halbierung<br />

der Zahl der Weichen. Damit wurde<br />

die Durchlassfähigkeit des Netzes drastisch<br />

minimiert. Die Zahl der Gleisanschlüsse<br />

– die direkten Anschlüsse von<br />

Unternehmen ans Schienennetz –wurde<br />

um 80 Prozent (von 12.000 auf 2.300) reduziert.<br />

Die Folge: mehr Güterverkehr auf<br />

der Straße.<br />

Nicht zuletzt kam es zu einer Halbierung<br />

der Zahl der Beschäftigten im Schienenbereich<br />

bei gleichzeitig enorm erhöhter<br />

Arbeitsdichte für das verbliebene Personal.<br />

Regelmäßig fallen Züge aus, weil<br />

Fachleute wie Lokführer fehlten. Täglich<br />

verkehren Hunderte Züge im Schienennetz<br />

ohne Begleitpersonal. Im Sommer<br />

2013 konnte der Mainzer Hauptbahnhof<br />

fast drei Wochen lang nur extrem eingeschränkt<br />

befahren werden, weil es zu wenig<br />

Stellwerker gab.<br />

Der krasse Sparkurs im Inneren steht in<br />

auffallendem Kontrast zur Spendierlaune<br />

der Bahnchefs im Ausland: Seit 1994 hat<br />

sich die AG zu einem weltweit agierenden<br />

Konzern entwickelt, bei dem zunehmend<br />

Luftfracht, Seefracht, Busverkehr und Logistik<br />

im Zentrum stehen. Gut 40 Prozent<br />

des Umsatzes der Deutschen Bahn AG<br />

werden inzwischen in bahnfremden Bereichen,<br />

oft auch in Sektoren, die mit der<br />

Schiene konkurrieren, erzielt.<br />

Die Operation Bahnreform unter der<br />

rot-grünen Koalition unter Gerhard<br />

Schröder zielte nicht nur auf die Umwandlung<br />

in eine Aktiengesellschaft, sondern<br />

auch auf eine materielle Privatisierung der<br />

Bahn, den Börsengang.Umdie Zahlen zu<br />

schönen, haben die Bahnchefs systematisch<br />

Kapazitäten abgebaut und fuhren<br />

und fahren auf Verschleiß. Für Bahnchef<br />

Grube gilt jedenfalls noch immer, was er<br />

vor zwei Jahren der FAZ gesagt hat: „Der<br />

Zeitpunkt für eine Privatisierung wird<br />

wieder kommen.“<br />

Im neuen schwarz-roten Koalitionsvertrag<br />

heißt das dann so: „Die Eisenbahninfrastruktur<br />

ist Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge<br />

und bleibt in der Hand des<br />

Bundes.“ Damit haben Kanzlerin Angela<br />

Merkel und ihr Vize Sigmar Gabriel ausschließlich<br />

eine Garantie für den Verbleib<br />

des Schienennetzes in öffentlichem Eigentum<br />

ausgesprochen und einen Verkauf<br />

oder einen Börsengang des Restes offengelassen.<br />

■ Winfried Wolf hat zusammen mit Bernhard<br />

Knierim gerade die Arbeiten zu dem Buch „Bitte<br />

umsteigen! 20 Jahre Bahnreform“ abgeschlossen.<br />

Es wirdimFebruar im Stuttgarter Schmetterling-Verlag<br />

erscheinen (220 Seiten im Großformat,<br />

19,80 Euro)<br />

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| MACHT &MARKT |<br />

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Fortsetzung<br />

von Seite 1<br />

Deutschland „abgezogen“ werde, sei die<br />

„planmäßige Vernichtung des deutschen<br />

Volkes“. Mit Hinweis auf das Holocaust-<br />

Mahnmal in Berlin sagte Voigt: „Wir bedanken<br />

uns dafür, dass man uns dort jetzt<br />

schon die Fundamente der neuen deutschen<br />

Reichskanzlei geschaffen hat.“<br />

Der Scharfmacher Voigt ist dabei keineswegs<br />

Geschichte. Nachdem bei der<br />

Partei wieder ein Wechsel an der Spitze<br />

ansteht –Chef Holger Apfel hat sein Amt<br />

„krankheitsbedingt“ abgelegt –ist der Exvorsitzende<br />

wieder als Führerfigur im Gespräch.<br />

Voigt hatte Apfel für dessen Konzept<br />

des „seriösen Radikalismus“ seit Langem<br />

kritisiert.<br />

Voigt trat auch am 10. Februar 2007<br />

beim „Day of Honour“ in Ungarn auf,um<br />

tote SS-Soldaten als Helden zu verehren.<br />

„Wir verneigen uns in größter Ehrfurcht<br />

derem: „Ran an den Feind! Bomben auf<br />

Israel! Wir stellen die jüdische Drecksau<br />

zum letzten entscheidenden Schlag. Wir<br />

halten Gericht, ihre Weltmacht zerbricht.“<br />

Und: „Adolf Hitler, steig hernieder und<br />

regiere Deutschland wieder. Lasse in diesen<br />

miesen Zeiten, das ganze Pack nach<br />

Auschwitz reiten. Wir fülln die Arbeitslager<br />

mit den ganzen Juden. Dann ist Schluss<br />

mit Raffen-Raffen. […]Zeig mir die Öfen,<br />

wo man sie verbrannt hat. Diesen Beweis<br />

man nicht erbringen kann. […] Ja, man<br />

muss zuerst das Giftgas in die Kammer<br />

fülln. Und um das Ganze einen schicken<br />

Schleier hülln. Mit ner Brause und nem<br />

Abfluss,wie ne Dusche sieht das aus.Und<br />

fertig ist der Holocaust.“ Zwei NPD-<br />

Funktionäre salutierten mit dem Hitlergruß.<br />

Für die NPD ist der Verbotsantrag ein<br />

„dummes Unterfangen“ Um solche Eindrücke<br />

von der NPD und ihren Vertretern<br />

für ein Verbotsverfahren zu gewinnen, bedarf<br />

es keiner V-Leute in NPD-Parteivor-<br />

vor unseren gefallenen Kameraden, deren<br />

Opfer uns höchste Verpflichtung ist“, sagte<br />

der damalige NPD-Chef in seiner Rede.<br />

„Kameraden! Ihr seid die neuen, jungen<br />

Freiwilligen für ein besseres Europa! So<br />

lange Ihr weitermacht, ist der Kampf für<br />

ein besseres Deutschland, für ein besseres<br />

Ungarn, für ein Europa freier Völker nicht<br />

zu Ende.“ Über 1.000 Nazis, darunter unzählige<br />

Deutsche, standen auf dem Budapester<br />

„Heldenplatz“ in militärischer Formation<br />

–teilweise uniformiert –stramm.<br />

Mitorganisator dieser Gedenkveranstaltung<br />

war „Blood &Honour“. In einer<br />

Art Clubhaus der Organisation gaben am<br />

Abend des „Tags der Ehre“ internationale<br />

Musiker ein Konzert, zu dem NPD-Funktionär<br />

Matthias Fischer im „Blood &Honour<br />

Hungarica“-Shirt erschien. Neonazis<br />

aus verschiedenen Ländern Europas bejubelten<br />

unter anderem den bayerischen Gitarristen<br />

Manfred „Edei“ Edelmann, der<br />

in Deutschland schon bei NPD-Veranstaltungen<br />

aufgetreten ist. Er sang unter anständen.<br />

Das gelingt aus einer Mitläuferrolle<br />

heraus,wie sie nicht nur Journalisten,<br />

sondern auch verdeckte Ermittler spielen<br />

können –also ausgebildete Verfassungsschützer<br />

oder Polizisten. Hätten die Sicherheitsbehörden<br />

so gearbeitet, dann<br />

müssten die Landesinnenminister jetzt<br />

nicht betonen, dass sie für die Klageschrift<br />

gegen die NPD nur „öffentliche Beweise“<br />

zusammengetragen und V-Leute in den<br />

Führungsgremien der Partei zum 1. April<br />

2012 „abgeschaltet“ hätten.<br />

Ein „tollkühnes, aber<br />

dummes Unterfangen“?<br />

Ob das für ein NPD-Verbot ausreicht?<br />

Der Grünen-Bundestagsabgeordnete<br />

Hans-Christian Ströbele äußert Bedenken:<br />

„Die NPD wird durch ihre Rechtsvertreter<br />

versuchen, V-Leute als wahre Urheber<br />

von Teilen des Verbotsmaterials darzustellen.“<br />

Bereits im ersten Verfahren<br />

hatte die NPD so argumentiert: Ein Parteiverbotsantrag<br />

könne nicht mit Tatsachen<br />

begründet werden, von denen sich<br />

nicht ausschließen lasse, dass sie der betroffenen<br />

Partei von „interessierter Seite“<br />

untergeschoben worden seien - von V-<br />

Leuten. Dazu passt, dass die NPD den aktuellen<br />

Verbotsversuch als „tollkühnes,<br />

aber dummes Unterfangen“ bezeichnet<br />

hat. Die Partei sieht dem Verfahren „mit<br />

dem notwendigen Ernst, aber auch mit der<br />

angemessenen Gelassenheit entgegen“.<br />

■ Thomas Kuban ist das Pseudonym eines Journalisten,<br />

der über zehn Jahre hinweg mit versteckter<br />

Kamera im Neonazi-Bereich recherchiert<br />

hat. Bei jedem konspirativen Konzert konnte er<br />

Straftaten filmen, die auch im Fernsehen dokumentiert<br />

wurden. Aber nur in einem Fall haben die<br />

Ermittlungsbehörden die Straftäter zur Rechenschaft<br />

gezogen.<br />

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| ÜBERM KESSELRAND |<br />

auf: www.kontext-wochenzeitung.de


KONTEXT: 3<br />

Samstag |Sonntag, 28. |29. Dezember 2013 WOCHENZEITUNG<br />

Hans-Walter Roth ist einer,der<br />

gerne genau hinschaut und<br />

den klaren Blick bevorzugt.<br />

Das zeigt schon die mit historischen<br />

Sehhilfen prall gefüllte Vitrine im<br />

Gang zu seinem Arbeitszimmer,die jedem<br />

Technikmuseum gut anstehen würde. Der<br />

Hang zur Erhaltung der Sehschärfe mag<br />

seinem Beruf geschuldet sein, gleichwohl<br />

reicht er weit über seine Praxis hinaus,zumal<br />

Roth bei auftretender Kurzsichtigkeit<br />

nicht selten auch eine politische Indikation<br />

diagnostiziert. Mit seiner nahezu notorischen<br />

Weigerung, eine Parteibrille zu<br />

tragen, hat sich der stellvertretende CDU-<br />

Fraktionsvorsitzende im Ulmer Gemeinderat<br />

in eigenen Reihen Kritik und den<br />

Ruf eines Querkopfs eingehandelt.<br />

Besonders in Fragen der Gesundheitspolitik<br />

sieht Roth rot. Die zunehmende<br />

Privatisierung und das damit einhergehende<br />

Gewinnstreben zulasten einer fairen<br />

Allgemeinversorgung für alle Menschen<br />

haben seiner Ansicht nach bereits unerträgliche<br />

Formen angenommen. „Die<br />

Konsortien haben den Patienten längst als<br />

Melkkuh ausgemacht“, sagt der Mann, der<br />

als Vater und Entwickler der Kontaktlinse<br />

gilt. „Gesundheit gibt es bald nur noch für<br />

Wohlhabende.“ Um an die entsprechenden<br />

Futtertröge zu kommen, machten<br />

Krankenkassen und Großversorger gemeinsame<br />

Sache und unternähmen jegliche<br />

Anstrengungen, Praxen niedergelassener<br />

Ärzte zu übernehmen, um medizinische<br />

Versorgungszentren zu installieren.<br />

„Die Praxen werden<br />

regelrecht ausgehungert“<br />

„Enteignung“ nennt der renommierte Augenarzt<br />

diese planvolle Vorgehensweise,<br />

der auch seine Praxis 2008 zum Opfer gefallen<br />

ist. Damals wurde der Druck über<br />

Budgetkürzungen so lange erhöht, bis sich<br />

die Praxis nicht mehr rechnete: „Die Praxen<br />

werden regelrecht ausgehungert.“ Eine<br />

Belagerung mit schriftlicher Ankündigung:<br />

„Ich erhielt einen Brief mit der Mitteilung,<br />

dass ich runterbudgetiert werde.“<br />

Zuvor belief sich das zugestandene Regelleistungsvolumen<br />

pro Patient und Quartal<br />

auf 80 bis 90 Euro.„Dann wurde es heruntergesetzt<br />

auf 18 Euro.“ Und der gewünschte<br />

Effekt stellte sich prompt ein –<br />

Roth gab seine Praxis auf: „Ich wäre nicht<br />

mehr zahlungsfähig gewesen.“<br />

Nutznießer seien gewinnorientierte<br />

Konsortien wie Sana, Helios oder die<br />

Rhön-Klinik, die Preise gegenüber den<br />

Krankenkassen bestimmen könnten und<br />

sich nur noch jenen Patienten bevorzugt<br />

Rebelliert für guten Durchblick: Augenarzt Hans-Walter Roth Foto: Bernd Rindle<br />

Der graue Star<br />

von Bernd Rindle<br />

Dieser Augenarzt ist Krankenkassen und Gesundheitskonzernen<br />

ein DornimAuge. Und manchmal auch der<br />

Stachel im Fleisch seiner christdemokratischen Parteikollegen.<br />

Denn Hans-Walter Roth rebelliert unverdrossen<br />

gegen den Ausverkauf des Gesundheitssystems. In seiner<br />

Ulmer Armenklinik behandelt er auch jene, die sich<br />

medizinische Versorgung nicht mehr leisten können<br />

widmen würden, deren Krankheitsbilder<br />

lukrativ zu behandeln seien. „Kaufleute<br />

haben längst die Macht über die Medizin<br />

übernommen“, bestätig die Ulmer Autorin<br />

Renate Hartwig. Sie tourt einerseits<br />

durch die Lande, umden Menschen in<br />

Vorträgen zu verdeutlichen, dass sich das<br />

„Gesundheitssystem auf Abwegen“ befindet.<br />

Andererseits hinterfragt sie die Verwendung<br />

von Kassenbeiträgen: „Sind die<br />

190 Milliarden für uns alle da, oder wer bedient<br />

sich an dem Geld?“ Die großen Versorger<br />

hätten jedenfalls keinen anderen<br />

Zweck, als den Betreibern die Taschen zu<br />

füllen.<br />

Tendenz zur<br />

Rosinenpickerei<br />

Eine Entwicklung, die auch der Kassenärztlichen<br />

Vereinigung nicht entgangen<br />

ist. „Dass private Unternehmen versuchen,<br />

Arztsitze zu kaufen, um in den ambulanten<br />

Sektor zu kommen und die<br />

Strukturen zu ihren Gunsten zu verändern,<br />

ist eine Tendenz, die wir durchaus<br />

mit einiger Sorge sehen“, sagt Kai Sonntag,<br />

Sprecher des baden-württembergischen<br />

Verbands. Zwar sei man nicht<br />

grundsätzlich gegen medizinische Versorgungszentren,<br />

„Rosinenpickerei“ und das<br />

Aussuchen von „Gruppen, die besonders<br />

lukrativ“ seien, lehne man jedoch ab.<br />

Jenen, die keine Gewinnerwartungen<br />

erfüllen können, nimmt sich Hans-Walter<br />

Roth in seiner Armenklinik an. Der 69-<br />

Jährige hat über die Jahre ein Netzwerk<br />

gleich gesinnter Ärzte gesponnen, die sich<br />

mehr ihrem Auftrag als dem Reibach verpflichtet<br />

fühlen. Rund 40 Mediziner verschiedenster<br />

Fachdisziplinen kümmern<br />

sich in Ulm um Menschen, die sonst durchs<br />

Raster fallen würden –entweder weil die<br />

Kassen die Behandlungskosten nicht<br />

übernehmen und auch für Medikamente,<br />

Hilfsmittel und Nachsorge nicht geradestehen,<br />

oder weil Patienten schlichtweg<br />

nicht versichert sind. Was, aller Krankenversicherungspflicht<br />

zum Trotz, immer<br />

noch oft der Fall sei.<br />

An Beispielen mangelt es so wenig wie<br />

an Ausreden der Krankenkassen, Leistungen<br />

nicht zu übernehmen –mit einer bisweilen<br />

nicht zu überbietenden Dreistigkeit:<br />

So wurden einer älteren wie mittellosen<br />

Frau sowohl die benötigten Augentropfen<br />

als auch eine Therapie mit dem<br />

Argument verweigert, dass sie nicht unter<br />

einer Krankheit, sondern unter einer „Befindlichkeitsstörung“<br />

leide. Eine andere<br />

Patientin hatte nicht nur die Bürde eines<br />

Augenleidens zu tragen, sondern auch das<br />

Joch der Budgetknappheit –mehr als 18,47<br />

Euro pro Quartal waren an ihr nicht zu<br />

verdienen. Sie fand außer Roth keinen<br />

Arzt, der sie dafür behandeln wollte.<br />

Standesdünkel kann man den Kassen<br />

indes nicht nachsagen. Sie machen keinen<br />

Unterschied zwischen einem Berber und<br />

einem insolventen Selbstständigen: Wer<br />

pleite ist, hat Pech gehabt. Selbst wenn es<br />

sich um lebensbedrohliche Krankheiten<br />

wie Brustkrebs handelt, an dem eine Unternehmerin<br />

erkrankt war.Dasie die Beiträge<br />

ihrer privaten Krankenversicherung<br />

nicht mehr zahlen konnte,winkte die Kasse<br />

zunächst ab und wollte die Frau ihrem<br />

Schicksal überlassen. Erst als Roth Fall<br />

und Versicherung öffentlich bekannt<br />

machte und sich ein befreundeter Gynäkologe<br />

bereit erklärte, die Operation<br />

durchzuführen, übernahm die Kasse die<br />

rund 30.000 Euro teure Behandlung.<br />

Durchschnittlich 50 Patienten suchen<br />

die Armenklinik pro Monat auf, davon<br />

täglich zwei bis drei, die um eine Sehhilfe<br />

bitten, da Krankenkassen den Brillenerwerb<br />

nicht bezuschussen, Roth aber über<br />

Brillenspenden Abhilfe schaffen kann.<br />

Unterstützt und koordiniert wird das Projekt<br />

über den Verein „Medinetz Ulm“, einer<br />

von Medizinstudenten gegründeten<br />

medizinischen Beratungs- und Vermittlungsstelle<br />

für Flüchtlinge, Migranten,<br />

Obdachlose und Menschen ohne Krankenversicherung.<br />

Wer sich dort meldet<br />

und das Codewort „Katharinenstiftung“<br />

nennt, das an die im Mittelalter in Ulm gegründete<br />

Armenklinik des Patriziers Johannes<br />

Roth erinnert, wird an den entsprechenden<br />

Facharzt vermittelt.<br />

Der Bitte um Mäßigung will<br />

Roth nicht nachkommen<br />

Die alte reichsstädtische Tradition des<br />

bürgerschaftlichen Engagements für<br />

Schwächere hat sich allerdings nicht allerorten<br />

in die Gegenwart retten können. Für<br />

seinen Einsatz hat Dr. Hans-Walter Roth<br />

schon manchen Rüffel seiner Parteifreunde<br />

einstecken müssen. Neben seiner Ex-<br />

Stadtratskollegin und ehemaligen badenwürttembergischen<br />

Sozial- und Familienministerin<br />

Monika Stolz, die ihn einst bezichtigte,<br />

„nur eine Show abzuziehen“, ist<br />

auch Annette Schavan „mit der Bitte um<br />

Mäßigung“ an ihn herangetreten. „Dem“,<br />

versichert der Augenarzt, „werde ich nicht<br />

nachkommen.“<br />

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| PULSSCHLAG |<br />

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Schaubühne<br />

Geheimnis des Lebens<br />

Verwundert werden sich die Leserinnen<br />

und Leser die Augen<br />

reiben: ein Sammelsurium an<br />

Fragen? Davon habe ich doch<br />

selber schon genug. Wobleiben die Antworten?“,<br />

fragt der Betriebsseelsorger<br />

Paul Schobel.ZuWeihnachten machen er<br />

und Kontext-Fotograf Joachim E. Röttgers<br />

sich auf die Suche nach dem Sinn und<br />

Unsinn des Lebens. Antworten finden<br />

muss der Schaubühne-Schauer aber selbst.<br />

Eine Frage ist eine „Äußerung zur Beseitigung<br />

einer Wissenslücke“, meint ein<br />

schlaues Lexikon und schießt damit eindeutig<br />

zu kurz. Wenn's nur um eine „Wissenslücke“<br />

ginge –dakönnte man sich behelfen.<br />

In Wirklichkeit aber ist unser gan-<br />

zes Leben ein einziges Fragezeichen. Die<br />

intensive Suche nach Sinn mündet meistens<br />

in der „Sinnfrage“ –sie bleibt weitgehend<br />

unbeantwortet. Auch die Zunft der<br />

Theologen vermag nicht mehr, als die<br />

„Gottesfrage“ immer wieder neu anzugehen<br />

und von verschiedenen Seiten her zu<br />

beleuchten.<br />

„Zu fragen bin ich da, nicht zu antworten“,<br />

meint der norwegische Schriftsteller<br />

und Dramatiker Henrik Ibsen, und ich<br />

vermute, erhat recht! Leben ist frag-würdig,<br />

indes Wortes doppeldeutigem Sinn.<br />

Leben ist es wert, nachgefragt zu werden.<br />

Es ist anstrengend, aber lohnend. Mütter<br />

und Väter mit Kindern im „Warumü?“-<br />

Alter wissen ein Lied davon zu singen. Die<br />

süßen Kleinen lassen nicht locker und nerven<br />

bis zur Weißglut. Damit zwingen sie<br />

uns, nach passablen Antworten zu suchen<br />

oder aber –Fragen offenzulassen. Das ist<br />

für Kinder eine der wichtigsten Erfahrungen,<br />

dass ihre Eltern auch nicht allwissend,<br />

sondern selbst Fragende geblieben sind.<br />

Wir sind Suchende, vom ersten bis zum<br />

letzten Atemzug.Alle Fragen sind die kleinen<br />

Geschwister der großen Fragen nach<br />

dem Woher und Wohin.<br />

Der Kapitalismus verkürzt die Frage<br />

auf „Nach-Frage“ und setzt dieser sein<br />

„Angebot“ entgegen. Ein Ablenkungsmanöver,und<br />

ein gefährliches dazu! Als Kinder<br />

dieser Zeit laufen wir alle Gefahr,unser<br />

tiefstes Sinnen und Trachten, Sehnen<br />

und Fragen mit dem Surrogat des Konsums<br />

zu befriedigen.<br />

Antworten machen satt und träge.<br />

Fragen halten uns wach und rege, so<br />

kommen wir dem Geheimnis unseres<br />

Lebens auf die Spur.<br />

■ Paul Schobel hat 38 Jahre lang in der Betriebsseelsorge<br />

der Diözese Rottenburg gearbeitet,<br />

von 1991 bis 2008 war er deren Leiter.<br />

Bei den katholischen Hierarchen war er nie beliebt,<br />

bei den Malochernschon. Er hat auch<br />

schon undercover an den Werkbänken gestanden.<br />

Zum Buch „Wohin gingen an dem<br />

Abend die Maurer“ von Autor Guido Lorenz<br />

und unserem Fotografen Joachim E. Röttgers<br />

hat er das Vorwort geschrieben.


4 KONTEXT:<br />

WOCHENZEITUNG<br />

Samstag |Sonntag, 28. |29. Dezember 2013<br />

Ich weiß natürlich nicht, ob Du Menschengemachtes<br />

überhaupt noch zur<br />

Kenntnis nimmst. Womöglich bist<br />

du inzwischen derart enttäuscht vom<br />

Homo sapiens –Dukannst ja sicher mittlerweile<br />

ein bisschen Latein –, dass Du dir<br />

der Einfachheit halber Augen und Ohren<br />

zuhältst. Ein bißchen ungerecht wäre das<br />

natürlich, weil auf höchst mysteriöse Weise<br />

sind wir ja auch Deine Geschöpfe,Stichwort<br />

Trinität oder zu Deutsch Dreifaltigkeit,<br />

Du weißt schon.<br />

Ich schreibe Dir trotzdem, weil<br />

Wunschzettel ein uralter Brauch in dieser<br />

Jahreszeit sind. Bräuche und Gewohnheiten<br />

hat man gern hier unten (sind gut fürs<br />

Wir-Gefühl). Auch deshalb gibt es ja schon<br />

seit Wochen in den Kaufhäusern unentwegt<br />

„Sti-hille Nacht“ oder „O du fröhliche“,<br />

wie alle Jahre wieder.Erfahrungsgemäß<br />

steigert das die Kauflaune (ist gut für<br />

die Konjunktur) und zugleich eine weihevolle<br />

Stimmung (ist gut für Dich). Stichwort<br />

gut. Darum, also ums irgendwie<br />

Nützliche,dreht sich ja alles in der Evolution,<br />

aber von der verstehst Du nichts,sehr<br />

geehrtes Christuskind. Jedenfalls sehen<br />

die Leute in Dir seit eh und je so eine Art<br />

Inbegriff vom Guten. Dewegen kommst<br />

Du speziell in der Weihnachtszeit dauernd<br />

vor; in den anderen Jahreszeiten eher weniger.<br />

„Chri-hist der Retter ist da“, singen<br />

Jung und Alt am sogenannten Heiligen<br />

Abend, und den Sentimentalen unter den<br />

Erwachsenen tritt dann oft verstohlen eine<br />

Träne ins Auge. Wenn ich da gleich mal<br />

den ersten Wunsch loswerden dürfte (ich<br />

will nämlich weder Hemd noch Schal und<br />

auch keinen Gutschein für den Flieger<br />

nach Malle): Mach doch mal, dass die Leute<br />

sich wenigstens ein paar Minuten überlegen,<br />

was sie sich da eigentlich alles widerspruchslos<br />

anhören und sogar selber<br />

von sich geben. Das ist nämlich echt der<br />

Hammer.Zum Beispiel halten sich die allermeisten<br />

Leute, die ich so kenne, gar<br />

nicht für rettungsbedürftig,auch nicht von<br />

Dir. Ziemlich viele sind sogar ziemlich<br />

überzeugt von sich, auch wenn mir persönlich<br />

das nicht immer in dem Maße einleuchtet.<br />

Ob das aber zum Text von „Stihille<br />

Nacht“ passt oder nicht, scheint ihnen<br />

komplett schnuppe zu sein.<br />

MEHR KONTEXT AUF<br />

www.kontext-wochenzeitung.de<br />

S-Klasse<br />

Schwarz, rot, depressiv<br />

Der Psychiater hat den Frisör abgelöst.<br />

Jedenfalls als Gesprächsthema bei Party<br />

und vor allem bei Jugendlichen. Das hat<br />

unsereAutorin ELENAWOLF,die im Moment<br />

in den Endzügen ihrer Masterarbeit<br />

liegt, beobachtet. Und sie hat sich gefragt:<br />

Wasist eigentlich los mit uns Jungen?<br />

„Früher haben wir Depression offenbar<br />

mit Langeweile verwechselt. Heute<br />

wissen wir nicht einmal mehr,wie sich<br />

Langeweile anfühlt“, schreibt sie. „Je älter<br />

man wird, desto größer werden die<br />

Srogen –wie weiße Elefanten, die sich in<br />

die Mitte unseres geistigen Wohnzimmers<br />

stellen und die Sicht auf alles andere<br />

blockieren.“ Den ganzen Artikel lesen<br />

Sie online auf www.kontextwochenzeitung.de<br />

Ausgeclippt<br />

Das Ende von Infopaq kam still und leise<br />

in der Adventszeit. Das Aus des traditionsreichen<br />

Medien-Auswerters ist kein<br />

Horrorszenario, das sich Globalisierungskritiker<br />

ausgedacht haben. Es ist<br />

vielmehr ein Lehrstück, wie ein Unternehmen,<br />

das sich einen exzellenten Ruf<br />

erarbeitet hat, systematisch an die Wand<br />

gefahren wird. Unser Autor WILHELMRE-<br />

SCHL war auf der letzten Betriebsversammlung.<br />

KONTEXT:FÖRDERN<br />

Hinzu kommt dieses religiöse<br />

Allianz-Versicherungs-Gefühl<br />

Jedenfalls: Wenn ich ihnen mit der Erbsünde<br />

komme und deren laut Bibel äußerst<br />

unangenehmen Folgen, fällt ihnen<br />

immer gleich ein anderes Thema ein, das<br />

Wetter beispielsweise oder wie teuer alles<br />

ist. Und wenn ich dann nachhake und sie<br />

darauf aufmerksam mache,dass laut Bibel<br />

dermaleinst nur ziemlich wenige ins Paradies<br />

gelassen und die anderen schmoren<br />

werden, dann gelte ich ihnen als Sonderling.<br />

Nicht wenige von denen gehen aber<br />

gewohnheitsmäßig zu Weihnachten in die<br />

Kirche und sprechen dort Worte wie diese:<br />

„… von wo er kommen wird zu richten die<br />

Lebendigen und die Toten.“ Wahrscheinlich<br />

tun sie das auch wegen dieses feierlichen<br />

Kribbelns,und das ist ja etwas Schönes.<br />

Hinzu kommt wohl dieses religiöse<br />

Allianz-versichert-Gefühl, das beruhigt<br />

und ist insofern wieder etwas Nützliches.<br />

Ritus und Tabu, hätte Sigmund Freud vielleicht<br />

gesagt, aber diesen gottlosen Heiden<br />

kennst Du wieder nicht, sehr geehrtes<br />

Christuskind.<br />

Dein Image ist und bleibt jedenfalls super.<br />

Die allergrößten Menschen können<br />

nur träumen davon, sogar Götze(!) oder<br />

Ronaldo.Und das,obwohl es doch für die<br />

allermeisten richtig eng wird, wenn es so<br />

kommt, wie Du prophezeit hast. Dass Du<br />

es trotzdem in zweitausend Jahren zu einem<br />

Mega-Ansehen und einer kolossalen<br />

Popularität gebracht hast, das ist Wahnsinn!<br />

Wenn Du mir wenigstens mal in groben<br />

Zügen verraten könntest, wie Du das<br />

hinkriegst –das wäre toll. Das war schon<br />

mein zweiter Wunsch. Und wenn Du gerade<br />

dabei bist, das eine oder andere zu klären,<br />

dann lass mich doch bitte auch gleich<br />

wissen, wieso Ihr drei da oben (siehe Trinität)<br />

jemanden auf ewig verdammen<br />

wollt, bloß weil der nicht an Euch glaubt.<br />

Wir leben heutzutage in einer Demokratie,<br />

sehr geehrtes Christuskind, auch davon<br />

verstehst Du natürlich nichts.<br />

Das heißt unter anderem, dass man<br />

nicht bestraft wird wegen seiner Meinung.<br />

Das ist auch gut so, und das muss doch<br />

auch für Religionsangelegenheiten gelten.<br />

Das könnte sogar Euch da oben klar sein,<br />

jedenfalls bei etwas Nachdenken. Mein<br />

dritter und letzter Weihnachtswunsch,<br />

man soll ja nicht unbescheiden sein, geht<br />

„Sehr geehrtes<br />

Christuskind …“<br />

von Peter Henkel<br />

Die meisten Menschen halten sich nicht für rettungsbedürftig.<br />

Zur Weihnachtszeit singen viele trotzdem gerne<br />

„Chri-hist der Retter ist da“. Ein Sonderling macht sich<br />

Gedanken über die Erbsünde, ewige Verdammnis und<br />

die sagenhafte Popularität des christlichen Glaubens.<br />

Ein offener Brief ans Christuskind<br />

„Ich hätte da mal einen Wunsch …“ Fotos: Martin Storz<br />

ganz schnell: Macht, dass wenigstens das<br />

größte Elend in Eurer Schöpfung endlich<br />

aufhört. In der Schule lernt man, dass ganz<br />

bestimmt Dein Vater ohne Weiteres dafür<br />

sorgen könnte, wenn er wollte. Ich ahne,<br />

warum er es nicht tut, aber dazu ganz unten<br />

mehr.<br />

Jedenfalls lassen sich Eure Anhänger<br />

viel einfallen, wenn es darum geht, ihn in<br />

Schutz zu nehmen. Mal schieben sie dem<br />

Menschen und seinem sogenannten freien<br />

Willen die Schuld zu für alles Böse auf der<br />

Welt, und wenn das nicht geht, wegen Erdbeben,<br />

Dürre oder Flutkatastrophe, dann<br />

sagen sie, man kann eben nicht alles mit<br />

dem Verstand klären. Also da könnt Ihr da<br />

oben echt stolz sein auf Eure Anhänger.<br />

Sehr geehrtes Christuskind! Natürlich<br />

hast Du weder Zeit noch Lust zu lesen, was<br />

Menschen so alles schreiben. Es ist ja auch<br />

wirklich viel Schrott dabei. An Deiner<br />

Stelle würde ich aber eine Ausnahme machen<br />

und mir für untern Weihnachtsbaum,<br />

falls Ihr so etwas auch aufstellt, das jüngste<br />

Buch von Kurt Flasch holen lassen. Es<br />

heißt „Warum ich kein Christ bin“, handelt<br />

also von Euch beiden da oben und erklärt,<br />

wieso ein frommer, aber kluger<br />

Mensch seinen langen Abschied genommen<br />

hat vom Glauben. Der Professor<br />

Flasch ist leider nun auch schon 83, und<br />

deshalb hat er neulich gesagt: „Jetzt, da es<br />

auf das Ende zugeht, habe ich gedacht,<br />

wenn du demnächst vor dem Weltenrichter<br />

stehst, dann willst du doch ein Buch in<br />

der Hand haben, in dem steht, dass es ihn<br />

nicht gibt.“ So etwas sollte zu denken geben.<br />

Mit weihnachtlichen Grüßen, auch<br />

für 2014 nach Christus,<br />

ein Mensch<br />

Mehr aus der Rubrik<br />

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DASINTERVIEW<br />

Der Zauberer<br />

HARTE MUSKELN<br />

Fitnesshandgemacht<br />

PeterSchusterist Vorsitzender des Berliner<br />

Zauberervereins und erzählt,<br />

warum Magier schon mal als Spione<br />

arbeiten, wenn sie sonstnichts zu<br />

tricksenhaben SEITE46,47<br />

Gestaltedeinen Körper ehrlich: Die Suche<br />

nach dem Einfachen hat die professionelle<br />

Körperertüchtigung erreicht. Ein Besuch<br />

im außergewöhnlichen Studio „Blackrock“<br />

in Mitte SEITE48,49<br />

SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013<br />

41<br />

www.taz.de |b@taz.de |fon25902172 |fax2518674<br />

Hey, Stadt, wartemal!<br />

AUSBLICKVondengroßenBauprojektenwirdnächstesJahrkeinesfertig.DaskannKlaus<br />

Wowereitnurfreuen–dennsomusser2014nichtschonwiedereineEröffnungabsagen<br />

apple taz.berlin<br />

VON STEFAN ALBERTI<br />

Die Staatsoper? 2017. Die U-<br />

Bahn-Linie 5? 2019. Der Neubau<br />

auf der Museumsinsel neben<br />

Pergamon- und Neuem Museum?2017.DasSchloss?Bezugsfähig<br />

2017, Eröffnung 2019. Der<br />

Flughafen BER? Zukunft ungewiss.<br />

Keine der Megabaustellen,<br />

keines der Großprojekte der<br />

Stadtwirdinden 365 Tagen des<br />

neuenJahresfertigwerden.2014<br />

wirdeinJahrdesÜbergangs,des<br />

Interims,desWartens.<br />

Nutznießer ist Klaus Wowereit.DerRegierendeBürgermeister,vor<br />

einem Jahr fast über die<br />

BER-Pannegestolpert,muss2014<br />

keine erneute Peinlichkeit befürchten<br />

–woeskeinen Eröffnungstermingibt,istauchnichts<br />

abzusagen.Zudemlässterselbst<br />

warten: aufseine Entscheidung,<br />

ob er bei der Berlin-Wahl 2016<br />

nochmalantritt.<br />

Beim brasilianischen Autor<br />

PauloCoelho und seinem Bestseller<br />

„Auf dem Jakobsweg“ gibt<br />

eseineSzene,inderdasTagesziel<br />

derWanderungschoninSichtist<br />

und doch vorerstunerreichbar<br />

bleibt.DennCoelhosProtagonist<br />

muss sich in den Exerzitien der<br />

Langsamkeit üben, sich selbst<br />

kleine Schritte versagen, darf<br />

stattdessen nur Fußlänge für<br />

Fußlänge voran. Es istein passendesBildfürvielesinBerlin.<br />

DerBER,damalsnochFlughafenBerlinBrandenburgInternational<br />

mitdem Kürzel BBI statt<br />

BER, stand ja kurz vorder Eröffnung.<br />

Auch werihn heute sieht,<br />

denktangesichtsderschierkompletten<br />

Ausstattung nicht, dass<br />

biszueinerEröffnungnochJahre<br />

vergehen könnten. Und eben<br />

auchvielesandere,wasinunmittelbarer<br />

Reichweite schien, ist<br />

wieder in die Ferne gerückt und<br />

sorgtfürweitereWarterei.<br />

DasgiltetwafürdieSPD-Oberen<br />

im Land, Parteichef JanStöß<br />

undFraktionschefRaedSaleh.Zu<br />

Jahresbeginn 2013 waresalles<br />

andere als ausgeschlossen, dass<br />

kurzfristig einer vonihnen ins<br />

Rote Rathauseinziehtund dort<br />

Klaus Wowereit beim Regieren<br />

ablöst.DieFragelautetenur:Wer<br />

macht’s?Nunmüssensichbeide<br />

wiederinGeduldüben.<br />

Denn der Regierende Bürgermeister,dersichnachdererneuten<br />

Verschiebung der BER-Eröffnung<br />

nurknapp im Amthalten<br />

konnte, macht nicht den Eindruck,mitinzwischen60Jahren<br />

in Rente gehen zu wollen. Wenn<br />

WowereitnichtnochPlänehätte,<br />

hätteersichkaumMitteDezember<br />

wieder zum Vorsitzenden<br />

des Flughafen-Aufsichtsratsmachen<br />

lassen. Der Grünen-Abgeordnete<br />

Andreas Ottohat eine<br />

steileThese in die Welt gesetzt:<br />

Wowereithoffe aufeine Eröffnung<br />

im Frühjahr 2016, wenige<br />

MonatevordernächstenBerlin-<br />

Wahl, um aufder Welleder Euphorie<br />

über das endlich abgeschlossene<br />

Projekt seine vierte<br />

Abgeordnetenhauswahl in Folge<br />

zugewinnen.<br />

2014wirdeinJahrdes<br />

Übergangs,desInterims,desWartens<br />

Brandenburger müsste man<br />

seinindiesemJahr2014,dennda<br />

stehtzumindesteinTerminfest:<br />

dieLandtagswahlam14.September.Werallerdingsaufeinegänzlich<br />

andere Regierung wartet,<br />

wirddas auch in Potsdam und<br />

Umgebungüber2014hinaustun<br />

müssen.<br />

Denn wenn bei den SozialdemokratenbiszumWahltagnicht<br />

noch einer goldene Löffel klaut,<br />

wirddie SPD auch danach den<br />

Ministerpräsidentenstellen–an<br />

ihr führtinBrandenburg kein<br />

Wegvorbei. Abzuwarten bleibt<br />

nureines: ob sie das weiter mit<br />

der Linkspartei oder wie früher<br />

mitderCDUmacht.<br />

Was sich 2014 doch noch<br />

tut in der Stadt, lesen Sie<br />

auf SEITE 44, 45<br />

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DASSUMMEN DER<br />

MONTAGSWÜRMER<br />

VONTUĞSALMOĞUL<br />

UND ANTJESACHWITZ<br />

27.-30.12.2013, 20 UHR<br />

(AM29. UND 30.12. MITENGL. ÜT)<br />

Noch lange nix los hier: Bushaltestellen am Flughafen, dessen Eröffnungstermin höchstens in den Sternen steht Foto: Andreas Pein/laif<br />

INFO-UND KARTEN-TELEFON: (030)754 53725<br />

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42 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE<br />

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b@taz.de<br />

DAS BLEIBT<br />

b<br />

MITLEID ALLERORTEN<br />

So allein<br />

bin ich<br />

gar nicht<br />

Etwasmitleidiggucktermichan,<br />

der Spätibesitzer in Friedrichshain.IchkaufeeineFlascheWodka,genau<br />

wie letztes Jahr.Das<br />

riechtnatürlichnachganzgewaltigem<br />

Weihnachtsblues, danach,<br />

weinend Dominosteine in sich<br />

reinzustopfen und von„Michel<br />

ausLönneberga“über„SisterAct<br />

2“zu „Disney’sChristmasStory“<br />

zuzappen.<br />

Die Straßen sind menschenleer,selbstdie<br />

Rigaer,woman<br />

nunwirklich weder Zugezogene<br />

noch übertrieben besinnliche<br />

Menschen erwartet hätte. Aber<br />

wenn ich gleich in die nächste<br />

Querstraße einbiege, werdeich<br />

schondenTrubelausdervierten<br />

Etagehören.HierinderEnklave<br />

Liebigstraßeversammeltsichallesaus<br />

meinem Freundeskreis,<br />

was aus religiösen, familiären<br />

oder herkunftstechnischen<br />

Gründen mit Weihnachten sovielzutunhatwiederOsterhase<br />

mitChanukka.UndeswerdenjedesJahrmehr.<br />

Mancherhatzwarein<br />

PaarSockenabgesahnt,aberdiemeistensindfroh,endlich<br />

saufenzukönnen<br />

Unsere Partyhymne stammt<br />

vonSarah Silverman, singt sie<br />

doch in „Give the JewGirl Toys“<br />

so treffend: „I hate to saythis<br />

Santa, but you’re acting likea<br />

dick/youshouldgivepresentsto<br />

everyonethat’sgoodandnotjust<br />

toyourpersonalclique.“<br />

Selbstverständlich gibt es<br />

auchbeiunsweißeHemdkragen<br />

und Tischdecken, ein Sechsgängemenü<br />

und feierliche Stimmung.<br />

Da mansich Freunde allerdingsaussuchenkannundFamiliemeistnicht(irgendwo<br />

versteckt<br />

sich doch immer eine ungeliebte<br />

Tante, die zu Heiligabend<br />

Ärger macht), läuft das<br />

Ganze ziemlich harmonisch ab.<br />

Das mag auch an dem vielen<br />

Wodkaliegen.<br />

Wennwirdannanschließend,<br />

wie seitüber zehn Jahren, ins<br />

Taxi springen, um ins Bassy zu<br />

fahren, wo jedes Weihnachten<br />

die „Swinging 60’s“ Partystattfindet<br />

und man all die Leute<br />

trifft,diemaneinJahrlangnicht<br />

gesehen hat, muss mansich das<br />

GemeckerüberdieWeinachtsfeiernanhören.Dereinoderandere<br />

hatzwarein paar neue Socken<br />

odereiniPadabgesahnt,aberdie<br />

meisten sind doch froh,endlich<br />

saufenzukönnen.<br />

IchbezahldenWodkaundwill<br />

den Späti verlassen, doch der<br />

Blick des Verkäufers wurmt<br />

mich.Ergucktmichimmernoch<br />

an,alssäheergeradeeinenKäfig<br />

mit kleinen Katzen in einem<br />

Tierversuchslabor. Erscheint<br />

nichtzurealisieren,dasserineiner<br />

leeren Straße, in einem wenig<br />

frequentierten Geschäft<br />

sitzt, und ich will ihm auch die<br />

Illusion nichtnehmen, dass es<br />

jemanden gibt, der ärmer dran<br />

istals er.Also gehe ich schweigendhinaus.<br />

IndiesemSinne:Prost!<br />

JURI STERNBURG<br />

IM OSTTEIL DER STADT<br />

Und dann<br />

wird<br />

geschummelt<br />

WeihnachtenistimmereinStück<br />

Kindheitfürmich.Nichtnurwegen<br />

der Verwandten, mitdenen<br />

mansoviel ZeitamStück verbringtwiesonstimRestdesJahres<br />

insgesamtnichtmehr.Auch<br />

weil Berlin sich dann genauso<br />

anfühltwie vorder Wende. Still.<br />

Verlassen.Parkplätzeüberall.<br />

Wirbewegen uns ausschließlichimOstteilderStadt.VonPankownachKarlshorstundwieder<br />

zurück. Wenn’s hoch kommt,<br />

schleppenwirdasEsseninunseren<br />

Mägen noch einmal durch<br />

denPark,bevoreswiederKuchen<br />

gibt.UndwirgehenindieKirche.<br />

Ja,wir gehören zu den Assis, die<br />

sicheinmalimJahrzwischendie<br />

Bankreihenschummeln,umein<br />

bisschen Segen einzusacken. Na<br />

und? Der Pfarrer der Paul-Gerhardt-Gemeinde<br />

hielteine Predigt,<br />

die den Namen verdiente.<br />

Darüber,dassMariaundJosefja<br />

auch Wirtschaftsflüchtlinge waren,<br />

die niemand reinlassen<br />

wollte.Erredetevon„Funktionszusammenhängen“,<br />

vonLampedusa<br />

und Nächstenliebe. Er ist<br />

brillant, ich verliebe mich ein<br />

bisschen.Wennerbloßnichtdie<br />

ganze Zeitvon den Flüchtlingen<br />

aufdem „Oranienburger Platz“<br />

redenwürde!Kreuzbergisteben<br />

weitwegvonKarlshorst.<br />

AußerdemwirdinmeinerFamilie<br />

gespielt. Im Imperativ.<br />

„EsstmaeurePfefferkuchen,wir<br />

wollenspielen!“,sagtmeineTante.<br />

Und dann wirdgespielt. MeineCousinswollenimmer„Stadt,<br />

Land“ spielen, mit Kategorien<br />

Ja,wirgehörenzuden<br />

Assis,diesicheinmal<br />

imJahrindieBankreihenschummeln,um<br />

Segeneinzusacken<br />

wie „Fluglinie“. Ich habe „Scheidungsgrund“<br />

vorgeschlagen.<br />

Und dann wurdegeschummelt.<br />

Die lügen, ohne rotzuwerden!<br />

SportartmitD.„Draisinefahren“,<br />

sagt mein Onkel. Meine Mutter<br />

hatte als Scheidungsgrund „Hose<br />

runter“.Meine Tantehat erst<br />

protestiert.Aberdannkamraus,<br />

dasssiedachte,essolleineSportartsein.IchmagWeihnachten.<br />

LEA STREISAND<br />

„Berlin hat<br />

auchmaldie<br />

Schnauze<br />

voll davon,<br />

immer nur<br />

Berlin zu<br />

sein“<br />

DAS BLEIBT VON DER WEIHNACHTSWOCHE<br />

Manchmaldurchläuftauchdie<br />

StadtMetamorphosen,derKauf<br />

einerFlascheWodkaan<br />

HeiligabendlässtaufEinsamkeit<br />

schließen,deutsch-iranische<br />

Familienzusammenführunggeht<br />

schnellermitSchnaps,undMaria<br />

undJosefwarenauchnur<br />

Wirtschaftsflüchtlinge<br />

INTERKULTURELL FEIERN<br />

Iraner<br />

kennen<br />

keinen Kitsch<br />

So aufregend warWeihnachten<br />

seit den frühen 80ern nicht<br />

mehr. Damals hatte der Weihnachtsmann,alsomeinVater,die<br />

Geschenkefürmichundmeinen<br />

Stiefbruder vertauscht: Ich bekamABBAs<br />

„GreatestHits“ statt<br />

StatusQuo –und wusste beim<br />

ersten Hören, dass mein Leben<br />

endlicheinenSinnhatte.<br />

DiesesJahrwardieAufregung<br />

derTatsachegeschuldet,dasswir<br />

alsfrischgebackeneKleinfamilie<br />

zumersten Mal selbstdas Fest<br />

ausrichtensollten.Allekamenzu<br />

uns: meine Eltern ausKöln, die<br />

Schwiegereltern aus Gießen.<br />

UndKati,dieHalbschwestermeinesMannes,mitihrenzweiKindern<br />

Negar und Ali aus Hamburg.<br />

Die drei kommen ausIran<br />

und leben erstseitKurzem in<br />

Deutschland. Entsprechend gespanntwaren<br />

sie aufein richtig<br />

deutschesWeihnachten.<br />

SeitderGeburt<br />

unseresKindes<br />

sindwiraufdem<br />

Traditionstrip<br />

Mein Mann und ich, seitder<br />

Geburtunseres Kindes ohnehin<br />

auf dem Traditionstrip, hatten<br />

dasvolleProgrammvorbereitet:<br />

um 18 Uhr Bescherung unterm<br />

Weihnachtsbaum, anschließend<br />

Rinderbraten mit Rotkohl und<br />

Salzkartoffeln, zum Nachtisch<br />

Backäpfel. Dazu Rotwein und<br />

SchnapszurBeschleunigungder<br />

interkulturellenÖffnung.<br />

Die Bescherung ließ sich gut<br />

an. Obwohl die mit einem<br />

Strohstern gekrönte Tanne nur<br />

knappeinenMetermaßunddie<br />

Lichterkettegerademal50Zentimeter,brachKatiinlauteEntzückensrufe<br />

aus. Bis zum Essen<br />

warendieIranerdanndamitbeschäftigt,<br />

sich gegenseitig vor<br />

demBaumzufotografieren.„Im<br />

Persischen gibt es kein Wort für<br />

Kitsch“, erklärtemeinMann.<br />

Das Essen verlief ohne Komplikationen,siehtmandavonab,<br />

dassmeinVaterbeimFotografieren<br />

der Tischgesellschaft einen<br />

seiner berüchtigten Witze losließ:<br />

„Was sagt ein Fotograf in<br />

Ägypten, wenn er eine Gruppe<br />

fotografieren will? Allemalachen!“<br />

Noch besser sein Spruch,<br />

alsderRotweinkredenztwurde:<br />

„Ich dachte, im Iran istAlkohol<br />

verboten?!“<br />

InderTatzeitigtederAlkohol<br />

Wirkung bei Kati, die nach dem<br />

Grappa drohte, auf dem Tisch<br />

bauchzutanzen. So weit kames<br />

nicht. Aber ihr Schwips ließ sie<br />

später kurz ernst werden. Sie<br />

fragte unvermittelt: „Wie altist<br />

Jesus geworden?“ –„Ich glaube,<br />

34“,antwortete ich. „33!“,fiel mir<br />

meinVaterinsWort.„UnderhattekeineFamilie!“Daskonnteich<br />

so nicht stehen lassen. „Dafür<br />

aber eine Geliebte“, entgegnete<br />

ich schadenfroh. „Davon weiß<br />

ichnichts“,sagtemeinVater.„SichernureineFreundschaft.“<br />

Zum Abschied küsste mein<br />

VaterdieIraneraufdieWangen–<br />

dreimal, wie es sich gehört.<br />

„KommtmichgernemalinKöln<br />

besuchen“, sagte er zu Kati. „Wir<br />

habendaeinenDom.Dasisteine<br />

großeKirche!“ SUSANNE MEMARNIA<br />

EINWOHNERTAUSCH<br />

Berlin istfür<br />

ein paar Tage<br />

mal Gütersloh<br />

Die Straßen sind ein bisschen<br />

leerer am 24. Dezember morgens.Odersiesindandersbevölkert<br />

als zuvor. Als habe ein Einwohnertauschstattgefunden.<br />

Eine Reiseplattform schätzt<br />

dieZahlderMenschen,dieBerlin<br />

überWeihnachtenverlassen,auf<br />

eine Million; die meisten fahren<br />

demnachindieHeimat.DieZahl<br />

scheint etwas hoch gegriffen.<br />

Und selbstwenn, kehren ja vielleicht<br />

auch eine Menge Menschen,<br />

die einstander Spree gewohnthaben–lassenwireseine<br />

Viertelmillion sein –, wieder<br />

heim.Manstellesichvor,wie13,3<br />

volleLadungen Olympiastadion<br />

die Stadt verlassen. Und wie<br />

gleichzeitig 3,3 volle Ladungen<br />

Olympiastadion zurückkehren.<br />

EineeinfacheRechnung.<br />

Berlin wirdnichtnur leerer,<br />

Berlin wirdauch langsamer in<br />

diesen Tagen. Die Stadtschaltet<br />

einenGangzurück,hateinenanderen<br />

Beat. Man hatdas Gefühl,<br />

sie tauschtsich selbstein paar<br />

Tage aus. Hat auch mal die<br />

Schnauzevolldavon,immernur<br />

Berlin zu sein. Istfür ein paar<br />

TagemalGütersloh.<br />

Auchmanselbstschaltetrunter,vergisstdie<br />

Geschäftigkeit.<br />

Heiligabend lese ich „Auggie<br />

Wrens Weihnachtsgeschichte“<br />

von Paul Auster –die einzige<br />

Weihnachtsgeschichte, die ich<br />

gernlese.<br />

Am späten Nachmittagfahre<br />

ich nach Schöneberg. Der Park<br />

amGleisdreieckistdämmernde,<br />

leergefegteKulisse.HinterderS-<br />

Bahn-Trasse lugen die Gebäude<br />

rund um das SonyCenter versöhnlich<br />

hervor.Vom Park aus<br />

wirken sie nichtsodeplatziert<br />

wie sonst. Niemand unterwegs,<br />

warmer Wind ziehtdurch. Und<br />

selbstdie Kurfürstenstraße und<br />

die Potsdamer sind einigermaßenruhigheute.Laubfliegtauf.<br />

Den Abend verbringe ich<br />

danninSchönebergineinersehr<br />

gemischten Runde bei einem<br />

Freund.TagderoffenenTür;wer<br />

kommt, der kommt. Zehn Menschen<br />

mit unterschiedlichen<br />

Backgrounds, zwischen 30 und<br />

90Jahren,sindda.AusMünchen,<br />

dem Taunus, Bremen, Bottrop –<br />

diemeisteninzwischeninBerlin<br />

lebend.<br />

Wirtrinken Jever, Weißwein,<br />

späterPrimitivo.Wirredenüber<br />

soverschiedeneDingewieLachse,<br />

die in sauberen Gewässern<br />

schwimmen, den morbiden<br />

Charme der Potsdamer Straße<br />

und die Arbeit inJobcentern.<br />

Darüber,was2014bringenwird.<br />

Zwischendurch herrscht auch<br />

malRuhe; alleschauen gemächlich<br />

vorsich hin. Ein Schweigen,<br />

dasnichtunangenehm,sondern<br />

natürlichwirkt.<br />

In ein paar Tagen ist diese<br />

Stadt wieder eine andere. Ein<br />

paar volleOlympiastadien fahrenwiederdavon,einpaarmehr<br />

kommen zurück. AusGütersloh<br />

undanderswo. JENS UTHOFF<br />

BerlinhatdieSchnauzevolldavon,immer<br />

nurBerlinzusein


DAS KOMMT www.taz.de<br />

b@taz.de SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE 43<br />

b<br />

Im Kugelhagel<br />

Fiese Falle: Silvester auf den Straßen Berlins Foto: Georg Schönharting/Visum<br />

APOKALYPSE<br />

Brennende<br />

Rauhaardackelund<br />

einInfernoaus<br />

Rauch–dasist<br />

Neuköllnamletzten<br />

AbenddesJahres.<br />

Besonders<br />

Touristen,diedas<br />

Silvester-in-Berlin-<br />

Paketgebucht<br />

haben,habeneshier<br />

nunschwer<br />

VON ULI HANNEMANN<br />

EinVideoaufYouTubezeigtapokalyptische<br />

Szenen: Schwarzer<br />

Qualm zieht durch vermüllte<br />

Straßen und wabertüber ausgebrannte<br />

Fahrzeuge und tote Tiere.<br />

Hier und da ein lebloser Körper.Lautes<br />

Gebrüll, Blitze, Mündungsfeuer<br />

und Granaten. Vermummte<br />

Gestalten, die unter<br />

unablässigem Geballer Häuserblock<br />

um Häuserblock voranrücken.<br />

AufZivilisten wirdkeine<br />

Rücksichtgenommen,ehernoch<br />

sindsieZielscheiben.<br />

Silvester in Neukölln istdas<br />

nicht. Doch wenn manstatt der<br />

Suchbegriffe „Warlords“,„Mogadischu“und„Straßenkampf“die<br />

Begriffe „Krank!“, „Neukölln“<br />

und „Krieg“ eingibt, stößtman<br />

aufnahezuidentische Aufnahmen<br />

vomvergangenen Jahreswechsel.IndemanzweiterPosition<br />

gelisteten Clipist ein Mann<br />

in einem Inferno ausFeuer und<br />

Rauch zu sehen, der vorLärm<br />

und Angstoffenbar wahnsinnig<br />

geworden ist: „Hör auf“,schreit<br />

erineinemfort.„IchrufdiePolizei“,<br />

„Was istdenn eigentlich los<br />

hier?“,„Wasistpassiert?“„Ichruf<br />

die Polizei an! Ahhhh! Ei, ei, ei!“,<br />

und, der Höhepunkt der Verwirrtheit:<br />

„Ich will eigentlich<br />

schlafen!“<br />

Ein wenig erfüllteseinen ja<br />

doch mitGenugtuung, die kürzlich<br />

auf einem dieser „Besinnungsweihnachtsmärkte“<br />

(Kennzeichen:keineAchterbahn<br />

und gezuckerte Fensterreiniger<br />

mitpseudonordischenFantasienamen)<br />

wie lebende Barrikaden<br />

im Wegherumeiernden Berlinbesucher<br />

auf einmal hurtig<br />

springenzusehen.<br />

ZeterndimZickzack<br />

Was für ein Hallo-Wach-Effekt!<br />

ZeterndundwildmitdenArmen<br />

fuchtelnd, versuchen sie, im<br />

Zickzackhüpfenddenaufsieabgefeuerten<br />

Raketen und Kugeln<br />

sowie den außer Kontrolle herumflitzenden,<br />

brennenden Rauhaardackeln<br />

auszuweichen. Na<br />

also,siekönnenesdoch–soviel<br />

inBewegungsenergieumgesetztesAdrenalinhättemandendrögen<br />

Schleichern garnichtzugetraut.<br />

Wäre manein empathischer<br />

MenschundkeinBerliner,könnten<br />

sie einem durchausleidtun.<br />

DenndasistschoneinefieseFalle.Keinerhatsiegewarnt.Undso<br />

kommtdasPaarausderProvinz<br />

voller Vorfreude hierher. Ge-<br />

buchtist das Silvester-in-Berlin-<br />

PaketimHotel„DaysInnSouth“<br />

am Hermannplatz. Vondortaus<br />

wollensieamSilvesterabendein<br />

wenig frische Luft schnappen<br />

und anschließend vielleicht<br />

noch aufein Glas Holundersekt<br />

in eine nette Bar in der Umgebung.<br />

„Frische Luft“. „Nette Bar“.<br />

„Umgebung“.Andiesen fehlgeleitetenErwartungenmerktman<br />

bereits: Das Hotelpersonal verletzt<br />

seine Fürsorgepflicht. Anstattden<br />

Lehrfilm vomvorigen<br />

Jahreswechsel vorzuführen, keckertesihnen<br />

scheinheilig hinterher:<br />

„Ich wünsche den HerrschaftenvielSpaß“.<br />

Sobehandelt<br />

Berlin seine Besucher.Wie Laufkundschaft,<br />

wie Eindringlinge,<br />

wieVieh.<br />

Schon aufden ersten Metern<br />

werdensieunterDauerfeuergenommen<br />

wie vor ihnen allen-<br />

fallsdieLandungstruppenamD-<br />

Day.RaschflüchtensiesichineineBar.DieBaristnichtnett.Das<br />

Bier schmeckt nach fauligem<br />

Brackwasser,die Cocktails nach<br />

billigem Sprit. Allesind sturzbetrunken<br />

und entblößen Körperteile,vondenenmanliebernicht<br />

gewussthätte, dass es sie überhauptgibt.<br />

Kurz vorMitternachtwerden<br />

sämtliche Gäste aufdie Straße<br />

gescheucht. Dort schießt jeder<br />

aufjeden und unser Paar lernt<br />

schnell, den Bärentanz zu tanzen.DieMengejohlt.Wosinddie<br />

ganzen besinnlichen Menschen<br />

hin,vondenendocherstkürzlich<br />

die Bekannten schwärmten, die<br />

das Advent-in-Berlin-Paket in<br />

PrenzlauerBerggebuchthatten?<br />

Man soll dortsoangenehm auf<br />

dem Weihnachtsmarkt in der<br />

Kulturbrauereiherumgestanden<br />

sein. Aber wo istdas: Prenzlauer<br />

Berg?UndwosindsieumGottes<br />

Willen hier gelandet? Hier sind<br />

dochnurMörderundVerrückte!<br />

Erste Verluste: Die Frau verschwindet<br />

im Getümmel. Der<br />

ManngerätinPanikundbeginnt<br />

zuschreien:„Hörauf!“.<br />

Siesindebennichtsgewöhnt–<br />

und hätte der Hoteltyp ihnen<br />

eindringlich geraten, auf dem<br />

Wäremanein<br />

empathischerMensch<br />

undkeinBerliner,<br />

könntensieeinem<br />

durchausleidtun<br />

Zimmer zu bleiben, die Fenster<br />

zu verschließen und sich an die<br />

Minibar zu halten, wäre weiter<br />

nichtspassiert.Sieverstehenohnehinnicht,wasdadraußenvor<br />

sichgeht.<br />

Dabei istalles doch ganz einfach:<br />

So feiern nunmal die Armen,<br />

die Künstler und die, die<br />

beides gern wären. Das ganze<br />

Jahr über ächzen sie unter der<br />

KnutevonJobcenter,Künstlersozialkasse<br />

oder Partystress. Nun<br />

entlädt sich der aufgestaute<br />

Druck in einer Orgie der Gewalt<br />

und des totalen Irrsinns. Man<br />

musssieverstehen,dennfürsie<br />

gibt es nichtwirklich eine Zukunft<br />

–und wenn doch, dann<br />

heißt sie 666 und nicht 2014.<br />

Trotzdembrichtirgendwannder<br />

neueTag,dasneueJahr,dasneue<br />

Elend an. Im „Days Inn South“<br />

wirddie traditionelleNeujahrsinventur<br />

durchgeführt: Welche<br />

Zimmernummern hatten denn<br />

dasSilvester-in-Berlin-Paket?<br />

Fremde Habseligkeiten werden<br />

in fremde Koffer geworfen<br />

undindenKellergebracht.Wertsachen<br />

werden aufgeteilt, angebrochene<br />

Kosmetikartikel entsorgt,SpurenverwischtundPässe<br />

verbrannt. Die Besitzer kommenniemalswieder.<br />

...........................................................................................................................................................................................................................................................................................................<br />

ÜBERLEGUNGEN ANLÄSSLICH DER ALTARBESTEIGUNG VON KÖLN<br />

Berlin,mittelalterfreieZone<br />

ManmusssichdiemeistenBesucher<br />

des Weihnachtshochamts<br />

im Kölner Dom als zufriedene<br />

Menschenvorstellen.Hättesich<br />

danichtmitteninderZelebrationdiesefürdieJahreszeitgänzlich<br />

unpassend gekleidete Frau<br />

aufdenAltargeschwungen(Hut<br />

abvorsolchbehendemSprung!),<br />

dieMessewäregenausozermürbendgewordenwieimmer–zerdehnte<br />

Zeit, ein SpannungsbogenwieausGranit,mumienhaft<br />

agierendes Personal. So aber<br />

gab’swaszusehen,zubezischen,<br />

zuberaunenund–alsderKardinalwiederdasHeftinderHand<br />

hatte –sogar zu beklatschen.<br />

AuchfürZuhausewarnochjede<br />

MengeGesprächsstoffübrig!<br />

Der Beobachter im fernen<br />

Berlinsiehtes,nunja,miteinwe-<br />

HALLELUJA<br />

.......................................................<br />

VON<br />

CLAUDIUS<br />

PRÖSSER<br />

.......................................................<br />

nigNeid.Dennseienwirehrlich:<br />

WäreeinDramolettmitsolcharchaischerBildsprache–Mittelalter!Hexen!Inquisition!–inder<br />

Hauptstadt vorstellbar? Wohl<br />

kaum:DazuistmananderSpree<br />

inGlaubensdingenvielzuwenig<br />

bewandert.Esfängtschondamit<br />

an,dassGotikhierzulandeMangelwareist.IndenüberschaubarenReliktenbefindensichMuseen,odersiewerdenvontoleranten<br />

Protestanten gegen den<br />

Strich ihrer weltentsagenden<br />

Symbolikgebürstet.Dafehltvon<br />

vornhereindieFallhöhe.Unddie<br />

Berliner Katholiken? Sind im<br />

Großen und Ganzen eher zivile<br />

Menschen.InderHedwigskathedralegibt’skeine<br />

RausschmeißerinSoutanewieinKölnundes<br />

riechtnichtsostrengnachWeihrauch.<br />

Weichgespült<br />

stattreaktionär<br />

Auch im Archivdes endenden<br />

Jahres sucht man vergebens<br />

nach provokanten Duftmarken,<br />

die die römische Kirche hinterlassenhat.AmRheinwarbislang<br />

immerVerlassaufdiereaktionärenAusfälleeinesJoachimMeisner,aberseinAmtskollegeander<br />

Spree ist–zumindestnach außen<br />

–von der weichgespülten<br />

Sorte. Einer der anlässlich der<br />

Berlinalesagt: „Jesus wäre bestimmtgerninsKinogegangen.“<br />

EinerderdenRücktrittdesalten<br />

Papstesgenausopflichtschuldig<br />

bedauerte,wieerdenAntrittdes<br />

neuenbegrüßte.Einer,derauch<br />

den Flüchtlingen vomOranienplatz<br />

schon maleine helfende<br />

Handreichenlässt.<br />

Wasjaauchgutsoist.Nur,den<br />

richtigen vatikanischen Kitzel<br />

versprichtdiesesSettinggenausowenigwieeinöffentlichkeitswirksames<br />

Aufbegehren dagegen.AnwelcherSymboliksollte<br />

mansichauchreiben?Wennder<br />

argentinische Armen-Papst<br />

(dessenWahlausdenReihender<br />

Purpurträger tatsächlich an ein<br />

Wunder grenzte) dem in Prunk<br />

und Behäbigkeit erstarrten<br />

deutschen Staatskatholizismus<br />

tatsächlichandenKragenwollte<br />

–wo,wennnichtinBerlin,hätte<br />

dasamwenigstenPopcornkino-<br />

Qualität?<br />

Berlinistebeninsgesamtkein<br />

sonderlichguterNährbodenfür<br />

religiöseFanatismen.Nichtmal<br />

einpaarvierschrötigeSalafisten<br />

bekommtman hier zu Gesicht.<br />

DieStadtisteinfachzugroß,als<br />

dassdieMittelalterlichenjedwederGlaubensrichtungeinekritische<br />

Masse erreichen würden.<br />

WäreeinDramolett<br />

mitsolcharchaischer<br />

Bildspracheinder<br />

Hauptstadtvorstellbar?Wohlkaum<br />

EigentlichkeinGrundzumJammern,sondernzurFreude.<br />

P. S.: Die schriftlich und mündlich<br />

vorgetragene Behauptung<br />

der rothaarigen Frau ausdem<br />

KölnerDom,sieseiGott,kanneinen<br />

wahren Katholiken selbstverständlich<br />

nichtüberzeugen:<br />

FrauenkönnenesinseinerKonfession<br />

allerhöchstens zurGottesmutter<br />

bringen, und selbst<br />

dabei handeltessich quasi um<br />

eineAttrappe.Wieheißtesdoch<br />

indemaltenLied,dassderKardinalnach<br />

der unbotmäßigen Altarbesteigung<br />

anstimmte? „Er<br />

kommtausseinesVatersSchoß/<br />

undwirdeinKindleinklein/er<br />

liegtdortelend,nacktundbloß/<br />

in einem Krippelein /ineinem<br />

Krippelein.“


44 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE<br />

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DAS THEMA<br />

Hier stehtdie<br />

Zukunft<br />

geschrieben<br />

Der Mauerfall –hier am Grenzübergang Chausseestraße Foto: Norbert Michalke/Ullstein Bild<br />

VORHERSAGEWasbringtdasneueJahr?Dietaz<br />

weißes:GleichimJanuarwirdüberdas<br />

TempelhoferFeldunddasFlüchtlingscamp<br />

amOranienplatzentschieden,in<br />

BrandenburgwirddieSPDwiedergewählt,<br />

derMauerfallwirdeinVierteljahrhundert<br />

altundderErsteWeltkriegschon100.<br />

UnserAusblickauf2014<br />

Die Mauer fällt wieder<br />

JAHRESTAG IZumletzten<br />

MalfürlangeZeitwird<br />

2014andasEndeder<br />

DDRerinnert<br />

Ein historisches Großereignis:<br />

Vor25Jahren, am 9. November<br />

1989,fieldieBerlinerMauerund<br />

damitletztlich auch die DDR. 25<br />

Jahre: Das gehtgemeinhin noch<br />

als „richtig rundes“ Jubiläum<br />

durch und wird deswegen –<br />

wahrscheinlich sogar weltweit –<br />

intensivbegangen.Bei30oder35<br />

siehtesdannschonganzanders<br />

aus.<br />

25Jahresindzudemeinegute<br />

Zeitspanne, um der Fragenachzugehen,<br />

inwieweit der Mauerfall<br />

schon Geschichte ist oder<br />

nochTeilderGegenwart.Anders<br />

als im Fall des Ersten Weltkriegs<br />

leben die meisten Zeitzeugen<br />

noch und haben selbstjene, die<br />

das Ereignis nuraus der Ferne,<br />

meistamFernseher,erlebt haben,<br />

konkrete Erinnerungen an<br />

dieTageimHerbst1989.Diewird<br />

mankommendesJahrauchumfangreich<br />

lesen, hören, sehen.<br />

Die taz.berlin hat damit sogar<br />

schonbegonnen:InderAusgabe<br />

am 9. November dieses Jahres<br />

hatHaraldJäger–derDDR-Grenzer,deranderBornholmerStraße<br />

die Schleusen öffnete –den<br />

Ablauf seiner Arbeitanjenem<br />

Tagdetaillierterzählt.<br />

Wahr-undUnwahrheiten<br />

Das warspannend, fast ein Krimi.<br />

Bisweilen verlor manüber<br />

die FaszinationamPlottatsäch-<br />

Sportlicher Fan: Der Bezirk Mitte glaubt, dass ein Zaun solche<br />

Aktionen verhindert Foto: Tobias Seeliger/Snapshot Photography<br />

lich jene vielen Menschen aus<br />

dem Blick, für die die Situation<br />

etwas Existenzielles hatte. Der<br />

Mauerfallwirdlangsamselbstzu<br />

einer Geschichte, mitall seinen<br />

Wahr- und Unwahrheiten, die<br />

ihm nach und nach angedichtet<br />

werden –von all denen, die sich<br />

nichtmehrgenauerinnernkönnen<br />

oder wollen oder sogar ein<br />

Interesse daran haben, etwas<br />

Neueshinzuzufügen.<br />

Was wird 2014 überwiegen:<br />

die Geschichte des Mauerfalls<br />

oderderMauerfallalsGeschichte?Vorallem:WaswirddieGeneration<br />

der unter 30-Jährigen<br />

mehrinteressieren?Sodröge„25<br />

JahreMauerfall“erstmalklingt–<br />

es könnte erinnerungspolitisch<br />

ein diskussionsreiches Jahr<br />

werden.<br />

BERT SCHULZ<br />

Bezirk Mitte will Fanmeile<br />

im Tiergarten einzäunen<br />

PARKStreitüberfesten<br />

odermobilenZaun<br />

Fußball-WMinBrasilien–dasbedeutet<br />

für Berlin: ein schwarzrot-goldenesMeeraufderStraße<br />

des17.Juni,indemsichüberwiegend<br />

betrunkene „Schland“grölende<br />

Menschen tummeln. Bei<br />

der Europameisterschaft 2012<br />

sollendortmehralseineMillion<br />

Menschen die Spiele verfolgt<br />

haben.<br />

Inzwischen allerdings sorgt<br />

mansich um die Sicherheitbei<br />

Großveranstaltungen auf der<br />

Partymeile.Deshalbsollnunein<br />

Zaunher,dauerhaft.Überdiesen<br />

Zaun,derdieJohn-Foster-Dulles-<br />

Allee, die Tiergartenstraße und<br />

dieHofjägeralleeentlangverlaufensoll,streitenderBezirkMitte<br />

und die Senatsverwaltung für<br />

Stadtentwicklung schon seiteinem<br />

Jahr.Etwa3,5 Millionen EurowürdedieserZaunkosten,der<br />

dieEinlasskontrolleregelnsoll.<br />

EineAlternativewäreeinmobiler<br />

Zaun, bei dem nureinige<br />

Vorrichtungen fest installiert<br />

sindunddenmanimmerwieder<br />

zu den Massenpartys aufbauen<br />

müsste.Daswürde2,8Millionen<br />

Eurokosten –plusbis zu einer<br />

MillionAufstellkosten.<br />

Mittes Baustadtrat Carsten<br />

Spallek (CDU) will den festen<br />

Zaun. Harald Büttner,Leiter des<br />

Tiefbau- und Landschaftsplanungsamtes,erklärt:„Wirwollen<br />

den Zugang regulieren. Es geht<br />

uns darum, dass nichtjeder auf<br />

dasGeländekann,indemerden<br />

Bauzaun zurSeite schiebt. Und<br />

derHypeumdieWMwirdunsda<br />

anneueGrenzenbringen.“<br />

Massensause<br />

Der für Stadtentwicklung zuständigeSenatorMichaelMüller<br />

(SPD) istaber gegen den Zaun –<br />

wie die meisten seiner Parteigenossen.<br />

Bernd Krömer (CDU),<br />

StaatssekretärdesCDU-Innensenators<br />

Frank Henkel, äußerte<br />

sich zuletzt vorsichtig proZaun,<br />

die Polizei istsowieso dafür.Die<br />

Organisatoren der Fanmeile, eine<br />

Unterorganisation der Fifa,<br />

halten sich derzeitbedeckt. Es<br />

heißt,siemachtendenZaunzur<br />

BedingungfürdieMassensause.<br />

Kann ein Zaun wirklich eine<br />

Lösung sein? Die Sicherheitund<br />

dieKostengeltenalsHauptargumente<br />

dafür.Die Anschlagsgefahr<br />

aber wirdeine solche Absperrung<br />

wohl kaum senken, er<br />

wirdnichtmalwirklichabschreckend<br />

wirken. Und einen Bauzaun<br />

bei jedem Eventaufzustellen–wiebisher–kostetmaximal<br />

220.000Euro,sagtBüttner.Klar,<br />

rechnet mandas hoch, hatman<br />

dieseKostenschnellraus.DieInstandhaltungeinesfestenZauns<br />

allerdingshatnochniemandeingerechnet.<br />

Während also an der<br />

schwarz-rot-goldenen Sause<br />

kaum ein Weg vorbeiführt, ist<br />

dasletzteWortumderenUmrandunglängstnichtgesprochen.<br />

JENS UTHOFF<br />

Ohne die SPD gehtnichts<br />

POTSDAMBrandenburg<br />

wähltimSeptember<br />

einenneuenLandtag–<br />

wohlnurmitderSPD<br />

Eine wunderbare Freundschaft<br />

siehtanders aus. In weniger als<br />

neun Monaten wähltBrandenburg<br />

seinen Landtag, und die<br />

derzeitigen Regierungspartner<br />

SPDundLinksparteiliegenbeim<br />

wichtigsten Infrastrukturprojekt<br />

der Region, dem Flughafen<br />

BER,imClinch.<br />

Das drückt sich nichtnur darinaus,<br />

dass die Linke, die seit<br />

2009Juniorpartnerinderersten<br />

rot-roten Regierung des Landes<br />

ist, jüngstausdrücklich betonte,<br />

ihre Leute hätten den Berliner<br />

Während an der<br />

schwarz-rot-goldenen<br />

Sause zur Fußball-WM<br />

auf der<br />

Fanmeile wohl kein<br />

Weg vorbeiführt, ist<br />

das letzte Wort über<br />

deren Umrandung<br />

längstnicht<br />

gesprochen<br />

Regierenden Bürgermeister<br />

Klaus Wowereit(SPD) nichterneutzum<br />

BER-Aufsichtsratschef<br />

gewählt.<br />

Die beiden Parteien sind sich<br />

auch nichtwirklich einig beim<br />

Lärmschutz. Es geschah auf<br />

Drängen der Linkspartei, dass<br />

sichderdamaligeMinisterpräsidentMatthias<br />

Platzeck (SPD) dafür<br />

aussprach, die Forderungen<br />

des Volksbegehrens zumNachflugverbotzuübernehmen–obwohl<br />

die SPD zuvorFront dagegen<br />

gemachthatte. Der Landtag<br />

folgte Platzecks Haltung. Doch<br />

wiesichdiewiderstrebendenInteressenvonlängerenFlugzeiten<br />

und Nachtruhe von22bis 6Uhr<br />

früh zusammenbringen lassen<br />

sollen,istunklar.<br />

Umso offener istdie Lage vor<br />

derWahlam14.September,weil<br />

bei beiden Parteien ausgerechnetjenePersonenindenHintergrundgetretensind,dienochbei<br />

der Koalitionsbildung 2009 für<br />

gute Zusammenarbeitbürgten:<br />

Platzeck und die damalige Linken-Spitzenkandidatin<br />

Kerstin<br />

Kaiser, die als persönlich befreundetgalten.<br />

Matthias Platzeck legte seine<br />

Ämter aus gesundheitlichen<br />

Gründen Ende August nieder.<br />

Kerstin Kaiser geriet währenddesseninihrereigenenParteiin<br />

die Kritik, wo es zudem den<br />

Wunsch nach mehr Profilierung<br />

gegenüberderSPDgab,undtrat<br />

beiderFraktionschefwahlimAugust2012nichtmehran.<br />

NeueSpitzenleute<br />

So gehen beide Koalitionspartner<br />

mitneuen Spitzenleuten in<br />

die Wahl: mitDietmar Woidke<br />

beiderSPDundChristianGörke<br />

bei der Linkspartei. Die SPD ist<br />

dabei in der komfortablen Position,dassesinBrandenburgfaktisch<br />

keine Koalition ohne sie<br />

gibt. Sie kann sich entscheiden,<br />

mit der Linken zusammenzubleiben<br />

oder wie vor2009 mit<br />

derCDUzuregieren.<br />

Die Sozialdemokraten sind<br />

zwar seitAnfang 2013 in Umfragen<br />

von36Prozentauf jüngst<br />

nurnoch 32 abgerutscht, liegen<br />

aberimmernochvorderUnion.<br />

Die hat sich seit ihrer Wahlschlappe<br />

2009, als sie unter 20<br />

Prozentlag,erheblichverbessert<br />

und liegt derzeitbei 30 Prozent,<br />

während die Linkspartei 22 erreicht.<br />

Die Bündnisgrünen, die<br />

2009 erstzum zweiten Mal in<br />

den Brandenburger Landtagkamen,<br />

haben mit6Prozentgute<br />

Chancen,drinzubleiben.<br />

STEFAN ALBERTI


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Haach, wie schön: Sonnenuntergang auf dem unbebauten Tempelhofer Feld Foto: Pierre Adenis<br />

Die große Leere<br />

PARKAnfangJanuarzeigt<br />

sich,obdas<br />

Volksbegehrenzum<br />

TempelhoferFeld<br />

erfolgreichist<br />

EsistdergrößteStreitdesLandes<br />

–380 Hektargroß, um genau zu<br />

sein.SovielmisstdasTempelhoferFeld,undumdessenZukunft<br />

ringenderSenatundInitiatoren<br />

eines Volksbegehrens. Bis zum<br />

13.JanuarhatdieBürgerinitiative<br />

„100 %Tempelhofer Feld“noch<br />

Zeit, Unterschriften zu sammeln:<br />

Sie wollen das Feld so belassen,wieesist–unbebaut.<br />

107.500 Unterschriften haben<br />

die Feldfreunde bisher zusammen,<br />

mindestens 174.000<br />

müssen es werden. Das wird<br />

knapp. Klappt’s, wirdineinem<br />

landesweitenVolksentscheidabgestimmt.<br />

Die Bürgerinitiative<br />

peilthierfür die Europawahl am<br />

25.Maian.DenTerminaberlegt<br />

die Innenverwaltung fest–und<br />

die hat schon beim Energie-<br />

Volksbegehren gezeigt, dass sie<br />

nichtunbedingt dem Willen der<br />

Initiativenfolgt.<br />

b<br />

Wäre der Volksentscheid tatsächlich<br />

erfolgreich, bliebe auf<br />

dem Feld alles beim Statusquo.<br />

NurSportfelder,Bänkeund Toiletten<br />

dürften dann noch aufgestellt<br />

sowie Bäume gepflanzt<br />

werden. So siehtesder GesetzentwurfderBürgerinitiativevor.<br />

Scheitert das Volksbegehren,<br />

hätte wiederum der Senatfreie<br />

Bahn: 4.700 Wohnungen will er<br />

aufdemFelderrichten,ersteBebauungsverfahrenlaufenschon.<br />

Ab2016sollaufderTempelhofer<br />

Seitelosgebuddeltwerden, am<br />

Ende sollen 230 Hektar des Feldesfreibleiben.SenatorMichael<br />

Müller (SPD) versprach aber,bis<br />

Ende des Volksbegehrens keine<br />

Baggerrollenzulassen.<br />

Protestiertwirdsooderso<br />

Nächstes Jahr seien deshalbnur<br />

einige neue Wege und Baumpflanzungen<br />

geplant. Auch die<br />

neueLandesbibliothek,derenfinalerEntwurf<br />

im Frühjahr gekürtwird,sollerstab2016gebaut<br />

werden. Gewiss aber ist: Sobald<br />

Bagger aufdem Feld anrücken,<br />

dürfte es Protestgeben. Ob mit<br />

erfolgreichem Volksbegehren<br />

oderohne. KONRAD LITSCHKO<br />

Aufder Suche nach einer Bleibe<br />

ASYLRund6.000<br />

Flüchtlingenimmt<br />

Berlin2014wohlauf.<br />

GleichimJanuargehtes<br />

umdenOranienplatz<br />

Alles schaut auf den Oranienplatz.<br />

Wenn dortnichtbis 18. Januar<br />

die Zelte des Flüchtlingscampsabgebautsind,willInnensenatorFrankHenkel(CDU)räumen<br />

lassen. Dann dürfte Berlin<br />

bereits zu Jahresbeginn einen<br />

seiner größten Polizeieinsätze<br />

erleben –denn die linkeSzene<br />

mobilisiertbereits.<br />

Derzeithaltensichnochrund<br />

30 Flüchtlinge in dem vormehr<br />

als einem Jahr errichteten Zeltdorfauf.<br />

Sie fordern weiter: weg<br />

mitArbeitsverbotundResidenzpflicht.ImMaisollderProtestsogar<br />

europäisch werden: Dann<br />

wollen Camp-Aktivisten mit<br />

Flüchtlingen ausanderen StädtennachBrüsselziehen.<br />

Kurz zuvorwerden auch ehemalige<br />

Bewohner des Camps<br />

wieder in den Fokusgeraten: 80<br />

vonihnen wohnen derzeitineiner<br />

Caritas-Unterkunft in Wedding<br />

als Winterhilfe. Bis Ende<br />

Märzdürfensiedortbleiben.Was<br />

Lampedusa in Berlin: Flüchtlinge demonstrieren im Oktober vor dem Roten Rathaus Foto: Christian Mang<br />

danach geschieht, berät derzeit<br />

ein runder Tisch aus Kirchen,<br />

Flüchtlingsinitiativen und Bezirksvertretern.<br />

Die Caritas signalisierte,dieFlüchtlingelänger<br />

zu beherbergen –sofern der Senat<br />

dies unterstützt. Der aber<br />

blieb dem runden Tisch bisher<br />

fern. Immerhin Integrationssenatorin<br />

Dilek Kolat (SPD) will<br />

künftigteilnehmen.<br />

Auch weitere Asylbewerber<br />

werden 2014 in Berlin Zuflucht<br />

suchen: 6.000 kamen dieses<br />

Jahr,mit ebenso vielen rechnet<br />

SozialsenatorMario Czaja (CDU)<br />

nächstes. 2.500 Plätze müssen<br />

2014fürFlüchtlingeneugeschaffen<br />

werden, schätzt Czaja. Die<br />

Hilfe für Flüchtlinge bleibt eine<br />

Großaufgabe. KONRAD LITSCHKO<br />

So viele werden es nicht<br />

EUROPÄISCHE UNIONAb<br />

JanuardürfenRumänen<br />

undBulgareninBerlin<br />

auchalsAngestellte<br />

arbeiten<br />

Ab1.JanuargiltdieFreizügigkeit<br />

fürArbeitnehmerausRumänien<br />

undBulgarieninderganzenEU.<br />

Für Hans-Peter Friedrich (CSU),<br />

bisvorkurzemBundesinnenminister,einGrundzumFürchten:<br />

Dann werde Deutschland von<br />

„Armutsmigranten“ überrannt,<br />

die nurvon „unseren Sozialsystemen“profitierenwollen.<br />

Ähnliche Töne hörte man<br />

2011, als dieser Schrittbei zehn<br />

osteuropäischen Staaten anstand.Dochdiedamalsprognostizierte<br />

Masseneinwanderung<br />

etwaaus Polenist ausgeblieben.<br />

So dürfte es auch diesmal sein.<br />

Die Senatsverwaltung für Arbeit<br />

und Integrationerwartet „eine<br />

steigende,aberkeinemassivsteigende<br />

Migrationaus Bulgarien<br />

undRumäniennachBerlin“.<br />

Derzeitleben in Berlin rund<br />

17.000Bulgarenund10.000Rumänen.Bislanggabesfürsienur<br />

in Ausnahmen eine Arbeitserlaubnis<br />

für Angestelltenjobs.<br />

VielemeldetendahereinGewerbe<br />

an. Dies warfastder einzige<br />

Weg,staatlicheUnterstützungzu<br />

bekommen. Derzeitbekommen<br />

knapp20Prozentder Rumänen<br />

und Bulgaren in Berlin Leistungen<br />

nach dem Sozialgesetzbuch<br />

II –allerdings auch 16,3 Prozent<br />

derGesamtbevölkerung.<br />

Probleme gibt es vorallem in<br />

Neukölln, wo etwa5.000 Rumänen<br />

und Bulgaren leben, davon<br />

allein1.500Rumänenauseinem<br />

Dorf, Mitglieder der Pfingstlergemeinde.DieSchulenimWohnumfeld<br />

müssen große Anstrengungen<br />

unternehmen, um die<br />

vielen deutschunkundigen Kinderzuintegrieren.<br />

LegaleArbeit<br />

Mitder Möglichkeit, legalzuarbeiten,<br />

werdefür die hier lebendenRumänenundBulgarenvielesleichter,sagtGeorg<br />

Claassen<br />

vomBerlinerFlüchtlingsrat–das<br />

sei auch bei den Polensogewesen.<br />

Sie seien dann weniger abhängig<br />

von ausbeuterischen<br />

Wohn-undArbeitsverhältnissen<br />

undzudemkranken-undsozialversichert.<br />

Hartz IV gibt es jedoch<br />

für alle EU-Bürger nur,<br />

wennsieeinJahrbeschäftigtwaren.<br />

SUSANNE MEMARNIA<br />

Kriegsbegeisterte Massen<br />

JAHRESTAGIIDerAusbruchdesErstenWeltkriegsjährt<br />

sichzum100.Mal–auchdasDHMerinnertdaran<br />

AndersalsimZweitenWeltkrieg<br />

warBerlin im Ersten Weltkrieg<br />

kein Kriegsschauplatz. In der<br />

Hauptstadt des Kaiserreiches<br />

wurdenichtgestorben, sondern<br />

gejubelt, auch wenn das Bild<br />

vondenkriegsbegeistertenMassen<br />

–das „Augusterlebnis“ –inzwischen<br />

relativiert wurde.<br />

Deutschland kannte auch nach<br />

den Kriegserklärungen an RusslandundFrankreichAnfangAugust<br />

1914 noch Parteien und<br />

nichtnurDeutsche,wieesKaiser<br />

WilhelmII.suggerierte.<br />

Gleichwohlwird2014,auchin<br />

Berlin, ein Mammutjahr des Erinnerns.<br />

Im Deutschen Historischen<br />

Museum startet ab 6. Juni<br />

die zentrale Schau „1914–1918.<br />

Der Erste Weltkrieg“. Esfolgen<br />

Ausstellungen über Fotografie<br />

im Ersten Weltkrieg, über Mode<br />

und Grafik oder das Ende der<br />

BelleÉpoque.<br />

Welche Erzählung aber wird<br />

das Mammutjahr hinterlassen?<br />

Nicht ganz zu Unrecht warnte<br />

MoritzSchuller vorKurzem im<br />

Tagesspiegel davor, dass die<br />

Deutschensichwenigermitdem<br />

Krieg und seinen Opfern beschäftigen<br />

wollten, sondern vor<br />

allem mitder Gegenwart:„Die<br />

Deutschen blicken auf1914 zurück<br />

und sehen darin die Geburtsstunde<br />

der Europäischen<br />

Union.“<br />

AndersdagegeninFrankreich<br />

oder Großbritannien, wo die<br />

Zahl der Opfer weitaus höher<br />

waralsdieimKaiserreich.Nicht<br />

umsonst heißt der Erste Weltkrieg<br />

dortder Große Krieg. In<br />

Deutschlanddagegensteht–wegen<br />

der Dimension der Schuld,<br />

aber auch wegen der Opferzahlen<br />

–der Zweite Weltkrieg im<br />

Zentrum des Erinnerns. Gibt es<br />

alsoüberhaupteineuropäisches<br />

Erinnernan1914?<br />

DasDHMistsichseinerAufgabe<br />

bewusst. Kuratorin Juliane<br />

Haubold-Stolle hatihrer Schau<br />

deshalb einen „erweiterten<br />

Blickwinkel“ verpasst: Am Beispielvon15Orten,darunterBerlin<br />

und Petrograd, soll der Besucher<br />

die Ausmaße des Konflikts<br />

undseineFolgenverstehen,versprichtsie.<br />

Auch die Frage der Kriegsschuld<br />

könnte noch einmal befeuertwerden.InseineBuch„Die<br />

Schlafwandler“ hatder australische<br />

Historiker Christopher<br />

Clark die Deutschen entlastet.<br />

SeinBuchwurdezumBestseller.<br />

In Frankreich sind andere Bücherüber„LaGrandeGuerre“in<br />

denCharts.<br />

UWE RADA<br />

Jubelnd zu Beginn des Krieges: deutsche Artillerieabteilung in Berlin 1914 Foto: Ullstein Bild


46 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE<br />

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DAS INTERVIEW<br />

DER MAGIERFürseineTricksbrauchtPeterSchusternureinKartenset.Damitaberkanner<br />

einigesanfangen:DerVorsitzendedesBerlinerZauberervereinserzählt,wieersichan<br />

DDR-Grenzernvorbeizauberte,wasMathematikundMagieverbindet–undwarum<br />

ZaubererschonmalalsSpionearbeiten,wennsiesonstnichtszutricksenhaben<br />

„Zauberer und Politiker<br />

haben viel gemeinsam“<br />

INTERVIEW ANNE HAEMING<br />

FOTOS JOANNA KOSOWSKA<br />

taz:HerrSchuster,habenSieIhrenZauberstabdabei?<br />

PeterSchuster:Nein,icharbeite<br />

ohne.<br />

UndwiesiehtIhreZaubereruniform<br />

aus? Umhang und Zylinder?<br />

Nein, das istnichtmein Stil. Ich<br />

zaubere immer wie ich bin, binde<br />

mir vielleichtnoch eine Krawatteum.Frühertrugmantraditionell<br />

Frack, ja, aber das ist<br />

längst vorbei. Heute gilt: Was<br />

mananhat,muss zurShowpassen.<br />

Wenn einer eine jugendlich<br />

flotte Nummer macht, kann der<br />

auch in Jeans auftreten. Auch<br />

wennsichdiePräsentationwandelt:<br />

Die Tricksbleiben im Kern<br />

immerdiegleichen.<br />

Stimmt’s,dass„Simsalabim“eineBerlinerErfindungist?<br />

Kann mansosagen, das hatder<br />

Zauberer Kalanag 1939 hier populär<br />

gemacht, aber eigentlich<br />

hateresvon einem dänischen<br />

Kollegenübernommen.<br />

UndwasistIhrZauberwort?<br />

Ach,maldaseine,maldasandere.AbrakadabraistderKlassiker,<br />

dashatmystischeUrsprünge.<br />

Wo hört denn Zaubern aufund<br />

fängtMagiean?<br />

Dasistsprachlichdasgleiche,darum<br />

heißen wir ja „Magischer<br />

Zirkel“. Ab und an verwechselt<br />

manuns mitspiritistischen Zirkeln,<br />

Leute rufen an und fragen,<br />

ob wir auch Séancen abhalten.<br />

Im Deutschen sind die beiden<br />

Begriffenichtklarzutrennen,sie<br />

sinddoppeldeutig.AndereSprachenhabeneineigenesWortfür<br />

denTrickzauberer:etwadenconjurer<br />

im Englischen oder den<br />

préstidigitateur im Französischen.Im19.Jahrhunderthatein<br />

Sprachreinigungsverein vorgeschlagen,<br />

das französische Wort<br />

direkt zu übersetzen: Daraus<br />

wurde „der Schnellfingerierer“.<br />

Das hatsich dann glücklicherweisenichtdurchgesetzt.<br />

SiesindVorsitzenderdesZauberervereins<br />

„Magischer Zirkel“.<br />

Wasmuss ich machen, um aufgenommenzuwerden?<br />

Manmusszaubernkönnen.<br />

Aha.Wiebeweiseichdas?<br />

Vielehaben miteinem Zauberkasten<br />

angefangen, den sie als<br />

Kind zu Weihnachten bekommen<br />

haben und wollten dann<br />

mehr lernen. Wersich bei uns<br />

meldet, istersteinmal ein Jahr<br />

Anwärter,dann muss maneine<br />

Aufnahmeprüfungablegen.<br />

UnddannstimmendieMitgliedersichergeheimab,oder?<br />

Nein, offen, mit Handzeichen.<br />

Früherhatmanmitweißenund<br />

schwarzen Kugeln gewählt, das<br />

hattemansichvondenFreimaurernabgeschaut.Aberdaswarzu<br />

einer Zeit, als mansich noch als<br />

Geheimbund verstand. Das einzige,wassichdavongehaltenhat,<br />

sinddieSitzungen,indenenwir<br />

unsereKunststückeunterunsoffenlegen<br />

–eine Artinterne Fortbildung.Datreffensichdanndie<br />

einzelnen Arbeitskreise, es gibt<br />

denAKShow,denAKMentalmagie,<br />

den AK Geschichte und den<br />

AKKartentricks.<br />

Wiehaben Sie denn selbst damalsangefangen?<br />

MiteinemBuchausderSchulbücherei,dawarich12.Dahatmich<br />

derBazillusgepackt.<br />

UndwaswarIhrersterTrick?<br />

BeiunsinderSchulewardamals<br />

einZaubereraufgetretenundich<br />

saßdaundhabesofortalleTricks<br />

durchschaut, obwohl ich keine<br />

Ahnung hatte. Er verteilte Kuverts,dieLeutestecktenwasrein,<br />

dieKuvertswurdenverklebt,zurückgegeben,<br />

gemischt. Und<br />

dann sagte er eben: Das haben<br />

Sie reingesteckt, das Sie, das Sie.<br />

Den Kuverttrick habe ich sofort<br />

nachgemacht.DasistmittlerweileeinermeinerStandards.<br />

Undwiegehtder?<br />

Dasverrateichnicht.<br />

Wo bekamen Sie als Kind Ihre<br />

Zaubergeräteher?<br />

InderRegelhabeichmirdieDingeselbergebastelt.Natürlichgab<br />

esinBerlinauchHändler,zudenen<br />

mansein Taschengeld geschleppt<br />

hat, aber die Originale<br />

waren allesehr teuer.Inden Läden<br />

standen fantastische Geräte<br />

rum,undwerwieichZauberbücher<br />

gelesen hatte, wusste, was<br />

waswar.Wir gingen hin, wann<br />

immer wir konnten, zum„Zauberkönig“inderFriedrichstraße<br />

oderebenzuHorster.<br />

Weltkrieg kamen wieder allezu<br />

einerGruppezusammen.<br />

UnddannkamendieNazis.<br />

Nach dem Erlass der Rassengesetze<br />

durften die jüdischen Zaubererab1936nichtmehrimMagischen<br />

Zirkel sein. Der Verein<br />

wurde indie Reichsfachschaft<br />

Artistik eingegliedert. Das war<br />

derÜberlebenstrick,densichder<br />

ZaubererHelmutSchreiberalias<br />

Kalanagausgedachthatte.<br />

…erwarinderFilmbrancheaktiv,<br />

hatte gute Kontakte zu PropagandaministerGoebbels<br />

…<br />

Die meisten jüdischen Zauberer<br />

sind bis Mitte der 1930er gegangen,dieTochtervom„Zauberkönig“<br />

und der Zauberer Günther<br />

Dammann kamen im Konzentrationslager<br />

um. Vielewussten<br />

erst,dassihreZauberer-Kollegen<br />

Juden waren, als einige voneinem<br />

Tagauf den anderen verschwundenwaren.EswareinriesigerAderlass.<br />

InNeuköllngibteseinen„Zauberkönig“,<br />

der 2012 von zwei<br />

Frauen übernommen wurde.<br />

WashatdermitKronerzutun?<br />

Das istdas gleiche Geschäft. Als<br />

es1938inderReichskristallnacht<br />

enteignet wurde, hatesdie Verkäuferin<br />

ReginaSchmidtübernommen.<br />

In den 1950er Jahren<br />

musstesiealsWestberlinerinihrenLadeninOstberlinaufgeben<br />

undzognachNeukölln.Nachihrem<br />

Todhat ihn Günter Klepke<br />

gekauft, jetzt machtseine EnkelinmiteinerFreundinweiter.<br />

Nach der Wende fusionierten<br />

die zwei Berliner „Zirkel“. Wie<br />

viel hatten Sie vorher mitden<br />

DDR-Kollegenzutun?<br />

Wir hatten immer Kontakt zu<br />

dem Ostberliner Magischen Zirkel.<br />

Wirhaben regelmäßig Zauberutensilien<br />

rübergebracht,<br />

einmal hatte ich eine Spielzeugpistoledabei.<br />

Als ich damitan<br />

der Kontrolle erwischt wurde,<br />

hatderGrenzererstmalseineeigene<br />

gezückt. Ich habe erklärt,<br />

dass sie für einen Berufszauberersei,derauchfürdieNVAzaubert–dadurfte<br />

ich sie mitnehmen.<br />

Einmal waren wir bei einem<br />

Gastspiel in Magdeburg.<br />

Aufdem Rückweg stoppten uns<br />

die Grenzbeamten und wollten<br />

wissen,wasindenKoffernist.<br />

........................................................................................................................................................................................................<br />

........................................................................................................................................................................................................<br />

Peter Schuster<br />

■ Der Mann: Der 79-jährige Vorsitzende<br />

des Magischen Zirkels ist lebten. Unteranderem liegt einer<br />

nern, die die Nazizeit nichtüber-<br />

Politologe,saß zehn Jahrefür die vordem Haus der Friedrichstraße<br />

SPD im Abgeordnetenhaus und 55,wodie Familie Kroner einstdas<br />

warab1999 Alterspräsident. Geschäft„Zauberkönig“ betrieb.<br />

■ Der Verein: Der Zirkel istdie Vereinigung<br />

der Berliner Zauberer, Weihnachteneinen Zauberkasten<br />

■ Der Nachwuchs: Kinder,die zu<br />

die am Abend jeden dritten Mittwochs<br />

im Monat eine Showinih-<br />

Januarvon13bis17Uhrerste Tricks<br />

bekommen haben, können am 4.<br />

renRäumen zeigt. Der Verein existiertseit<br />

1920.Erverlegtezuletzt renKastenund 12 Euromitbringen<br />

lernen.SiemüssenfürsTrainingih-<br />

mehrereStolpersteine,umanjüdische<br />

Zauberer aus Berlin zu erin- ■<br />

–und sich vorher anmelden.<br />

www.mzberlin.de<br />

Hokuspokus!<br />

Horster?<br />

Der warauch in der Friedrichstraße.<br />

In der ersten Hälfte des<br />

20. Jahrhunderts beherrschte er<br />

denWeltmarktderZaubergeräte.<br />

Erselbstwar1944gestorben,den<br />

Laden haben seine Frau und derenBruderweitergeführt.Erhat<br />

viele Bücher geschrieben, die<br />

auchheutenochsehrinteressant<br />

sind für alle, die Zauberer werden<br />

wollen. Seine größten Rivalenwaren<br />

zwei Hamburger Zauberhändler,<br />

deren Produkte<br />

Horsters Berliner Konkurrent,<br />

der„Zauberkönig“,verkaufte.<br />

WasistBerlinsZauberkultur?<br />

WirverstehenunsalsVerein,der<br />

sich nach außen öffnet. Wirgeben<br />

hier einmal im Monatöffentliche<br />

Zaubervorstellungen<br />

und bieten Vorträge zurZauberkunstan;<br />

in manchen anderen<br />

Städten sind Zirkel eher wie<br />

Stammtische.Traditionellhaben<br />

wir vieleBerufszauberer,heute<br />

sinddasetwa20ProzentinunserenReihen,aberebenauchviele<br />

Amateure.DerBerlinerZirkelist<br />

offiziell erst 1920 entstanden,<br />

aber der Vorgängerverein schon<br />

1901undistdamitderältesteder<br />

Welt.Der Londoner begann erst<br />

1904.<br />

Wiekam’s?<br />

Zufall. Da haben sich eben einfach<br />

einige Leute zusammengefunden.<br />

Man nannte sich Amateurvereinigung<br />

für magische<br />

KunstzuBerlin.Eswarenimmer<br />

die gleichen Leute, Horster gehörte<br />

auch dazu, aber er sorgte<br />

immer für Konflikte, so gründete<br />

er 1905 die Maja, einen eigenenVerein.ErstnachdemErsten<br />

Unddann?<br />

Alswirsagten,dasswirZauberer<br />

sind,habensieerstmaldieGrenzedichtgemacht.Undwirmussten<br />

in der Baracke eine halbe<br />

Stunde für sie zaubern. Danach<br />

durften wir unkontrolliertweiterfahren.Daswarschonimmer<br />

typischfürZauberer,auchinder<br />

Nazizeit: Sie sind Überlebenskünstler,sie<br />

kommen immer irgendwie<br />

durch. Einige haben<br />

auchalsSpionegearbeitet.Inder<br />

NachkriegszeithabenvieleAmateurzauberer<br />

damit eine Zeit<br />

lang ihren Lebensunterhaltverdient,<br />

weil sie in ihrem eigentlichenBerufkeineChancehatten.<br />

Sie haben hier eine Vitrine mit<br />

historischen Geräten, etwa<br />

„DermoderneFinanzminister“.<br />

Wiefunktioniertedas?<br />

DaerschienamEndedesZauberstabs<br />

eine Münze. Die sind alle<br />

nicht mehr in Betrieb, einige<br />

wurden weiterentwickelt. Auch<br />

die „Wandernden Flaschen“werden<br />

noch vorgeführt: Da wandern<br />

Flaschen zwischen Röhren<br />

hinundher.<br />

KlingtnachdemPrinzipdesberüchtigtenHütchenspiels<br />

…<br />

Das funktioniertetwas anders.<br />

Aufdiese Kriminellen fallen die<br />

Leuteimmerwiederrein,abereigentlichistdasBecherspieleines<br />

der ältesten Zauberkunststücke<br />

der Welt. Das gibt es seit gut<br />

2.000 Jahren und warlange das<br />

SymbolfürZauberer,egalobauf<br />

Tarotkarten oder in den KarikaturenvonDaumier.Dasänderte<br />

sicherstim20.Jahrhundert:SeithersindZylinderundKaninchen<br />

dietypischenSymbole.Dassieht<br />

manauch an den Karikaturen:<br />

Politiker werden heute oft mit<br />

Hutgezeigt, ausdem sie irgendwasherauszaubern.<br />

Haben Sie auch schon mitKaninchengezaubert?<br />

Ja,ichhattemirextradafüreine<br />

Kistegebaut.<br />

„Ich zaubere immer wie ich bin, binde mir vielleicht noch eine Krawatte um. Früher trug man traditionell Frack, aber das ist längst vorbei“: Berlins Chefzauberer Peter Schuster<br />

UndwohattenSiedieTiereher?<br />

Diehatteichmirgeborgt,ichhatte<br />

Freunde aufdem Land. Bevor<br />

die Tiere geschlachtet wurden,<br />

kamensieindieZauberkiste.<br />

Wieso sind Sie eigentlich nicht<br />

Berufszauberergeworden?<br />

Gelegentlich träumt man mal<br />

davon, aber das warimmer nur<br />

ein Hobby,ich habe damitmein<br />

Studium finanziert. Ich habe einen<br />

Abschluss in Politologie gemachtund<br />

dann an der Pädagogischen<br />

HochschuleLehrer ausgebildet.<br />

Und ich warauch zehn<br />

JahreAbgeordneterimAbgeordnetenhaus.<br />

HatIhnen die Zauberei in der<br />

Politikdenngenutzt?<br />

MeineTricksereienwollteichals<br />

Politiker nie einsetzen. Aber es<br />

gibt gewisse Gemeinsamkeiten:<br />

Einige Politiker verdecken und<br />

verschleiern ihre wahren Absichten.<br />

Je besser ihnen das gelingt,<br />

desto besser stehen sie<br />

dann oft da. Schon im 19. JahrhundertgabesinFrankreichvieleKarikaturen,etwavonHonoré<br />

Daumier,diePolitikeralsZaubererdarstellten.Daswarnatürlich<br />

negativ gemeint, im Sinne von:<br />

DertrickstwieeinZauberer.<br />

WasistdennIhreSpezialität?<br />

Ich mache Kartentricksund alles,waszwischenTischundBühne<br />

stattfindet. Wirnennen das<br />

Salonmagie. Ich lasse keine Elefantenverschwinden.<br />

SiehabendaeinKartenspielliegen,<br />

vorne vieleZahlen, hinten<br />

steht„PolitikohneTrick“.<br />

Ja,das hateine doppelte Bedeutung:DieseSetshabeichmalals<br />

Wahlkampfgeschenk anfertigen<br />

lassen.<br />

Kamsichergutan.<br />

Ja,istmalwasanderesalsKugelschreiber.IchzeigeIhnenmitdenen<br />

jetzt maleinen schönen altenTrick.Siesehen,aufdenKarten<br />

sind Zahlenreihen drauf.<br />

Denken Sie sich maleine Zahl<br />

zwischen1und63.<br />

Ok.<br />

JetztschauenSiesichdieKarten<br />

durchundgebenmiralle,aufdenenIhregedachteZahlsteht.<br />

Hier,bitte.Halt–dieauchnoch.<br />

Diesevier?Aha.Istjainteressant.<br />

Na,spuckenSie’sschonaus.<br />

Sie meinen, ich weiß das schon?<br />

Gut:Eswardie23.<br />

Stimmt.WiehabenSiedasdenn<br />

jetztgemacht?<br />

Dasverrateichauchnicht.Esist<br />

einsimplerZahlentrick.DieMathematik<br />

warschon immer Teil<br />

derZauberei,fürvieleMathematikereinamüsanterZeitvertreib.<br />

Am anderen Ende des Spektrums<br />

gibt es Löffelverbieger<br />

wieUriGeller.Istereineandere<br />

GattungZauberer?<br />

Letztlich macht erdas gleiche<br />

wiewir:ErarbeitetjamitZaubertricks.<br />

Nur: Leute wie er wollen,<br />

dassdieLeutedenken,sieverfügenüberübersinnlicheFähigkeiten.<br />

Aber sich als übersinnlich<br />

auszugeben, istinZaubererkreisen<br />

verpönt. Wir arbeiten mit<br />

Physik, Mathematik, Fingerfer-<br />

tigkeitundPsychologie.Diepsy-<br />

chologischen Tricks, mitdenen<br />

Mentalmagier arbeiten, werden<br />

übrigens gerade vonNeuropsychologen<br />

erforscht. Sie schauen<br />

sich die Täuschungsmomente<br />

an,mitdenenZaubererarbeiten,<br />

weilsieentdeckthaben,dassdiese<br />

Mechanismen brauchbar für<br />

andere Bereiche sind, etwadie<br />

Werbung.<br />

Inwiefern?<br />

EinZauberersteuertimmerauch<br />

die Aufmerksamkeitdes Publikums.Wenneretwasverstecken<br />

will, tritt indem Moment die<br />

schöneAssistentinaufdieBühne<br />

undallesindvonihmabgelenkt.<br />

So etwas istfür einen Werbeclip<br />

natürlich wichtig, genauso für<br />

denAufbauvonWarenineinem<br />

Geschäft.<br />

DieAssistentinisteinKlischee,<br />

so auch der Macho-Trick mit<br />

der zersägten Jungfrau.Unter<br />

Ihren 75 Mitgliedern sind auch<br />

nurfünfFrauen.Warum?<br />

Ich habe dafür keine endgültige<br />

Erklärung.Vielleichtbekommen<br />

eher Jungs einen Zauberkasten<br />

geschenkt. Aber Frauen gehen<br />

mittlerweileaktivgegendasKlischeevor,inDeutschlandgibtes<br />

sogareigeneTreffenderZauberkünstlerinnen.<br />

Aber was soll<br />

manmachen,alsAssistentinhabensieeinewichtigeFunktion.<br />

Über Tricks mit Kaninchen<br />

Die hatte ich mir geborgt, ich hatte<br />

Freunde auf dem Land. Bevordie Tiere<br />

geschlachtet wurden, kamen sie<br />

in die Zauberkiste<br />

Ein attraktiver Mann würde<br />

abergarantiertauchablenken.<br />

Ja,könnte sein. Aber ich kenne<br />

derzeitkeineZaubershow,inder<br />

eine Frau einen Mann als HilfskraftzurAblenkungeinsetzt.<br />

GehenSiehin,wennein„Übersinnlicher“hierauftritt?<br />

Ich würde mir das interessehalber<br />

anschauen. Aber wir rufen<br />

natürlich nichtinden Saal: „Ist<br />

allesTrick!“.<br />

Auch weil es gegen den Ehrenkodex<br />

ist, Trickszuverraten?<br />

Sieweigernsichjabeharrlich.<br />

Ja,das giltgrundsätzlich. Es ist<br />

unangebracht, eigene oder die<br />

Tricksder anderen zu verraten.<br />

Es wäre auch dumm: Die Leute<br />

kommenjaindieShows,weilsie<br />

getäuschtwerden wollen. Aber<br />

mankannsichnatürlichZauberbücher<br />

kaufen oder vieles bei<br />

YouTubesehen.<br />

Der „Zauberkönig“ musste fast<br />

schließen. Hatdie Zauberei in<br />

ZeitenvonYouTubedenZauber<br />

verloren?<br />

Im Gegenteil, die Zahl der Zaubershowsnimmtzu,geradetourendie„EhrlichBrothers“durchs<br />

Land. Anders als in den vergangenen<br />

zehn Jahren gibt es auf<br />

einmal ein wachsendes Interesse,<br />

das merken wir auch –nachdemesjahrelangkeineNachfragegab,habenwirjetztwiedereine<br />

Jugendgruppe mitüber zehn<br />

Nachwuchszauberern.<br />

Die Plakate für die deutschen<br />

„Ehrlich Brothers“ hängen seit<br />

Wochen überall in der Stadt.<br />

Man denkt sofort: haha,ehrlicheZauberer.<br />

Dieheißenübrigenswirklichso.<br />

Der Name hat einen schönen<br />

Klang und istmit der Doppeldeutigkeit<br />

natürlich auch sehr<br />

werbewirksam.<br />

WasistIhrZauberer-Name?<br />

Sowashatteichnurfrüher.<br />

Undwelchen?<br />

PeterFabian.<br />

Wiesoausgerechnetden?<br />

KeineAhnung,einfachso.<br />

Klingt jetzt nichtsospektakulärwie„DerGroßeHoudini“.<br />

Stimmt. Früher hatman häufig<br />

seinen Namen etwas verändert,<br />

damitesplakativerwirkt:Dagab<br />

es dann Zauberer namens „Fritzini“oder„Müllerano“.<br />

Als Zauberer ist manstets im<br />

Dienst–Siehabensicherimmer<br />

wasfürirgendwelcheTricksdabei,oder?<br />

Ja,ein Kartenspiel. Aber zurNot<br />

reichen mir auch ein paar Papierservietten.


48 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE<br />

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b@taz.de<br />

BERLINKULTUR<br />

BERLINER SZENEN<br />

fürlau<br />

fuer-lau@taz.de<br />

sonntag bis 20 uhr<br />

mailen&<br />

gewinnen<br />

HISS IM MASCHINENHAUS<br />

Ich schenk mein Herz<br />

VertrauteKlänge ausder Ferne<br />

undexotischeRhythmenvondaheim,<br />

so beschreiben Hiss zutreffend<br />

ihren Sound zwischen<br />

Taiga-Twist, Texas-Tango und<br />

Balkan-Polka. Zudieser wilden<br />

Melange werden launige, ironische<br />

Texte aufDeutsch gesungen.<br />

Sieben Tage saßen Hiss für<br />

ihre immerhin schon siebte CD<br />

im Tonstudiound haben sieben<br />

Stunden täglich um jeden Ton<br />

gerungen. Schließlich haben sie<br />

zwei malsieben Songs aufBand<br />

gebracht.Dasklingtbiblisch.Maschinenhausam9.Januar.<br />

GANZ BESINNLICH<br />

Lichter und Katzen<br />

WeilichdiesesJahrnichtsorichtig<br />

in Weihnachtsstimmung<br />

kam,halfmeineMutternach,indem<br />

sie mir am Tagvor Heiligabend<br />

per WhatsApp Fotosvon<br />

Karpfenköpfen schickte. Karpfenkopf<br />

in Suppentopf. Ab da<br />

warmirsehrbesinnlichzumute.<br />

So besinnlich, dass ich mir<br />

abends an der Küchenreibe den<br />

halbenRingfingerwegschrappte<br />

und den Daumen am Ofen verbrannte.<br />

(Ich hieltihn unter kaltes<br />

Wasser,was sich eh anbot,<br />

weil die Gastherme kaputt war<br />

undesnurkaltesWassergab.)<br />

S.riefanundsagte,siehätten<br />

gerade bei sich zuhause den<br />

Baum geschmückt. „Und“, fragte<br />

ich, „habt ihr echte Kerzen am<br />

Baum?“„Tüllich“, sagteS.„So,so“,<br />

sagteich,„wirhabenimmernur<br />

’neLichterkette.“–„Echt?“–„Weil<br />

wirPolensind.“–„Ihrfreuteuch,<br />

dass es elektrisches Licht gibt,<br />

ne?“–„Ja.“–„Istjaauchschön.“–<br />

„Ja.“Natürlichistesschön.Schön<br />

auch, dass es jetzt LED-Lichterketten<br />

gibt. Also, schön nicht,<br />

abersparsam.<br />

Katze1mobbtKatze2.<br />

Deswegenpinkelt<br />

Katze2untersBett<br />

undkacktindenFlur<br />

Dann rief M. an. Ob ich seine<br />

Katzen füttern könne über die<br />

Feiertage.IchhabeeineUmfrage<br />

gemacht. 155 Prozentaller Berliner<br />

füttern an Weihnachten die<br />

Katzen ihrer nichtberliner<br />

Freunde.M.schicktemirzurBelohnung<br />

ein Foto von einem<br />

Pfeifhasen. Von Spiegel Online.<br />

Im Artikel dazustand, der Pfeifhase<br />

ernährtsich vonMoos. HabenForscherrausgefunden.„Um<br />

auch die letzten Nährstoffe aus<br />

demMoosherauszuholen,fresse<br />

der rund 15 Zentimeter lange<br />

Pfeifhase seinen Kotmehrfach.“<br />

Wo wir auch schon beim Thema<br />

waren. M.s Katzen sind nämlich<br />

etwas speziell im Kopf. Katze 1<br />

mobbtKatze2.Deswegenpinkelt<br />

Katze 2unters Bett und kackt in<br />

denFlur.WeilKatze1zeigenwill,<br />

dasssiesowasauchkann,pinkelt<br />

sieaufsSofaundkacktinsSchlafzimmer.Das<br />

kannte ich schon.<br />

M. sagte, neu sei, dass Katze 2<br />

auchindieDuschepinkle.Obich<br />

das auch wegmachen könnte.<br />

Klar.Danke, sagte M., und alle<br />

freutensichaufdieFeiertage.<br />

MARGARETE STOKOWSKI<br />

Tu,was du tun musst<br />

SWINGENDE MELODIEN<br />

Melancholieund<br />

Lässigkeitvereinen<br />

DieHöchste<br />

Eisenbahnaufihrem<br />

Debütalbum„Schau<br />

indenLaufHase“,<br />

einerderbesten<br />

Plattenindeutscher<br />

SprachedesJahres<br />

VON JENS UTHOFF<br />

Es ist ein guter Moment für<br />

Flucht: Wirhaben Ende Dezember;manweißnichtsorecht,was<br />

manvondiesertotenZeithalten<br />

soll. Draußen spielen die Kids<br />

Krieg, während es öde und regnerisch<br />

ist und der Boden im<br />

Parktiefundmatschigist.Sieben<br />

Tage Wochenende. Menschen<br />

stehen mit hochgezogenen<br />

SchulternundrotemKopfander<br />

Haltestelle; sie alledachten, dieses<br />

Jahr würde besser werden.<br />

Wurdeesnicht.Frühlingistweit.<br />

Sollte Ihnen also nach Flucht<br />

sein, wären Die Höchste EisenbahneineLösung.SteigenSiezu,<br />

drehen Sie die Musik laut.Die<br />

Lokführer sind der Regisseur<br />

und Songwriter MoritzKrämer,<br />

der bisher solo Musik machte,<br />

undFrancescoWilking,denman<br />

bereitsvonderBandTelekannte.<br />

Beidegründeten2011DieHöchste<br />

Eisenbahn. ZweieinhalbJahre<br />

später hatdie Band ihr Debütalbum„Schau<br />

in den Lauf Hase“<br />

veröffentlicht. Unterstützt werden<br />

Krämer und Wilking inzwischen<br />

vonMultiinstrumentalist<br />

Felix Weigt und Max Schröder,<br />

derunteranderembeiTomteam<br />

Schlagzeugsitzt.<br />

DierundeineStundedauerndeReisemitdenvierHerren,alle<br />

sozwischen30und40Jahrealt,<br />

ist unterhaltsam bis durchgeknallt,<br />

anarchisch bis angepisst,<br />

dannaberauchnachdenklichbis<br />

melancholisch.DiesesAlbumist<br />

mehr als nureine beiläufige, eine<br />

„nette“Platte. „Schau in den<br />

Lauf Hase“zähltzuden besten<br />

AlbendesJahres2013,aufdenen<br />

Deutsch gesungen wird. Dafür<br />

gibt es Gründe. Es sind derer<br />

mindestensfünf.<br />

Erstens: Die Höchste Eisenbahnsindangenehmundeutsch.<br />

Los legt die Band gleich malmit<br />

„Egal wohin“, einem funkigen<br />

Discostück mit simplen Beats<br />

undfast ordinärenSaxofon-Soli,<br />

auf das wohl von den Talking<br />

Heads bis zu BillyJoel alleneidisch<br />

gewesen wären, so lockerleicht<br />

überschreitet es jede<br />

Kitschgrenze. Und, eben, lockerleicht:<br />

Die Höchste Eisenbahn<br />

habennichtsSchweres,Biederes<br />

imGepäck,nichtdiedickebraune<br />

Soße auf den Kartoffeln,<br />

selbst dem Stück „Aliens“, mit<br />

WAS TUN?<br />

■ Volksbühne, 1.Januar<br />

Schön ins Jahr<br />

Das traditionelle Neujahrskonzert der<br />

Volksbühne bestreitet in diesem Jahr<br />

die Südafrikanerin und Wahlberlinerin<br />

Cherilyn MacNeil alias Dear Reader.Sie<br />

singt Folksongs voller Geistesblitzeund<br />

schöner Melodien. Reduzierte<br />

Instrumentierung und ausformulierterGesang ergeben<br />

ein Klangbild klarer Schönheit. Zweiter Act des Abends<br />

istEinar Stray aus Oslo.Das Instrumentarium dieser Band ist<br />

so vielseitig, wie die Talente ihrer Mitglieder es sind: Piano,<br />

Streicher,Percussion, sparsam eingesetzt auch Bläser und<br />

mehrstimmiger Gesang. 18/14 Euro.<br />

Die Höchste Eisenbahn ist bärtig, ihr Album unterhaltsam bis durchgeknallt Foto: Tapete<br />

eher melancholischem Text,<br />

liegt ein swingender Rock-’n’-<br />

Roll-Beatzugrunde.<br />

Zweitens: Die Höchste Eisenbahn<br />

istrotzig und romantisch<br />

zugleich. Wenn Krämer im vierten<br />

Lied die Geschichte vonRobertundIsabel(„Isi“)vorträgt,so<br />

fällteinem als große Referenz<br />

nurRio Reiser ein. Gefühltwar<br />

Reiserderletzte,derdieMärchen<br />

sowiedietraurigenShortStories<br />

des Alltags erzählen konnte, ohne<br />

dass es weichgespültdaherkam.In„Isi“klingtSehnsuchtgenauso<br />

an wie die unbedingte<br />

HoffnungaufdasbessereLeben.<br />

Heterotopie und Anachronismuszugleich,<br />

wasWilking und<br />

Krämer hier entwerfen. Die Mu-<br />

Fotos: Promo<br />

Siesindangenehm<br />

undeutsch.<br />

DieHöchste<br />

Eisenbahnhaben<br />

nichtsSchweresoder<br />

BiederesimGepäck,<br />

nichtdiedicke,<br />

brauneSoße<br />

aufdenKartoffeln<br />

■ Martin-Gropius-Bau, mittwochs bis montags<br />

Lernen vonden Irokesen<br />

Sie warengefürchtete Krieger und begnadete Diplomaten:<br />

Die Irokesen hielten im 17.und 18.Jahrhundertdie kolonisierenden<br />

Europäer auf Trab. Zugleich inspirierte ihr Zusammenschlusszueiner<br />

einflussreichen Stammesliga die europäische<br />

Geistesgeschichte.Eine<br />

Ausstellung im Martin-Gropius-<br />

Bau zeigt historische Gemälde,<br />

Zeichnungen, ethnografische<br />

Exponateund erzählt eine Geschichte<br />

vonKrieg, Handel,<br />

christlicher Missionierung und<br />

Landverlust. 9/6 Euro.<br />

sik und die Texte fesseln einen,<br />

wenn manRoberts Wegdurch<br />

dieIrrungenundWirrungender<br />

Liebemitverfolgt:„UnddieLeute<br />

schrien: Los Robert, tu,was Du<br />

tun musst/ und er sprang die<br />

fahrende Bahn an, schlug die<br />

Scheibe ein und gab Isi einen<br />

Kuss“.<br />

Drittens: Die Höchste Eisenbahnsindverspielt,mitunteralbern.<br />

Beim zweiten Song, „Body<br />

&Soul“,fehlennurnochdieLiege<br />

und der Cocktail; es beginntdirekt<br />

miteiner seichten Gitarre,<br />

Bacardi Feeling stellt sich ein.<br />

Später krakeelt irgendwo eine<br />

Mundharmonika, die Snare des<br />

Schlagzeugshacktindessenmonotonvorsichhin,einabgedreh-<br />

tes Klavier rauschtrein. Wilking<br />

und Krämer singen dazu: „Ich<br />

willmeinenNamenhörenausjederStadtundjedemDorf.“Selbst<br />

eine Zeilewie letztere istbei ihnen<br />

sorgsam eingebettet in toll<br />

erzählte Geschichten von Einsamkeit,<br />

vom Scheitern, vom<br />

täglichenSisyphusdasein–ohne<br />

im Mindesten peinlich zu klingen.<br />

Denn, viertens: Die Höchste<br />

Eisenbahnkönnentexten.Sicher<br />

gibtesauchbeiKrämerundWilking<br />

bessere und schlechtere<br />

Texte; woran esden meisten<br />

deutschen Bands aber krankt,<br />

das gelingt hier oft. Beim Titelstück,<br />

das mitKaribikrhythmen<br />

daherkommt, harmoniert der<br />

Text wunderbar mit dem beschwingtenRhythmus:„Schauin<br />

denLauf,Hase/Lauf,Hase“variiertdamit„Schlafdichaus,Hase<br />

/aus, Hase“oder „Gib nichtauf,<br />

Hase /auf, Hase“. In „Pullover“<br />

gibt es eine unangestrengte Erzählung<br />

vom Auseinandergehen,indersichwohl–wennauch<br />

nichtimDetail–somancherwiederfinden<br />

dürfte: „Haben geschworen,<br />

sich zu lieben, sich ja<br />

nie wieder zu trennen /Sie hatten<br />

Sex inder Umkleide von<br />

H+M /Sie haben sich verletzt,<br />

entschuldigt und verziehen und<br />

gelacht/unddanninWien,Rom<br />

undParisLiebegemacht/siehaben<br />

gewusstoder geahnt, dass<br />

dieLiebenichtreicht/Siemachte<br />

Schluss in der Bahn aufdem<br />

WegindieSchweiz.“Essindeinfache,<br />

neorealistische Zustandsbeschreibungen,<br />

die ohne<br />

Schwülstigkeitauskommen.<br />

Fünftens: Die Höchste EisenbahnpasseninkeinSchema.Indiepop<br />

und Singer-Songwriter<br />

sind Kategorien, die manihnen<br />

gerne zuspricht, aber nicht so<br />

rechttreffen, wasauf dem aktuellen<br />

Albumzuhören ist. Klar,<br />

ein Hamburger-Schule-Einschlag<br />

bleibt nicht aus; auch<br />

klingtdurch,dassmanmitSongwriter<br />

Gisbert zuKnyphausen<br />

befreundet istoder mitJudith<br />

Holofernes(dieauchlivebisweilenmitmischt).<br />

Aber am besten<br />

sind die Höchste Eisenbahn,<br />

wenn sie Klänge in der Karibik<br />

aufsammeln oder ein bisschen<br />

Bay Area Funk und New York<br />

Boogie aufschnappen. Um dann<br />

zu landen aufdem Berliner BodenderTatsachen.<br />

DievierMusikermachenesin<br />

diesem Berlin, Ende 2013 nicht<br />

sonderlichschwer,aufihrenZug<br />

aufzuspringen.Melancholieund<br />

Lässigkeitzuvereinen und ein<br />

Albumdarauszustricken, das<br />

kanngründlichschiefgehen.Die<br />

Höchste Eisenbahn schaffen es<br />

spielerisch.<br />

■ „Schau in den Lauf Hase“ ist<br />

bei Tapete Records erschienen.<br />

Das Konzert am16. Februar im<br />

Lido ist schon ausverkauft. Ein<br />

Zusatzkonzert spielen Die Höchste<br />

Eisenbahn am 1. Juni<br />

■ Picknick, 4.Januar<br />

Die vorletzteParty<br />

Neun Gründe fürden Besuch der 9. Ausgabe der Pierreversion:<br />

1. Pierrehat Geburtstag. 2. Er wird34. Er brauchtjetzt<br />

jede Unterstützung. 3. Es istdie vorletzteParty im Picknick<br />

ever. Danach kommtdie Apokalypse.<br />

4. Es istdie erste Partydes Jahres.Wer<br />

will das verpassen? 5. Es gibteinen<br />

Electronic Floor mit fünf sehr guten DJs,<br />

darunterRampue (im Bild). 6. Es gibt<br />

einen HipHop Floor mit zwei sehr guten<br />

DJs. 7. Die letzten achtPierreversionen<br />

warenauch schon super.8.BestimmtgibtPierreeinen aus.<br />

9. Welche Alternativegibtesdenn? Ab 23 Uhr.


BERLINKULTUR<br />

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deinen<br />

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Besuchimaußergewöhnlichen<br />

Studio„Blackrock“inMitte,wo<br />

Fitnesshandgemachtist<br />

So trainierte man 1930, und so ähnlich trainiert man auch im Jahr 2014 –ganz ohne Laufband und Edelstahlinstrumente Foto: Hulton Archive/Getty<br />

VON THOMAS ALKEMEYER<br />

RomantischeingefärbteKritiken<br />

an den vermeintlichen Sackgassen<br />

der modernen Welt sind<br />

soaltwiedieseselbst.Undsiehaben<br />

vieleGesichter.Seiteinigen<br />

JahrenzeigensiesichinderLiebe<br />

zumVintageebensowieinbärtigenjungenMännern,dieingrob<br />

gestrickten Pullovern auf dem<br />

Wochenmarkt kleine Kartoffeln<br />

verkaufen, „an denen extraviel<br />

Erdeklebt“,wiemanimSommer<br />

in der Süddeutschen Zeitung<br />

lesenkonnte.<br />

HandgemachteshatKonjunktur.<br />

Manufakturen für Schuhe,<br />

Schokolade, Fahrräder oder Rasierpinsel<br />

ausNaturborsten bedienen<br />

nostalgische Gefühlefür<br />

eine vorindustrielleZeit, in der<br />

„die Dinge noch gutwaren“, wie<br />

esinderWerbungfür„Manufactum“<br />

heißt. Die Großstadt-Boheme<br />

besinntsich aufRohkost<br />

und die guten alten Werteder<br />

Bürgerlichkeit; urban knitter<br />

strickengegendiegraueWeltdes<br />

Großstadtbetons an und überziehen<br />

Parkuhren und Straßenschilder<br />

mitihren bunten Strickereien;<br />

ungezählte Rockbands<br />

zwischen Los Angeles, London<br />

und Berlin suchen wieder Inspiration<br />

in der Mythenwelt von<br />

Country, Folk und Americana<br />

und lassen ihre Musik aufVinyl<br />

pressen.<br />

Längstprägt die Suche nach<br />

dem Einfachen auch die trendigen<br />

Welten des Fitnesssports<br />

undderurbanenBewegungskultur.<br />

Ob Fitness-Bootcamps oder<br />

das riskante Fahren mitFixed-<br />

Gear-BikesohneGangschaltung,<br />

LichtundBremse,mankonzentriert<br />

sich aufs Wesentliche. In<br />

BerlinhatderneuePurismusinzwischen<br />

aber auch die Kultur<br />

derFitnessstudioserreicht,ineinem<br />

Hinterhof in Mitte –wo<br />

sonst?<br />

In feiner Lage zwischen<br />

Reichstagsgebäude und Friedrichstraße<br />

isteine Stätte minimalistischer<br />

Körperertüchtigungentstanden,dienurInsider<br />

finden.KeineaufdringlicheWerbung,<br />

weder Namenszug noch<br />

LogoanderEingangstür.Diebeiden<br />

Betreiber setzen aufMund-<br />

propaganda. Wer Einlass begehrt,musswissen,womanklingelt.<br />

Drinnen eine Mischung aus<br />

Berliner Altbauwohnung, Weinkeller,<br />

Galerie, Turnhalle und<br />

Spielplatz. Zweistöckig. Im gewölbeartigenSouterrainderEingangsbereich<br />

mit dezenter<br />

Sportartikelwerbung, Sportfotografien,<br />

Bildbänden über Muhammad<br />

Ali und den Sportin<br />

derKunstsowiePokalenderbeiden<br />

Chefs ausihrer aktivenZeit<br />

als Bodybuilder und Eishockey-<br />

spieler.Imangrenzenden„Spiel-<br />

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BERLINER FESTSPIELE<br />

Martin-Gropius-Bau<br />

Verlängert bis 6.1.2014<br />

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zimmer“ der Natur nachempfundene<br />

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zurSchulung vonSpürsinn und<br />

Gleichgewichtsgefühl, dazuein<br />

beeindruckender Bestand aus<br />

selbsterdachtenundgefertigten<br />

GerätenzumTrainingvonKraft,<br />

Ausdauer und Geschicklichkeit:<br />

sandgefüllte Gießkannen und<br />

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ausTauwerk, Expander,zusammengebasteltaus<br />

Schiffszubehör und Latexbändern,<br />

Sandsäckeund –er<br />

darfnatürlich nichtfehlen –<br />

derMedizinball.<br />

Oben dann –Geübte<br />

müssennichtdieTreppe,<br />

sondern können auch<br />

ein Kletterseil nehmen,<br />

umindieersteEtagezu<br />

kommen–die„Turnhalle“<br />

mit Parkettboden,<br />

Sprossenwandundeiner<br />

flexiblen Konstruktion<br />

ausPfosten und Stangen<br />

zum Klettern und Turnen,<br />

für Klimmzüge und<br />

Liegestütze.Allesaushellem,<br />

hochwertigem Holz, exklusiv<br />

vomTischlergefertigt,sogardas<br />

WaschbeckenaneinerderQuerwände.EinSpiegelzwischengroßen<br />

Fenstern an der Längswand<br />

macht esmöglich, sich beim<br />

Übenselbstzubeobachten.<br />

DieserOrtisteineAntwortauf<br />

die Unorte der großen Fitnessketten<br />

mit ihren Maschinenhallen,<br />

die ähnlich wie Flughäfen,<br />

Bahnhöfe oder Hotels überall<br />

aufder Welt gleich aussehen.<br />

Er gibt sich unverwechselbar –<br />

hip,aberdochauchfamiliärund<br />

persönlich.AnstellevonMassenabfertigung<br />

wird hier ausschließlich<br />

ein individuell zugeschnittenes<br />

Personal Training<br />

mitTrainern angeboten, die die<br />

„Philosophie“des Ortes mitihren<br />

eigenen Körpern beglaubigen:<br />

um die dreißig der eine, an<br />

die fünfzig der andere, GroßstadtbartundtiefsitzendeSweat<br />

Pantshie, Tattoos und ärmelloses<br />

MuscleShirtdort, beide unverschämtgut<br />

austrainiert, aber<br />

doch ganz anders als die Titelfiguren<br />

von Men’s Health oder Fit<br />

forFun.<br />

Körperertüchtigungja,<br />

Lifestylenein<br />

Ursprünglich sollte das Studio<br />

stundenweise auch an andere<br />

Trainer vermietet werden. Aber<br />

dieser Plan istersteinmal vom<br />

Tisch. Zu groß sei die Gefahr einer<br />

Trübung der Reinheit von<br />

Konzept und Stil durch unpassende<br />

Performances und Trainingsmethoden.<br />

Körperertüchtigung<br />

soll hier weder anonyme<br />

Körperproduktionseinnochbloßer<br />

Lifestyle,indem der Schein<br />

über das Sein triumphiert, sondern<br />

ehrliche Hand-, nein<br />

Körperarbeit–ein wenig so,wie<br />

Bruce Springsteen den Rock ’n’<br />

Roll arbeitet: in dreistündigen<br />

Konzerten, bis wirklich nichts<br />

mehrgeht.<br />

Es versteht sich von selbst,<br />

dass Safttheke, Espressomaschine<br />

und Fitnessriegel-Sortiment<br />

hier nurstören würden: es soll<br />

geschuftet werden, sonstnichts.<br />

FürFortbildungenmitSportwissenschaftlern<br />

und Medizinern<br />

gibt es in der „Turnhalle“ eine<br />

WandtafelundKreide.Computer<br />

oder garSmartboardsuchtman<br />

ebenso vergeblich wie chromblitzendeKraftmaschinen.<br />

Die Trainingsmethoden und<br />

KompetenzenderbeidenBetreiberstammenausdermodernen<br />

Sport- und Trainingswissenschaft,<br />

ihre Semantik und ihr<br />

Selbstverständnisabersinddem<br />

Handwerk und dem Baumarkt<br />

entliehen. Sie steuern die Auswahl<br />

der Materialien und die<br />

BauweisenderGeräte.DasResultatsind<br />

Trainingspraktiken, die<br />

ganz anders sind als diejenigen,<br />

die manaus normalen Fitnessstudios<br />

kennt: keine EinspannungdesKörpersineineMaschinerie„entfremdeter“Körperproduktion,<br />

die Bewegungsrichtungen<br />

und -umfänge vorgibt wie<br />

ein Korsett; dagegen Arbeiten<br />

mitdemeigenenKörpergewicht,<br />

selbsttätiges Ausbalancieren,<br />

FindendesGleichgewichts.<br />

Werhier trainiert, möchte individuell<br />

betreut werden und<br />

seinen Körper im direkten Umgang<br />

mitTrainer und Material<br />

handwerklich gestalten. Nachdem<br />

der Körper in den Maschinenhallen<br />

der Fitnessketten zu<br />

einem Massenprodukt gemacht<br />

wurde, soll das Fitnesstraining<br />

hier wieder menschlich und individuellwerden.<br />

EsisteinLeichtes,StättendieserArtalsOrteeinerumsoziale<br />

Distinktion bemühten Wohlstandsklientel<br />

zu dechiffrieren<br />

oder ihre romantisierendes Gestaltung<br />

als bloße Fassade einer<br />

fortschreitenden Disziplinierung<br />

und Ökonomisierung des<br />

Körpers zu entlarven. Tatsächlich<br />

muss manneben dem nötigen<br />

Kleingeld auch einen bestimmten<br />

Geschmack haben,<br />

um Zugang zu finden. Hier werden<br />

nichtnur Gesundheitund<br />

Fitness verkauft, sondern auch<br />

das Lebensgefühl von Milieus,<br />

dieihreSmartphonesgerninaus<br />

gebrauchtem Leder gefertigte<br />

Hüllen der Marke „Zirkeltraining“<br />

stecken und High Technology<br />

so mitSchwärmereien für<br />

die guten alten Zeiten versöhnen.Esistvermutlichnichtallein<br />

deretwasteurerePreis,derandereMilieusdavonabhält,hiereine<br />

StundemiteinemPersonalTrainer<br />

zu buchen. Auch das AmbientesorgtfürExklusivität.<br />

Sehnsuchtnachdemnicht<br />

entfremdetenLeben<br />

Keine kulturellePraxis gehtallerdings<br />

in der puren Funktion,<br />

sich vor anderen hervorzutun,<br />

vollkommen auf. In der Suche<br />

nachdemEinfachen,demSelbstgemachten<br />

und Authentischen<br />

zeigtsichvielmehraucheinwiedererwachtes<br />

Bedürfnis nach<br />

nicht entfremdeten Beziehungen,<br />

nach Nähe zum Material,<br />

zumProdukt und zumeigenen<br />

Körper,nach einer Versöhnung<br />

des Menschen mitder Welt der<br />

Arbeit, nach persönlicher BetreuungundTätigkeiten,dieum<br />

ihrer selbstwillen gutgemacht<br />

werden.<br />

In den Räumen eines neuen<br />

Körper-Handwerks wird der<br />

technologischenUtopiedesKörpers<br />

als möglichsteffizientund<br />

reibungslosfunktionierender<br />

Maschine,dieimvergangenenJahrhundertdieFantasien<br />

in Medizin, Arbeitund<br />

Sportbeflügelte,<br />

die Vorstellung<br />

eines Körpers entgegengestellt,<br />

um dessen<br />

Gesundheit<br />

nachhaltig Sorge zu<br />

tragen ist–genauso<br />

wie um die bedrohte<br />

Natur. Essinddieskeine<br />

Räume für Anabolika,schoneherfürbiologisch<br />

angebauten Gemüsesaft.<br />

■ Thomas Alkemeyer istProfessor<br />

für Soziologie und Sportsoziologie<br />

an der Carl von Ossietzky Universität<br />

Oldenburg –und kennt das Studio<br />

aus einer entschieden teilnehmenden<br />

Beobachtung.


50 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE<br />

LOKALPRÄRIE<br />

www.taz.de|FAX:030-25902444|TELEFON:030-25902222|9-15UHR<br />

LESERINNENBRIEFE<br />

Theaterdonner<br />

■ betr.: „Im Schutz des Herrn“ u. a.,<br />

taz vom 21. 12. 13<br />

DieKirchen„springenindieBresche“fürden<br />

Staat.AllenvoranBischofDrögeundKardinal<br />

Woelki,dieallerdingsselbsteinfürstlichesGehalt<br />

vomStaatbeziehen,jeca.10.000EuroimMonat.<br />

Wieglaubhaftistes,wenndieKircheneinenStaat<br />

kritisieren,dessenhöchsteÄmtermehrheitlich<br />

vonihreneigenenMitgliedernbesetztwerden?<br />

ZumBeispielistauchderBerlinerInnensenator<br />

FrankHenkelbekennenderKatholik.WarumsolltenessichdieKirchenwegeneinpaarFlüchtlingenmitihrenTop-LobbyisteninderRegierung<br />

verderben?DiesesindjaletztendlichdieGarantendafür,dassdieinderVerfassungvorgesehene<br />

TrennungvonStaatundKircheweiterignoriert<br />

wirdunddassdiestaatlichenKirchensubventionenweiterungeschmälertfließen.Diegroßen<br />

SozialkonzerneCaritasundDiakonie,dieweitestgehendvomStaat,denPflege-undKrankenversicherungenfinanziertwerden,kostendieKirchen<br />

imVerhältniszuihrenEinnahmennurwenig,<br />

werdenabernachwievorgernealsAushängeschilderfür<br />

christlicheNächstenliebebenutzt.<br />

DerTheaterdonnerwegenderFlüchtlingewird<br />

vorbeigehen,unddannstehenBischofundKardinalwiederbeimSenataufderMatteundbettelnummehrGeldfürdenReligionsunterricht,<br />

unddieKirchenmitgliederimSenatwerdenes<br />

ihnengewähren.RALFBÖHM,Berlin<br />

die tageszeitung|Rudi-Dutschke-Str. 23|10969 Berlin | briefe@taz.de|www.taz.de/Zeitung<br />

DieRedaktionbehältsichAbdruckundKürzenvonLeserInnenbriefenvor.DieveröffentlichtenBriefegebennichtunbedingtdieMeinungdertazwieder.<br />

Kirche und Staat trennen<br />

■ betr.: „Der Rückzug des Staates ist offenkundig“,<br />

taz.de vom 20. 12. 13<br />

„Christenfragensich,gegenüberwelcherMacht<br />

siesichletztlichverantwortenmüssen.Fürsieist<br />

staatlicheMachtetwasVorläufiges–imZweifelsfallmussmanGottmehrgehorchenalsdem<br />

Staat.“ZeugenderartigeundweitereStatements<br />

desRolfSchiedernichtbereitsvonVerfassungsfeindlichkeit?<br />

„WirhabennieineinemLandgelebt,indemes<br />

eineTrennungvonStaatundKirchegibt!“Genau<br />

dasgiltesimeigentlichenSinndesGrundgesetzesendlichauchzurealisieren,dieabsoluteTrennungallerorganisiertenReligionsgemeinschaftenvomStaat!ION,taz.de<br />

Blick auf Kriminalstatistik<br />

■ betr.: „Projekt Heimwegtelefon. ‚Die Angst ist<br />

einfach da‘“,taz.de vom 23. 12. 13<br />

EinBlickaufdieBerlinerKriminalstatistikreicht,<br />

umsichsichererzufühlen.JANZRUISCH,taz.de<br />

Gegenseitig anrufen<br />

■ betr.: „Projekt Heimwegtelefon. ‚Die Angst ist<br />

einfach da‘“,taz.de vom 23. 12. 13<br />

WaswäredennmitdemVorschlag,dasssichdie<br />

ängstlichenLeuteeinfachgegenseitiganrufen.<br />

DannspartmansichdieZentralezurVermittlung.DemgeneigtenTriebtäterbrauchtman<br />

nachtsinderdunklenBahnhofsunterführungja<br />

garnichtsdavonzuerzählen,dasssichamanderenEndederLeitunginWirklichkeitnureine<br />

nicht-professionelleKraftbefindet.<br />

BENJAMINBRINK,taz.de<br />

Kategorisierung erstaunt<br />

■ betr.: „Runder Tisch bildet Arbeitsgruppen.<br />

Nur der Senat fehlt“, taz.de vom 19. 12. 13<br />

Wersinddie„nichtkirchlichenOrganisationen“?<br />

ErstaunlicheKategorisierung!StammtdieseDefinitionausderPresseerklärungderchristlichen<br />

Organisationenundwurdesovondertazübernommen?Hierwirddievielfachehrenamtliche<br />

ArbeitvonvielenanderenunbenanntenEinzelpersonen,GruppenundOrganisationeninder<br />

ÖffentlichkeitsdarstellungdurchdieKirchen<br />

vereinnahmt.Schade,dassdietaznichtausführlicherberichtet.WiebreitistdasSpektrumtatsächlich?ERSTAUNLICHEKATEGORISIERUNG<br />

NICHTKIRCHLICH,taz.de<br />

Vonkleiner Eliteokupiert<br />

■ betr.: „Bauhaus baut Haus“,<br />

taz.de vom 22. 12. 13<br />

Bauhaus?Dasistdochdas,wasmalfürjeden,beziehungsweisefürMannundFraumitkleinem<br />

Geldbeutelgedachtwar …dannabersehrschnell<br />

voneinerkleinenEliteokkupiertwurdeumdiese<br />

Design-undLebensartrevolutionfinanziellaus-<br />

zuschlachtenundsichvonderAllgemeinheitab-<br />

zugrenzen.Schließlichkönnensichdochnur<br />

nochAngehörigeabderoberenMittelschichtdie<br />

Bauhausklassiker–Stühle,Lampenundandere<br />

Gegenstände–leisten.<br />

IchwarbeimBesuchdesBauhaus-Museums/ArchivsimletztenJahr,ziemlichangewidert,nach<br />

demichimdortigenShopwarunddiePreisegesehenhabe.BauhauswarhaltschonzuBeginn<br />

des20.Jahrhundertsetwas,daseigentlichfüralle<br />

daseinsollte,dannabervoneinerkleinen,vermögendenGruppevereinnahmtwurde.<br />

JUSTJAN,taz.de<br />

Frage beantwortet<br />

■ betr.: „Historisches Kaufhaus. Event für Zwischendurch“,<br />

taz.de vom 19. 12. 13<br />

„wasgenaudieWünschedesEigentümerssind,<br />

istallerdingsunklar …“<br />

IchbeantworteIhnen,liebetaz,dieseFragegerne:<br />

SovielGeldundProfitdamitmachen,wieesnur<br />

geht.TOMAS,taz.de<br />

Verlogen<br />

■ betr.: „Akten belegen Deal mit BMW“, taz.de<br />

vom 19. 12. 13<br />

IndiesemZusammenhangwirktdasletztjährige<br />

BMWGuggenheimLabmitseiner„Wir-müssenalle-miteinander-reden“-Rhetoriknochverlogener.PUBLIK,taz.de<br />

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b<br />

Feiern im<br />

Untergrund<br />

KULTURFastdasganzeJahrwardieU6<br />

unterbrochen,derU-BahnhofFranzösische<br />

StraßeEndstation.InsechsJahrenwirder<br />

ganzgeschlossen.EinStudentwilldort<br />

danneinVeranstaltungszentrumeröffnen<br />

–unddenBahnhofsofürdieÖffentlichkeit<br />

erhalten<br />

VON<br />

KLAAS-WILHELM BRANDENBURG<br />

DavidDrekersiehtnichtauswie<br />

der klassische Geschäftsmann.<br />

Der fast zwei Meter große,<br />

schlankeMannstehtimU-BahnhofFranzösischeStraße,erträgt<br />

eine übergroße Vintage-Jacke,<br />

eng anliegende Jeans und unter<br />

dem offenen Hemd ein T-Shirt<br />

mittiefem Ausschnitt. Seine lockigenHaare,mühsamzumSeitenscheitelgekämmt,fallenihm<br />

ins bärtige Gesicht, sobald eine<br />

U-Bahn einfährt. Der frische<br />

Fahrtwind, das kühleNeonlicht,<br />

die lauten Züge –esist kein besonderseinladenderOrt,andem<br />

Dreker steht. Aber er magihn,<br />

und wahrscheinlich isterdeshalbsofestvonseinerIdeeüberzeugt:Erwillhier,imU-Bahnhof<br />

Französische Straße, ein Veranstaltungszentrum<br />

eröffnen –<br />

wenndieStationinsechsJahren<br />

überflüssigwirdwegendesBaus<br />

des neuen Kreuzungsbahnhofs<br />

Unter den Linden nur wenige<br />

Meterentfernt.<br />

Künstler,Firmen,Initiativen–<br />

sieallesollendannindemknapp<br />

700QuadratmetergroßenBahnhofinMitteihreHeimatfinden.<br />

Gelingen soll das, indem Unternehmen<br />

oder größere Gruppen<br />

den U-Bahnhof für ihre Zwecke<br />

mietenkönnen:fürPressekonferenzen,<br />

Firmenessen oder Geburtstagsfeiern.<br />

Die Einnahmen<br />

will Dreker nutzen, um Künstler<br />

kostenlos ihre Werkeausstellen<br />

zulassenundanTagen,andenen<br />

sich niemand eingemietet hat,<br />

den U-Bahnhof für die Öffentlichkeitzuöffnen.„Ichwillnicht,<br />

dass hier einfach abgeschlossen<br />

wird,unddannkommtdakeiner<br />

mehr rein –essein denn, er ist<br />

prominent oder hat Geld“, so<br />

Dreker.„DerU-Bahnhofistheute<br />

einöffentlicherOrt,undersollte<br />

dasauchnach2019bleiben.“<br />

Das erinnertein bisschen an<br />

Robin Hood: den Reichen nehmen,<br />

den Armen geben. Aber es<br />

klingt nichtnach der Idee eines<br />

erfolgsorientierten Geschäftsmanns.Drekeristwederdaseine<br />

noch das andere: Der 23-Jährige<br />

studiertzwarimBachelorVolkswirtschaftslehre<br />

an der Freien<br />

UniversitätBerlin.Einewirkliche<br />

Leidenschaft konnte er dafür jedochnieentwickeln.Eristschon<br />

jetztimsiebtenBachelor-Semester,erstimSommerwirderwohl<br />

fertigwerden.<br />

Vielleichtkönnte mansagen,<br />

er istkein Theoretiker,sondern<br />

ein Praktiker.Denn ausgerechnetfürseinStudiumistdieIdee<br />

für das Veranstaltungszentrum<br />

entstanden.ImOktober2012fiel<br />

ihmeinFlyerindieHand,beworbenwurdeeinSeminarzurExistenzgründung<br />

an der FU. „Da<br />

dachteichmirzumerstenMalin<br />

meinem Studium: Das klingt<br />

spannend“, erzähltDreker.Also<br />

machteermit.<br />

Aufder Suche nach einer Geschäftsidee<br />

erinnerte er sich an<br />

die Zeit zurück, als er gerade<br />

frisch in seine WG gezogen war,<br />

ganz nahe am U-Bahnhof Platz<br />

derLuftbrücke,dendieU6ebenso<br />

anfährtwie die Französische<br />

Straße. „Als ich damals gelesen<br />

hab,dassdieU6füreinJahrunterbrochen<br />

wird, habich mich<br />

tierisch drüber aufgeregt“,erinnertersich.<br />

Zumauerngehtnicht<br />

Als er nach dem Grund der Unterbrechung<br />

suchte, las er,dass<br />

zwischen Friedrichstraße und<br />

Französischer Straße ein neuer<br />

Bahnhofentsteht:UnterdenLinden,<br />

an dem ab 2019 die dann<br />

verlängerte U5 und die U6 halten.WeildieserBahnhofabernur<br />

80 Meter vonder Französischen<br />

Straße entferntist,bedeutet die<br />

Öffnung des neuen Bahnhofs<br />

gleichzeitig das Ende des alten.<br />

Aber keineswegs das vollständige<br />

Ende: Der Bahnhof Französische<br />

Straße, in den 1920ern gebaut,ist<br />

denkmalgeschützt: Einfach<br />

zugemauertwerden darfer<br />

alsonicht.„DakammirdieIdee,<br />

daraus ein Veranstaltungszentrumzumachen“,<br />

sagtder23-Jährige.<br />

Neben Kunstausstellungen<br />

kannsichDrekerdortauchregelmäßige<br />

Partys vorstellen. „Aber<br />

ichwillnichtnochsoetwas Versnobtes.<br />

Davongibt es in Mitte<br />

schon genug“, schränkt er ein.<br />

Dort, wo heute der Kiosk ist,<br />

könnte dann die Bar durstiges<br />

Feiervolkmit Getränken versorgen.<br />

Und dort, wo heute Plakate<br />

hängen, könnten Künstler ihre<br />

Bilderaufhängen,dieauchwährend<br />

der Partys oder Firmenveranstaltungen<br />

zu sehen bleiben.<br />

Dreker will möglichstviel vom<br />

heutigenZustanderhalten:„Man<br />

soll erkennen, dass das malein<br />

U-Bahnhof war.“ Alte U-Bahn-<br />

Sitze würden als Bänkedienen,<br />

und auch die U6 würde weiter<br />

fahren –allerdings durch dicke<br />

Plexiglasscheiben getrenntvom<br />

Bahnsteig. „Das Schimmern der<br />

Lichter ausdem Zug, das wäre<br />

schoneineinmaligerEffekt“,findetDreker.<br />

All diese Ideen haterfür das<br />

Existenzgründungsseminar in<br />

einen27SeitenlangenBusinessplan<br />

gegossen –nachdem er ein<br />

Semester lang dafür Vorlesungen<br />

und Seminare von Unternehmens-Coaches<br />

und Anwälten<br />

besuchthatte. BrittPerlick<br />

vonProfund,derGründungsförderung<br />

der FU,leitete den Kurs.<br />

„Ich wusste garnicht, dass die<br />

FranzösischeStraßegeschlossen<br />

Endlich Spaß an der Uni: David Dreker, Student mit Visionen Foto: Lia Darjes<br />

wird“,erzähltdie34-Jährige.Umso<br />

mehr habe sie die Kreativität<br />

Drekers überzeugt: „Das KonzepthataufjedenFallPotenzial.“<br />

Auch andere scheinen das zu<br />

denken: Beim Businessplan-<br />

WettbewerbBerlin-Brandenburg<br />

schaffte es Drekers Entwurfauf<br />

Platz 7von mehr als 150 Studierenden,<br />

an der FU landete er sogarindenTop3.<br />

Die Idee scheintalso vielversprechend.AberDavidDrekerist<br />

nichtderEinzige,dersichschon<br />

jetzt Gedanken um die künftige<br />

NutzungdesU-Bahnhofsmacht.<br />

„Wir haben bereits mehrere Anfragen“,<br />

sagtBVG-SprecherKlaus<br />

Wazlak.DieBVGhatoffiziellvom<br />

Senatden Auftrag,ein Nachnutzungskonzept<br />

zu entwickeln,<br />

hält sich bislang aber bedeckt.<br />

„Nochsindwirineinemsehrfrühen<br />

Anfangsstadium“, begründet<br />

das Wazlak. „Darum können<br />

wirnochnichtsagen,wasspäter<br />

aus dem Bahnhof wird.“ Man<br />

nehme aber alleVorschläge offenauf.<br />

Ein kritischer Punkt in Drekers<br />

Idee ist die Finanzierung.<br />

Denn für den Umbau des U-<br />

Bahnhofs werden nach seiner<br />

Rechnung mehr als 5Millionen<br />

Eurobenötigt–Geld,daserselbst<br />

nichthat.Das Land müsste über<br />

die BVGden Großteil finanzie-<br />

Einkritischer<br />

PunktinDrekers<br />

Ideeistdie<br />

Finanzierung.<br />

Dennfürden<br />

Umbaudes<br />

U-Bahnhofswerdennachseiner<br />

Rechnungmehr<br />

als5Millionen<br />

Eurobenötigt<br />

ren,wäredannaberauchMitge-<br />

sellschafterin des Veranstaltungszentrums.Aberwennalles<br />

soläuft,wiesichDrekerdasvorstellt,solldasVeranstaltungszentrum<br />

bereits nach zweieinhalb<br />

Jahren schwarze Zahlen schreiben.<br />

Ein Anreiz, der die chronisch<br />

in den Miesen steckende<br />

BVGvielleichtüberzeugenkönnte–oderandereInvestoren.„Mit<br />

dem richtigen Partner kann er<br />

das mit Sicherheit umsetzen“,<br />

glaubtauchBrittPerlick,dieLeiterin<br />

vonDrekers Businessplan-<br />

Seminar.<br />

WürdensichdieBVGoderandereInteressiertetatsächlichfür<br />

David Drekers Idee entscheiden,<br />

wäredasfürihndieErfüllungeines<br />

ganz besonderen Traums:<br />

Denn mitdem Bahnhof verbindet<br />

ihn mehr als nurein Business-Plan.„Esgabvorkurzemeine<br />

Zeit, da bin ich immer zur<br />

Französischen Straße gefahren,<br />

wenn es mir schlechtging“,erzählter.„Wennmandortausdem<br />

U-Bahnhof kommt, fühlt man<br />

sichsostädtisch.Esherrschtimmer<br />

Trubel, man ist umgeben<br />

vonschönen Häusern. Das habe<br />

ihnwiederaufgemuntert.<br />

VielleichtkannerinsechsJahren<br />

diese Schönheit jeden Tag<br />

genießen.DannaufdemWegzu<br />

seinerArbeit.<br />

.......................................................................<br />

.....................................................<br />

Die Baustelle<br />

■ Mehr als ein Jahr lang glich die<br />

Friedrichstraße morgens einem<br />

Pilgerweg. Wegen einer U-Bahn-<br />

Baustelle mussten Tausende Berufspendler<br />

laufen –rund 500 Meter<br />

weit. Zwischen den Stationen<br />

Friedrichstraße und Französische<br />

Straße warder Zugverkehr eingestellt.Seit17.Novemberfahrendie<br />

Züge der U-Bahn-Linie 6nach 16<br />

Monaten Bauzeit wieder ohne Unterbrechung<br />

durch.<br />

■ Grund fürdie Unterbrechung<br />

warenBauarbeiten fürden künftigen<br />

Umsteigebahnhof Unter den<br />

Linden.HiersollsichdieLinie6mit<br />

der U-Bahn-Linie 5kreuzen, die<br />

gegenwärtig vomAlexanderplatz<br />

zumBrandenburger Torverlängertwird.<br />

Täglich werden bis zu<br />

155.000 Fahrgäste erwartet. Die<br />

U5 dockt dann an die sogenannte<br />

Kanzlerlinie an, die bis zumHauptbahnhof<br />

führt. 2019 soll alles fertig<br />

sein. Bisher seien die Arbeiten<br />

im Zeitplan, sagte ein BVG-Sprecher.<br />

■ Die Baustelle hatte aber nicht<br />

nur Nachteile: Einzelhändler in<br />

der Friedrichstraße hätten gefragt,obdie<br />

Baustelle nichtüber<br />

dieWeihnachtszeitnochbestehen<br />

bleiben könne,sodie BVG.<br />

Schließlich führte die Baustelle<br />

täglich viele potenzielle Kunden<br />

an den Läden vorbei. Einzelne Geschäfte<br />

hätten ihreÖffnungszeiten<br />

in den Morgenstunden deswegen<br />

sogar ausgeweitet.<br />

■ Den neuen Tunnel und den künftigen<br />

U-Bahnhof Unter den Linden<br />

werden die Fahrgäste durch das<br />

U-Bahn-Fenster im Übrigen kaum<br />

zu sehen bekommen. Zwar gebe<br />

es schon Bahnsteige im Rohbau,<br />

die seien allerdings nur dann erkennbar,wenn<br />

das Tunnellicht<br />

brenne.„Man fährtnichtdurch<br />

einen Geisterbahnhof“, sagte der<br />

Sprecher. (dpa)


52 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE<br />

www.taz.de<br />

berlin@taz.de<br />

DAS WAR’S<br />

apple taz.berlin<br />

InderS-BahnvonderYorckstraße<br />

inRichtungPrenzlauerBergmiteineraltenMinoxgeknipst.Ichfinde<br />

die Situationeinfach lustig: Kommunikationund<br />

Nichtkommunikation<br />

aufengstem Raum. IstsowiesomeinThemainderFotografie.<br />

Drei Menschen hintereinander,zweischlafen,einerfreutsich<br />

übersHandy,TraumundRealität.<br />

HARALD HAUSWALD/OSTKREUZ<br />

NACHRICHTENTICKER<br />

+++<br />

Ein15-Jährigeristam<br />

zweiten Weihnachtsfeiertagauf<br />

dem Güterbahnhof<br />

in Prenzlauer Berg durch einen<br />

Stromschlag aus der Oberleitung<br />

getötet worden. Nach ersten<br />

Ermittlungen war der Jugendliche<br />

aufdem Gelände an<br />

der Greifswalder Straße aufeinen<br />

Kesselwagen geklettert. Ein<br />

19-jähriger Begleiter des VerunglücktenschildertederPolizei,er<br />

habe einen Knall gehörtund einen<br />

Lichtblitz gesehen. Danach<br />

sei der 15-Jährige vomWaggon<br />

gefallen. Als die Rettungskräfte<br />

eintrafen,seiderJugendlichebereits<br />

totgewesen +++ Angegriffen<br />

und leichtverletzt wurden<br />

zwei Tierschützer im asiatischenDongXuanCenterinLichtenberg.SiehattenKritikamVerkauflebenderSpeisefischegeäußert.<br />

Die Polizei ermittlewegen<br />

gefährlicher Körperverletzung,<br />

sagte eine Sprecherin. Ereignet<br />

habe sich der Vorfall bereits am<br />

16. Dezember.Die beiden Tierschützer<br />

hatten nach eigenen<br />

Angabengefilmt,umvermeintliche<br />

Verstöße gegen das Tierschutzrechtzudokumentieren.<br />

KundenseienlebendeFischefür<br />

die Heimschlachtung verkauft<br />

worden +++ Nicht alle Erwartungen<br />

erfüllt hat das Weihnachtsgeschäft,jetztschöpftder<br />

Handel neue Hoffnung: „Das<br />

Nachweihnachtsgeschäftistsuper<br />

angelaufen“, sagte Günter<br />

Päts, stellvertretender Hauptgeschäftsführer<br />

des Handelsverbands<br />

Berlin-Brandenburgs.<br />

Viele nutzten den Brückentag<br />

amFreitag,umGutscheineoder<br />

Geldgeschenkeeinzusetzen +++<br />

An den Flughäfen Tegel und<br />

Schönefeld hat die Zahl der<br />

Passagiere erstmals 26 Millionen<br />

übertroffen. Die Marke<br />

wurde laut Flughafengesellschaft<br />

am Freitagerreicht, vier<br />

Tage vorJahresende. 2012 wurden25,3MillionenFluggästevon<br />

und nach Berlin befördert, 2013<br />

werden es etwa4Prozentmehr<br />

sein. Die Bundeshauptstadtsei<br />

der einzige große FlughafenstandortinDeutschland,derein<br />

Wachstumindieser Größenordnung<br />

vorweisen könne, verkündete<br />

Flughafenchef Hartmut<br />

MehdornmitstolzgeschwellterBrust+++<br />

+++<br />

Noch istdie Eisfabrik nichtdicht<br />

MITTEAuchamFreitagwirddieRuineamSpreeufernichtgeräumt–trotzGerichtsurteil.<br />

BewohnerundUnterstützerdemonstrierenfüreineUnterbringunginWohnungen<br />

VON PLUTONIA PLARRE<br />

VorderehemaligenEisfabrikam<br />

Spreeufer stehteine Menschentraube.<br />

Unterstützer des Bündnisses<br />

gegen Zwangsräumung<br />

sinddarunterundBewohnerder<br />

Fabrikruine. 35 Menschen aus<br />

Bulgarien leben derzeitindem<br />

heruntergekommenen Gemäuer<br />

in selbstgezimmerten Bretterverschlägen.<br />

Es ist Freitag,<br />

9Uhr früh. Soeben istdie Frist<br />

abgelaufen, die der Gebäudeeigentümer,die<br />

Telamon GmbH,<br />

den Bewohnern zumVerlassen<br />

des Gebäudes gesetzt hat. Nun<br />

warten alle auf die Räumung.<br />

AberdiePolizeikommtnicht.<br />

DieSituationist verfahren.In<br />

einer bauordnungsrechtlichen<br />

Sicherungsanordnung hatte das<br />

Bezirksamt Mitte im Oktober<br />

vonder Telamon verlangt, alle<br />

Zugänge zurEisfabrik zuzumauern.<br />

Telamon-Geschäftsführer<br />

Thomas Durchlaub hatte eingewandt,dasGebäudeerstsichern<br />

zu können, wenn die Bewohner<br />

eineandereUnterkunfthätten.<br />

Am 20. Dezember entschied<br />

das Verwaltungsgericht imEil-<br />

verfahren, dass die Telamon die<br />

Eisfabrik ohne weiteren Aufschub<br />

sichern und räumen lassenmuss.Gleichzeitigergingan<br />

das Bezirksamt die Aufforderung,fürdieUnterbringungunfreiwilligObdachloserzusorgen.<br />

„Die Häuser denen, die drin<br />

wohnen“, skandieren die Unterstützer<br />

vom Bündnis gegen<br />

Zwangsräumung. Als klar ist,<br />

dass keine Polizei kommt, formiertsich<br />

ein Demonstrationszugzum<br />

BezirksamtMitte. „Keine<br />

Notunterkünfte, sondern<br />

neueHeimezuwehren“, soLüke.<br />

InzwischenseiendieBezirkekooperativer,lobtesie.<br />

Lüke warimFrühjahr am WiderstanddesBezirksCharlottenburg-WilmersdorfmitihrenPlänen<br />

für ein Wohnheim gescheitert.<br />

Vorgesehener Standortder<br />

Unterkunft,diezwarimRahmen<br />

des Roma-Aktionsplans, aber<br />

nichtnurfürRoma-Familienentstehen<br />

sollte, wardie Remise eines<br />

Mietshauses in der Sophie-<br />

Charlotten-Straße am Rand des<br />

Klausenerplatzkiezes.DerBezirk<br />

kritisierte den Standort, weil es<br />

bereitszweiFlüchtlingsheimein<br />

der Nähe gebe und der Kiez<br />

Wohnungen für die Bewohner<br />

derEisfabrik“,sodieForderung.<br />

DasSozialamtistschonda<br />

DasParadoxeist:DasBezirksamt<br />

istlängstvor Ort. Aufdem BürgersteigvorderEisfabrikstehen<br />

der Leiter des Sozialamts, HermannHeil,undzweiseinerMitarbeiter.Heil<br />

istda, weil er von<br />

einerRäumungausgegangenist.<br />

Nunweiß er auch nichtmehr<br />

weiter.ImFalleeiner Räumung<br />

hätte er vonder Polizei die Liste<br />

mitdenNamenderinderFabrik<br />

Zweiter Anlauf fürWohnheim<br />

ROMAMonikaLükewilldasgeplanteWohnheimfürobdachloseFamilienendlichrealisieren.<br />

GeldundTrägersindda,jetztfehltnochderOrt.DaranscheiterteesbereitsimFrühjahr<br />

Die Integrationsbeauftragte MonikaLükeist<br />

zuversichtlich, im<br />

kommenden Jahr endlich das<br />

vonihr seitLängerem geplante<br />

Wohnheim für obdachlose Roma-Familien<br />

zu realisieren. Im<br />

neuen Haushalt seien dafür<br />

150.000Euroeingestellt,mansei<br />

im Gespräch mitverschiedenen<br />

Trägern, sagte sie der taz. „Details<br />

verrateich nicht, sonstgibt<br />

es wieder einen Aufstand wie in<br />

Charlottenburg.“InvielenBezirkenhabeesbiszumSommereine<br />

große Ablehnung gegen<br />

Flüchtlingsunterkünfte gegeben.<br />

„Da wurdeteilweise mitallenMitteln<br />

versucht, sich gegen<br />

Demo am Freitagmorgen vor der Eisfabrik Foto: pemax/imago<br />

„deutlich überlastet“ sei. Diese<br />

Abwehr, soLüke heute, „war<br />

nichthilfreich.Ichbedaueredas<br />

sehr,dass mansounkooperativ<br />

war. Aber vonmir waresauch<br />

nicht geschickt, frühzeitig mit<br />

derIdeeandieÖffentlichkeitzu<br />

gehen“, gibtsieselbstkritischzu.<br />

Dennoch sei ein solches<br />

Wohnheim für Familien gerade<br />

im Winter dringend notwendig,<br />

inganzBerlingebeeskeinederartigeEinrichtung,sagtdieIntegrationsbeauftragte.<br />

„Eigentlich<br />

müsstemanjetztsoetwashaben,<br />

wiedieDebatteumdieEisfabrik<br />

zeigt.“IndemleerstehendenGebäude<br />

an der Spree in Mitte ha-<br />

angetroffenen Bulgaren erhalten.<br />

Jedem vonihnen hätte Heil<br />

dann einen Gutschein für einen<br />

Platz in einer Notunterkunft<br />

odereinemHostelausgestellt.<br />

„Ohne Räumung können wir<br />

nichts tun“,sagtHeil. Die Mitarbeiter<br />

nicken. Warum sie nicht<br />

selbst Kontakt zu den Bewohnernaufnehmen?Erdürfefremdes<br />

Gelände nichtbetreten, erklärtHeil.DasseieineOrdnungswidrigkeit.<br />

Die Mitarbeiter nickennocheinmal.<br />

Die Berliner Morgenpost<br />

schreibt am Nachmittag unter<br />

Berufung aufden Sozialstadtrat<br />

vonMitte, Stephan Dassel, die<br />

WohnungslosenhättendieangeboteneHilfedesSozialamtsMitte<br />

am Freitag abgelehnt. Die<br />

Wahrheit ist: Es gab keine<br />

Hilfsangebote.<br />

MitBlick aufdas Urteil sagte<br />

Telamon-Geschäftsführer<br />

Durchlaub zurtaz: „Ich gehe davonaus,<br />

dass das Sozialamtden<br />

LeuteneinefesteBleibebesorgt.“<br />

Einem Unterstützer zufolgehabendie35BewohneramFreitagabend<br />

in der benachbarten St.-<br />

Michael-KircheumAsylgebeten.<br />

ben sich zahlreiche Obdachlose,<br />

vorallemausSüdosteuropa,niedergelassen.<br />

Immerhin, so Lüke, arbeite<br />

mannun mitden Bezirken im<br />

RahmendesRoma-Aktionsplans<br />

gut zusammen, was die akute<br />

Notversorgung und Kältehilfe<br />

für obdachlose Familien, Roma<br />

wie Nicht-Roma, angehe. „Aber<br />

wir müssen bald etwas richtiges<br />

haben für Familien.“ Eigentlich<br />

seienfürdieUnterbringungvon<br />

ObdachlosendieBezirkeundSozialverwaltungzuständig,betont<br />

Lüke.„AberwirwolleneinenAnfangmachen,vielleichtspringen<br />

andereauf.“ SUSANNE MEMARNIA<br />

Konflikt im<br />

Kreuzberger<br />

Jobcenter<br />

SOZIALESErwerbslose<br />

bringtGruppemit–<br />

JobcenterruftdiePolizei<br />

AmTagvorHeiligabendistesim<br />

Jobcenter Friedrichshain-KreuzbergzueinerlautstarkenAuseinandersetzung<br />

gekommen: Eine<br />

GruppevonzehnPersonenwollteamTermineinerErwerbslosen<br />

teilnehmen und drängte ins Büro.DerSachbearbeiterwolltenur<br />

eine weitere Person als Beistand<br />

zulassen.EskamzuWortgefechten,schließlichriefdasJobcenter<br />

diePolizei.<br />

Christel T. hält die Aktion für<br />

rechtswidrig. „Die Beistände<br />

sind auf meinen Wunsch zum<br />

Jobcenter gekommen“, so die Erwerbslosedertaz.Siehattezuvor<br />

vomJobcentererfahren,dassihr<br />

ab Januar sämtliche Zuwendungen<br />

für drei Monate gestrichen<br />

werden. Im Clinch mitdem JobcenterbefindetsichT.seitMonaten.<br />

„Ich habe es immer abgelehnt,<br />

mich aufJobs zu bewerben,beidenenklarwar,dassich<br />

sie nichtbekomme“, erklärtsie.<br />

Mehrere Klagen gegen das Jobcenter<br />

sind anhängig, auch gegendieTotalstreichungwillT.juristisch<br />

vorgehen. „Mir warvorher<br />

das Geld um 30 Prozentgekürztworden,dannfolgtegleich<br />

die 100-prozentige Streichung.“<br />

Das Sozialgerichtschreibe aber<br />

eineKürzungvon60Prozentals<br />

Zwischenschritt vor, begründet<br />

T. ihre Hoffnung, die Totalsanktionierungaufhebenzulassen.<br />

DochChristelT.setztnichtnur<br />

aufden Rechtsweg. In den kommenden<br />

Tagen will sie im JobcentergegendieGutscheineprotestieren,<br />

mitdenen Erwerbslose,<br />

denen alleZahlungen gestrichen<br />

wurden, Lebensmittel kaufenkönnen.DieGutscheinekönnen<br />

nur inbestimmten Läden<br />

eingelöst werden, die Auswahl<br />

der Waren istbeschränkt. Auch<br />

zudiesemProtestwillT.mehrere<br />

Beistände mitbringen. Die ErwerbsloseninitiativeBastabestätigt,dassdasJobcenterBeistände<br />

nichteinfachabweisenkann.<br />

PETER NOWAK


DASNORDWORT<br />

apple<br />

taz.nord<br />

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„Julwe“ istein nordfriesisches Nomen aus dem Mooringer Dialekt. Es istein<br />

eigenes Wort fürdie Besuche bei Verwandten und Freunden zwischen<br />

Weihnachtenund Silvestersowie Festen in genau dieser Zeit. In ihm finden<br />

sich die Ausdrückefür Weihnachten(jul) und Besuche machen (schulwe)<br />

SONNABEND/SONNTAG, 28./29. DEZEMBER 2013<br />

41<br />

Nach Weihnachten fängt es an zu stinken.<br />

Nora riechtanihrer Wolldecke.Die Decke<br />

riechtein bisschen nach Wolleund Muff,<br />

abernichtschlimm.SchlimmfängtimFlur<br />

an, schlimm wirdschlimmer,wenn sie die Treppe<br />

hinuntersteigt und am schlimmsten wirdder Geruch<br />

im Wohnzimmer, in dem sie sich irgendwann<br />

alleversammeln.<br />

SieistdieeinzigeohnePartnerunddaswärekein<br />

sogroßesProblem,wennsienichtvorkurzemauch<br />

noch einen gehabt hätte. Nunschläftsie in einem<br />

Bett, das für zwei gedachtwar,ein Bett, in dem der<br />

Partner fehlt, nichtihr,aber grundsätzlich,inder<br />

Aufstellung.<br />

An den Feiertagen, wenn Christian und sie rumhingenundaßenundvorallemtranken,hattensie<br />

häufig Sex. Besonders, wenn Andere da waren, um<br />

ihnherumundumsieherum.Siegewannenbeide<br />

inGegenwartanderer,auchfürsichselbst.Siewaren<br />

attraktivimVergleich.Allein,fürsichzuzwein,waren<br />

sie das nichtmehr.Die Attraktivitätvon ihnen<br />

beidenzerbrach an der Einsamkeit. Dass sie überhaupteinsamwaren,wennsiezusammenwaren,lag<br />

auch daran, dass sie so gutzusammen passten, sie<br />

warenzuzweitwieeiner.<br />

EshatteeineStörunggegeben,erhattezumArzt<br />

gemusst, es gabUntersuchungen und es konnte,<br />

möglicherweise, sogar schlimm sein. Er hatte lieb<br />

gelächeltundihreHandgenommen,alssiegemeinsam<br />

vom Arzt nach Hause liefen, winzig kleine<br />

Schneeflocken wirbelten in der Abenddunkelheit,<br />

und die Feuchtigkeitinihren Augen wargar nicht<br />

seinerKrankheitgezollt.<br />

AmselbenAbendsagtesieihm,dassesvorbeisei,<br />

mitihrer Liebe zu ihm. „Es tutmir leid“, sagte sie,<br />

„aberichkannnichtsdafür,esisteinfachsogekommen.“<br />

ErtrugesmiteinerzartenVerzweiflung,abermit<br />

einemtapferenLächelnimGesicht.Erwollekämpfen,<br />

sagte er,umseine Gesundheit und ihre Liebe.<br />

„Dubistüberfordert“,sagteerauchundsiestelltees<br />

nichtrichtig.<br />

ErlegtesichaufdieCouchundsahsich„Friends“<br />

aufDVDan,währenddieFlockenandasFenstertaumeltenundinderKüchederGeschirrspülersummte.SiesetztesichindenSesselundsiesahendieganzeNachtdiealten„Friends“,eineFolgenachderanderen,<br />

und währendsich Ross und Rachel liebten<br />

undtrennten,schienihrdasLiebenunddasTrennen<br />

nurTeil eines großen albernen Zwanges, aber sie<br />

konntenichtvondemSesselausstehenundinsBett<br />

gehen,siemussteessichallesansehen,obwohlsiees<br />

allesschonmehralseinmalgesehenhatte.<br />

Das Haus gehört Sebastians Mutter,die in HollandbeiihrerSchwesterlebt.Esisteinekleine,rote<br />

BacksteinvillamitmoosigemDach,dieeinStückzu<br />

weitvomMeerentferntstehtundzuungepflegtist,<br />

um gewinnbringendverkauft zu werden, aber die<br />

LuftumdasHausistsofeuchtundsosalzigwiedas<br />

MeerselbstunddrumherumgibtesnurFelderund<br />

KüheundeinendiesigenWaldrand.<br />

SiedrehtsichaufihrerWolldecke,Regenklatscht<br />

gegen das Fenster. Weihnachten war nicht das<br />

Schlimmste gewesen, dass sie partnerlos und geschenkeloswar,dasSchlimmstewar,wienettsiealle<br />

mitsichwaren.JonasundJudith,HerrmannundLinda,<br />

Jürgen und Sarah, Sebastian und Christina. JürgenundSarahhattensichnichtsgeschenkt,weilsie<br />

nach Islandfahrenwollten, im nächsten Jahr,das<br />

wardasGeschenkgewesen.DieAnderenhattensich<br />

auchkaumwasgeschenkt,eswareigentlichgarkein<br />

ProblemderGeschenkegewesen,siewussteeigentlich<br />

nicht, wasdas Problem gewesen war. Das Problemwarvielleicht,wiederBaumausgesehenhatte,<br />

so vollgehängt mitKugeln,und dass sie überhaupt<br />

einen Baum hatten, wie eine Familie und dass sie<br />

Weihnachtsliedersangen,Jimmyhatte„JingleBells“<br />

gesungen und dazuauf seinerGitarre gespielt. Sie<br />

hatte aufdem Teppich gesessen und etwas kaltes<br />

FleischausdemKühlschrankgegessen,währenddie<br />

AnderenihrPapierfaltetenundsichküssten.Wenn<br />

sie doch jetzt „Friends“ sehenkönnte, hatte sie gedacht.<br />

Keiner vonihnen warsowitzig wie Phoebe<br />

oderRossodersosüßwieRachel.Daswarihraufgefallenundauch,dasssiegemeinwar.SiehatteüberhauptkeineGefühlemehrinsichdrin,fürirgendjemandenausderRunde,siesahsiealleganzkaltund<br />

ganz neu, wie fremde Menschen. Sie hätte lieber<br />

„Friends“geguckt.<br />

(FortsetzungSEITE44)<br />

DasGuteistdasLeben,<br />

dasmankennt<br />

EINE ERZÄHLUNG VON KATRIN SEDDIG/ILLUSTRATIONEN: IMKE STAATS


44 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE ERZÄHLUNG | nord<br />

Ihr Atem dampftvor ihr her,esbimmelt aus der Erinnerung, ein weihnachtliches<br />

Gebimmel, obwohl es schon Silvester ist, aber das Weihnachtsfestfehlt ihr<br />

plötzlich, als wäresie drum betrogen worden. Die Kindheit fehlt ihr plötzlich, die<br />

Wünsche, die Freude, die Fähigkeit, sich etwas zuerhoffen. Das Leben istganz<br />

einfach, kommt esihr wieder in den Sinn, vor sich ihre blauen Turnschuhe, die<br />

sich auf den Weg setzen, Schritt für Schritt, kleine Pfützen zerscherbeln und<br />

Grashalme zerbrechen. Der Geruch der Draußenwelt istangenehm, istsauber<br />

und kalt wie der Tod<br />

(FortsetzungvonSEITE41)<br />

DafingesmitdemGeruchan.DerGeruchwarerst<br />

nurschwach,undsiehattesichgefragt,obervon<br />

einem einzelnen vonihnen ausging, vonHermann<br />

vielleicht, hatte sie gedacht. Ob er unreinlich<br />

war, unkontinent, kränklich? Aber mitder<br />

Zeitfielesihrauf,dassderGeruchsichindenNuancenunterschiedunddasservonjedemeinzelnenvonihnenandersausging.<br />

Daistdernussartige,talgigeGeruchderKopfhaut<br />

vonJonas, der säuerliche, leichtranzige Geruch<br />

vonden Achseln vonJudith, der beißende<br />

GeruchderUrintröpfchen,dieinderLuftbleiben,<br />

wennJimmydieToiletteverlässt,derGeruchvon<br />

faulendenEssensrestenindenRäumenzwischen<br />

denZähnenvonSarah,dazuderGeruchvonVerdautem,<br />

Darmgase, alter Rauch in der Kleidung<br />

vonJürgen und Haut und Atem und kreisende<br />

FlüssigkeitenwieBlutundSpeichel.Sienimmtes<br />

alleseinzelnwarunddannverdoppeltessichund<br />

vervielfachtessich ins Unerträgliche. Sie begegnetdemmitTrinken.<br />

„Wie gehtesChristian?“,fragt Judith, während<br />

sieamTischgrüneBohnenschneidet.<br />

NorahocktamKamin,aufihrenKnien,starrtin<br />

die Flammen, das Glas Rotwein in der Hand und<br />

müht sich, nichtins Feuer zu kippen, obwohlsie<br />

sichangezogenfühlt.DerRotweinhängtwiealter<br />

BelagaufihrerZungeunddenZähnenundlähmt<br />

sie.<br />

„Wieduweißt …“, hierlegtsieeinelängerePause<br />

ein, um einen Schluck Wein zu trinken, einen<br />

neueneinzugießen,undauch,einwenig,umdie<br />

Spannungzusteigern,„isterkrank.“<br />

DannzündetsiesicheineMentholzigarettean,<br />

obwohlsie garnichtrauchtund das garnichterlaubtistimHaus.Werraucht,JürgenzumBeispiel,<br />

in seiner alten, blauen Daunenjacke, ausder die<br />

kleinen Daunen einzeln rauspieksen und davonschweben,alswürdeersichganzlangsamverlierenundimalten,feuchtenHausverteilen,dertut<br />

das Rauchen trampelnd, mit hochgezogenen<br />

Schultern, draußen neben der vereisten Vogeltränke.ErkneiftdabeidieAugenzusammen,und<br />

manchmalredetermitsichselbst.Manchmalfällt<br />

ihmdieAschevonderZigarette,weilervergisstzu<br />

ziehen. Manchmal stehterda, als wollte er steif<br />

frieren,reglosundinseinenkleinen,zartenalten<br />

Federchen.<br />

SieziehttiefdurchundderSchmerztreibtihr<br />

dieTränenindieAugen,sobrenntesinihrerLunge.<br />

Judith sagt nichts, schneidet die Bohnen und<br />

siehtnurkurzrüber,ganznettsogar.Judithriecht<br />

nachihrenAchseln.UndnachBohnen.Undnach<br />

Küche.<br />

Nora drückt die Zigarette aufdem Unterteller<br />

mitden Mandarinenschalen aus. Sie kann gar<br />

nichtrauchen.Siekannnichttrinken.Sieistkein<br />

Rebell, in garnichts istsie rebellisch, sie hatnur<br />

ausFurchtihre Beziehung beendet. Ihr kommt<br />

der Gedanke, dass mitihr etwas nichtstimmt.<br />

Vielleichtstinken die Menschen irgendwie, aber<br />

normal istes, den Geruch seiner Freunde in die<br />

Welt des Vertrauten aufzunehmen, einzuordnen<br />

und zu erkennen als das Gute. Das Gute stinkt<br />

nicht.DasGuteistdasLeben,dasmankennt.<br />

Judith lächeltwieder aufihre vorsichtige Art.<br />

JudithhatsoAugenvondenenmansagt,dasssie<br />

Pünktcheninsichdrinhaben.Judithhataucheine<br />

StupsnaseundSommersprossen.<br />

„MachdirkeineSorgen.Eswirdschonalles.“<br />

Siefragtsich,wassiedamitmeint.<br />

„Waswird?“,fragtsieundanalysiertJudithsGeruch,<br />

Judith riecht wie dürre, ausgetrocknete<br />

Frauenriechen,wennsiezuwenigtrinkenundessen,wenndieHautsichfaltetundihrKörpersich<br />

voninnen nach außen reckt und um ein TröpfchenÖlunggiert.JudithistsoschlankwieeinReh<br />

imeisigenWinter.UndhatAugenmitPünktchen.<br />

GeschmackundWitz.<br />

„DasLebenisthaltkompliziert“,sagtJudithund<br />

zwinkerte mit ihren Pünktchen und zwinkert<br />

nochmal.<br />

„Neinneinneinnein“,sagteNora.Siespürte,wie<br />

der Text, diese ‚Ns‘ und ‚Ns‘ sie hin und her wiegen,„DasLebenist<br />

…ganzeinfach.“<br />

Undobwohlsieeinbisschenbetrunkenist,und<br />

garnichtmalsowenig,kommtesihrwirklichso<br />

vor,alswennsiewasganzWichtigeserkannthätte,<br />

eine große Wahrheit, eine Weisheit. Als hätte sie<br />

nureineTürgeöffnet,hinterderdasEinfachesich<br />

endlich offenbart, als Gemeinheit. Eine große<br />

KlarheitnähertsichihrenGedanken,Gegenstände<br />

und Gerüche und Möbel und Melodien drum<br />

herumaufgereiht.Esistalleseinfach,wennman<br />

dieNettheitvonJudithweglässt.<br />

„Christanistkrank,ja?“,sagtNorainausgewählter<br />

Langsamkeit. Dazuhat sich indessen Herrmanngesellt.<br />

„Ja?“, antwortet Herrmann für Judith. Herrmann<br />

hatimmer etwas Schmuddeliges an sich,<br />

obwohlersehrgepflegtist.Gepflegt,immerneue<br />

Sachen,feinesWollhaar,Schuhe,soschönwieein<br />

vergangenesJahrhundert.<br />

„Eristvielleichtkrank,ja?“,wiederholtsie.<br />

VierAugenblicktensiean.ZweiPünktchenaugen,zweibrauneBrillenaugen.<br />

„Ichwollteihnnichtpflegen.“<br />

Sienicken.Sielassensichnichtprovozieren.Sie<br />

sehensichan,sietauschenirgendwasaus,abersie<br />

sagengarnichts.Sienickennur.<br />

„Ichhätteesgekonnt,aberichwollteesnicht.“


nord |ERZÄHLUNG<br />

SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE 45<br />

„Das kann manjaverstehen“, sagt Herrmann.<br />

ErnimmtdieBohnennichtindieHand.Erkocht<br />

nicht.Erkannnichts,wasGeschicktheitverlangt.<br />

Erlegtseinebreiten,weichenHändenuraufden<br />

TischundmühtsichumRuheundGerechtigkeit.<br />

„Findestdu?“,fragtsie.„Ichfinde...“Sieweißgar<br />

nicht, wassie findet. Sie stehtder Krankheitvon<br />

Christianganzneutralgegenüber.Mitihrhatdas<br />

garnichtszutun.<br />

„Wirbemühenunswirklich,dichzuverstehen.<br />

Wirwissen nicht, waszwischen euch passiertist,<br />

aberniemandverurteiltdich.Wirklich.Dumusst<br />

deineneigenenWeggehen.“<br />

Sienickt.IhreneigenenWeggehen.<br />

AmAbendvorSilvesteristihrschlechtvonden<br />

GerüchenundsiebrichtindiegelblicheToilettenschüssel.Christianruftan,erwillmitihrreden,er<br />

klingtnettundvernünftig.<br />

„SilvestergehichmitIngbertessen.Ersagt,es<br />

warnotwendig, dass du dich vonmir getrennt<br />

hast,wirwarenineinerSackgasseundeswareine<br />

Artvon Distanzierung, die notwendig war, für<br />

dich,füruns.Damitdudichabspaltenundwieder<br />

duselbstseinkonntest.DieKrankheit,alsomeine<br />

Krankheit,hättedichsonstganzinunser‚Wir‘gezogen.<br />

Aber ich denke, wenn wir das erkennen,<br />

dannhabenwireineChance.WirkönnendocheinenSchnittmachen,einensauberenSchnittund<br />

dannhabenwirdocheineganzneueChance?“<br />

„Sicher“,sagtsie,aberihreStimmesagtfastgar<br />

nichts.Siefragtsich,wieneuundgroßdieChancen<br />

sind, für ein ‚Wir‘, wenn einer vondem ‚Wir‘<br />

vielleichtganzschlimmkrankistundderAndere<br />

nursichselbstnochriechenkann.<br />

AmSilvestermorgenistesihrklar,dassalleihre<br />

Freundestinken.<br />

SiegehthinausindieKälte,esisttrockenund<br />

eisig und es liegt auch kein einziges Fitzelchen<br />

Schnee.DieFarbensindklar.DieHimmelistblau,<br />

winzigeFedernausJürgensalterJackehabensich<br />

zumHorizonthinweißlichverdichtet.DieFelder<br />

sind schwarz und der Boden und die alten StoppelninihrerFormerstarrt.DieBäumestehenkahl<br />

inderLandschaftherum.JedesBlattisthartgefroren,jedereinzelnenrotenBeerehafteteinfarblichesDramaanundüberallemliegteineSchicht<br />

vonkaltemGlitzer.Siegehtganzallein,siehatzu<br />

Judithgesagt,„Nein,ichmöchtelieberallein.“Judithwäremitgekommen,obwohlsiesichimmer<br />

krümmtinder Kälteund ganz entsetzlich friert<br />

mitihrerMagerkeitundinihrerdünnenHaut.<br />

Ihr Atem dampft vorihr her,esbimmeltaus<br />

der Erinnerung, ein weihnachtliches Gebimmel,<br />

obwohl esschon Silvester ist, aber das Weihnachtsfestfehltihrplötzlich,alswäresiedrumbetrogen<br />

worden. Die Kindheitfehltihr plötzlich,<br />

dieWünsche,dieFreude,dieFähigkeit,sichetwas<br />

zuerhoffen.DasLebenistganzeinfach,kommtes<br />

ihrwiederindenSinn,vorsichihreblauenTurnschuhe,<br />

die sich aufden Wegsetzen, Schrittfür<br />

Schritt,kleinePfützenzerscherbelnundGrashalme<br />

zerbrechen. Der Geruch der Draußenwelt ist<br />

angenehm,istsauberundkaltwiederTod.<br />

Alssiezurückkommt,isterda.ErsitztinderKüche,trinktwarmeMilch,undisteinfachda,ganz<br />

normal.Lindasitztbeiihm,hältihrenKopfschräg<br />

geneigtundhörtihmzu,wieervonderKrankheit<br />

erzählt.NorableibtinderTürstehen,erbemerkt<br />

sie, er hatein kleines, schlechtes Gewissen, sieht<br />

sie.<br />

„Wowillstdudennjetztschlafen?“,fragtsie,als<br />

wäre das das größte Problem, während die Hitze<br />

unddieKüchengerüchesieangreifen.<br />

Er zuckt mitden Schultern. Er kramtnur mit<br />

letzter Mühe ein Fünkchen Humor noch heraus.<br />

Ausden Tiefen seiner Gewohnheit, ein bisschen<br />

FlitterundkeinGold.<br />

„Wer will denn hier schlafen?“,sagterund bemüht<br />

sich um ein Lächeln. Seine Lippen sehen<br />

ganzsprödeausundeinMundwinkelisteingerissen.<br />

„Wasmachstdudennhier?“,fragtsieweiterund<br />

ohne aufihn einzugehen. Unfähig, nett zu sein.<br />

DerGeruchvonMenschströmtinihreeisigkalten<br />

Nasenlöcher.<br />

„Nora!“,ermahntLindasie,siehateinbisschen<br />

echtenHassindenhübschgeschminktenAugen.<br />

„Du wolltestdoch nichtkommen!“,Norakann<br />

nichtaufhören,sieweintfastvorWut.<br />

ErschütteltdenKopf.LindalegtihrenArmum<br />

ihn,aufseinemStuhl,woersitzt,gekrümmt,mit<br />

Blick aufseine Schuhe. Seine Schuhe sind schon<br />

aufgebunden,alswollteersieausziehenundhat<br />

esdanndochnichtgetan,weilersichnichtsicher<br />

war.<br />

„Nora,hördochauf!“,flehtLinda.<br />

„DuwolltestdochmitIngbertessengehen.Du<br />

hast gesagt, meine Distanzierung warnotwendig.“<br />

„Ichhättenichtkommensollen.“Ersenktden<br />

Kopf noch tiefer.Erist eigentlich ganz erledigt<br />

undgarnichtsoklugundauchgarnichtsoausgeglichen,wieersiedasamTelefonhatglaubenlassen.<br />

Sie gehtamWohnzimmer vorbei, die Treppe<br />

hochinihrZimmerundlegtsichaufdieDecke.Sie<br />

steckt die Nase in die alte Wolleund schnüffelte<br />

amaltenWollstaub.EinHundwürdegutriechen,<br />

denkt sie. Ein Schaf auch. Hühner. Schweine,<br />

SchweineriechennachSchwein.Pferde.Sieweiß<br />

ganz genau,wie Pferde riechen, wie sie am Hals<br />

riechen, wie ein Hund ausdem Maul riecht, wie<br />

Katzenpipi riecht, all das kenntsie und es würde<br />

gutseinundnichteklig,selbstwennesstank.<br />

„Hallelujah,hallelujah!“,schreituntenjemand.<br />

DannklopftesanihreTür.Herrmann.<br />

Sie bleibt liegen, drehtnur kurz den Kopf zurück,<br />

ihm ihren Hintern zuwendend, aufgestützt<br />

aufihren Arm, ausdem kleinen Fenster sehend,<br />

aufdasFeldunddieschwarzenBäumehintenam<br />

Horizont,derrotwirdundglüht,alsständeesalles<br />

inFlammen.<br />

„Ichmöchtewirklichwissen,wasmitdirlosist“,<br />

sagtHerrmann.<br />

„Ichauch.Ichmöchtedasauchwissen“,sagtsie.<br />

„Dasistjaimmerhinwas“,sagtHerrmannund<br />

schweigt eine Weile. In der Stillehörtsie sein<br />

Schnaufen,dasihnimmerbegleitet.Erhatsicheine<br />

Krawatte angezogen. Er ist der Clown, der<br />

Freak,deram wenigsten Attraktive in derGesellschaft<br />

auserwählter Freunde rund herum um einenSohnmitDepression.ErhatkaumHumor.Er<br />

istnichtmalbesondersintelligent.<br />

„Christian,esgehtihmnichtgut.Undwirsind<br />

…sindseineFreunde.“<br />

„Sind–sind“, äfftsieihnnach.„Danngeheich<br />

eben.“<br />

„Dasmusstdunicht.“<br />

„Ichhättegarnichtkommensollen.“<br />

Undalsernichtssagt,fügtsiehinzu,„Esriecht.“<br />

„Hier,imZimmer?“<br />

„Ja,abernochmehraufderTreppe.Undamallermeisten<br />

…“Sieschweigt,siefindetesunerhört,<br />

wassiesagt.<br />

„Amallermeisten?“,fragter.<br />

„Unten bei euch. Ihr stinkt alle. Mir istschon<br />

ganzschlechtvoneuremGestank.“<br />

„Ichdenke,dannsolltestduwirklichbesser …“,<br />

sagte er und schließtleise die Tür, bevorsie den<br />

Schlusshörenkann.<br />

„Ja, das sollte ich“, sagt sie und erhebt sich. Sie<br />

solltewirklichunbedingtgehen.Sieistdiejenige,<br />

dienichtzurechtkommt.SiewerdenChristianin<br />

ihreArmenehmenundihnwiegen,biserschläft.<br />

Sie sind alleganz gute Menschen, verhältnismäßig,undgarnichtsobesondersegoistisch.Siesind<br />

klug, sie sorgen sich und sie zeigen Verständnis,<br />

alleswasmanerwartenkannundsogarnochein<br />

bisschenmehr.<br />

SiepacktihreSachenzusammenundschleicht<br />

sichraus.DraußenstehtihrAutonebenalldenanderenAutos,großeundkleine,wiedieVerhältnisse<br />

so sind, sie öffnet den Kofferraum, draußen<br />

stehtauch Jürgen in seinen alten Daunen und<br />

aschtindieVogeltränke.ErhebtdieHand.„Fährst<br />

du?“,rufter.<br />

Sienickt.<br />

„Warum?“<br />

„Ichmussweg.“<br />

Silvesterabend, denkt sie, nichtder beste Zeitpunkt,<br />

um abzuhauen. Wenn jemand krank ist,<br />

dannistdasnichtderbesteZeitpunkt,umihnzu<br />

verlassen. Die besten Zeitpunkte erwischtman<br />

nurselten,deshalbwirdesallesimmersoschief,<br />

so garnichtbesonders, wie in „Friends“,wozum<br />

bestenZeitpunktimmerdaspassiert,wasdannalle<br />

zumWeinen bringt oder zumLachen, aber so<br />

kannmanleidernichtleben.SiefährtdenFeldweg<br />

runter,ruckeltüber die hartgefrorenen Treckerspuren,demMondentgegen,denndraußensteht<br />

schonderweiße Mond überdemFeld,überdem<br />

DorfundüberderLandstraße.<br />

Dannistdawas,zweiLeuchtpunkte,undalssie<br />

bremst, sind die Punkte schon unter ihr verschwunden,<br />

von ihrem Auto verschluckt, sie<br />

stemmtsichmitallerKraftweiteraufdieBremse,<br />

obwohlsie weiß, dass sie vernünftiger bremsen<br />

sollte, dass es sowieso schon zu spätist,weil sie<br />

schon drüber ist, sie schliddertund rutscht, sie<br />

hörtdasQuietschen,siekanngarnichtsmachen,<br />

nursichinnerlichklammernundbebenundhoffen,<br />

und dann stehtsie still an einem Baum, den<br />

GurthartandenRippen,sieistaneinenBaumgefahren,nichtschlimm,nureinbisschen,siesteigt<br />

ausundsiesuchtmitdenAugendieStraßeab.Auf<br />

derStraßeliegteindunklerKlumpenTier.Siezittertein<br />

bisschen, sie nähertsich dem Klumpen,<br />

einWiesel,eineKatzeodereinkleinerHund,langgestreckt,aufdenBodengekauert.Sienähertsich,<br />

sienähertsichrechtunentschlossen,dieMuskeln<br />

tunihrwehvomZittern,dieLuftriechtnachverbrannten<br />

Reifen, irgendwo weit wegknalltes,<br />

Lichter steigen auf, über den Bäumen und dem<br />

Feld,inrotgrünblau,siegehtganzdichtheran,da<br />

bewegtsichwas,dabewegtsichderSchwanz,die<br />

Katzestehtauf.<br />

DieKatzestehtauf.<br />

DieKatzestehtauf,alswärenichtebeneinAuto<br />

über sie gefahren. Sie stehtauf und der Mond<br />

scheintauf die Katze und neue Lichter explodierenamHimmel,ingrünundsilberunddieKatze<br />

macht,„mau“.Danngehtsieweg.Langsam,majestätisch,<br />

ein unverwundbares, zauberhaftes Katzenvieh,dasjedeMengeLebenhat.Noragehtzurück,ihrAutostehtamBaum,esistverbeult,aber<br />

esbrummtleise,vondrinnenströmtihrdieWärmeentgegen,siesetztsichaufihrenSitz,fasstdas<br />

Lenkrad, betrachtet den Baumstamm vorihrer<br />

Frontklappe und das Leben kehrtlangsam und<br />

freundlich in sie zurück. Vorsichtig legt sie den<br />

Rückwärtsgangeinundvorsichtigdrücktsichihr<br />

WagenausdemBaumheraus.<br />

..............................................................................................<br />

............................................................................<br />

Katrin Seddig<br />

■ istSchriftstellerin in Hamburg. Ihr Interessegilt<br />

dem Fremden im Eigenen. Ihr jüngstesBuch, „Eheroman“,erschien<br />

2012 bei Rowohlt.


42 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE WAR WAS •KOMMT WAS | nord<br />

POLIZEIEINSATZ<br />

Rote Flora:<br />

Gewalt von<br />

beiden Seiten<br />

Dass es ein heißer 4. Adventssamstag<br />

inHamburg werden<br />

würde, war eigentlich klar.<br />

Schließlich ging es bei der Rote-<br />

Flora-Demonstration umdrei<br />

Themen: den Erhaltdes besetzten<br />

autonomen Stadtteilzentrums,<br />

den Umgang des SPD-SenatsmitdenLampedusa-FlüchtlingenunddenErhaltdermarodenEsso-HochhäuseraufSt.PaulialspreiswertenWohnraum.<br />

Dielinks-autonomeSzeneum<br />

dieRoteFlorahatte,nachdemEigentümer<br />

Klausmartin Kretschmer<br />

und sein Immobilienberater<br />

GertBaer im Herbstdie Räumungangedrohthatten,international<br />

zur Verteidigung<br />

des Projekts<br />

aufgerufen. Selbst<br />

die Polizei rechnete<br />

mit mindestens<br />

6.000 Teilnehmern<br />

ausganzEuropa.<br />

Öl in das Feuer gossen<br />

KretschmerundBaer,indemsie<br />

Tage zuvorden Nutzern der RotenFloraeinUltimatumstellten:<br />

biszum20.Dezemberhättensie<br />

das Areal im Schanzenviertel zu<br />

räumen.<br />

Und für erhitze Gemüter gab<br />

esweitereGründe:Sowarenzwei<br />

Kundgebungen im direkten InnenstadtbereichimRahmender<br />

Kampagne Rechtauf Stadtvon<br />

der Polizei mitHinweis aufden<br />

Weihnachts-Einkaufstrubel verboten<br />

worden. Zusätzlich hatten<br />

am Vorabend vermeintliche St.-<br />

Pauli-Fans die Davidwache auf<br />

dem Kiez wegen des Umgangs<br />

des SPD-Senatsmit den Lampedusa-Flüchtlingenattackiert.<br />

DiePolizeiwollteoffenkundig<br />

keineDemofürdieRoteFlorazulassen.<br />

Nach wenigen Metern<br />

stoppten Einsatzkräfte ohne ersichtlichen<br />

Grund gewaltsam<br />

den Aufzug mit7.500 Teilnehmern,<br />

Greiftrupps stürmten in<br />

dieMenge,danachgabesschwere<br />

Krawalle. Stundenlang liefertensichProtestlerundPolizisten<br />

ein zumTeil brutales „Katzund<br />

Maus“-Spiel, bei dem mehr als<br />

120Polizistenund500Demonstrantenverletztwurden.<br />

KVA<br />

WESER-KURIER<br />

Chef<br />

gesucht<br />

Die Bremer Weser-Kurier-Mediengruppe<br />

suchteinen neuen<br />

Chefredakteur.DasteiltederVerlagam23.Dezembermit.Offenbar<br />

war die Nachricht als Geschenk<br />

gedacht: Seit Monaten<br />

wartenvieleinderRedaktionauf<br />

die Ablösung der derzeitigen<br />

Chefredakteurin Silke Hellwig,<br />

dieseit2011denWeser-Kurierallein<br />

leitet. Im Sommer hatte der<br />

Vorstandsvorsitzende der Mediengruppe,<br />

Ulrich Hackmack,<br />

nach 14 Jahren seinen Hutnehmen<br />

müssen –nach einer langwierigen<br />

gerichtlichen Auseinandersetzung.<br />

Hackmack hatte<br />

Hellwiggeholt.DerBremerJournalistenverbandDJVstelltenach<br />

sieben Monaten AmtszeitHellwigs<br />

im Frühjahr 2012 fest, dass<br />

das Klima beim Weser-Kurier<br />

undbeidenBremerNachrichten<br />

„auf dem Tiefpunkt“ sei. Doch<br />

Hellwig hatte damals noch RückendeckungvonHackmack.<br />

Nach dessen Ausscheiden im<br />

Sommer2013engagiertederVorstanddenJournalistenKarlGünther<br />

Barth für eine Expertise<br />

über den Zustand der Redaktion<br />

des Weser-Kuriers, die<br />

nicht positiv ausgefallensein<br />

dürfte. Jedenfalls<br />

wirdseitMonaten<br />

über die Ablösung der<br />

Chefredakteurin intern<br />

verhandelt. In den letzten Wochen<br />

schrieb die frühere Redakteurin<br />

vieleTexte –und warselteninihrerRollealsLeiterinder<br />

Redaktionsarbeitpräsent. In Zukunft<br />

soll sie sich, so teilte der<br />

Verlagmit,„vorallempublizistischenAufgabenwidmen“.<br />

Neuer „kommissarisch“ verantwortlicher<br />

Chefredakteur<br />

wirdabNeujahreinalter–der61-<br />

jährige Peter Bauer.Erwar bis<br />

zumJahre 2006 stellvertretender<br />

Chefredakteur –und wurde<br />

dann in den Bremer Vorort Delmenhorstgeschickt,umdortals<br />

Geschäftsführer der TochterfirmaPressedienstNordGmbHdie<br />

Außenredaktionen der Mediengruppe<br />

zu leiten. Die Führungsgremien<br />

der Weser-Kurier-Mediengruppe<br />

hatten sich nach einer<br />

neuen Chefredaktion umgesehen,warenaberamEndenicht<br />

zueinerpräsentierbarenLösung<br />

gekommen. Offensichtlich war<br />

die Regie der Chefin SilkeHellwigsountragbar,dassmannicht<br />

weiterwartenwollte.<br />

SchoninihrerfrüherenFunktion<br />

als Chefin des TV-Regionalmagazins„butenunbinnen“war<br />

eszugroßemUnmutüberihren<br />

Führungsstil gekommen. 2010<br />

wurdesieabgesetzt. KAWE<br />

NORD-SÜD-GEFÄLLE<br />

Beim Sammeln von<br />

Biomüll sind die<br />

Niedersachsen bundesweit<br />

Spitzenreiter. Laut dem<br />

Landesbetrieb für Statistik<br />

und Kommunikationstechnologie<br />

sammelte 2011<br />

jeder Niedersachse im<br />

Durchschnitt<br />

153<br />

Kilogramm<br />

biologisch abbaubarer Garten-<br />

und Parkabfälle in der<br />

Biotonne.<br />

Weniger<br />

eifrig<br />

waren<br />

etwa die<br />

Baden-<br />

Württembergermit<br />

131<br />

Kilogramm<br />

pro Kopf.<br />

Deutschlandweit<br />

liegt der<br />

Schnitt<br />

bei 113<br />

Kilogramm Biomüll pro<br />

Person<br />

Foto: dpa<br />

HANDELSKAMMER-WAHL<br />

Oppositionfür<br />

die heimliche<br />

Regierung<br />

Die Handelskammer Hamburg<br />

wirdeinen Wahlkampf bekommen.ZurWahldesPlenumsEnde<br />

Januar/Anfang Februar wollen<br />

sich 15 UnternehmerInnen mit<br />

demZielstellen,die350JahrealteInstitutionzureformieren.Vor<br />

der „Versammlung eines Ehrbaren<br />

Kaufmanns“, mit dem die<br />

Hamburger Wirtschaft am Silvestertagihren<br />

Jahresabschluss<br />

begeht, wollen sie die ersten<br />

Flugblätterverteilen.<br />

BeiderVersammlungliestder<br />

Kammerpräses dem Senat die<br />

Leviten. Die Kammer ist eine<br />

Körperschaft öffentlichen<br />

Rechts, in der alleFirmen Mitgliedseinmüssen.Siehatinder<br />

KaufmannsstadtHamburg großen<br />

Einfluss, giltmanchen gar<br />

alsheimlicheRegierung.<br />

DochderKursderKammerist<br />

längstnichtimSinne aller ihrer<br />

Mitglieder,daistsichdieInitiative<br />

„Die Kammer sind wir!“ sicher.DieKandidaturder15seizu<br />

verstehen „insbesondere als Reaktion<br />

aufdie rechtkonservativen<br />

Einmischungen der Kammer“,sagtGregorHackmackvom<br />

Internetportal Abgeordnetenwatch.<br />

Das<br />

Portal wird technisch<br />

betrieben von<br />

der Firma Parlamentwatch.<br />

Hackmack<br />

ist Geschäftsführer und<br />

kanndeshalbselbstkandidieren.<br />

Die Mitglieder der Wahlalternative<br />

störten teils der hohe<br />

Kammerbeitrag,teilsdiePolitik.<br />

Dazu gehöre die ablehnende<br />

Haltung, mitder sich die Kammer<br />

in die Diskussion über den<br />

Rückkaufder Energienetze einmischteundwiesieversuchthabe,<br />

die Verabschiedung des<br />

Transparenzgesetzes zu torpedieren.Nochimmererkennedie<br />

Kammer das Gesetz für sich<br />

nichtan, wasauch der DatenschutzbeauftragteJohannesCaspar<br />

rügte: Die Ausnahmen, auf<br />

die sich die Kammern beriefen,<br />

seien „häufig vollkommen fernliegend“–etwawennsiefürihre<br />

Beratungen den gleichen Schutz<br />

in Anspruch nehmen wollten<br />

wiederSenat.<br />

An der Plenarwahl 2011 beteiligtensich13ProzentderFirmen.<br />

„DaistnochLuftnachoben“, findet<br />

Hackmack. „Wir hoffen, dass<br />

die Kammer-Mitglieder nicht<br />

einfach ihre Wahlunterlagen in<br />

denPapierkorbwerfenwiesonst<br />

immer.“ KNÖ<br />

SILVESTER<br />

Beschränktes<br />

Böllern<br />

Gut115 Millionen Eurowurden<br />

2012 bundesweit für Böller ausgegeben.<br />

In diesem Jahr startet<br />

der Verkaufvon Feuerwerkskörpern<br />

für Silvester an diesem<br />

Samstag. Gezündet werden dürfen<br />

die gekauften Knaller ausschließlichanSilvesterundNeujahr.NichtsoinNiedersachsen,<br />

hierverhängenmittlerweileeine<br />

ganzeReihevonStädtenoffizielle<br />

Feuerwerksverbote. In Hameln,<br />

Bad Gandersheim, Hann.<br />

Münden oder Hildesheim etwa<br />

ist das Böllern in den historischen<br />

Innenstädten zumSchutz<br />

vorBränden gänzlich verboten.<br />

In Wolfenbüttel drohtdie Stadt<br />

mit Bußgeldern von bis zu<br />

50.000 Euro, sollte sich jemand<br />

nichtandas Innenstadt-<br />

Silvesterknaller-Verbot<br />

halten.<br />

DieKommunenberufen<br />

sich bei ihren Verboten<br />

auf eine Änderung<br />

des Bundessprengstoffgesetzesvon2009.Seitdemistdas<br />

AbbrennenvonSilvesterraketen,<br />

China-Böllern und Knaller-Batterien<br />

in der Nähe vonKirchen,<br />

Reetdach-undFachwerkhäusern<br />

sowie Krankenhäusern, Kinderund<br />

Altenheimen untersagt. Es<br />

gelten mindestens 200 Meter<br />

Abstand–vielerortsschließtsich<br />

dasBöllerndamitohnehinaus.<br />

Bereitsvor2009gingmanim<br />

Harz zumRaketen-Verbot über:<br />

Im niedersächsischen Osterode<br />

giltesausSorgeumdenhistorischenStadtkernschonseit1998.<br />

DortwareninderSilvesternacht<br />

1997/98 gleich mehrere Altbauten<br />

durch Feuerwerkskörper in<br />

Brandgeraten.DasFeuerdrohte<br />

in den engen Straßen Osterodes<br />

aufbenachbarteHäuserüberzugreifen,währenddieFeuerwehrleute<br />

bei ihren Löscharbeiten<br />

vonFeiernden mitBöllern beworfen<br />

wurden. Auch im benachbarten<br />

Goslar brannten in<br />

der Silvesternacht 2006/2007<br />

drei Fachwerkhäuser aus–ein<br />

Millionenschaden, ausgelöst<br />

durchSilvesterraketen. THA


nord |INTERVIEW<br />

SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE 43<br />

Setzt sich in der letzten Woche des Jahres hin und lässt das Jahr noch einmal vor sich ablaufen: Buchhalter Detlef Pätzold<br />

Foto: Miguel Ferraz<br />

WAHRHEITDiewenigstenliebenes,Bilanzzuziehen.Dochestutgut.Sagteiner,derschonvieleBilanzengezogenhat<br />

„DerZwangführtzuEntscheidungen“<br />

........................................................................................................................................................................................................<br />

INTERVIEW FRIEDERIKE GRÄFF<br />

und sagt: „Das kann nichtstimmen,<br />

da haben Sie sich verrech-<br />

Wennmansagt:Buchhaltersind<br />

HatdichdeinBerufgeprägt?<br />

........................................................................................................................................................................................................<br />

Detlef Pätzold<br />

DetlefPätzoldistingewisserWeise<br />

Teil der taz.nord, er hat sein inzwischen als selbstständiger Un-<br />

■ 60,istseit30JahrenBuchhalter,<br />

Büro im selben Haus wie die Redaktion.<br />

Man hört ihn oft im arbeitet und Bilanzensowohl für<br />

ternehmer.Erhat als Prokuristge-<br />

Nachbarzimmer lachen, er hat andereals auch fürdas eigene Unternehmen<br />

erstellt. Gemeinsam<br />

eine Heiterkeit und Redefreude,<br />

diedemKlischeedesBuchhalters mit seiner Frau führtereine Kita in<br />

nichtentspricht.VieleguteGründealso,ihnzumWesenderBilanz<br />

Hamburg.<br />

zubefragen.<br />

taz: Ist Bilanz zu ziehen etwas<br />

Wohltuendes,Detlef?<br />

DetlefPätzold:Wenneseineguteist,machtesrichtigSpaß.Aber<br />

esistimmereineschwierigeGeburt.<br />

Warum?<br />

Du willstzweiunterschiedliche<br />

Dinge unter einen Hutbringen.<br />

DerBankwillstduerzählen,dass<br />

du ganz viel Geld verdienst, jedenKreditzurückzahlenkannst,<br />

unddemFinanzamtwillstduerzählen,<br />

dass du am Hungertuch<br />

nagst. Und wenn es Mitgesellschafter<br />

gibt und du ihnen vielleichtetwas<br />

ausschütten musst,<br />

willstduihnen auch etwas vorjammern<br />

–aber nicht soviel,<br />

dass sie aufdie Idee kommen,<br />

denLadenzuverkaufen.<br />

Das wirft kein so schönes Licht<br />

aufdasWesendeinerKlienten.<br />

Das kann ja auch positivsein:<br />

Man will das Geschäft erhalten.<br />

Es gibt unterschiedlicheInteressen,dasliegtinderNaturderSache.<br />

Stößt du als Buchhalter aufdie<br />

Nachtseiten der menschlichen<br />

Natur?<br />

Nein. Eher auf die Kreativität,<br />

wenn die Leute sich Gedanken<br />

machen,wiesiedieseZieleerreichenkönnen.<br />

Zuletzt hatsich die HSH Nordbank<br />

Gedanken darüber gemacht.<br />

Die waren sehr kreativ, haben<br />

vieletolleGeschäftegemacht.<br />

Zurück zur Bilanz: Wasist das<br />

Schönedaran?<br />

Ichfindegutdaran,alleseinmal<br />

aufeinenPunktzubringen.Auch<br />

denZwangdazu.Erführtauchzu<br />

Entscheidungen.Geradewennes<br />

unangenehm ist, schiebt man<br />

dieDingegernvorsichher.EinigegebendieBilanzab,wenndie<br />

Dinge gutlaufen und wenn sie<br />

schlechtist,blendensieesaus.<br />

IstderZeitpunktderBilanzfür<br />

Unternehmer nichtvon außen<br />

vorgegeben?<br />

Man hatGestaltungsspielraum.<br />

Die kaufmännisch geprägten<br />

Menschenkennen,wennsiekein<br />

Weihnachtsgeschäft haben, im<br />

September das Jahresergebnis.<br />

Ichhabeeinmalineinemgroßen<br />

Konzerngearbeitet,derseineBilanzschonam29.12.fertighatte<br />

und sie am 2. oder 3. Januar veröffentlichte.<br />

Und die nicht kaufmännisch<br />

Geprägten?<br />

DiegebendenSchuhkartonzum<br />

Steuerberater,der ihn auch ungernanfasst,weilerUnheilahnt.<br />

WelcherArt?<br />

Da kommen böse Zahlen raus<br />

und der Mandantist ärgerlich<br />

net.“ Die menschliche Vorstellungistoftetwasanderesalsdas,<br />

wasdie Zahlen hergeben. Insbesondere,<br />

wenn mankein kaufmännisches<br />

Gefühl hat. Diese<br />

Unternehmer können trotzdem<br />

erfolgreichsein.Siehabeninder<br />

Regel einen Buchhalter,der den<br />

Chef zurückhält, wenn er zu<br />

überschäumendist.<br />

Das heißt, der Buchhalter hat<br />

echtenEinfluss?<br />

Er muss mitdenken und isthäufig<br />

auch eine Vertrauensperson:<br />

Er istoft der einzige, der alles<br />

weißundkennt.WasimPrivatlebenderArztist,istimKaufmännischenderBuchhalter.Wobeier<br />

dieBilanznichtselbsterstellt,er<br />

sammeltdieDatendafür.<br />

Arbeitest du lieber mit den<br />

Kaufmännischen oder den<br />

Schuhkartonlernzusammen?<br />

Lieber mitden Kaufleuten. Das<br />

anderekostetohneEndeNerven,<br />

Zeitund Geld. Ausder Unkenntnis<br />

heraus entsteht oft auch<br />

Misstrauen. Es istjaauch ganz<br />

natürlich: WirMenschen haben<br />

am Jahresende gefühlsmäßig<br />

eher die letzte ZeitimBlick und<br />

nichtdasganzeJahr.<br />

abenteuerlustig, ja. Ganz viele<br />

BuchhaltermachenabenteuerlicheSportarten:Fallschirmspringen,<br />

Rafting –das sind Buchhalter,diedaunterwegssind.<br />

DasBilddesBuchhaltersinder<br />

Öffentlichkeitistjaehereinanderes.<br />

Das Bild vomMann mitden Ärmelschonernhebenundpflegen<br />

wir auch. Das weckt Vertrauen<br />

beidenUnternehmern.<br />

Washat dich an dem Beruf gereizt?<br />

IchwarfrühereinMensch,derallesplanenwollte.UndZahlengeben<br />

die Möglichkeit darzustellen,<br />

wie etwas funktioniert–damitkann<br />

manlange im Voraus<br />

planen. Mitden Jahren hatdie<br />

ArbeitauchimmerneueAspekte<br />

bekommen.FrüherwarBuchhaltungZahlenpinseln.Heutegeht<br />

esdarum,Sachverhaltezuanalysierenundeinzuordnen.<br />

Der Glaube an die Planbarkeit<br />

hatdichinzwischenverlassen?<br />

Ich habe malKurse besucht, wie<br />

maneineFrauanspricht,dienie<br />

zu etwas geführthaben. Dann<br />

traf ich meine spätere Frau,sah<br />

sie und dachte: Die möchte ich<br />

heiraten. Seitdem lasse ich die<br />

Dingeeheraufmichzukommen.<br />

WievielWahrheitliegtinBilanzen<br />

–können sich darin überhauptTendenzenspiegeln?<br />

Die spiegeln sich und der Sachkundige,derdieHintergründein<br />

der Branche kennt, vergleicht<br />

mindestens drei Bilanzen. Es<br />

kommtauch daraufan, welche<br />

Bilanz manvor sich hat: Die internen<br />

sind viel weiter aufgefächertalsdieveröffentlichten.<br />

IstdieMehrheitderLeutebereit<br />

für die Wahrheiten, die Bilanzenbringen?<br />

Eigentlich sind wir nichtsogepolt,ihnen<br />

ins Auge zu sehen.<br />

AberjemehrKenntnissewirhaben,destoeherbegreifenwirdie<br />

BilanzauchalsInstrument.<br />

Weil die Dämonen dann zum<br />

Haustierwerden.<br />

Ja,wenn ich den Fakten ins Gesichtsehe.<br />

Ich kenne einen Unternehmer,der<br />

in den Bankrott<br />

ging,undeswartollzusehen:Er<br />

hatMillionenverloren,zweiMonate<br />

gejammertund sich dann<br />

eineSägegekauftundEuropalettengesägt.Undwieessoist:Heutehaterwiedereinnetteskleines<br />

Unternehmendamitaufgebaut.<br />

Dasistnatürlichdersehrglück-<br />

Die menschliche Vorstellung istoft etwasanderes<br />

als das, was die Zahlen hergeben. Insbesondere,<br />

wenn man kein kaufmännisches Gefühl hat. Diese<br />

Unternehmer können trotzdem erfolgreich sein<br />

licheFall:BankrottalsChance.<br />

Viele Menschen, die vor dem<br />

Bankrott stehen, sind alt und<br />

grau.DannkommtderBankrott,<br />

dusprichstsiespäterwiederund<br />

sie sind entspannt: Die Angstist<br />

weg.<br />

Mein Großvater hatEnde des<br />

Jahres immer eine private Bilanzgezogen:Erschriebsichjedes<br />

Jahr seine Pläne für das<br />

nächste aufund verglich dann<br />

am Jahresende, wasdabei herausgekommen<br />

war. Hältst du<br />

dasfürklug?<br />

Ja.Solange das kein Diktat, sondern<br />

eine Unterstützung ist. Es<br />

kannjaauchdabeihelfen,zusehen,<br />

wo man sich selbst beschummelt–sei<br />

es, dass man<br />

sich die Dinge zu schön oder zu<br />

schlechtredet.FrüherwardasBilanzieren<br />

zumJahresende eine<br />

Menge Arbeit, das istdurch die<br />

Hilfe der EDV kaum mehr so.<br />

Jetzt kommen meine Kunden<br />

zumJahresende eher runter.Telefonisch<br />

istniemand mehr zu<br />

erreichen,esistgestattet,einfach<br />

malzwischen den Zahlen nachzugucken:<br />

Was tue ich eigentlich?<br />

Wasist mitmeinem Personal–warum<br />

gabessolcheinen<br />

Wechsel?<br />

Ziehst du selbst am Jahresende<br />

Bilanz?<br />

Nein.<br />

Weder privat noch als Unternehmer?<br />

Als Unternehmer steht die BilanzfürmichschonimOktober.<br />

UndalsPrivatmensch?<br />

Da setze ich mich in der letzten<br />

Woche des Jahres hin und lasse<br />

dasJahrnocheinmalvormirablaufen.<br />

Alsodoch.<br />

Alsodoch.


46 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE<br />

KULTUR | nord<br />

DAS DING, DAS KOMMT<br />

Rache für<br />

den Weltkrieg<br />

Nichtnur die Hamburger<br />

Polizei warnte vorWeihnachten<br />

wieder vorgefährlichen<br />

illegalen Feuerwerkskörpern.<br />

Schon 160.000<br />

Exemplareseienbeschlagnahmt<br />

worden. Der Begriff „Polenböller“seilautPolizeiinAnbetracht<br />

der Sprengstoffmenge allerdings<br />

„gefährlich verniedlichend“,<br />

denn bei der Explosion<br />

besteheLebensgefahr.Damithat<br />

die Polizei das P-Wortauf eine<br />

Weise, die sie für eleganthalten<br />

mag,gesagtundirgendwieauch<br />

nichtgesagt.<br />

Wiekommteseigentlich zu<br />

dieserBezeichnung?Vermutlich<br />

kamen Knallkörper,die hierzulande<br />

nichtzugelassen sind, im<br />

größeren Stil erstmals 1989 von<br />

Polenaus im kleinen GrenzverkehrnachDeutschland.Aberden<br />

Siegeszug des abwertenden Begriffserklärtdasnochnicht.Der<br />

„China-Böller“hatkeinennegativenUnterton,<br />

obwohleraus einemLandkommt,daslandläufig<br />

nichtgerademitSpitzenqualität<br />

assoziiertwird. Aber immerhin<br />

einem,dasdenEuropäerninSachen<br />

Pyrotechnik traditionell<br />

einStückvorauswar.<br />

■ Der Polenböller verbreitet dieser<br />

Tage wieder Angstund Schrecken,<br />

vorallem im Boulevard.Darin<br />

spiegeln sich vorallem<br />

Ressentiments gegen den Nachbarn<br />

Dass die Boulevardgazetten<br />

dagegenalljährlichganzeSeiten<br />

mitHorrorgeschichten unter einem<br />

dicken Balken „POLENBÖL-<br />

LER“ füllen, hatauch miteinem<br />

tief sitzenden Ressentimentzu<br />

tun.DerPolenböllerstehtgewissermaßen<br />

pars prototofür den<br />

deutschenBlickaufdasNachbarland<br />

und seine Produkte: Polnisch,<br />

das istimVolksmund immer<br />

noch gleichbedeutend mit<br />

billig, vonminderer Qualität, irgendwie<br />

geschummelt oder<br />

(schlecht)nachgemacht.Deralte,<br />

abwertende Topos vonder „polnischen<br />

Wirtschaft“ schwingt<br />

mit.<br />

Fast könnte manglauben, die<br />

Polenwürdensichfürdenverlorenen<br />

zweiten Weltkrieg rächen<br />

wollen, indem sie unseren deutschenJungs(Mädchensindesin<br />

allerRegelnicht)dieFingerwegsprengen.Dabeigilt:Wersichdie<br />

Finger wegsprengen will, kann<br />

dasmitFeuerwerkverschiedenster<br />

Herkunft schaffen. Er muss<br />

nur einen möglichst großen<br />

Böller so lange in der Hand behalten,biserexplodiert.<br />

AuchinPolenwerdenFeuer-<br />

werkskörperübrigensnachEU-<br />

Richtlinien behördlich getestet<br />

und zugelassen. Anders als in<br />

Deutschland darf darin auch<br />

biszueinGrammBlitzknallsalz<br />

enthalten sein, das schneller<br />

undaucheinwenigheftigerexplodiertalsSchwarzpulver.<br />

Wirklichgefährlichsindillegalproduzierte<br />

Böller,die wesentlich<br />

größere Mengen Blitzknallsalz<br />

enthalten. Sie werden<br />

inverschiedenenLändernhergestellt:Polen,Tschechien,China–<br />

und Deutschland. Deutsche Polenböller,sozusagen.<br />

JANK<br />

VON ALEXANDER KOHLMANN<br />

Werdabeian„SouthPark“denke,<br />

liegenichtganzfalsch,sagtMalte<br />

C. Lachmann: Mit der Comic-<br />

Trash-Revue„SüdPark“,die jetzt<br />

am Schauspiel Hannover Premierehat,wolleersichauseinandersetzen<br />

mit der in Deutschland<br />

vorherrschenden Political<br />

Correctness. Die bitterböse Zeichentrickserie<br />

ausden USAsei<br />

Inspiration,aberdieUmsetzung<br />

orientieresichandeutschenVerhältnissen:„Hiersind“,sagtLachmann,„andereThemenrelevant<br />

alsinAmerika.“<br />

„South Park“ läuft seit 1997<br />

ununterbrochen im US-Fernsehen.<br />

Die Hauptfiguren sind vier<br />

acht- bis neunjährige Jungen,<br />

Schüler in einer typischen USamerikanischen<br />

Kleinstadt namens<br />

South Park. Durch die Augen<br />

der Kinder erlebt der ZuschauereinezugespitzteAuseinandersetzung<br />

mit amerikanischen<br />

Realitäten, miteiner nur<br />

scheinbar gerechten Welt gnadenloserErwachsener.<br />

Subversive Botschaften<br />

Ob beim ThemaHomosexualität,<br />

Rassismus oder Frauenrechte:<br />

Die Macher von„South Park“,<br />

TreyParkerundMattStone,provozieren<br />

gerne. Immer wieder<br />

unterläuftdieSeriedieverbalen<br />

KompromisseeinerSprache,die<br />

Missstände eher manifestiert,<br />

stattsiezuverändern.Wegenihres<br />

derben Humors –aber mehr<br />

noch wegen ihrer subversiven<br />

Botschaften –ist die Serie für<br />

Kindernichtgeeignet.<br />

Aber auch Erwachsenen hilft<br />

kritische Distanz dabei, die betont<br />

politisch unkorrekte Oberfläche<br />

nicht fälschlicherweise<br />

ernstzunehmen. Insofern kann<br />

derHumorvon„SouthPark“mit<br />

dem vonHarald Schmidtinseinen<br />

schwärzesten Zeiten verglichen<br />

werden: Als er mitseinen<br />

Witzen über Polen oder türkischen<br />

Putzfrauen die unterschwellige<br />

Fremdenfeindlichkeit<br />

der Deutschen nichtzubedienen,sondernerstoffenzulegensuchte.<br />

InDeutschlandfehlegenauso<br />

eine Serie, die den Auswüchsen<br />

einer wirkungslosen, nur<br />

sprachlichen Political Correctness<br />

den Spiegel vorhalte,<br />

sagt Lachmann. So habe ihn<br />

etwadiejüngsteDebatteum<br />

das sogenannte „Blackfacing“besondersinspiriert:In<br />

dergingesletztlichumdieFrage,<br />

ob hellhäutige Schauspielersich<br />

aufder Bühne schwarz<br />

schminkendürfen–freilicheine<br />

Der schwarz<br />

geschminkte<br />

Führer<br />

THEATER-REVUEStän,Keil,Kartmänund<br />

Kenniim„SüdPark“:AmJungen<br />

SchauspielHannoverbringtRegisseur<br />

MalteC.Lachmanneineganzeigene<br />

VersionderZeichentrickserie„South<br />

Park“aufdieBühne<br />

Methode miteiner rassistischen<br />

Tradition. Unter anderem sah<br />

sich, am Deutschen Theater in<br />

Berlin, IntendantUlrich Khuon<br />

gezwungen, in einer Inszenierung<br />

eigentlich schwarze Boat<br />

Peoplemit weißer Farbe umzuschminken<br />

–als ob damit irgendeinemrealenFlüchtlinggeholfenwäre.<br />

„Alleserlaubt“<br />

„Das Theater ist ein Raum, in<br />

demalleserlaubtist“,findetnun<br />

Lachmann. Am Streit umdas<br />

Blackfacingnennter„besorgniserregend“,<br />

dass „plötzlich bestimmte<br />

Dinge verboten sind“–<br />

genau dann werdeesaber gefährlich.<br />

Malte C. Lachmann, geboren<br />

1989 im hessischen Marburg,<br />

studierte Regie für Sprechtheater<br />

und Oper in München. Mit<br />

seiner Inszenierung von<br />

„SchwarzeJungfrauen“vonFeridunZaimogluund<br />

Günter Senkelgewann<br />

er 2012 das KörberstudioJunge<br />

Regie. Inzwischen<br />

arbeitet er am Thalia Theater in<br />

Hamburg, dem Schauspielhaus<br />

Bochum, dem Staatsschauspiel<br />

Dresden,inGießenundinOsnabrück.<br />

Ob seine South-Park-, nein,<br />

„Süd Park“-Figuren nuninHannoveraufderBühnemitschwarzerSchminkehantierenwerden,<br />

lässtLachmannoffen.DasPlakat<br />

immerhin zeigt einen schwarz<br />

geschminkten Hitler –was aber<br />

„die Presseabteilung verbrochen“habe,<br />

wie Lachmann unterstreicht.<br />

Er wolleseinen Revue-Abend<br />

nichtals bewusste Provokation<br />

verstanden wissen –sowie ja<br />

auch das Vorbild nicht ausschließlich<br />

auf Provokationen<br />

setze. „Wir decken bestimmte<br />

Dinge aufund zeigen, wie bestimmte<br />

Debatten verlaufen“,<br />

sagt Lachmann. Er weiß aber<br />

auch:GeradedieseAuseinandersetzungmitderRealitätkannextremprovozierendwirken.<br />

Stilistisch komme man den<br />

amerikanischen Vorbild aufder<br />

Bühne „so na-<br />

Hitler geht immer: Das Plakat habe<br />

„die Presseabteilung verbrochen“,<br />

sagt Regisseur Lachmann<br />

Foto: Staatstheater Hannover/Katrin Ribbe<br />

he,wiefürdieästhetischeAusei-<br />

nandersetzungmitdemStoffauf<br />

derBühneinteressantist“. DieFiguren,<br />

wenn auch nichtdieselben<br />

wie in der Vorlage, seien<br />

trotzdem wiedererkennbar.<br />

„StanMarsh,KyleBroflovski,Eric<br />

CartmanundKennyMcCormick<br />

gibtesbeiunsnicht,sondernnur<br />

Stän,Keil,KartmänundKenni.“<br />

ZweidimensionaleFiguren<br />

BegleitetwirdderAbendvoneinem<br />

Live-Pianisten, der eigens<br />

für„SüdPark“Musicalnummern<br />

und Szenenmusiken geschaffen<br />

hat.AuchdieStapelmethodeder<br />

ComicfilmederVor-Computerära<br />

wirdimBühnenbild deutlich<br />

wiederzuerkennen sein: Die<br />

Schauspieler –TinaHaas, HenningHartmann,DominikMaringer<br />

und Peter Sikorski –haben<br />

spezielleBewegungsabläufe erarbeitet,<br />

um den zweidimensionalen„SouthPark“-Figurennahe<br />

zukommen.DieAnnäherungan<br />

die Comic-Ästhetik sei aber nur<br />

ein Mittel zumZweck, sagt der<br />

Regisseur: „Uns gehtesumdie<br />

Auseinandersetzung mit Inhalten.“<br />

■ Premiere: Montag, 30. Dezember,<br />

19.30 Uhr, Hannover, Ballhof<br />

Zwei. Nächste Vorstellungen: 10.,<br />

16. und 29. Januar<br />

www.staatstheater-hannover.de<br />

Vorbild Zeichentrick:<br />

Die Schauspieler erarbeiteten<br />

sich spezielle Bewegungsabläufe,<br />

um dem<br />

Zweidimensionalen nahe<br />

zu kommen<br />

Foto: Karl-Bernd Karwasz/Staatstheater<br />

Hannover<br />

Polnisch,dasistim<br />

Volksmundimmer<br />

nochgleichbedeutend<br />

mitmindererQualität


nord |KULTUR<br />

SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE 47<br />

Janis E. Müller: Fahrrad für Konzert mit Fahrrad und Gitarren, 2013<br />

Foto: Frederick Hüttemann<br />

Der Nachbar vonJohn Cage<br />

KUNSTDerKarin-Hollweg-PreisträgerJanisE.MüllerpräsentiertinderKunsthalleseine<br />

ersteinstitutionelleEinzelausstellung„IntoPieces“–mitprominenterNachbarschaft<br />

VON RADEK KROLCZYK<br />

Auf dem Boden hat jemand<br />

sternförmig12Holzlattenausgebreitet.Eserinnertentferntaneine<br />

Uhr. Ein junger Mann mit<br />

Käppi drehtüber den Latten auf<br />

einem Klapprad seine Runden.<br />

Es ist ein seltsamer Hindernisparcours,<br />

beschränkt und<br />

doch nie enden wollend. Der<br />

Radfahrer fährt immerzu im<br />

Kreis. Unter seinen Reifen poltern<br />

die Latten. Ein in der Mitte<br />

des Sterns platziertes Schlagzeugbecken<br />

hüpft scheppernd<br />

aufundab.„Fahrradkonzertmit<br />

Latten und Becken“ist der Titel<br />

der Videoarbeitvon Janis Elias<br />

Müller.<br />

DasVideoistTeilderersteninstitutionellen<br />

Einzelausstellung<br />

desjungenBremerKünstlers.Sie<br />

istaktuell in der KunsthalleBremen<br />

zu sehen. Der Titel der<br />

Schau klingt einigermaßen destruktiv:„IntoPieces“.MülleruntersuchtinseinenmeistinstallativenArbeiten<br />

die Welt nach ihren<br />

Klängen. „Die meisten Menschen<br />

möchten in ihrem Leben<br />

nochvielsehen.Ichmöchtenoch<br />

möglichstvielhören“, soMüller.<br />

IhrenSoundentlocktmanden<br />

Dingen, indem man sie reibt,<br />

schlägt oder drückt. Die ErzeugungvonKlangisteinStückweit<br />

immer destruktiv. Bei Müller<br />

entstehenaufdieseWeisebewegliche<br />

Skulpturen und klingende<br />

Objekte. Musikinstrumente verwendeterentgegenallenRegeln.<br />

Oft benutzt er zurKlangerzeugungmusikfremdeGegenstände<br />

ausder Welt des Alltags und des<br />

Überflusses, ausdem Baumarkt<br />

und vom Sperrmüll. Wie sich<br />

rhythmisch angeordnete Holzlatten<br />

klanglich unter Fahrradreifenverhalten,wirdinseinem<br />

Videoerfahrbar.<br />

Die Ausstellung ist Teil des<br />

jährlich in Bremen vergebenen<br />

Karin-Hollweg-Preises. Eine von<br />

der Hochschulefür Künste zusammengestellte<br />

Jury wähltaus<br />

den Meisterschülern eines Jahrgangs,diegemeinsaminderBremerWeserburgeineAusstellung<br />

DerRadfahrerfährt<br />

immerzuimKreis.<br />

UnterseinenReifen<br />

polterndieLatten.Ein<br />

inderMittedesSterns<br />

platziertes<br />

Schlagzeugbecken<br />

hüpftschepperndauf<br />

undab<br />

bestreiten, den Gewinner aus.<br />

DerPreisgehörtmit15.000Euro<br />

zu den am höchsten dotierten<br />

Förderpreisen in Deutschland.<br />

Entsprechend begehrtist er unter<br />

den Bewerbern. Die Summe<br />

schützt die Kunsthochschulabsolventen<br />

zumindesteine Weile<br />

vordem Zwang der Erwerbsarbeit<br />

und ermöglicht esihnen,<br />

sichaufihrekünstlerischeArbeit<br />

zu konzentrieren. Neben dem<br />

Preisgeld erhält der Gewinner<br />

die Möglichkeit, an einem renommierten<br />

Ort auszustellen.<br />

Müller hatte sich eine Ausstellung<br />

in der Kunsthalle gewünscht.<br />

„Dort würden neben<br />

dem einschlägig kunstinteressierten<br />

Publikum auch Sonntagsausflügler<br />

meine Arbeiten<br />

sehen“, hatteerletztenSommer,<br />

nachdem er den Preis verliehen<br />

bekam,dertazerzählt.<br />

Gewonnen hatte er damals<br />

miteiner mobilen Klangskulptur.<br />

„Weniger“ warder Titel der<br />

Arbeit, die er 2012 in Bremen in<br />

derWeserburgzeigte.Destruktiv<br />

wardies allerdings nicht. VielmehrwurdehiereinRettungsgedanken<br />

beschworen. Wiefür einen<br />

unbekannten Ritushatte er<br />

allerleiGegenständeaufdemBoden<br />

kreisförmig angeordnet: einen<br />

Pinsel, Holzleisten, eine<br />

Fahrradlampe, eine leere Mineralwasserflasche<br />

ausKunststoff,<br />

alteFotografienundvielesmehr.<br />

Diese Gegenstände waren Fundstücke.<br />

Müller hatte sie gesammeltund<br />

aufbewahrt. Indem er<br />

sie für seine Installation ausgewählthatte,<br />

richtete er die Aufmerksamkeitauf<br />

sie. Indem er<br />

sie in die symbolbeladene Form<br />

desKreisesbrachte,ludersiemit<br />

Bedeutungauf.EinZeigerkreiste<br />

überihnenundzogeinenKohlestab<br />

über sie hinweg. Er streifte<br />

sie und erzeugte so einen sanften<br />

leisen Klang. Gleichzeitig<br />

zeichnete er sie, so wie die in<br />

Asche getauchten Finger des<br />

Priesters die Stirn der Besucher<br />

derAschermittwochsmesse.<br />

Müllers Werk ist reich an<br />

kunsthistorischenBezügen.Man<br />

denktandieheutesogenannten<br />

Spurensicherer der 70er-Jahre.<br />

Künstler wie NikolausLang und<br />

Christian Boltanski sammelten<br />

persönliche Gegenstände Verstorbener<br />

oder ihre Fotografien,<br />

bewahrten sie vordem VergessenundpräsentiertensiewieReliquienoderIkonen.<br />

MitJohnCagehat Müller einen<br />

der prominentesten Soundkünstler<br />

zumNachbarn. Direkt<br />

neben Müllers KlanginstallationenbefindetsichCagesraumfüllende<br />

Arbeit „Writing through<br />

theEssayOntheDutyofCivilDisobedience“,<br />

entstanden in den<br />

Jahren 1985–91. 36 Lautsprecher<br />

und 24 Lampen hängen vonder<br />

Decke der lichtdurchfluteten<br />

oberenEtagederKunsthalle.Auf<br />

dem Boden stehen sechs unter-<br />

schiedlicheStühle.Esistwieeine<br />

ArtKlanggarten:AusjedemLautsprecher<br />

ertönt ein anderer<br />

Sound. Man hört Alltagsgeräusche<br />

und Stimmengemurmel.<br />

EinmächtigerNachbar.Aberein<br />

passender.Denn voneiner solchen<br />

Polyphonie ist auch der<br />

RaumvonJanisE.Müllererfüllt.<br />

So etwadie Hauptarbeitder<br />

Ausstellung„HimmelundHölle“.<br />

An einer quer durch den Raum<br />

gespanntenLeinehängen15Teelöffel<br />

in einer Reihe. Die Löffel<br />

scheinen eine Art Yoga-Figur<br />

nachzumachen. Sie legen sich<br />

hin, schleifen der Länge nach<br />

über den Boden, beugen sich<br />

hoch, erheben sich und steigen<br />

in die Luft. „Sie legen sich zum<br />

Sterben hin und stehen wieder<br />

auf“,sagtMüller.JedesMal,wenn<br />

siemitihrenStielendendenBodenberühren,gebensieklirrende<br />

Geräusche von sich, dann<br />

schleifensieinihrerganzenLängedarüber.DieLeine,anderdie<br />

Löffel befestigt sind, wird von<br />

Holzlatten, die wiederum an<br />

Rundmotorenmontiertsind,gesenkt<br />

und gehoben. Man denkt<br />

bei Aufbauten wie diese an ein<br />

Landschaftsbild, eine BerglandschaftmitStrommastenodereinenSkilift.<br />

Besonders der Einfluss der<br />

Fluxus-Bewegung, mitder Cage<br />

zeitweise lose assoziiertwar,ist<br />

hier deutlich sichtbar.Zum Beispiel<br />

„Fahrrad für Konzertmit<br />

Fahrrad und Gitarren“. Müller<br />

hatanein altes Kinderfahrrad<br />

ein Rudel kaputter Gitarren angebunden.<br />

Tatsächlich erinnert<br />

es an Joseph Beuys Rudel, „The<br />

Pack“.Beuys hatte den VW-Bus<br />

seinesGaleristenRenéBlockmit<br />

mehreren Holzschlitten gefüllt,<br />

die hinten herausströmten. An<br />

jeden Schlitten waren eine Filzdecke,FettundeineTaschenlampegeschnallt.Blockhattemitseinem<br />

Bulli in den 60er-Jahren<br />

Kunstwerke heute berühmter<br />

Künstler wie Sigmar Polkeoder<br />

GerhardRichter in die vonden<br />

Deutschen zerstörteStadtLidice<br />

in der Tschechoslowakei gebracht.<br />

Oder „Duo forVioline“. Hier<br />

hatMüller eine Geige aufdem<br />

Boden platziert. Zwei MetallraspelnspielensieimDuett.ImLaufe<br />

der Ausstellung werden sie<br />

sich zunächstdurch die Saiten,<br />

dann durch den hölzernen Korpusfressen.DanachwirdderMotorabgestellt.NamJunePaikhatte<br />

einst während einer Performance<br />

aufder Straße an einer<br />

Schnur eine Geige hinter sich<br />

hergezogen. Paiks Geigenreste<br />

befinden sich in der Sammlung<br />

der Kunsthalle. Ob die Bremer<br />

KunsthallewohlMüllers durchgesägte<br />

Violine für ihre Sammlungankaufenwird?Eswäreimmerhinkonsequent.<br />

■ bis 2. März 2014,<br />

Kunsthalle Bremen<br />

................................................................<br />

POPCORN, COLA, REVOLUTION<br />

Schnellins<br />

Konzert!<br />

KaumhatmandieeinenFei-<br />

ertageüberstanden,kommt<br />

dernächste.Auchhier:hohe<br />

Erwartungen,nuranders.<br />

ZumindestinSachenPophält<br />

sich Silvester eher bedeckt. Und<br />

was vorher und nachher geschieht,<br />

istmehr oder minder<br />

das Erwartbare. Am heutigen<br />

SamstagabendzumBeispielgastieren<br />

die Busters zu ihrem alljährlichenBremen-Gastspielim<br />

Schlachthof.Der Stadtsind sie<br />

KONZERTE IN BREMEN<br />

.......................................................<br />

ANDREAS<br />

SCHNELL<br />

.......................................................<br />

nichtnurwegendergutenalten<br />

Weser-Label-Zeiten verbunden,<br />

sondern mittlerweilenatürlich<br />

erstrechtauch ihrer zuverlässigenErscheinungsweisewegen–<br />

undselbstredendauch,weildie<br />

GemeindeinBremendengutgelauntenSkaderbaden-württembergischenBandschätzt.<br />

Im Bluesclub Meisenfrei gibt<br />

es am Samstagabend ebenfalls<br />

bekanntenStoff,nämlichSongs<br />

von Johnny Cash, dargeboten<br />

von dem Neuseeländer Peter<br />

Caulton und seiner Band. Optisch<br />

erinnertereher nichtan<br />

den „Man in Black“,stimmlich<br />

triffteresaberziemlichgut.Beginn:21Uhr.<br />

Inetwagleichzeitigspielenin<br />

der Friese Todeskommando<br />

Atomsturm,die ganz unbefangen<br />

unprätentiösen Hardcore-<br />

Punk spielen und aufgeweckte<br />

Menschenzuseinscheinen,eingedenk<br />

von Zeilen wie „Mein<br />

Problem mit dem System<br />

schlichtet nicht mal Heiner<br />

Geißler“ oder Songtitel wie<br />

„Popcorn,Cola,Revolution“.<br />

Am gleichen Abend in der<br />

Stadthalle Bremerhaven: unser<br />

aller Nena,die sich auf„Du bist<br />

gut“-Tourbefindet.<br />

Am Sonntaggibt’smit Lotto<br />

King Karl &den Barmbek<br />

Dream Boys ab 20 Uhr im<br />

SchlachthofundSubwayToSallymitGefolgeab20UhrimPier2<br />

sattsam bekannte Weihnachtsdauergäste,<br />

während die Berliner<br />

Verquerspiel-Metalcore-<br />

Band War From AHarlots<br />

MouthaufihrerAbschiedstourneeamgleichenAbendimTower<br />

vorbeischaut. Mitdabei:ATraitorLikeJudasundTheBleeding.<br />

Am MontagfeiertdieMIBab<br />

20UhrimMomentsihreSession<br />

Gala zum Jahresausklang,danachheißtesvorerstdarben.<br />

WOHIN IN BREMEN UND UMZU?<br />

■ Samstag, 23 Uhr, Tower<br />

Kele Okereke<br />

■ Dienstag auf den Bühnen dieser Stadt<br />

SilvesterimTheater<br />

■ Dienstag in Konzertsälen und Kirchen<br />

Silvestermit Musik<br />

■ Sonntag, 18 Uhr, Havarie<br />

ElifsMänner<br />

Wirdlangsam zurInstitution und ist<br />

vielleichteine Strategie,einbrechenden<br />

Plattenverkäufen entgegenzuwirken:<br />

Platten auflegen. Immer<br />

wieder stellten sich in den letztenJahren<br />

Musiker,die eher dafür<br />

bekanntsind, mit ihrer Band auf der<br />

Bühne zu stehen, an die Turntables<br />

und spielten ihreLieblingsplatten,<br />

auf Festivals als kleines Schmankerl<br />

oder in Clubs als Highlighteiner langen<br />

Nacht. Im Towerlegt nun mit<br />

Kele Okerekeein Musiker auf,dessenSet<br />

mit Spannung erwartet werden<br />

darf, isterdoch hauptberuflich<br />

Sänger der Indie-Avantgarde-Institution<br />

TV On The Radio,deren Musik<br />

sich kundig zwischen Afro-Punk,<br />

Jazz, Soul und Rock bewegt.<br />

Die großen Menschheitsfragen<br />

kommen zu SilvesteramTheater ein<br />

bisschen kurz, nach der Vorstellung<br />

will man ja eher feiern als diskutieren.<br />

Ein bisschen mehr als<br />

„nur“Unterhaltung geht<br />

aber schon. „La Traviata“<br />

zumBeispiel, zu sehen im<br />

Theater am Goetheplatz<br />

(15 Uhr), zeichnetdas Porträt<br />

einer Frau, die sich<br />

nach Liebe verzehrt, aber<br />

unfähig ist, sie zu leben. Patricia<br />

Andress(FOTO:JÖRGLANDSBERG)<br />

gestaltet die Violetta mit erschütternder<br />

Intensität. Angesichts der<br />

durchaus im Stück angelegten Drastik<br />

präsentiertsich der „Pericles“<br />

der Bremer ShakespeareCompany<br />

(16 und 21.30Uhr,Theater am Leibnizplatz)<br />

als poetische Annäherung<br />

an das umstrittene Stück. Deutlich<br />

komödiantischer: „Das Glück<br />

istjaschließlich keine<br />

Dauerwurst“ von<br />

Mensch, Puppe!,<br />

das um 20 Uhr in<br />

der Schildstraßezu<br />

sehen ist. Kabarettistisch<br />

sezieren<br />

zwei Menschen und<br />

achtPuppen die Idee,<br />

Glück ohne seine Voraussetzungen<br />

zu denken. Saisonal auf<br />

seine Weiseangemessensind die<br />

„Dänischen Delikatessen“,die im<br />

Bremer Kriminaltheater zu sehen<br />

sind (17 und 21 Uhr).<br />

Es überwiegen ganzdeutlich klassische<br />

Töne,wobei der Klassikbegriff<br />

hier,wie ja auch gewohntals erweiterter<br />

zu verstehen ist. Nichtzuletzt<br />

Johann Sebastian Bach stehtnämlich<br />

auch zumJahreswechsel hoch<br />

im Kurs.„Mit Bach ins neue Jahr“<br />

geht’sbeim Lesumer Silvesterkonzert<br />

mit der Bremer Ratsmusik und<br />

Solistenab19Uhr in St. Martini in<br />

Lesum. Schon um 17 Uhr spielt in<br />

der Glockedie Klassische Philharmonie<br />

Nord-West Werkevon Haydn,<br />

Mozart,Bruch und anderen im Kleinen<br />

Saal (auch um 20 Uhr), um 18<br />

Uhr istdie Großpolnische Philharmonie<br />

nebenan im großen Saal zu<br />

hören, mit Musik vonMendelssohn-<br />

Bartholdy,Moszkowski und Schu-<br />

mann. Ein Zusammentreffenvon<br />

Schlagzeug und Orgel findetebenfalls<br />

ab 18 Uhr in der Martin-Luther-<br />

Gemeinde in Blumenthal statt,Ausführende<br />

sind Jörn Schipper und Andreas<br />

Kettmann. Im Dom gibtesab<br />

20 Uhr ein Silvesterkonzert mit dem<br />

Domchor und Solisten–und vielleichtjaauch<br />

ein bisschen Bach. Ab<br />

20.30Uhr singt der Bremer Raths-<br />

Chor in der St.-Ursula-Kirche in der<br />

Schwachhauser Heerstraßeunter<br />

der Leitung vonJan Hübner „Lobgesänge<br />

zumneuen Jahr“. Und ab 21<br />

Uhr befindetsich in der St.-Remberti-Kirche<br />

das Ensemble Silves-Musik<br />

im Dialog: Jazz, World, Klassik und<br />

Eigenkompositionen stehen auf<br />

dem Programm.<br />

Wir nanntensie Gastarbeiter.Was ja<br />

an und fürsich schon ein komisches<br />

Wort ist, aber immerhin doch noch<br />

eines der freundlicheren vonden<br />

Worten, die die Deutschen fürMenschen<br />

haben, die nichtvon hier sind.<br />

Inzwischen leben wir mit den Kindern<br />

und Enkeln jener Gastarbeiter<br />

und Gastarbeiterinnen zusammen.<br />

Der Regisseur Markus Fiedler hat<br />

mit „ElifsMänner“einen spannenden<br />

Mehrgenerationenfilm über<br />

eine Familie gedreht, der die Konfliktlinien<br />

innerhalb der Familie und<br />

außerhalb ihrer nachzeichnet. Zu sehen<br />

isterinder „Havarie“,auch bekanntals<br />

alter Saal der Schwankhalle.Der<br />

Eintritt istfrei, der Regisseur<br />

anwesend.


nord |KULTUR<br />

SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE 47<br />

Die Musiker der Klassikphilharmonie Hamburg lassen sich auf der Bühne im Großen Saal der Laeiszhalle<br />

bejubeln: Das Publikum feiert auch sich selbst Fotos: Hinrich Schultze<br />

................................................................<br />

GEWALT &MUSIK<br />

Umgehend<br />

analysiert<br />

Nach all der Gewalt im UmfeldderDemonstrationam<br />

letzten AdventswochenendebefindetsichHamburgweiter<br />

inderPhasekonzentrierterAufarbeitung.<br />

Einen, nunja, ungewöhnlich<br />

weit vorpreschenden<br />

VorschlagzumUmgangmitGewalttätern<br />

hatetwaflugs Karl-<br />

Heinz Warnholz unterbreitet:<br />

Der CDU-Mann möchte den Zugang<br />

zu Abiturund Hochschule<br />

erschweren.Aberauchdieklassischen<br />

„Analysen“ sind umgehendeingetroffen:KaiVoetVan<br />

Vormizeele (CDU): „Psychopathen“;<br />

Björn Werminghaus<br />

(Deutsche Polizeigewerkschaft):<br />

„Abschaum“.<br />

Auch das eine oder andere<br />

Konzert der kommenden WochenlässtsichdurchausalsBeitragzurDebattelesen:Dieklassische<br />

Analyse aus der anderen<br />

PerspektivegibtesdiesenSamstagetwavon<br />

Dritte Wahl in der<br />

Markthallezuhören:EinePunkband,diesichbereitszuDDR-Zeiten<br />

gegründet und vor allem<br />

durch polizeifeindliche Texte<br />

aufsich aufmerksam gemacht<br />

hat: „GSG9 und Terroristenjäger/Todesschützen<br />

und brutale<br />

Schläger“.<br />

HAMBURGER SOUNDTRACK<br />

.......................................................<br />

NILS<br />

SCHUHMACHER<br />

.......................................................<br />

Die leichte MuseanSilvester<br />

ORCHESTERDasalljährlicheSilvesterkonzertderKlassikphilharmonieHamburgistmitHitsausdemKlassik-<br />

Repertoire,buntenLuftballonsundetwasaufgelockertenRitualenauchwasfürEinsteigerinsGenre<br />

VON ILKA KREUTZTRÄGER<br />

Aufden Balustraden der vorderen<br />

Logen liegen Bastelscheren<br />

bereit. Kurz vorEnde des Silvesterkonzerts<br />

huschen Frauen mit<br />

LuftballonsanSchnürengeduckt<br />

die Gänge entlang, greifen nach<br />

den Scheren, durchschneiden<br />

die Schnüre und lassen die Ballons<br />

frei. Die sinken gemächlich<br />

ins Parkett hinab und das PublikumreißtdieArmeindieHöhe.<br />

SiestupsendieBallonsan,halten<br />

siesoinderLuftundeinigefliegen<br />

aufdie Bühne zu den GeigernundBratschisten.DasPublikumimwunderschönenGroßen<br />

Saal der Laeiszhalle feiert sich<br />

selbst und die Klassikphilharmoniker.<br />

WAS TUN IN HAMBURG?<br />

■ Di, 31.12., 23 Uhr, Hafenklang<br />

Traurige Party<br />

Bislang hat Silvesterhier die schöne Regelmäßigkeit<br />

geherrscht: Seit einer gefühlten<br />

Ewigkeit haben die traditionsbewussten Motorbooty!-DJs<br />

im Molotow das Jahr ausgeläutet.<br />

Eigentlich sollteamDienstag noch ein allerletztes<br />

Mal „in unserem gemütlichen Keller“amSpielbudenplatz<br />

gefeiertwerden.<br />

Weil aber vorzweiWochen die Wände der<br />

Esso-Häuser darüber wackelten und auch das<br />

Molotow geräumtwerden musste, wirddaraus<br />

leider nichts.Zumindestein Obdach hat<br />

„Dein besterSilvester“ noch kurzfristig gefunden:<br />

Am Dienstag steigt die traurigste Silvesterparty<br />

der Stadt im Hafenklang.<br />

Seit 1986 spielt die Klassikphilharmonie<br />

Hamburg am Silvesterabend<br />

in der Laeiszhalle<br />

als Kammersinfonieorchester<br />

mit55Musikernauf.DiesesJahr<br />

stehen etwadas Walzerlied von<br />

„Romeo und Julia“, die Arie der<br />

Butterflyaus Puccinis „Madame<br />

Butterly“ und Rossinis Ouvertüre<br />

zu „Semirade“auf dem Programm.<br />

Als Zugabe gibt es bei<br />

diesen Silvesterkonzerten gern<br />

etwaden Radetzky-Marsch, also<br />

wasbekanntSchwungvolleszum<br />

Mitklatschen und Schunkeln.<br />

Selbst Klassik-Neulinge erkennen<br />

die Stückeinden Zugaben<br />

bereitsandenerstenTakten.Das<br />

Publikum goutiertdie Hits und<br />

begrüßtjubelnd die ersten Töne<br />

von dem Präludium aus „Car-<br />

Foto: dpa<br />

men“. SoalsspieltedieLieblingsbandendlichnacheinemlangen<br />

Konzertabend nurmit Stücken<br />

vonderneuenPlatteendlichdas<br />

eine Lied, das sie vor30Jahren<br />

malbekanntmachte.<br />

Das Orchester selbst nennt<br />

dieseSilvesterabendeseine„ÖffnunghinzurleichtenMuse“und<br />

demPublikumgefällt’s.Esgefällt<br />

ihnenauch,weildieRegelnnicht<br />

ganzsostrengsind,wiebeiklassischen<br />

Konzerten sonstüblich.<br />

Die Luftballons sind ein Zeichen<br />

fürerwünschteAusgelassenheit.<br />

Auch Zwischenapplaus und<br />

Juchzen sind willkommen. Die<br />

Stimmung im Großen Saal erinnert<br />

andie seit 1996 jährlich<br />

stattfindete „Hamburg Proms –<br />

Last Night“, bei dem auch die<br />

■ Do, 2.1., 20 Uhr, Lustspielhaus<br />

Phrasenmüllmann<br />

„Einer mussdasein, aufräumen, sonstersticken<br />

wir am ideologischen Unrat.“Das klingt<br />

nichtungefährlich und istvermutlich, bei allem<br />

Augenzwinkern, sogar ernstgemeint.<br />

Wersich hier alljährlich aufmacht, den „Phrasenmüll,<br />

der sich in einem Jahr ansammelt“<br />

hinauszukehren, istglücklicherweisekein politischer<br />

Hasardeur,sondern ein<br />

verdienterKabarettist, der darin<br />

jahrelange Erfahrung hat: Henning<br />

Venskeräumtin<br />

Alma Hoppes Lustspielhaus<br />

wie jedes<br />

Jahr „den Mistweg“.<br />

klassischen Konzertrituale fehlenunddasPublikumsingenderund<br />

pfeifenderweise Teil des<br />

Konzerteswird.<br />

1978wurdedasOrchestervom<br />

mittlerweile über 80-jährigen<br />

Schweizer Dirigenten Robert<br />

StehlialsHamburgerMozart-Orchester<br />

gegründet. Der Name<br />

warProgramm, sie spielten vor<br />

allem Mozart. Am 28. Juni gab<br />

dasOrchesterseinerstesKonzert<br />

im Kleinen Saal der Laeiszhalle,<br />

die damals noch Musikhalle<br />

hieß.ZufriedenesPublikumund<br />

wohlwollende Presse waren das<br />

Ergebnis. Gleich im GründungsjahrspieltedasOrchester13Konzerte<br />

im norddeutschen Raum.<br />

Heute reichtihr Repertoire weit<br />

über Mozarthinausvon Klassik,<br />

■ Mo, 30.12., 21 Uhr, Fabrik<br />

Alle Jahrewieder I<br />

Es isteine bemerkenswert eingeschworene<br />

Fangemeinde,die seit 35 Jahren zumJahresende<br />

in der Fabrik zusammentrifft. „[D]ie<br />

Jungs schaffen es,die Leuterichtig zu begeistern,<br />

sogar mich, der ich in Hamburgalles<br />

kenne,was seit 1975 über die Bühne gelaufen<br />

ist!“,weiß der Kollege Bruno Werther etwa<br />

über Hannes Bauer und sein OrchesterGnadenlos<br />

zu berichten. Das Trio mit den „bärenstarken<br />

Texten“,das grundsätzlich „mit Volldampf“durch<br />

die Lande ziehe,sei der festen<br />

Überzeugung, den Rock ’n’Roll entweder erfunden<br />

zu haben, „oder er istfür sie erfunden<br />

worden“.<br />

leichter Muse über Filmmusik<br />

bis zumJazz. Und wegen dieser<br />

musikalischen Öffnung haben<br />

siesich2011auchinKlassikphilharmonieumbenannt.<br />

Am Endes Konzertes spuckt<br />

dieLaeiszhalledieBesucherwieder<br />

ausund die schlendern zu<br />

Fuß von der hell erleuchteten<br />

Konzerthalleweg.KleineGrüppchen,<br />

die Frauen haben sich bei<br />

denMännernuntergehakt,erim<br />

Anzug,sieinKleidoderKostüm.<br />

Allesindsieheiter,plaudernentspannt.<br />

Ganz offensichtlich hattensieeinenschönenAbend.<br />

Silvesterkonzert der Klassikphilharmonie<br />

Hamburg: 31.Dezember,19<br />

Uhr, Großer Saal der Laeiszhalle,<br />

Johannes-Brahms-Platz<br />

■ Mo, 30.12., 21 Uhr, Markthalle<br />

Alle Jahrewieder II<br />

Vorein paar Jahren hat auch Kai Havaii seinen<br />

Beitrag „Hartwie Marmelade“ ins Regal<br />

„Rocker-Leben in der westdeutschen Provinz“<br />

gestellt. Der Mann kann ja auch mit einigem<br />

aufwarten: Eingerahmtvon Heroin kennter<br />

so ziemlich alle Drogen und weiß nichtnur<br />

vomsteilen Aufstieg, sondern auch vomnoch<br />

viel steileren Untergang zu berichten. Über<br />

die literarische Gütemag man streiten, eines<br />

aber weiß man danach: Der Mann machtimmer<br />

weiter und treibtseine immer wieder irgendwie<br />

zumLeben erweckteBand Extrabreit<br />

auch diesen Winterwieder per „Weihnachts-Blitz-Tournee“<br />

durchs Land. MATT<br />

Ein wenig genauer hinhören<br />

muss manhingegen bei diesen<br />

beiden: Der Singer/Songwriter<br />

BerndBegemannkommentiert<br />

dieaktuelleLageamSonntagim<br />

Knust ingewohnt ironischer<br />

Brechung: „Oh St. Pauli“ bzw.<br />

„Man fühltsich wie ein Gewinner,<br />

obwohl man nichts erreicht“.AmFreitagnächsterWoche<br />

dann streichtder stets mit<br />

scharfer Zunge ausgestattete<br />

Liedermacher und Kabarettist<br />

RainaldGrebeimThaliaTheater<br />

einen zentralen motivationspsychologischenAspektheraus:<br />

„Ichbraucheeinfach[...]Chaos“.<br />

BeimbestenWillennichtherauszuhören–aberalsBeitragzur<br />

Debattedurchauserhellend–ist<br />

allerdings die Geschichte, die<br />

hinter diesem Konzert steckt:<br />

Zwischen der Musikabteilung<br />

der Hamburger Ordnungspolizei<br />

und dem sozialdemokratischen<br />

„Reichsbanner Schwarz-<br />

Rot-Gold“, das die Republik gegen<br />

ihre Feinde an den politischen<br />

Rändern schützen sollte,<br />

bestandinden1920er-Jahreneine<br />

enge Kooperation, die ihresgleichen<br />

suchte. Grundlage war<br />

dieSchirmherrschaftdesSenats<br />

über das Reichsbanner,die es<br />

auch Polizeibeamten möglich<br />

machte,Mitgliedzuwerden.Die<br />

Nachfolgerin der „Orpo-Kapelle“,<br />

das Hamburger Polizeiorchester,spieltamFreitagnächster<br />

Woche aufdem Norderstedter<br />

Neujahrskonzertinder Tribühneauf.<br />

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apple taz.bremen<br />

www.taz.de |redaktion@taz-bremen.de |Tel. 960 260 |Trägerdienst Tel. 35 42 66<br />

Das Eisbären-Wetter<br />

Nach 41 Jahren isterstmals wieder ein gesundes<br />

EisbärenbabyimBremerhavener<br />

ZooamMeer geboren worden. Kamerabil-<br />

derzeugenabgeblichvoneinemgesunden<br />

und zufriedenen Säugling. Dabei isteseisbärenfeindlich<br />

warm: Neun Grad, Regen<br />

SONNABEND/SONNTAG, 28./29. DEZEMBER 2013<br />

48<br />

IN ALLER KÜRZE<br />

Neuer Schuldenrekord<br />

Das Bundesland Bremen hateinen<br />

neuen Negativrekord bei<br />

den Landes- und Kommunalschulden<br />

erreicht. Die Pro-Kopf-<br />

Verschuldung lagzum Jahresende<br />

bei 30.000 Euro, teilte der<br />

Bund der Steuerzahler am Freitagmit.EndeMaiwirdderSchuldenstandvoraussichtlichdie20-<br />

Milliarden-Euro-Marke überschreiten.<br />

Der Bund der SteuerzahlerfordertegrößereAnstrengungen<br />

zur Ausgabenbegrenzung.<br />

Die jährlichen Defizite<br />

müssten durch Einsparungen<br />

beidenPersonal-undSozialausgaben<br />

sowie Subventionen und<br />

Finanzhilfen verringertwerden.<br />

AndernfallsgeratedasZielinGefahr,<br />

von 2020 an ganz ohne<br />

neue Schulden auszukommen.<br />

Im Ländervergleich belegt Bremen<br />

bei der Pro-Kopf-VerschuldungeinenSpitzenplatz.Erstmit<br />

deutlichem Abstand folgen Berlin<br />

(18.200 Euro), das Saarland<br />

(16.100 Euro) und Nordrhein-<br />

Westfalen(14.700 Euro). Niedersachsen<br />

(8.813 Euro) liegt unter<br />

dem Länderdurchschnitt von<br />

9.703Euro.<br />

Neuer Cheffür<br />

„buten un binnen“<br />

FrankSchultekehrtzurückzuRadioBremen<br />

und wirdneuer Leiter<br />

der Fernseh-Regionalsendung<br />

„buten un binnen“. Der 39<br />

Jahre alte Journalistist zurzeit<br />

Chef vomDienstund Leiter des<br />

HEUTE IN BREMEN<br />

„Das warein Glücksfall“<br />

ALLDasPlanetariumberichtetvonKatastrophen<br />

undsagt,obwirunsSorgenmachenmüssen<br />

taz: Wasist denn eine kosmischeKatastrophe,HerrVogel?<br />

Andreas Vogel:All das, wasdas<br />

LebenaufderErdeoderdieErde<br />

als solches bedroht und in irgendeiner<br />

Form mitdem Weltraumzutunhat.Daskönnennahe<br />

ausbrechende Supernovae<br />

sein,Asteroiden,diemitderErde<br />

kollidieren, oder auch<br />

unsere eigene Sonne. Auch die<br />

wirduns eines Tages gefährlich<br />

werden.<br />

Aber dauert das nichtnoch unvorstellbarlange?<br />

Dabrauchenwirunserstmalkeine<br />

Sorgen machen. Die Sonne<br />

wirderstinvierbisfünfMilliarden<br />

Jahren zu einem roten Riesen.<br />

Und es wirdauch noch ein<br />

paar hundert Millionen Jahre<br />

dauern,bisesaufderErdeungemütlichwird.<br />

GibtesAsteroiden,dieunshier<br />

wirklichernsthaftbedrohen?<br />

Ja.Ganz große Einschläge kommenzwarnurallehundertMillionen<br />

Jahre vor, kleinere Einschläge<br />

sind aber viel häufiger,<br />

alsmandenkt.Dashatmanjaim<br />

Frühjahr in Tscheljabinsk gesehen:<br />

Dortkam ein Brocken runter,der<br />

etwa15bis 20 Meter im<br />

Durchmesserhatte,aberfürgrößere<br />

Schäden gesorgt hat. Das<br />

kann prinzipiell auch in<br />

Deutschland passieren. Sowas<br />

kommtetwaalle100 Jahre vor.<br />

Man sollte den Himmel also im<br />

Blickbehalten.<br />

Könnte manüberhaupt etwas<br />

gegensolcheEinschlägetun?<br />

Newsdesk beim Weser-Kurier.<br />

Schulte arbeitete bereits von<br />

2004bis2012fürdasFernsehen<br />

vonRadioBremen, unter anderemalsChefvomDienstbei„butenunbinnen“undAutordiverser<br />

Dokumentationen und Reportagen.<br />

Der bisherige „buten<br />

un binnen“-Redaktionsleiter<br />

Guido Schulenberg wechseltzurückindenHörfunk.<br />

Kritik an steigenden<br />

Müllgebühren<br />

Die Linkspartei verlangt, die beschlossene<br />

Anhebung der Müllgebühren<br />

wieder zurückzunehmen.<br />

Diese sollen zum1.Januar<br />

2014 insgesamtum20Prozent<br />

steigen. Zudem gibt es künftig<br />

nurnoch 13 stattbisher 17 LeerungenimJahrkostenlos.„Esist<br />

schon sehr dreist, wie die UmweltbehördeunddasfürdieAbfallentsorgung<br />

zuständige Unternehmen,<br />

scheinbar Hand in<br />

Hand, die Gebührensteigerung<br />

durchgepeitscht haben“, kritisiert<br />

Landesvorstandsmitglied<br />

Michael Horn. Zugleich verlangteHornvomgrünregiertenUmweltressort,<br />

die Verträge mit<br />

dem Müllentsorger offenzulegen<br />

–was dieses bisher immer<br />

noch verweigert. Die Gewerkschaft<br />

Ver.di wirft der Firma<br />

Nehlsen nach wie vor „Lohndumping“<br />

vorund forderttarifvertragliche<br />

Stundenlöhne von<br />

14bis15Euro–Nehlsenzahlewe-<br />

RANDALEEinneuesBuchausderBremerFan-SzeneerzähltauseigenerErfahrungvonder<br />

Fußballgewalt.AuchdieCDUversuchtderzeit,dasPhänomennäherzuergründen<br />

Schlägertyp und Spaß dabei<br />

Für die einen der Inbegriff von Randale beim Fußball, für die anderen Symbol des Protests gegen Einschränkungen der Fankultur: Pyrotechnik<br />

VON JAN ZIER<br />

Sicher: An Dirk T. istkein ganz<br />

großer Erzähler verloren gegangen.<br />

Dennoch istsein aktuelles<br />

Buch lesenswert. Als authentische<br />

Milieustudie. Als autobiografischerRomaneinesMannes,<br />

den manheute einen Fußball-<br />

Hooligannennenwürde.<br />

Herr T.,heute ein Mittvierziger,warvorallemindenAchtzigernundNeunzigernimUmfeld<br />

vonWerder Bremen aktiv–und<br />

saß dafür vier Wochen im Jugendarrestund<br />

bestimmthundertmalinPolizeigewahrsam.Er<br />

isteiner derjenigen, für die Vereine<br />

zusammen mitSozialpädagogen<br />

eigene Fan-Projekte entwickelthaben.<br />

Wir waren „Kleinkriminelle<br />

undSchlägertyen,ja,sicher,aber<br />

eben auch die Kinder vonganz<br />

normalenBremerFamilien“,sagt<br />

T. heute. Genau davonhandelt<br />

dieses Buch: vom Leben eines<br />

„typischen Siebzigerjahre-Kids<br />

der unteren Mittelschicht“.T.ist<br />

in der Neuen Vahr und in Tenever<br />

groß geworden, sein Vater<br />

warWerftarbeiter,seine Mutter<br />

Verkäuferin.<br />

UndFußballwarquasi„diebedeutendste<br />

Institution in unserer<br />

Gesellschaft des finanziell<br />

entproletarisiertenKleinbürger-<br />

nigerals13Euro. (taz/dpa) .........................................................................................................................................................................<br />

.......................................................................................................................................................<br />

Fußball &Gewalt in Bremen<br />

GegendiekleinerenwahrscheinlichimMomentnochnicht.Das<br />

kommtaufdenZeitpunktan,zu<br />

demwirsieentdecken.Wenndas<br />

frühgenugderFallist,also:viele<br />

Jahre im Voraus, dann könnte<br />

man versuchen, sie aus ihrer<br />

Bahn abzulenken. Da würde<br />

dann im Zweifelsfall schon ein<br />

Mit einer Großen Anfrage versuchte<br />

die CDU kürzlich, „die Gewalt<br />

am Rande vonFußballspielen“ näher<br />

zu beleuchten:<br />

■ Zum„Kern“ der drei Bremer<br />

Hooligan-Gruppierungen zählt<br />

die Polizei 50 Menschen, zu ihrem<br />

Umfeld weitere35. „Nordsturm<br />

Brema“ und Teil der „Standarte<br />

Bremen“ stuftdie Polizei dabei als<br />

„rechtsgerichtet“ ein, die anderenals<br />

„erlebnisorientiert“ und<br />

„gewaltsuchend“.<br />

■ Zu den Ultras –die fürdie Choreografien<br />

in den Fankurven verantwortlich<br />

sind –zählt die Polizei in<br />

BremenimKern260Menschen,zu<br />

ihrem Umfeld weitere150.Der Polizei<br />

Frauen –insgesamt15–20.<br />

■ 267Straftaten im Zusammenhang<br />

mit Fußballspielen vermeldete<br />

die Polizei in der vergangenen<br />

Saison, 2011/12 warenes132,<br />

2008/09 insgesamt106.Oft geht<br />

esdabeiumKörperverletzung und<br />

Landfriedensbruch.<br />

■ 13 Verletzte registrierte die Polizeiinder<br />

letzten Saison am Rande<br />

der Spiele,2008/09 warenes21,<br />

in der Saison darauf 27.<br />

■ Der Personaleinsatz der Polizei<br />

istvon 27.444 Einsatzstunden in<br />

der Saison 2008/09 kontinuierlich<br />

auf 37.127 angestiegen.<br />

■ Bundesweit Stadionverbote haben<br />

laut Senat aktuell 35 Werder-<br />

Fans,20davonwerden vonderPo-<br />

kleinerStoßreichen.Soein<br />

lizei gelten sie überwiegend als<br />

.............................................................................................................................................................................................<br />

Brocken wie der von<br />

„gewaltgeneigt“. Nur in zwei der lizei den Ultras oder Hooligans zugerechnet.<br />

(taz)<br />

........................................................................................................................................................................................................<br />

Andreas Vogel<br />

Tscheljabinsk ist für<br />

achtUltra-Gruppen gibteslaut Po-<br />

■ 44, istLeiter des Olbers-<br />

Planetariums der Hochschule<br />

Bremen.<br />

EDER „WESER-KURIER“ ENTMACHTET SEINE CHEFIN. DIE LESERINNEN ERFAHREN DAZU NUR DIE HALBE WAHRHEIT<br />

ineZeitunghatdieAufgabe,ihreLeserInnenzuinformieren.DerWeser-Kurier<br />

offenbar nicht–wenn es um ihn<br />

selbstgeht.<br />

Zu Weihnachten schrieb der Weser-Kurier,dass<br />

die Zeitung in Zukunft voneiner<br />

„Doppelspitze“geleitetwird–nebenChefredakteurin<br />

SilkeHellwig trete der 61-Jährige<br />

Peter Bauer. Allerdings „kommissarisch“.<br />

Bauer,derschonmalachtJahrelangstellvertretender<br />

Chefredakteur des Weser-Kuriers<br />

war, sei „für die „Organisation der Gesamtredaktion“<br />

zuständig und verantwortlich,<br />

während Hellwig sich „vor allem publizistischenAufgabenwidmenwird“.<br />

Verständlichwirddaserst,wennmandazunimmt,wasderWeser-KurierdenLeserInnen<br />

nichtmitteilt: Die neue Regelung gilt<br />

nur,„biseinneuerChefredakteurgefunden<br />

ist“.Sostehtesinder verbreiten Pressemitteilung.<br />

AufDeutsch: SilkeHellwig, seitihrem<br />

Amtsantritt2011 umstrittene Chefredakteurin,istentmachtet.Siedarfmitdem<br />

Titel der Chefin noch Texte schreiben. Bis<br />

zumEndeihrerVertragslaufzeit.<br />

Dass sie abgesetzt wird, war offenbar<br />

dringend –als Interims-Chef musste Peter<br />

KOMMENTAR<br />

Stürzen und schweigen<br />

Bauer vomPressedienstNordgeholt werden,<br />

weil so schnell kein neuer Chefredakteur<br />

gefunden werden konnte. Anstatt ihre<br />

Leser über diesen Sachverhaltzuinformieren,<br />

schwadroniertdie Meldung zumSturz<br />

derChefredakteurinübereine„Doppelspitze“,<br />

„gemeinsamwollensiediecrossmediale<br />

Ausrichtung des Verlags –die Verknüpfung<br />

der gedruckten Zeitung mitden Internet-<br />

Angeboten der Mediengruppe –vorantreiben<br />

und die journalistische Qualitätweiter<br />

erhöhen“. So ähnlich hatte der Verlagauch<br />

schonbeiHellwigsAmtsantrittorakelt.<br />

Keine halbwegs bedeutsame Firma in<br />

Bremen, bei der Köpfe rollen, kann darauf<br />

setzen, dass solche Vorgänge derart verschleiernd<br />

und, aus Rücksicht auf das<br />

Firmeninteresse, verfälschend dargestellt<br />

werden. Der Weser-Kurier aber betreibt<br />

MachtmissbrauchineigenerSache.<br />

DassderWeser-Kurier,wennesumdieeigenen<br />

Angelegenheiten geht, aufalleStandards<br />

journalistischer Ethik verzichtet, hat<br />

Tradition.ErsteineWochevordemSturzder<br />

Chefredakteurin hatte die Mediengruppe<br />

vordemLandesarbeitsgerichtauchinzweiterInstanzein<br />

Verfahrenverloren,beidem<br />

Foto: dpa<br />

kräftigaufseinlinkesOhr.Erfiel<br />

sofortum.(...)Alsersichhochrappelnwollte,tratenwirihmindie<br />

Rippen.DerandereTypumklammertedieFlascheSpringer.“<br />

Oballeswirklichsowar?Egal.<br />

„Romanekönnenwahrerseinals<br />

Tatsachenberichte“, sagt T.,„weil<br />

sie konzentrierter erzählen können.“<br />

2010 haterschon malein<br />

Buch geschrieben: „Ostkurve“,<br />

ebenfallsbeiTrolsenerschienen.<br />

Die Randaleentwickelte sich<br />

bei T. zu einer echten Sucht. Das<br />

Buch erzähltdavon ganz ungeschminkt.<br />

„Es konnte immer<br />

wiederausbrechen,jenachSituation“,sagtT.,<br />

der vonsich sagt,<br />

dasserseit1999„clean“ist.„Eine<br />

Hauereidauertemeistnielänger<br />

als ein bis zwei Minuten (...).<br />

Wenn eine Seite sah, dass sie unterlegenwar,oderdieBullenauf<br />

den Plan traten, verpisste man<br />

sich, so schnell es ging (...).<br />

Schließlich war nacheinerverlorenen<br />

Schlacht noch nicht aller<br />

Tage Abend und genügend Zeit<br />

füreinRematch.“<br />

Dirk T. hat später trotzdem<br />

studiert. Sein Buch ist„eine Reflexion“,<br />

wieerselbstsagt.ErverklärtseineRandalenicht,aberer<br />

verurteiltsieauchnicht.<br />

uns heute aber noch<br />

nichtauffindbar.<br />

Washalten Sie davon,<br />

Asteroiden zu sprengen,wieimKino?<br />

Es gibt ernstzunehmende Wissenschaftler,die<br />

darüber nachdenken,<br />

Asteroiden mitnuklearenSprengsätzenausihrerBahn<br />

zubringen.Sprengenistaberkeine<br />

gute Idee, sonsthat manes<br />

nachher mitTausenden kleinererGeschossenzu<br />

tun.Daswäre<br />

viel verheerender als ein einzigerBrocken.<br />

Werden wir eigentlich je wirklich<br />

erfahren, ob so eine komischeKatastropheauchamAussterben<br />

der Dinosaurier schuld<br />

war?<br />

MitletzterSicherheitwohlnicht.<br />

Aberessprichtvielesdafür,zeitlichpasstdasextremgutzusammen.<br />

Aber wir können froh um<br />

dieseKatastrophesein:DasEnde<br />

der Dinosaurier hatden SäugetierendenWeggeöffnet.DieEvolution<br />

istdanach mithoher Geschwindigkeitvorangeschritten.<br />

FürunswardaseinGlücksfall.<br />

Es ist also doch nicht alles<br />

schlecht ansoeiner kosmischenKatastrophe?<br />

Sokannmandassehen–zumindestrückblickend.<br />

INTERVIEW: JAN ZIER<br />

16 Uhr, Planetarium, Werderstr. 73<br />

tums“,wieesindemBuchheißt.<br />

Werinden Achtzigern ins Stadion<br />

ging, „gehörte automatisch<br />

zum Kreis einer eingeweihten<br />

Minderheit“, sagt T.„War man<br />

Fan, dann musste manauch bereitsein,<br />

für dieses Bekenntnis<br />

im Zweifelsfall den Kopf hinzuhalten.“<br />

Promis, Wirtschaftsleute,<br />

Firmen, Familien oder auch<br />

nurFrauenwarenaufdenTribünennochdieAusnahme.<br />

Als er das erste Mal eine Prügeleimitbekommt,daistT.zwölf,<br />

mit16haterseineersteAnzeige.<br />

Vonall dem erzählt„Kein WeinfestinTenever“,aber<br />

auch von<br />

der Jugendkultur drumherum,<br />

von Musik, Konzerten, Frauen,<br />

viel zu viel Alkohol und der SuchenachdemerstenSex.<br />

Unddazwischen?ImmerwiederRandale.„Ichzogmitmeiner<br />

rechten Hand den Billiardqueue<br />

aus dem linken Ärmel meiner<br />

Bomberjacke und haute ihm<br />

„Kein Weinfest in Tenever“, 241 Seiten,<br />

Trolsen, 12,90 Euro<br />

es um die Übertragung des AnzeigengeschäftesvoneinereigenenTochterfirmaauf<br />

eine formal unabhängige Fremdfirmaging<br />

–beiderOperationkonntedieMediengruppe<br />

Weser-Kurier nicht nur Tarifverträge,<br />

sondern auch aufmüpfige Betriebsräteabschütteln.<br />

Wenn andere Firmen so mitArbeitnehmerrechten<br />

umspringen, müssen<br />

siemitkritischenBerichtenimWeser-Kurier<br />

rechnen.<br />

Nur die Weser-Kurier-Mediengruppe<br />

kannsichdasleisten,ohneeinegroßekritischeÖffentlichkeitfürchtenzumüssen.Das<br />

Landesarbeitsgericht kam zu dem Urteil,<br />

dass die Verlagerung des Anzeigengeschäftes<br />

arbeitsrechtlich als „Betriebsübergang“<br />

zu werten sei. Das heißt, dass alleMitarbeiter<br />

einen Beschäftigungsanspruch zu gleichen<br />

Konditionen in der neuen Firmahaben.<br />

Auch Betriebsräte. Das wareine schallende<br />

Ohrfeige insbesondere für den Aufsichtsratsvorsitzenden<br />

der Mediengruppe,<br />

JohannesWeberling,dervorGerichtalsAnwaltgegendieRechtederBeschäftigtenauftratundunterlag.<br />

KeinWortmussteerdarüberindereigenenZeitungfürchten.<br />

KLAUS WOLSCHNER


apple taz.hamburg<br />

www.taz.de |redaktion@taz-nord.de |Harkortstraße 81 |22765 Hamburg<br />

das wetter<br />

DerSamstag wirdmitmaximal 10Grad, vielen Wolken, Windaus südwestlicher<br />

Richtung und Regen schmuddelig. Sonntag sinkt das Thermometer<br />

auf 7Grad, es hörtauf zu regnen und es bleibtbewölkt<br />

SONNABEND/SONNTAG, 28./29. DEZEMBER 2013<br />

48<br />

Zehn<br />

MeterDemo<br />

Nur wenige Meter spazierte die<br />

Spitzeder Demonstration „Die<br />

Stadt gehörtallen! Refugees,<br />

Esso Häuser,Rote Florableiben“<br />

am vergangenen Samstag,bissievonderPolizeidurch<br />

den Einsatz eines Wasserwerfers<br />

gestopptwurde.Die Folge:<br />

Polizisten und Autonome bekämpften<br />

sich zuerstvor der Roten<br />

Flora, es flogen Steine,<br />

Farbbeutel, Flaschen und alles,<br />

wasnichtfestgemachtwar.Als<br />

die Demonstration vonder Polizei<br />

wegen „Unfriedens“ aufgelöstwurde,verschoben<br />

sich<br />

die KämpfeinRichtung Reeperbahn.<br />

Auch dabei ging einiges<br />

zu Bruch und insgesamtwurden<br />

mehrereHundertMenschen<br />

verletzt. (taz)<br />

Foto: Roland Magunia<br />

IN ALLER KÜRZE<br />

Inventur im<br />

Tropenaquarium<br />

Im Tropenaquarium des TierparksHagenbeck<br />

istamFreitag<br />

durchgezählt, gewogen und vermessen<br />

worden. Unter anderem<br />

kamen zehn gefräßige Kattas<br />

unddieFransenschildkröte„Raffaello“<br />

aufdie Waage. Im Korallensaumriff<br />

zählten die Pfleger<br />

mehr als sechzig verschiedene<br />

Arten.Insgesamtbeherbergtdas<br />

Tropenaquariumauf8.000Quadratmetern<br />

mehr als 14.300 Bewohner.<br />

(dpa)<br />

Zeitzeugen berichten<br />

über Judenverfolgung<br />

FünfZeitzeugendesHolocaustin<br />

Weißrussland und Polen kommenEndeJanuarnachHamburg.<br />

Sie wollen vom 28. Januar bis<br />

zum1.Februar vorSchulklassen<br />

und anderen interessierten<br />

Gruppen über ihre Erfahrungen<br />

im Minsker Ghettosowie in den<br />

Vernichtungslagern Majdanek<br />

undAuschwitzberichten. (epd)<br />

Tödlicher Stich ins Herz –<br />

Tatverdächtige in U-Haft<br />

NacheinertödlichenMesserattackeauf<br />

einen 23-jährigen Mann<br />

in der Neustadtsitzt die mutmaßliche<br />

Täterin in Untersuchungshaft.<br />

Nach ersten Erkenntnissen<br />

soll sie an HeiligabendihrenehemaligenLebensgefährten<br />

aufeiner Straße mitten<br />

ins Herz gestochen haben,<br />

teiltediePolizeimit.Ob sichdie<br />

ANZEIGE<br />

31-Jährige zu den Vorwürfen geäußerthat,konnte<br />

eine Polizeisprecherin<br />

am Freitagmorgen<br />

zunächstnichtsagen. (dpa)<br />

Mahnmal fürTotenach<br />

Unfall in Eppendorf<br />

Fast drei Jahre nach dem Unfall<br />

vonEppendorfsollkünftig ein<br />

MahnmalandievierTotenerinnern.<br />

Daraufhätten sich die Angehörigen<br />

und das Bezirksamt<br />

Hamburg-Nordgeeinigt,wieder<br />

NDR berichtete. Es werde sich<br />

um eine bescheidene und angemessene<br />

Lösung handeln, sagte<br />

Bezirksamtsleiter Harald Rösler.<br />

Bei dem Unfall am 12. März 2011<br />

waren der Sozialwissenschaftler<br />

Günter Amendt, der SchauspielerDietmarMuesundseineFrau<br />

sowiedieKünstlerinAngelaKurrergetötetworden.<br />

(dpa)<br />

Videoüberwachung<br />

in Spielbanken<br />

DiealleinregierendeSPDunddie<br />

CDU wollen Spielbanken in<br />

Hamburg per Videoüberwachung<br />

kontrollieren und so die<br />

Steueraufsichterleichtern. „Wir<br />

wollenbeiderAufsichtderSpielbankenmehrTechnikundwenigerFinanzbeamteeinsetzen,um<br />

zusätzliche Ressourcen für Betriebsprüfung<br />

und Steuerfahndung<br />

zu gewinnen“, erklärte der<br />

haushaltspolitischeSprecherJan<br />

Quast. Einen entsprechenden<br />

EntwurfzurÄnderungdesSpielbankengesetzes<br />

habe der Senat<br />

bereitsvorgelegt. (dpa)<br />

Staatsstreich am Schulterblatt<br />

KRAWALLAusschreitungenalsKollateralschädeneinkalkuliert:DiePolizeiführungwollte<br />

dieRote-Flora-DemonstrationamvergangenenWochenendevonAnfanganverhindern<br />

VON MAGDA SCHNEIDER<br />

Der Ausschussvorsitzende sagte<br />

Nein.WäreesnachGrünen-und<br />

Linksfraktion gegangen, hätte<br />

sichderInnenausschussderBürgerschaft<br />

am gestrigen FreitagabendmitdenschwerenAuseinandersetzungen<br />

zwischen der<br />

Polizei und Demonstranten am<br />

letzten Samstagbefasst. WasEkkehard<br />

Wysocki (SPD), der Kopf<br />

des Gremiums, aber abzubiegen<br />

wusste – aus „terminlichen<br />

Gründen“. Auch sein Parteifreund<br />

Arno Münster mochte<br />

keinen Grund erkennen, sich<br />

„überstürzt“ mitden Geschehnissen<br />

zu beschäftigen. „Es gilt,<br />

zunächstwesentlicheDatenund<br />

Faktenzusammeln.“<br />

Oder sie zu frisieren –umInnensenator<br />

Michael Neumann<br />

(SPD)nichtzubrüskieren?Denn<br />

essprichteinigesdafür,dassdie<br />

Eskalation gleich zu Beginn der<br />

Demonstrationmit rund 7.500<br />

Teilnehmenden von langer<br />

Hand geplantwar –von Seiten<br />

der Polizei. Die Gesamteinsatzleiter<br />

Peter Born und Hartmut<br />

Dudde„konnteneseinfachnicht<br />

ertragen,dassdieverhasstelinke<br />

SzeneungehindertfürihreZiele<br />

laufen“würde,berichteteinInsider<br />

ausdem Polizeizentrum in<br />

Alsterdorfder taz. Dabei seien<br />

„bewusst Kollateralschäden<br />

durch Ausschreitungen in Kauf<br />

genommen“worden–„oderbessergesagt:gewollt“.<br />

Born und Dudde waren am<br />

vergangenen Samstagfast3.500<br />

Polizisten unterstellt, teils aus<br />

anderen Bundesländern. Peter<br />

Born leitet den Polizei-Führungsstab<br />

und wirdinabsehbarerZeitinRuhestandgehen.Deshalb<br />

berief Innensenator Neumann<br />

Hartmut Dudde, Ex-Chef<br />

derBereitschaftspolizei,imvorigen<br />

Jahr als perspektivischen<br />

Nachfolger zu Borns Stellvertreter.BornwieDuddehabenunter<br />

dem Rechtspopulisten und früheren<br />

Innensenator Ronald<br />

Schill Karriere gemacht, gehörten<br />

zumFührungszirkel um Ex-<br />

Polizeipräsident Werner Jantosch.<br />

Gegen dieses „Kartell des<br />

Schweigens“ und überhaupt einen<br />

„diktatorischen Führungsstil“<br />

inder Hamburger Polizei<br />

wandten sich im August 2010<br />

mehrere Polizeiführer in einem<br />

gemeinsamenBrandbrief.<br />

Born und Dudde schickten<br />

beim Schanzenfest am4.Juli<br />

2009 ihre Truppen trotz noch<br />

aufgebauterBühneindieMenge.<br />

„Heutefangenwirmalan“,hatte<br />

Dudde damals seinen untergebenen<br />

Einsatzleitern gesagt. Das<br />

Resultat: vieleVerletzte sowohl<br />

unter den Festbesuchern als<br />

auchdenPolizisten.Bornverteidigte<br />

dieses Vorgehen später im<br />

Innenausschussdamit,dassesin<br />

den Vorjahren stets nach dem<br />

FestzuKrawallen und Sachbeschädigungengekommensei.<br />

Dem Insider zufolgeließ sich<br />

die Demo am vergangenen Wochenende<br />

trotz der obligatorischen<br />

Gewaltprognosen durch<br />

den Staatsschutznichtgänzlich<br />

verbieten: In der Polizeiführung<br />

bestand demnach die Angst, das<br />

Bundesverfassungsgericht<br />

könnte am Ende eine stationäre<br />

Kundgebung aufdem Jungfernstiegerlauben–sowieesdieDemo-Anmelderselbstvorgeschlagen<br />

hatten. Überhaupt herrsche<br />

unter den Oberen inzwischen<br />

die Mentalitätvor,„die Schlachten<br />

werden aufder Straße und<br />

nichtvorGerichtengeführt“.<br />

SohabenunderLeiterderVersammlungsbehörde,<br />

Dietrich<br />

Wunder, den Auftrag bekommen,<br />

„sich auf die Anschluss-<br />

Kundgebungen im City-Bereich<br />

zukonzentrieren“:Diesewurden<br />

von der Behörde nicht genehmigt.<br />

Die Folge: „Die Flora-Anwältewaren<br />

beschäftigt und die<br />

Szeneglaubte,esgebekeineProbleme“,<br />

fügtderInformanthinzu<br />

–„auchdietaz“.<br />

Bewusstseien<br />

Kollateralschäden<br />

durch<br />

Ausschreitungen<br />

inKaufgenommen<br />

worden,sagt<br />

einPolizei-Insider–<br />

„oderbesser<br />

gesagt:gewollt“<br />

Interessant sei auch, dass<br />

DuddeselbstdieGesamteinsatzleitungvorOrtimSchanzenviertel<br />

übernommen habe, stattmit<br />

Born in der ZentraleimPräsidiumzusitzen.Klarist:DieEskalation<br />

der Gewalt am Samstagnachmittaggingnichtzuerstvon<br />

den Demonstranten aus, indem<br />

sie von der Eisenbahnbrücke<br />

über dem Schulterblatt ausPolizeikräfte<br />

mitSteinen bewarfen.<br />

EbendasaberhattezunächstPolizeisprecherin<br />

Ulrike Sweden<br />

behauptet.<br />

Ob das „Aufstoppen“der Demo<br />

nunmit deren vorzeitigem<br />

Aufbrechen nach den Verhandlungen<br />

über eine Routenänderung<br />

begründet wird –wie es<br />

später Polizeisprecher Mirko<br />

Streibertat–oderweilangeblich<br />

noch Autoverkehr aufder Altonaer<br />

Straße gerollt sei: Es dürfte<br />

für die Sachaufklärung irrelevant<br />

sein. Zu viel deutet darauf<br />

hin, dass die Konfrontation mit<br />

die Demonstrationgeplantwar.<br />

Bei den stundenlangen AuseinandersetzungeninSt.Pauliwurdenmehrals500Protestlerund<br />

120 Polizisten zumTeil schwer<br />

verletzt.<br />

In der nächsten Sitzung des<br />

InnenausschusseswirdInnensenatorNeumann<br />

der Opposition<br />

wohl Rede und Antwortstehen<br />

müssen. Ob er vom Coup der<br />

Schill-Getreuen in der Polizeiführung<br />

wusste oder nicht: Was<br />

den vergangenen Samstag angeht,haterbereitsPositionbezogen.<br />

Schuld seien die „kriminellen“Demonstrantengewesen.<br />

In dieses Bild passtauch, was<br />

einPressefotografaufderEisenbahnbrückemitbekam:<br />

Als ein<br />

Stück die Straße hinunter, vor<br />

der Roten Flora, bereits schwere<br />

Ausschreitungen tobten, habe<br />

ein Hamburger Einsatzleiter zu<br />

einem Offizier der Bundespolizei<br />

gesagt: „Es läuft alles nach<br />

Plan.“ Schlachten werden eben<br />

aufderStraßegeschlagen.


apple nord.thema<br />

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Verlagsseiten der taz.nord zum Thema<br />

KOSTPROBE Seite49-51<br />

SONNABEND/SONNTAG, 28./29. DEZEMBER 2013<br />

49<br />

Heißer Kaffee duldet keinen Verzug: eiliger Kellner im Restaurant Al-Mounia in Casablanca<br />

Foto: Eric Martin /LeFigaro Magazine/laif<br />

Kaffee auf Morgenländisch<br />

VON E. F. KAEDING<br />

Er istTeil einer großen Kultur.<br />

WieCocaColaindenUSAundTee<br />

in England istKaffee in arabischen<br />

Ländern eine Tradition<br />

mitlebhafterGeschichte.EinGetränk<br />

mitheiligen und heilenden<br />

Kräften: Ein Mufti soll sein<br />

geschwächtes Augenlichtdurch<br />

das Getränk wiedererlangt haben.<br />

Hirten schwärmten vonihren<br />

lebhaften Ziegen, die von<br />

Bäumen heruntergefallene Bohnenfrüchte<br />

fraßen. Sogar Sufi-<br />

Mönchewarenangetan.Tranken<br />

sie einen Schluck des dunklen<br />

Gebräus, schliefen sie beim<br />

nächtlichen Gottesdienstplötzlichnichtmehrein.<br />

EinemFremdenKaffeezuservieren,giltimOrientalsZeichen<br />

der Gastfreundschaft. „Qahwa“<br />

istein Dessertwie hierzulande<br />

Kuchen. Im Konstantinopel des<br />

16. Jahrhunderts wurdeder Kaffee<br />

gar justiziabel: Sollte der<br />

MannseinerEhefraukeinenKaffee<br />

anbieten, galt dies als Scheidungsgrund.<br />

Die Geschichten hinter dem<br />

Getränk veranschaulichen, warummanbeiderZubereitungdes<br />

Kaffees im Nahen Osten die Liebe<br />

zumDetail beibehalten hat.<br />

Andersalsderhiesigeundzuoft<br />

hektischverbrannteCoffeetogo<br />

versprichtder Qahwa viel mehr<br />

alseineschnelleEnergiewallung.<br />

ImGegenteil:ManmussZeitmitbringen.<br />

Der Geruch der arabischen<br />

Kaffeeversion allein reicht aus<br />

für eine sinnliche Entdeckungstour.Das<br />

liegt an dem Gewürz<br />

Kardamom,dasdemGetränkzugegeben<br />

wird. Das Gewürz<br />

kommtinSamen oder frisch als<br />

Blätter,diePulverversionisteher<br />

einewestlicheExportvariante.<br />

KardamomgehörtzurFamilie<br />

derIngwergewächseundgiltneben<br />

Safran und Vanilleals eines<br />

der teuersten Gewürze der Welt.<br />

Es sind die ätherischen Ölein<br />

den Samen, die Kardamom sein<br />

typisches Aromaverleihen. Ein<br />

feiner Duft mit subtiler Tiefe,<br />

mild würzig, nussig, mitunter<br />

leichtsüßundholzig.Einefeine<br />

Nase könnte einen Hauch FencheloderAnisvernehmen.<br />

WerQahwa selbstzubereiten<br />

will,benötigtZeitundAufmerk-<br />

samkeit.EsgibtkeinePlastikma-<br />

AUSZEITEineder<br />

wichtigstenSorten<br />

heißtzwarArabica–<br />

aufarabischeArt<br />

Kaffeezuzubereiten,<br />

istaberetwasganz<br />

anderes.DerPfiff<br />

dabeiistes,<br />

Kardamom<br />

zuzugeben<br />

schine,dievonalleinheißesWasseranschlürft,esüberKaffeepulververteiltund<br />

durch einen Filter<br />

tröpfeln lässt. Nebenbei weiterimBüroamComputerzu<br />

arbeiten,funktioniertnicht.<br />

Die Grundzutaten sind Kaffeebohnen<br />

und Kardamom-Samen.<br />

Für ein einfaches Portionieren<br />

sollte manbeide Zutaten<br />

unabhängig voneinander in einer<br />

Kaffeemühle mahlen. Danach<br />

wirdder sogenannte TanakaoderDallah(Kaffeekännchen)<br />

je nach gewünschter Menge mit<br />

WassergefülltundaufeineHerdplattegestellt.<br />

Kultur-Genuss, Genuss-Kultur: Geschichtenerzähler in einem damaszener<br />

Kaffeehaus –noch in friedlichen Zeiten Foto: dpa<br />

Jetzt das Wasser aufkochen,<br />

danach 30 Sekunden abkühlen<br />

lassen. Dann die Zutaten hinzugeben<br />

und umrühren. Pro250<br />

Milliliter Wasser ein halber EsslöffelKaffeepulvermachtschwachen,zweiEsslöffelmachenstarkenKaffee.Dazukommteinhalber<br />

bis ein Esslöffel Kardamom-<br />

Pulver.ManchekochendieZutatensogleichmitdemWasserauf,<br />

oderzunächstnurdasKaffeepulverund<br />

erstmit ein paar Minuten<br />

Verzögerung geben sie das<br />

Kardamomdazu.<br />

Wiebei vielen anderen DingenwirdkeinSchadenangerichtet,solltemandieseAbweichungen<br />

unter Geschmacksache verzeichnen.Einezumindestwestliche<br />

Kaffeeweisheit, das sei hier<br />

freilich erwähnt, reimt: „Boiled<br />

coffeeisspoiledcoffee“. Undimmerhin,<br />

auch bei der Zubereitung<br />

vonQahwa wirdzuweilen<br />

geraten: je langsamer das Erhitzen,<br />

desto besser werdeder Kaffeeschmecken.<br />

Einigkeit herrscht bei dem,<br />

wasfolgt:Dreimallässtmanden<br />

Trunk für jeweils mindestens<br />

zwei Minuten langsam köcheln.<br />

Immer wenn der Trunk aufschäumt,nehmen<br />

Sie das Kännchen<br />

kurz vomHerd. Schon entfaltetsichdermildwürzigeDuft<br />

inderKüche.Wichtig:nichtumrühren,<br />

da ansonsten der Satz<br />

aufgewühltwird.<br />

Getrunken wird der Kaffee,<br />

der durch das Kardamom eine<br />

gelbliche Farbe annimmt, aus<br />

kleinenEspresso-TassenundtraditionellohneMilchundZucker.<br />

Die Portionen sind sehr klein<br />

und überdecken nurden Boden<br />

der Tasse, da so das noch sehr<br />

heiße Getränk schneller auf<br />

Trinktemperaturabkühlt.<br />

Werdemnächstineinem orientalischen<br />

Restaurant speist,<br />

oder beim Araber eine Schawarmabestellt,darfnachfragenund<br />

statteines Ayrans als Nachtisch<br />

Qahwa wagen. Mitetwas Glück<br />

serviertderGahwaji(Kellner)dazu<br />

die klassisch korrespondierende<br />

süße Dattel. Sie soll die<br />

leicht bittere Geschmacksnote<br />

des Kaffees ausbalancieren. Der<br />

Mut wirdbelohnt werden. Denn<br />

werarabischen Kaffee probiert,<br />

darfbeides: aufwachen und abtauchen<br />

für einen kurzen MomentineineandereWelt.<br />

Der Weihnachtsapfel<br />

aus Dänemark<br />

OBSTDieSorteIngridMariegedeihtimAltenLand<br />

besondersgut.SieistandenFesttagenbeliebt<br />

Ein Apfel gehörtfür vieleMenschen<br />

zu Weihnachten aufden<br />

„BuntenTeller“wieMandarinen<br />

und Marzipan. Eine Altländer<br />

Sorte, die wegen ihrer kräftigsaftigen,<br />

erfrischenden Note an<br />

den Festtagen beliebt ist, heißt<br />

Ingrid-Marie. „Fein säuerlich bis<br />

mild schmecken diese Früchte,<br />

siesindnichtzugroßunddamit<br />

auch für Kinder gut geeignet“,<br />

sagt Obstbauer Hein Lühs aus<br />

Jork. Dabei hatIngrid Marie ihrenAufstiegzumWeihnachtsapfel<br />

einem Zufall zu verdanken,<br />

wieauchdieEntdeckungderSorteselbstvor100Jahrenehereine<br />

LaunedesAlltagswar.<br />

Es begann aufeinem Pausenhof<br />

der Berufsschulevon FlemloeseaufderdänischenInselFünen.<br />

Dortleuchteten im Herbst<br />

1912 rotbackige Äpfel einer bis<br />

dahin unbekannten Sorte an einem<br />

Baum. Der Lehrer meldete<br />

siederFachwelt.Erbenanntesie<br />

nach seiner schönen, früh gestorbenenTochter,IngridMarie.<br />

DieneueSortewurdedurchTriebe,<br />

die auf andere Bäume gepfropft<br />

wurden, vermehrt. Einige<br />

davonkamen im Kriegsjahr<br />

1940 ins Alte Land. Dorthaben<br />

Gartenbauexperten den Neuzuganghochgepäppeltundweitergezüchtet.<br />

Ingrid Marie wurdedie Sorte<br />

nach Maß für den Marschboden<br />

unddasmaritimgeprägteKlima<br />

an der Niederelbe, wie Matthias<br />

Görgens vom Obstbau-Beratungszentrum<br />

Jork sagt: „Es ist<br />

ein Apfel, der in die nordischen<br />

Länderpasst,inSüddeutschland<br />

gedeiht ernicht, noch weiter<br />

südlichgehtesüberhauptnicht.“<br />

Vorallem ältere Menschen und<br />

LiebhabertraditionellerObstsorten<br />

schätzten heutzutagediesen<br />

Apfel.<br />

Ingrid Marie wirdMitte September<br />

gepflückt, kommtaber<br />

erstimDezemberausden Kühlräumen,<br />

hatalso zu Weihnachten<br />

die volleGenussreife. „Wenn<br />

er richtig und exakt gelagert<br />

wird, dann istersoknackig und<br />

frisch, als wäre er gerade vom<br />

Baum gepflückt worden“, erläutertHeinLühs,der30Ingrid-Marie-Bäumegepflanzthat.<br />

Allerdings habe die wirtschaftliche<br />

Bedeutung dieser<br />

Sorte immer weiter abgenommen,<br />

meint Matthias Görgens.<br />

„Im Alten Land machtsie nur<br />

noch ein Prozentder Anbauflächeaus,aufderrund4.000TonnenÄpfelgeerntetwerden“,<br />

sagt<br />

derObstbau-Berater.<br />

BisindenFebruarhineinwerden<br />

die Äpfel der Sorte Ingrid<br />

Marie verkauft, die zur Cox-<br />

Gruppegehören.CoxOrangegilt<br />

als besonders würzig und ist<br />

auchinderweihnachtlichenKüche,<br />

etwaals Zugabe zumRotkohl,<br />

gefragt. Als Bratapfel empfiehltObstbäuerinBeateLühsbesonders<br />

den „Roten Boskoop“<br />

mit seiner herzhaft-fruchtigen<br />

Note. (dpa)<br />

........................................................................................................................................................................................................<br />

........................................................................................................................................................................................................<br />

Kardamom<br />

Es gibtschwarzes und grünes.<br />

■ Fürden arabischen Kaffee<br />

nimmtmandasgrüneKardamom.<br />

Dieses wirdauch fürindische Gewürzmischungen<br />

(Masalas) verwendetsowie<br />

fürChai-Teeund<br />

Süßspeisen.<br />

■ In Deutschland findetsich Kardamom<br />

vorallem zumVerfeinern<br />

vonLebkuchen, Spekulatius oder<br />

Glühwein.<br />

■ Kaffee mit Kardamom zu kaufen:online<br />

bei alibaba-shop.de<br />

oder my-arab.de,450 Gramm kosten<br />

9,95 Euro.


50SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE<br />

KOSTPROBE | nord<br />

hamburg040|389017452•bremen0421|96026442<br />

VON DARIJANA HAHN<br />

Schon vonWeitem istder markante,rauchendeSchornsteinim<br />

Eidelstedter Industriegebiet<br />

Binsbarg zu sehen. Wersich der<br />

FischräuchereiStöckeninderOttenser<br />

Straße 86 nähert, kann<br />

schließlich den Rauch vonverbranntemHolzdeutlichriechen.<br />

Und werindie Räucherei tritt,<br />

dersieht,dassderRauchbeiWeitemnichtnurdurchdenSchornstein<br />

entweicht. Vielmehr<br />

scheinterdurch alleRitzen der<br />

Öfenzutreten.DieÖfengehören<br />

zu der aussterbenden Gattung<br />

der Altonaer Öfen, die vormehr<br />

als hundertJahren in Altona erfunden<br />

wurden, einer einstigen<br />

HochburgderFischräucherei.<br />

Wasdie Öfen vonihren modernen<br />

Nachfolgern unterscheidet,<br />

istdie Tatsache, dass in ihnen<br />

über offenem Feuer geräuchertwird.Entsprechendhäufig<br />

legt Wolfgang Lamken in der<br />

Räucherei Stöcken neues Holz<br />

nach.BeimFeuernmussLamken<br />

Fingerspitzengefühl beweisen.<br />

„Die Flammen dürfen nie zu<br />

hochschlagen“, sagtder62-Jährige,<br />

der vonseinem Schulfreund<br />

und Chef Hartwig Stöcken vor<br />

Jahrzehnten in die Kunst des<br />

Räucherns eingeführt wurde.<br />

„Wenn die Flammen zu hoch<br />

sind“, erklärt Lamken, „dann<br />

platzendieFischeauf.“<br />

Bevorerweiterspricht, öffnet<br />

ereineEisentürundgießtWasser<br />

Ungemein lecker,aber<br />

ökologisch bedenklich<br />

KONSERVIERUNGInEidelstedtwerdenAal,HeilbuttundForellewie<br />

vorhundertJahrenüberoffenemFeuergeräuchert.Solange<br />

derMeisterweitermacht,genießtderBetriebBestandsschutz<br />

Wolfgang Lamken feuert nach: In zweieinhalb Stunden werden die Aale butterweich<br />

Foto: Darijana Hahn<br />

in das Feuer, dass es nur so<br />

dampftundzischt.„WenndieFische<br />

aufplatzen“, fährtLamken<br />

mitseiner Erklärung fort,„dann<br />

sagenwir,dasswir,Püschen‘gemacht<br />

haben.“ Und diese „Püschen“<br />

lassen sich dann nicht<br />

mehralsvollwertigverkaufen.<br />

Deswegen braucht der Räucherer,wie<br />

dies Oskar Stöcken<br />

ausdrückt, „Umsichtigkeit, Ruhe<br />

und Geduld“. Mehr noch, es sei<br />

wie eine Philosophie, und der<br />

Räucherer müsse „eins sein mit<br />

seinem Ofen“. Auch wenn dies<br />

für Lamken etwas hochtrabend<br />

klingt,hälterseineHandwiezur<br />

DemonstrationandenOfen,um<br />

dieTemperaturzufühlen.<br />

Bei einem Räuchervorgang,<br />

derzweieinhalbStundendauert,<br />

werden bis zu zehn KiloHolz–<br />

Buche, Erle oder Esche –verbrannt,umdieRäuchertemperaturvon<br />

80 Grad zu halten. Immer<br />

wieder prüft Lamken auch<br />

den Zustand der Fische. In dem<br />

einen Ofen hängen 86 Aaleund<br />

in dem anderen eine Mischung<br />

aus Heilbutt, Forelle, Makrele<br />

und Schillerlocken. „Am empfindlichsten<br />

istder Fisch, wenn<br />

er dreiviertel garist“, sagt Lamken,<br />

während er vorsichtig an<br />

den Aalen drückt. „Dann istder<br />

Garvorgangbeendet,dannsoller<br />

nurnochetwasFarbekriegen.“<br />

GoldgelbsollderFischamEnde<br />

sein und vor allen Dingen<br />

weich.„DerKundedarfnichtdas<br />

Gefühl haben, dass er in einen<br />

Apfel beißt“,sagtder Fachmann<br />

undsinniertdarüber,dassheutzutage<br />

garnichtmehr so viele<br />

Kunden überhaupt Aal kaufen.<br />

Wie allgemein die Nachfrage<br />

nach Räucherfisch stark abgenommenhat.<br />

„Ich hab Kubikmeter geräuchert“,<br />

erzählt der wortkarge<br />

Hartwig Stöcken, der in den<br />

60er-Jahren in der Fischräucherei<br />

in der Großen Freiheitnoch<br />

eine Lehre zumFischwerker gemachthat.Zusammen<br />

mitseinemBruderOskarbetreibterdie<br />

Räucherei mitsamtFrischfischgeschäft,dasdiebeidenvonden<br />

Elternübernommenhaben.Was<br />

Stöcken heutzutageanRäucherfisch<br />

anbietet, sei im Gegensatz<br />

zufrühergeradezu„lächerlich“.<br />

WennsichHartwigStöckeneines<br />

Tages entschließen sollte,<br />

mitdem Räuchern aufzuhören,<br />

dannwürdedasauchdasAusfür<br />

dieletztengewerblichgenutzten<br />

AltonaerÖfenbedeuten,dadiese<br />

lautAngabendesBundesverbandesfürFischindustrieundFischgroßhandelausGründendesImmissionsschutzesnichtmehrzugelassenwerdendürfen.Undohne<br />

Altonaer Ofen auch keinen<br />

manuellgeräuchertenFisch,dessen<br />

Geschmack die Slow-Food-<br />

Bewegung in Hamburg als „unvergleichlich“bezeichnet.<br />

Wilhelm Stöcken Fischräucherei,<br />

Ottensener Straße 86, 22525 Hamburg-Eidelstedt,<br />

☎ 040/541125<br />

Anuschka, Bonanza, Goldmarie,<br />

Juwel, Lambada, Pomqueen –<br />

hinter diesen wohlklingenden<br />

NamenverbergensichKartoffelsorten.InDeutschlandsindrund<br />

210 Sorten für den Anbauzugelassen.<br />

Die meisten bekommt<br />

der Verbraucher nie zu sehen –<br />

ein Großteil wirdfür die Industrieangebaut,dieKartoffelstärke<br />

für die Herstellung vonPapier,<br />

Waschpulver, Tabletten oder<br />

Zahnpastaverarbeitet.<br />

Doch auch bei den zumVerzehr<br />

geeigneten Kartoffeln gelangt<br />

jede fünfte nicht inden<br />

Handel –weil ihr Aussehen mit<br />

kleinen schwarzen Flecken oder<br />

merkwürdigen Formen nicht<br />

den Erwartungen entspricht.<br />

Diese geschmacklich meisteinwandfreien<br />

Speisekartoffeln<br />

werdendannverfüttertoderlanden<br />

in Biogasanlagen. Das betrifft<br />

sowohl die konventionell<br />

unterBeigabevonPestizidenals<br />

auchdieimökologischenAnbau<br />

erzeugtenKartoffeln.<br />

„Wir verkaufen unsere Bio-<br />

Kartoffeln auch direkt aufdem<br />

HofunddafindenvieleKunden<br />

besondereKartoffelnwiewelche<br />

in Herzform interessant und<br />

nehmensiegernemit.DerHandel<br />

kauft sie uns aber nichtab“,<br />

Auch Bio-Kartoffeln können<br />

nichtschön genug sein<br />

KONSUMSTANDARDZuklein,zugroß,zuunförmig:JedefünfteSpeisekartoffel<br />

landetnichtaufdemTeller,sondernimSautrogoderineinerBiogas-<br />

Anlage.DasgiltauchfürWareausökologischemAnbau.Absatzgesunken<br />

klagt der LandwirtReiner Bohnhorst<br />

aus Natendorf. Er diskutierte<br />

kürzlich aufeiner Tagung<br />

des Kompetenzzentrums ÖkolandbauNiedersachsen<br />

in Uelzen<br />

mit Fachleuten über das<br />

Marktpotenzial der Bio-Kartoffeln.<br />

„Supermarktkunden sind anders,<br />

auch wenn sie Bio-Ware<br />

kaufen“, entgegnetJohannesvon<br />

Eerde, der für den Gemüseeinkauf<br />

der bundesweit rund 3.300<br />

Rewe-Märkte verantwortlich ist.<br />

„Wenn die Optik nichtstimmt,<br />

bleibtdieWareliegen.“<br />

Der Konkurrent Edeka verkauftin20LädenKartoffelnund<br />

ObstmitkleinenoptischenMängelnzueinemgünstigerenPreis,<br />

um zu testen, ob der Kunde sol-<br />

cheProdukteakzeptiert.„DasInteresse<br />

der Medien an diesem<br />

Themaist bisher leider größer<br />

alsdasderVerbraucher“,sagtAnja<br />

Vollgrebe, Leiterin des Qualitätsmanagements<br />

bei Edeka<br />

NordinNeumünster.<br />

„WirsortierenkleineundgroßeKartoffelnnichtaus,sondern<br />

verkaufen sie zum normalen<br />

Preis“,berichtet Martin Kintrup,<br />

der den Einkauffür Super-Bio-<br />

Markt ausMünster leitet –eine<br />

Kette mit20Biomärkten, unter<br />

anderem in Osnabrück und Oldenburg.<br />

Doch Kintrup weiß<br />

auch, dass vieleseiner Kunden<br />

ihreKaufentscheidungvomAussehen<br />

abhängig machen. Hinzu<br />

kommt:VieleBio-Landwirteverkaufen<br />

ihre Kartoffeln an Ab-<br />

packbetriebe,dieeinestandardi-<br />

sierteWarefavorisieren,umkei-<br />

ne Probleme mitihren Abnehmernzubekommen.<br />

Der Handel bevorzugt gewaschene<br />

Kartoffeln, obwohldiese<br />

nichtsolange haltbar sind und<br />

eher grün werden. „MitKartoffeltüten,ausdenendieErderausrieselt,<br />

hatman keine Chance“,<br />

sagt Matthias Brommer, Leiter<br />

des Qualitätsmanagements für<br />

ObstundGemüsebeiderSupermarktkette<br />

Tegut, zu der 285 Läden<br />

unter anderem in Niedersachsen<br />

gehören. VieleKunden<br />

wollten gewaschene Ware. Die<br />

Supermarktkette hataber auch<br />

Kartoffeln im Sortiment, die<br />

bloß gebürstet sind und daher<br />

längerhalten.<br />

Die Erzeuger verkaufen ihre<br />

Kartoffeln gerne an Verarbeitungsbetriebe,<br />

weil sie so mehr<br />

vonihrerB-Wareloswerdenkönnen.DiesewirdzuBio-Kartoffelchips,<br />

-Gnocchi, -Pommes oder -<br />

Püree–wasallerdingsmeistnur<br />

in Bioläden und nichtimkonventionellen<br />

Lebensmittelhandelzuhabenist.<br />

Trotzdem sind für die Bio-<br />

Landwirte die Discounter am<br />

wichtigsten. Sie verkaufen die<br />

meistenBio-Kartoffeln.„WirstellenRöstiundPufferauchinBioqualitäther,denn<br />

werwie wir<br />

Premiummarken produziert,<br />

muss auch Bio können“, sagt<br />

BerndPfeiffenbergervonSchnefrostaus<br />

Löningen, einem Hersteller<br />

von tiefgefrorenen Kartoffelprodukten.<br />

Nach Meinung von Claudia<br />

Jones, Professorin für LebensmittelchemieanderHochschule<br />

Ostwestfalen-Lippe in Detmold,<br />

hatdie unverarbeitete Kartoffel<br />

generell einen schweren Stand.<br />

„Kartoffelnmüssengeschältund<br />

gekochtwerden, das kostet Zeit,<br />

die sich viele Menschen nicht<br />

mehrnehmen“,sagtsie.„Jüngere<br />

Leute wollen To-go-Produkte,<br />

daraufmüssensichauchKartoffelanbieter<br />

einstellen.“ Sie präsentierte<br />

in Uelzen selbstentwickelteKartoffelmuffins.<br />

Schon heute werden in<br />

Deutschland mehr verarbeitete<br />

als frische Kartoffeln gegessen.<br />

Der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch<br />

betrug 1990 in Westdeutschland72,6KiloundimOsten<br />

154,6 Kilo. Heute liegt er unter60Kilo.<br />

Carsten Niemann, GeschäftsführerderEZZBioKartoffelNord<br />

ausLüchow,fordertvomHandel<br />

bessere Bedingungen. Dann<br />

könnteauchdieAnbauflächefür<br />

Bio-Kartoffeln in Deutschland<br />

steigen.DiestagniertseitJahren,<br />

sodass zu bestimmten Zeiten<br />

Bio-Kartoffeln ausÄgypten und<br />

Israeleingeführtwerden,umdie<br />

Nachfragezudecken.<br />

Stärker als bisher müsse die<br />

Qualitätvon Bio-Kartoffeln betont<br />

werden, um den Absatz zu<br />

steigern. Beim konventionellen<br />

AnbauwürdendieKartoffelnim<br />

LagerbegastundInsektizideeingesetzt,<br />

wasAuswirkungen auf<br />

das Grundwasser habe. „Der<br />

Handel präsentiertBio-Ware als<br />

reineMarke,esmussaberwieder<br />

mehr um Inhalte gehen“, findet<br />

Niemann. JOACHIM GÖRES


nord |KOSTPROBE<br />

hamburg040|389017452•bremen0421|96026442<br />

SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE 51<br />

HEISS &FETTIG<br />

Die mangelhafte Kennzeichnung<br />

vonfrischen Gänsen auf<br />

Wochenmärkten hat die Verbraucherzentrale<br />

Niedersachsengerügt.BeieinerStichprobe<br />

waren an keinem einzigen<br />

MarktstandsämtlichePflichtangaben<br />

vollständig und richtig.<br />

DazugehörendieHandelsklasse<br />

und die Lagertemperatur. Nicht<br />

zulässig seien Bezeichnungen<br />

wie „Weidegans“ oder „freilaufende<br />

Gänse“. Hier gelten ausschließlich<br />

Bezeichnungen wie<br />

„Freilandhaltung“oder„bäuerlicheFreilandhaltung“.(taz)<br />

Geldsegen für Niedersachsens<br />

Landwirte: Rund 850 Millionen<br />

Euro sogenannte Betriebsprämien<br />

sind zumJahresende<br />

aufdie Konten von48.500 Antragstellern<br />

überwiesen worden.„DieseEU-Direktzahlungen<br />

für landwirtschaftliche Flächen<br />

bedeuten Planungssicherheit“,<br />

sagte Agrarminister Christian<br />

Meyer (Grüne). Diese EU-Subventionwirdden<br />

Bauern unabhängig<br />

vonihrer jeweiligen ErzeugunggewährtundistseitJahreneinZankapfel.(dpa)<br />

Mal sehen, ob das Werk gelungen ist: Thomas Kunst zapft einen „Zwickel“ –das junge Bier –vom Pale Ale<br />

Foto: Thomas Joerdens<br />

Der Hopfen will gut gewählt sein<br />

VON THOMAS JOERDENS<br />

Wirstehen im Gang eines stahlgrauen,<br />

weitverzweigten Rohrsystems.<br />

Thomas Kunstschaut<br />

suchend,findetschnellundhält<br />

ein Glas unter einen Hahn, dessen<br />

Ventil er behutsam öffnet.<br />

NachvielSchaumfließtsonnengelbes,naturtrübesPaleAle.Der<br />

Kenner riechtausgiebig, nimmt<br />

einenkleinenSchluckundkommentiert<br />

zufrieden: „Ah, tolles<br />

Aroma.“<br />

BisdasBierallerdingsperfekt<br />

ist, muss es noch einige Zeitin<br />

dem Tank lagern, ausdem sich<br />

derBraumeistergeradedassogenannte<br />

Zwickelbier abgezapft<br />

hat–sowerden junge Biere genannt.<br />

Thomas Kunstreichtdas<br />

Glas weiter.Das Bier schmeckt<br />

hopfig, kräftig und zugleich<br />

fruchtig; im Abgang bitter,aber<br />

nicht unangenehm. Kein Vergleich<br />

mitden üblichen Supermarktbieren.<br />

Der Brauer strahlt<br />

und weiß, dass er gerade alles<br />

richtigmacht.<br />

Dieses Gefühl spürtder 48-<br />

jährige Bremer seitvier Jahren.<br />

DamalsheuerteerbeiderHamburger<br />

Ratsherrn-Brauerei an.<br />

Diese hatte der Stralsunder Getränkegroßhändler<br />

„Nordmann<br />

Unternehmensgruppe“ wiederbelebt,nachdemdie1951gegründeteBierfabrikvor13Jahrenvon<br />

der Bildfläche verschwunden<br />

war. Als Standortguckten sich<br />

die Investoren denkmalgeschützte<br />

Viehhallen eines alten<br />

Schlachthofs ausimSchanzenviertel<br />

auf St. Pauli. Thomas<br />

Kunst,gelernterBrauerundMälzer<br />

sowie Diplom-Braumeister,<br />

solltedieAnlageplanen,einneues<br />

Pils entwickeln und „Ratsherrn“-Bierzudemmachen,das<br />

es Ende der 1970er-Jahre einmal<br />

gewesen ist: das meistverkaufte<br />

Premium-PilsderHansestadt.<br />

Abereskamnochbesser.„Wir<br />

dachten anfangs, wir setzen uns<br />

über Qualität durch, merkten<br />

aber schnell, dass das nichts<br />

wird. Denn Pils istnach wie vor<br />

diebeliebtesteBiersorte,unddie<br />

bieteneinfachallean“,sagtThomasKunst.<br />

So entstand die Idee,<br />

auch auf geschmackliche AbwechslungzusetzenundTeilder<br />

internationalen Craft-Beer-Bewegungzuwerden.<br />

Aus hochwertigen Zutaten<br />

sollten mehrere spezielle Biersorten<br />

entstehen –also das Ge-<br />

BIEREinekleine<br />

BrauereiaufSt.Pauli<br />

nimmtsichein<br />

bisschenmehrZeit<br />

fürsBrauenund<br />

bietetbesondere<br />

SortenwiePaleAle<br />

an.DasKonzept<br />

scheintaufzugehen.<br />

DerBraumeisterhat<br />

früherbeiBeck’s<br />

getüfteltundfreut<br />

sich,dassersich<br />

auslebendarf<br />

genteilderindustriellgebrauten<br />

Einheitsbiere für den Massenmarkt.<br />

„Craft“ istdas englische<br />

Wort für Handwerk, und BrauhandwerksolltebeiRatsherrnim<br />

Vordergrund stehen. DamiterfülltesichfürThomasKunstein<br />

Brauertraum,dennerdarfseine<br />

Lieblingsbiere herstellen. „Natürlich<br />

habe ich früher maldarangedacht,aberesfehltedieGelegenheit“,sagtderzweifacheVater<br />

und grauhaarige Plauzenträger,der<br />

es in Sachen Genuss offenbar<br />

üppig und gehaltvoll<br />

mag.<br />

ThomasKunsthatseinHandwerk<br />

bei der Bremer Brauerei<br />

Beck’sgelerntundetwa20Jahre<br />

amRufdesBeck’s-Biersmitgearbeitet.Die90er-Jahre,alsolange<br />

vorder Übernahme durch den<br />

Anheuser-Busch-In-Bev-Konzern,<br />

nenntThomas Kunstsein<br />

„goldenes Zeitalter“ bei der Traditionsbrauerei<br />

an der Weser.<br />

Der Vertreter des Ersten BraumeistersundseineKollegenhätten<br />

vieles ausprobiertund sich<br />

mit Wissenschaftlern ausgetauscht.<br />

„Wir waren technologisch<br />

führend auf dem deutschen<br />

Markt“, erinnert sich<br />

Kunst, der zumSchluss zuständig<br />

warfür die Qualitätssicherung<br />

der deutschen Anheuser-<br />

Busch-In-Bev-Standorte.<br />

Bei Ratsherrn lebt Thomas<br />

KunstseinQualitätsbewusstsein<br />

und seine Freude an unter-<br />

Bitterhopfensorten sorgen<br />

fürdenbitterenGeschmack,und<br />

Aromasorten geben dem Getränk<br />

floraleoder fruchtige Aromen.FürLaiensindsolcheNoten<br />

kaumzuerkennen,dochsiecharakterisieren<br />

das jeweilige Bier.<br />

Großbrauereien benutzen oft<br />

nur Hopfenextrakt. Thomas<br />

Kunstmischtaus den über 100<br />

existierenden Hopfensorten jeweilsvierbissechsinseineBiere.<br />

Seine aktuellen Lieblinge sind<br />

Simcoe ausden USAmit einem<br />

waldigen, fruchtigen Südfrüchte-Aromaund<br />

der deutsche Saphir-Hopfen.<br />

Dieser sei reich an<br />

ZitrusaromenundanderenHopfenölenundprägtnebenvieranderen<br />

Sorten das Pale Alevon<br />

ThomasKunst.<br />

Außer den Zutaten sei ein<br />

maßgebenderFaktordieZeit,die<br />

der Brauer seinem Bier gibt.<br />

Nach dem Sud, der etwasechseinhalbStunden<br />

dauert, lassen<br />

Thomas Kunst und seine vier<br />

Brauerkollegen das Bier in der<br />

Regel eine Woche bei niedrigen<br />

Temperaturen gären. Anschließend<br />

reift das Getränk in dem<br />

Rohr- und Tanklabyrinth noch<br />

einmalzweibisdreiWochenbei<br />

fast minus zwei Grad Celsius.<br />

„DanachhabensichalleAromen<br />

entfaltet und die Biere runden<br />

sichab“, sagtThomasKunst.Bier<br />

brauengehtauchinnerhalbvon<br />

Die Käsesorte Holsteiner Tilsiter<br />

darfkünftig nurnoch aus<br />

Schleswig-Holstein kommen.<br />

DieEU-KommissionhatdasProdukt<br />

mit dem Gütesiegel geschützte<br />

geografische Angabe<br />

(g.g.A) gekennzeichnet. DemnachdarfsicheinKäseerstdann<br />

Holsteiner Tilsiter nennen,<br />

wenn er in Schleswig-Holstein<br />

hergestelltund gereift ist. Die<br />

Milch muss aber nicht unbedingtausdemBundeslandkommen.<br />

Der Käse verdankeseinen<br />

würzigen Charakter Bakterienkulturen,<br />

die „nur im Klimaraum<br />

zwischen Nord-und Ostseeentstehenkönnen“,<br />

erläutertedieKommission.(dpa)<br />

Frei vongentechnisch veränderten<br />

Bestandteilen sind Kartoffeln,<br />

Senf-, Ölrettich-, Ölleinund<br />

Rübsensaatgut inSchleswig-Holstein.<br />

Damiterfülltdas<br />

Land die Vorgaben der EU.Für<br />

Saatgutgelte die Nulltoleranz,<br />

teiltedasLandwirtschaftsministeriuminKielmit.AufgentechnischeVerunreinigungenuntersuchtwurden<br />

Kartoffelpartien<br />

auf fünfzehn Flächen. Ferner<br />

wurden von sieben Ölrettich-,<br />

dreiSenf-,einerÖllein-sowieeinerRübsensaatgutpartieProben<br />

entnommen.(epd)<br />

........................................................................................................................................................................................................<br />

sieben Tagen. Aber entsprechendödeschmeckees.<br />

........................................................................................................................................................................................................<br />

CraftBeer<br />

■ Die Macher der Craft-Beer-Bewegung<br />

stemmen sich gegen den<br />

ZwergunterRiesen<br />

Trend, dassinternationale Großbrauereien<br />

weltweit die kleineren<br />

Konkurrenten schlucken und industriell<br />

möglichstgünstig Massenwareproduzieren,<br />

die zwangsläufig<br />

nuancenarm schmeckt.<br />

■ Craft istdas englische Wort für<br />

Handwerk. Die Brauer haben es<br />

sich zumVorbild genommen und<br />

experimentieren mit ihren Vorlieben,<br />

Erfahrungen und Ideen.<br />

■ ZumBrauen werden verschiedene<br />

Malzmischungen genutzt. schiedlichen Geschmäckern<br />

Das Bier gärtbei niedrigeren Temperaturen<br />

und lagertlänger.Anstatt<br />

mit Hopfenextrakt zu arbeiten,<br />

verwenden die Craft-Brauer<br />

teilweisemehr als ein halbes Dutzend<br />

Hopfen füreine Sorte.<br />

■ Die Bewegung entstand Mitte<br />

der 1970er-Jahreinden USA und<br />

schwappte über Belgien und Skandinavien<br />

zu uns.<br />

■ Neben der Ratsherrn-Brauerei<br />

eröffnete in Hamburg2012auch<br />

noch intensiveraus. Und er erzählt,wiemanausHopfen,Malz,<br />

WasserundHefeBierebraut,die<br />

sichjenseitsderfadenSortenbewegen,die„zurBallerbrauseverkommen<br />

sind“. Im gläsernen<br />

Sudhausdoziertder gemütliche<br />

Vielredner über unterschiedliche<br />

Malz- sowie Hopfensorten<br />

und zupft Dolden auseinander,<br />

um sie dem Besucher unter die<br />

Nasezuhalten.<br />

die„KreativbrauereiKehrwieder“,<br />

derenMitgründerOliverWesseloh<br />

dieses Jahr Weltmeister der Biersommeliers<br />

wurde. JOE<br />

„Bierkannsounheimlichvielfältigsein“,<br />

schwärmtderChefbrauer.BeiRatsherrnsindseitderEröffnung<br />

im März 2012 achtBiersorten<br />

gebrautworden. Drei habenesindie0,33er-Flaschengeschafft<br />

und werden im norddeutschenRaumverkauft.<br />

Neben dem klassischen Pils,<br />

einem stärkeren Rotbier und einem<br />

noch stärkeren Pale Ale<br />

zapft die Ratsherrn-Crew im<br />

GasthausderBrauereiauchZwickel,<br />

Weißbier und Saisonbiere<br />

wie Iggy Hop, Springbock und<br />

SummerAle.Alsnächstessollein<br />

dunkles,kräftigesWinterbierdas<br />

Sortiment erweitern mit einer<br />

Gewürzmischung aus Nelken,<br />

Zimt, Anis, Orange und Karamell.<br />

Und fürs Frühjahr sei Bier<br />

Nummerzehngeplant.<br />

KunstistmitderEntwicklung<br />

der Ratsherrn-Brauerei zufrieden.<br />

Im vergangenen Jahr habe<br />

man10.000 Hektoliter gebraut<br />

und 2013 werden es wohl über<br />

16.000Hektoliter.ImdrittenGeschäftsjahr<br />

hofft Thomas Kunst<br />

aufeinen Absatz vonmehr als<br />

20.000Hektoliter.Damitistdas<br />

HamburgerUnternehmeninder<br />

Brauerei-Szene ein Zwerg und<br />

wirdesauch bleiben. Als jährliche<br />

Gesamtproduktion sind<br />

höchstens 50.000 Hektoliter<br />

drin. Die führende deutsche<br />

Brauerei Radeberger braute 2011<br />

überzwölfMillionenHektoliter.<br />

Je billiger die Milch, desto mehr fehlt der Kuh.<br />

Für ein besseres Leben.<br />

Für Mensch und Tier.<br />

www.provieh.de


52 SONNABEND/SONNTAG,28./29.DEZEMBER2013 apple TAZ.AMWOCHENENDE LESERINNEN •WIESE | nord<br />

taz.nord|Harkortstraße81 |22765Hamburg|briefe@taz-nord.de|www.taz.de<br />

DieRedaktionbehältsichAbdruckundKürzenvonLeserInnenbriefenvor.<br />

DieveröffentlichtenBriefegebennichtunbedingtdieMeinungdertazwieder.<br />

Wunderbar formuliert<br />

■ betr.: „Wir bilden dörfliche Gemeinschaften“,<br />

taz.nord vom<br />

21. /22.12. 2013<br />

ZumindestinBerlin<br />

„EsisteinTrend,dassinnerhalb<br />

derStadtimmermehrdörfliche<br />

Gemeinschaftengebildetwerden.DassindWertegemeinschaften,dawiraufgrundderge-<br />

sellschaftlichenVielfaltjaalle<br />

überfordertsind.Daswirdmeist<br />

wenigthematisiert,weilwiruns<br />

fürsehrtoleranthalten.“<br />

Wunderbarformuliert!Entsprichtjanungarnichtweder<br />

demBildungsbürger-nochdem<br />

Hipster-Selbstbild.<br />

VEREINSMEIER,taz.de<br />

■ betr.: „Wir bilden dörfliche Gemeinschaften“, taz.nord vom<br />

21. /22.12. 2013<br />

ZumindestinBerlineinMotiv,nichtnachOsten,dieAußenbezirke<br />

oderdasUmlandzuziehen. RELATIVNAZIFREILEBEN,taz.de<br />

Mit dem (Zweit-?)SUV<br />

■ betr.: „Wir bilden dörfliche Gemeinschaften“,<br />

taz.nord vom<br />

21. /22.12. 2013<br />

„WennichimUmlandwohne,<br />

braucheichzweiAutos.DieFrau<br />

istMutterundfährtdieKinder<br />

durchdieGegend …“<br />

HatersichinOttensenumgesehen?Dortsitzensie–diehauptberuflichenMütter,mitdem<br />

1.000-Euro-Kinderwagenin/vor<br />

denCafés,währendihrePutzfraudie180-Quadratmeter-EigentumswohnunginSchuss<br />

hält.NachdemLunchwirddann<br />

dasältereKindmitdem(Zweit-<br />

?)SUVausderRudolf-Steiner-<br />

SchuleoderdemGymnasium<br />

Hochradabgeholt.<br />

„BerlinistwasanderesalsMünster,ohneMünsterjetztzunahetretenzuwollen.OrtewieBerlin<br />

habeneinehöhereFreizeitmöglichkeit.“<br />

Wasbitteschönisteinehöhere<br />

Freizeitmöglichkeit?Kino?Theater?Disco?Restaurant?Alles<br />

daswirdMünsterauchhaben–<br />

aberausMünsterkommt<br />

menschmitdemFahrrad<br />

schnellerausderStadtalsinBerlin!Tatsache!AlsoisteinehöhereFreizeitmöglichkeit(einziemlichblödesWort)relativ!<br />

ROSSIGNOL,taz.de<br />

appleThema der Woche<br />

Nix wie hin!<br />

Da wollen viele hin: Hamburg-Ottensen, das Viertel der aufstrebenden<br />

Kreativen Foto: dpa<br />

Im zweiten Teil unseres Schwerpunkts über Ab- und Zuwandern beschäftigtenwir<br />

uns mit den Preisen im Hamburger In-ViertelOttensen –und der<br />

Sehnsuchtnach „dörflichen Gemeinschaften“,die uns dazubringt,homogene<br />

Milieus zu bilden.<br />

Gut beobachtet<br />

■ betr.: „Wir bilden dörfliche Gemeinschaften“, taz.nord vom<br />

21. /22.12. 2013<br />

@Rossignol:Gutbeobachtetundtreffend,dieLunch-SzeneinOttensen.<br />

Tzztzz,undimmerdasGerödelmitdensperrigenPanamerasinden<br />

engenWohnstraßen.<br />

UNDWIEDUWIEDERPARKST! DAILYFLIRRER,taz.de<br />

Das hat Berlin<br />

■ betr.: „Wir bilden dörfliche Gemeinschaften“, taz.nord vom<br />

21. /22.12. 2013<br />

@RossignolDashatBerlinanFreizeitmöglichkeiten,wasMünster<br />

nichthat:<br />

–SogutwiejedenTagDemoszuunterschiedlichstenThemen<br />

–HundertebistausendeGalerien<br />

–VieleClubs<br />

–HunderteInternetcafés<br />

–Bestimmtüberhundert(private)Bordelle<br />

–TausendeGastronomien,SpätkaufsmitÖffnungszeitenteilweise<br />

rundumdieUhr<br />

–UnzählbarvieleDenkmäler,Museen,einigeSehenswürdigkeiten<br />

–KulturelleGroßereignissewiedenKarnevalderKulturen,Fanmeilen,ChristopherStreetDayundandere<br />

–Schätzungsweise60Weihnachtsmärkte<br />

–VieleSchwimmbäder,Seen,mehrereFlüsse<br />

–UnzähligeStraßenfestewiedasjährlichegemeinsameSpaghetti-<br />

EssenvonAnwohnerInnenmittenaufderBergmannstraßeinFriedrichshain-Kreuzberg<br />

–SchrecklicheGeschichtezumDrüberlaufenoderAnfassen:GoldeneSteineimStadtpflaster,dieanimNationalsozialismusDeportierteerinnern,demnächstdaswiederaufgebauteBerlinerSchloss<br />

–EinfinanziellgutaufgestelltesBibliothekensystem<br />

–Einguterschlossene,wennauchfüreinenTeilderBevölkerung<br />

teuere,NahverkehrsstrukturmitTrams,Bussen,U-Bahnen,S-BahnenundFähren<br />

–ZahlreicheParksundöffentlichzugänglicheSportplätze<br />

–dreiOpern<br />

–UnzähligeVereineundInitiativen BERLINERIN,taz.de<br />

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